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Zweiter Teil

Es war kurz nach Ostern.

Auf dem Sumpfgelände der Schöneberger Wiesen blühten jetzt die Dotterblumen in gelber Pracht, am Faulen Graben sproßte das helle Grün des jungen Schilfes, und in den Weidenbüschen summten Bienen und Hummeln um die süßduftenden Kätzchen. Oben, in der blauen Luft, zogen die ersten Schwalben ihre zierlichen Bogen, die Krähen aber saßen stumm und regungslos in den höchsten Zweigen der Bäume, ihr Hunger war gestillt, wohin die scharfen Augen blickten, überall Nahrung. Um die morschen Stümpfe abgehauener Weiden wucherten Brennesseln, Bienensaug und Gundermann. Zitronenfalter und Fledermäuse, die irgendwo an den Balken einer Dachkante überwintert, taumelten durch die Luft dieses schönen Frühlingstages.

Am Fensterplatz der Frau Hauptmann stand noch immer eine Vase mit Weidenkätzchen, die aber schon abbröckelten, und die Dotterblumen in dem Wasserglase ließen trübseligwelk die Köpfe hängen. Wenn es Marie nicht ausdrücklich jeden Tag gesagt wurde, gab sie den Blumen kein frisches Wasser, wartete nur darauf, daß sie das »Unkraut von den Wiesen« fortwerfen sollte.

Frau von Eschwege hatte den Kleiderschrank geöffnet, nahm von ihrer Garderobe ein Stück nach dem anderen heraus, besah es sich im hellen Sonnenlicht. Wendete es hin und her, legte aber eins nach dem andern bekümmert auf den Tisch. Nein, Staat konnte man wirklich mit diesen Kleidern nicht mehr machen, jetzt sah sie ja erst, daß es verschossene Fähnchen waren, auch ganz unmodern geworden.

»Es bleibt wohl nichts anderes übrig, ich muß zur Kuttig gehen, mir was Neues machen lassen!« Sie nahm ihr Bankbuch aus dem Winkel des obersten Schrankfaches, setzte sich auf ihren Sorgenstuhl und begann zu rechnen.

Von der Straße herauf klang das Rattern der schweren Möbelwagen, daß die Fenster klirrten. Obwohl der Umzugstermin längst vorüber, kamen doch immer noch neue Mieter – die vielen Wohnungen in den neuen Häusern der Gegend bekamen ihre Bewohner.

Draußen, in der Küche, ging etwas beim Abwasch in Scherben. Wenn es nur nicht die Suppenterrine gewesen war! Die Frau Hauptmann saß in atemlosem Schreck da – wartete. Schließlich klingelte sie, denn Marie kam nicht herein.

»Was ist denn da eben entzwei gegangen?«

»Jott, hat sich Frau Hauptmann auch so furchtbar erschrocken? Man bloß einer von die Eßteller, der mit den Sprung. Aber die andern langen ja noch lange für Ihnen und den jungen Herrn. Besuch kriegen wir ja nicht, war ja auch bloß man Steinjut!«

»Seien Sie nicht noch frech, zu all' Ihrer Ungeschicklichkeit!«

»Wäre ich man bloß schon zum Ersten jejangen, dann hätte mir das nicht passieren können!« Und Marie warf krachend die Tür zu.

Die Frau Hauptmann klingelte, klingelte zwei-, dreimal.

»Ja, was is denn schon wieder?«

»Kommen Sie herein, so! Und nun können Sie wieder gehen, ich bitte mir aber aus, daß Sie die Tür künftighin ganz leise zumachen!«

Jott – ja! Mit so 'ne nervöse Dame hat's unsereins nicht leicht, da muß man eben Jeduld haben und sich alles jefallen lassen!«

Frau von Eschwege preßte die Lippen zusammen. Sie hatte es manchmal recht satt, diesen Krimskrams. Immer in Angst um die Zukunft des Sohnes, um das Renommee im Hause und in der Nachbarschaft!

Sie suchte ihren Migränestift, strich sich über die Stirn – ja, das tat wohl! Dann hing sie die Kleider wieder in den Schrank, packte eins aber in Papier und machte sich auf den Weg zur Schneiderin, vielleicht konnte es die Kuttig doch noch wieder brauchbar machen.

Draußen, in der Luft, verflogen die Kopfschmerzen gänzlich. Die Zweige der jungen Bäume auf der Bülowpromenade hatten ihr erstes, zartes Grün entfaltet. Die Droschkenkutscher am Halteplatz waren schon ohne die dicken blauen Mäntel – und da fuhr ja auch schon der rote Sprengwagen, wie immer von einer ausgelassenen Kinderschar begleitet. Ja, da war es also wirklich Frühling in Berlin geworden, und die Frau Hauptmann sagte sich, daß sie gar nicht länger hätte warten dürfen, um ihre Garderobe rechtzeitig instand zu haben. Wenn nur die Kuttig die Ausbesserung noch übernehmen konnte und nicht alle Hände voll hatte!

Und die frische Luft machte auch gleich Appetit. Auf dem Rückweg wollte die Frau Hauptmann deshalb selbst etwas fürs Abendbrot mitnehmen – mal was anderes, als den aufs Brot geschabten Kräuterkäse oder die ewige Landleberwurst. Schon des Sohnes wegen, der zwar nie am Essen mäkelte, aber auch nie mit rechtem Appetit aß. Vielleicht Kieler Sprotten, oder eine Flunder, oder Sardellen.

Ja, der Sohn machte ihr Sorge! Sie fühlte es doch, daß er noch ein heimliches Leben hatte, das er vor ihr verschloß, so vertraut sie sonst auch mit ihm war. Nur gut, daß sie auch nicht einmal angedeutet, was die konfuse Person damals gesagt, ihm nur Vorwürfe gemacht hatte, weil er – durch seinen Besuch in der einsamen Villa, diesen peinlichen Gegenbesuch doch hervorgerufen. Denn welchen Ärger hatte sie dadurch gehabt. Der Portier hatte sich über die beleidigende Behandlung durch die »Schwägerin« beschwert, seine Tochter hatte die sonderbare Unterhaltung im ganzen Hause erzählt, und die andern Bewohner zeigten seitdem eine spöttische, reservierte Miene.

So, und nun war die Frau Hauptmann in der Dennewitzstraße und stieg zu der Modistin hinauf. Es dauerte diesmal ungewöhnlich lange, ehe Fräulein Kuttig öffnete, wenn der Mops nicht gebellt, hätte man annehmen können, daß niemand zu Hause wäre. Endlich, nach langer Beäugung durch das Guckloch, wurde die Sicherheitskette beiseite geschoben, zögernd geöffnet.

»Aber Fräulein, dreimal hab' ich geklingelt – ist denn die Leitung entzwei?«

Die alte Jungfer murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Im hellen Licht der Stube dann, als die Frau Hauptmann, empfindlich geworden durch diesen ungewohnten Empfang, das hagere Fräulein forschend anblickte, merkte sie sofort, daß etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein mußte, so verstört sah Fräulein Kuttig aus.

»Aber, was ist Ihnen denn, was machen Sie denn für ein Gesicht? Ist jemand in der Familie gestorben?«

Die zitternde Hand der Schneiderin tastete nach der Zeitung auf dem Tisch, ihr Finger wies auf eine Notiz in der Rubrik »Neues aus der Reichshauptstadt«. »Da – da – kommen Sie deswegen, ich kann ja nichts dafür, hab' selbst alles verloren.«

Und als Frau von Eschwege die fettgedruckte Zeile: »Bankier Zuckermandl nach Unterschlagung flüchtig geworden ...«, als sie diese wenigen Worte gelesen hatte, wurde ihr schwarz vor den Augen, und sie sank schweratmend auf den nächsten Stuhl.

Doch – mit dem Rest ihrer letzten Kraft zwang sie sich, die Zeitungsnotiz ganz zu lesen, und als es geschehen, wußte sie, daß auch ihr kleines Vermögen verloren war, wie die Spargroschen der Kuttig, auf deren Zureden sie das Geld dem Bankier Zuckermandl anvertraut hatte, weil er so hohe Prozente bezahlte.

Wie betäubt saß sie da, dachte nur immerfort das eine: »Nun hab' ich also bloß noch die Pension, jetzt muß ich ins Stift, was wird aus dem Jungen?«

Sie schlug die Hände vors Gesicht, weinte ebenso verzweifelt wie die alte Schneiderin.

Und dann stand sie auf. »Lassen Sie mich 'raus! Das Kleid nehme ich wieder mit, es muß jetzt auch so gehen.«

Ich mach's Ihnen ja, es kostet nichts, ich will gar nichts dafür haben, denn ich bin ja schuld ...«

Doch die Frau Hauptmann preßte das Paket, an sich und ging mit bitterem »Adieu!« davon.

Als Walter von einem Besuch bei seinem Freunde Volkmar spät abends heimkam, wunderte er sich, in der Stube der Mutter noch Licht zu sehen. Er klopfte leise an, klinkte vorsichtig auf: »Bist du etwa krank, Mama?«

Die Mutter, noch nicht im Bett, saß bei der kleinen Petroleumlampe am Tisch. Sie hatte nur aufgeblickt, aber keine Antwort gegeben.

»Was ist denn, wem schreibst du da?«

»Ein Bittgesuch an die Stiftsverwaltung um Aufnahme, mein bißchen Vermögen ist weg!« Und dann berichtete sie, was geschehen war.

Erschrocken hörte er zu. Aber dann sagte er: »Mama, wie lange hätte, ach, es hätte ja sowieso nicht gereicht. Mach' dir doch bloß nicht meinetwegen Sorge, morgen sieht alles ganz anders aus! Jetzt nimmst du etwas aus deiner homöopathischen Apotheke, und hier ist dein geliebter Gerock. Leg dich hin und lies, bis du drüber einschläfst. Ich seh nachher noch mal 'rein und puste die Lampe aus. Also, Mamachen, heute höre mal auf mich!«

Er küßte ihr vergrämtes Gesicht und ging, als wenn sie schon schliefe, auf den Zehenspitzen hinaus.

Die nächsten Tage brachten dann Gewißheit, Bankier Zuckermandls Unterschlagungen hatten all' die kleinen Leute, Rentner und Sparer, um ihre Einlagen gebracht. Die ganze Potsdamer Vorstadt war in heller Empörung und Erregung, auf dem Wochenmarkt am Magdeburger Platz, bei den Kaufleuten, in den Grünkramkellern und Milchgeschäften hatte man jetzt einen, allen andern Klatsch verdrängenden Gesprächsstoff.

»Find' dich endlich drein, Mama, die Verzweiflung nützt ja nichts! Sei froh, daß du noch vorher 'was abgehoben hattest, das langt für die notwendigen Zuschüsse. Und was quälst du dich da mit dem alten Kleide, das wird doch nischt, laß dir's nur ruhig von der Kuttig machen!«

Ein hoffnungsloser Blick aus verweinten Augen. Und dann sagte die Frau Hauptmann: »Ich kann mich bloß über dich wundern, Walter, daß du so sprichst! Wir müssen die teure Wohnung doch bis zum Oktober behalten, der Wirt gibt mich nicht vom Kontrakt frei. Ja, wenn ich einen anderen Mieter fände, aber, wer wird denn hier mieten, wo es so viele schöne Wohnungen in den neuen Häusern gibt!«

»Ich werde mal selbst mit dem Kerl sprechen!«

»Ach, bring den Mann nicht noch auf, du verdirbst die Sache bloß ganz und gar!«

Tag für Tag, ehe die Anpassung an die veränderten Verhältnisse möglich wurde, die gleiche unerquickliche Stimmung. Um frei davon zu werden, machte Walter in den Nachmittagsstunden oft weite Wanderungen, immer allein, denn Volkmar, der ihn früher stets begleitet, arbeitete mit dem Eifer eines Fanatikers.

Später als sonst war er heute fortgekommen, ging deshalb nur über die Wiesen, schlug die Richtung nach Wilmersdorf ein. Und wie er so dahin ging, niedergedrückt durch die Sorgen der Mutter und die Unsicherheit der eigenen Existenz, erstand ihm in der Erinnerung mancherlei aus seiner Jugendzeit. Erstand aus den vielen widrigen Empfindungen, die das »glänzende Elend« des Offizierlebens seines Vaters mit sich gebracht hatte. Nach außen »immer repräsentabel und exklusiv« – wie es stets hieß, aber daheim jämmerlichste Einschränkung. Für ihn, den Gymnasiasten, auch nach außen hin nicht immer repräsentabel. Ach, wie oft war sein Frühstücksbrot nur mit billigem Pflaumenmus bestrichen gewesen, weil das Wirtschaftsgeld der Mutter für Butter nicht mehr gelangt hatte. Nicht, daß ihm das doch »so bekömmliche Mus« nicht geschmeckt, aber es war genierlich in der Schule. Die reichen Jungen, Söhne von Großkaufleuten und hohen Beamten, machten fatale Bemerkungen darüber. Bis er dann – um sich mit dem schwärzlichen Belag, den die Mitschüler »spartakusische Blutsuppe« nannten, nicht länger zu blamieren, mit der Mutter einen Vergleich geschlossen hatte: Daß sie ihm, statt des zurechtgemachten Frühstücks, einen Sechser gab. Für diesen Sechser sollte es beim Schuldiener eine Schrippe mit Gänseschmalz geben, die sich »alle kauften« und die durchaus als Zehrung für die Schulzeit genügte. Eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, denn die Schrippe mit Gänseschmalz kostete das Doppelte, hätte auch nie und nimmer seinen gesunden Hunger gestillt. Nein, beim nächsten Bäcker schon hatte er sich von da ab auf dem Wege zur Schule zwei trockene Schrippen gekauft, die er sofort verzehrte, um dann, während der Frühstückspause, »einfach satt« zu sein. »Ein Junge muß Disziplin im Leibe haben«, hatte der Vater immer gesagt. Nun, er hatte Disziplin im Leibe.

Es waren ja im Grunde alles nur erbärmliche Kleinigkeiten, deretwegen er sich sein junges Leben so oft verbittert. Aber, zu welchen Katastrophen hatten diese Kleinigkeiten oft geführt! Welche Sensation war es damals für die Quinta gewesen, als er eines Morgens mit einem frisch eingesetzten Hosenboden erschienen war! Gewiß, dieser Einsatz sah, im Verhältnis zu dem übrigen Stoff seines Matrosenanzugs, außerordentlich frisch und blau aus, aber es war doch gewiß kein Grund, daß man darüber lachte und das Wort »Mandrill« zu fallen brauchte.

Wer gelacht oder gar noch zu lachen wagte, hatte von Walter »Knallschoten« bekommen. Die halbe Klasse hatte er wegen seines neuen, von der Mutter so liebevoll noch spät abends eingesetzten Hosenbodens geohrfeigt. Doch, ihm selbst hatte die Geschichte eine Stunde Arrest eingetragen.

Ja, was nun? Noch weitergehen? Er stand am Wilmersdorfer See, dort war das Schrammsche Gartenlokal, eine kurze Rast schien ihm angebracht. Er faßte in die Westentasche – ja, er hatte Geld bei sich. Der frisch gestreute Kies knirschte unter seinen Füßen, als er durch den leeren, einsamen Biergarten schritt. Die beiden Schwäne, eben lautlos herangerudert, standen nun, nach den anmutigen Bewegungen im Wasser, als plumpe Silhouetten am Ufer. In den Fenstern des Dorfkirchleins spiegelte sich das Rot des Himmels, das Röhricht neigte sich im Abendwinde, ein Mückenschwarm tanzte in der Luft, zuweilen wurde der Ruf der Lietzen vernehmbar.

Als Walter vor seinem Glase Bier saß, noch immer in Jugenderinnerungen befangen, erklangen plötzlich, fast störend in der Stille, Klimpertöne aus dem dunklen Saal. Doch nun wurden ein paar Akkorde auf dem Klavier angeschlagen, formten sich schließlich zur Tanzweise.

Auf der andern Seite der Glasveranda, auf der er Platz genommen, waren ein paar Familien um zusammengestellte Tische vereinigt. Ein mächtiger, nach Bauernart gebundener Blumenstrauß schmückte die weißgedeckte Tafel, wo ein Herr mit Kaiser-Wilhelm-Vollbart Bowlengläser füllte. Die beiden jungen Mädchen, die da drinnen im Dämmerlicht tanzten, und auch die Klavierspielerin gehörten zweifellos zu der Gesellschaft.

Bevor Walter ging, blieb er an der Saalschwelle stehen, spähte hinein. Gerade kamen die Tänzerinnen vorbei, einen Scherz machend, hob er bittend die Hände. Es geschah wirklich, daß sich die Mädchen – eins von ihn wohl schon erschöpft, aus ihrer Umschlingung lösten. Mit der schlanken Blonden, die vor ihm stand, tanzte er weiter.

Er hatte sie sofort erkannt – sie, an die er seit jener Begegnung in der Potsdamer Straße immer wieder gedacht, trotz all' der Aufregung der letzten Tage. Wie einen feinen Stich im Herzen hatte er es empfunden, als er in die Augen dieses Mädchens geblickt und ein heftiges Verlangen gespürt, mit ihr bekannt zu werden, ihr zu sagen ... Da war sie ihm schon entschwunden, er hatte sie seitdem nie wiedergesehen. Und nun hatte er sie in seinen Armen.

Die Freundin am Klavier, die eben hatte aufhören wollen, begann belustigt von neuem zu spielen, und die Tänzerin summte mit:

»Ach, so ein Walzer ist mein Leben –
Da liegt – da liegt Musik darin –

Und Walter wagte es plötzlich, das fremde Mädchen fester an sich zu ziehen. Da hob sie überrascht des Gesicht – blickte ihn an.

»Wann kann ich Sie wiedersehen, wo?«

Keine Antwort, ehe noch die Schlußakkorde erklangen, löste sie sich schon von ihm, ging rasch zu der wartenden Freundin, die ihren Arm nahm und sie zur Gesellschaft an der Tafel zurückführte.

Keine Möglichkeit mehr, sie zu sprechen, obwohl er, in der Hoffnung, daß sie mit ihren Freundinnen durch den Garten promenieren werde, noch lange bei der Veranda wartete.

Doch der Zufall, der allen Verliebten hilft, ließ auch ihn nicht im Stich. Am folgenden Sonntag, als er, wie gewöhnlich, wenn ihn die Mutter vom Kirchgang freigab, nach einem Bummel Unter den Linden das Museum aufsuchte, stutzte er plötzlich in einem der Säle. Denn, ja, war das nicht der Herr, der auf der Veranda des Tanzsaales die Bowlengläser gefüllt hatte? Und nun stand er hier in der Uniform eines Saaldieners!

Erst hatte Walter an eine Ähnlichkeit geglaubt, denn wie viele aus der Beamtenschaft, hoch und niedrig, ähnelten durch ihre Barttracht dem greisen Kaiser! Er mußte Gewißheit haben. Und so ging er auf dem Heimweg, obwohl er sich schon am Morgen seinen Sonntagsbedarf gekauft hatte, noch einmal in das Rexsche Zigarrengeschäft an der Potsdamer Brücke, kaufte statt der üblichen Sechspfennig-Zigarren »zwei á zehn« und ließ sich das Adreßbuch geben. Unter den Bewohnern jenes Hauses in der Lützowstraße, in dem das blonde Mädchen damals verschwunden sein mußte, war auch ein Museumsbeamter Wilhelm Kienitz angeführt. Kein Zweifel mehr, daß jener Saaldiener der Vater des Mädchens war.

Der Laternenanzünder ging umher, hakte mit seiner langen Stange die Glasklappen auf, entflammte das Licht, klappte wieder zu, ging dann quer über den Fahrdamm zur nächsten Laterne.

Auch beim Uhrmacher Katzker, im Buchbinderladen von Wiedmer & Hallmann, ebenso in Müllers Konditorei, an der Ecke der Kurfürstenstraße, brannte schon Licht, die Potsdamer Straße bekam ihr abendlich-romantisches Aussehen.

Von der Bülowstraße her, in langsamem Schlenderschritt, kam Walter. An der Ecke der Lützowstraße blieb er jetzt stehen und wartete, wie er nun schon täglich hier gewartet, immer in der Hoffnung, seine Tänzerin wiederzusehen. Und diesmal erfüllte sich seine Sehnsucht – nur wenige Minuten waren vergangen, da tauchte sie auf. Kaum aber, daß sie ihn bemerkt, ging sie auf die andere Straßenseite hinüber, beachtete seinen Gruß nicht.

An der roten Mauer des Elisabeth-Krankenhauses holte er sie ein, ging an ihrer Seite dahin, zog den Hut.

Da blieb sie plötzlich stehen, machte rasch hinter ihm einen Bogen, wollte wieder auf die andere Straßenseite.

»Ich flehe Sie an ...«

»Nein, ich darf nicht!«

»Ich bitte Sie –«, er vertrat ihr den Weg.

»Was erlauben Sie sich!«

Ach, es war das Verfehlteste, jetzt hochmütig zu sein, im selben Augenblick war, trotz aller Unsicherheit, sein Selbstgefühl wach geworden.

»Auf keinen Fall will ich Ihnen lästig sein, aber ...«

»Dann bitte, gehen Sie!«

»Ich würde es sofort tun, wenn ich nicht fühlte, daß Sie mich auch gern haben!«

»Unverschämtheit!«

Sie strebte an ihm vorüber, aber er blieb an ihrer Seite.

»Lieben Sie einen andern, dann müßte ich natürlich zurücktreten!«

Da blieb sie jäh stehen, wie entzückend war sie, wie verwirrte sie ihn! »Sie sagten doch eben, ich – liebte Sie! Dann sind Sie Ihrer Sache wohl doch nicht so ganz sicher? Bitte, kommen Sie nicht mehr mit, ich wohne nur ein paar Häuser weiter. Man darf uns nicht zusammen sehen, meine Freundinnen haben mich auch vor Ihnen gewarnt, und mein Vater ist sehr, sehr streng. Er duldet so etwas nicht – wenn er es erfährt ...«

»Aber ich muß Sie wiedersehen!«

Keine Antwort, sie versuchte nur immer, an ihm vorbeizukommen.

»Ich werde morgen um dieselbe Zeit hier warten, werden Sie kommen, wenn es Ihnen möglich ist?«

Da sah sie ihm zum erstenmal voll in die Augen, als wäre alle Verwirrung und Bangigkeit von ihr abgefallen. Wie lange dauerte dieser Blick – ein ergreifender Ernst lag in ihm. Doch sie blieb stumm vor innerer Bewegtheit.

Eine Zusage ohne Worte. Er haschte nach ihrer Hand. »Ich warte! Kommen Sie nicht, dann weiß ich, daß es Ihnen nicht möglich war, warte auch übermorgen und die nächsten Tage. Ich heiße Walter von Eschwege. – Sagen Sie mir wenigstens den Vornamen!«

»Elsbeth!«

Irgend etwas flüsterte sie noch, was er nicht mehr verstand, dann machte sie hastig ihre Hand frei, ging rasch davon, verschwand in einem der nächsten Haustore.

 

Am andern Abend hatte er nur kurze Zeit gewartet, als Elsbeth aus dem Hause trat, sich einigemal scheu umblickte, auf ihn zukam, ihn bedeutungsvoll ansah, seinen Gruß aber nicht erwiderte, sondern rasch an ihm vorüberging. Er begriff: »Hier nicht, erst wenn wir außer Beobachtung sind!«

So stellte sich Walter wieder an das nächste Schaufenster, besah sich die an einem Bindfaden als Girlande hängenden Triesel, die Gesangbücher mit dem Schild »schönstes Konfirmationsgeschenk« und das Weißbierglas mit den bunten Murmeln.

Schlenderte dann, als Elsbeth um die Ecke bog, langsam weiter.

In der Potsdamer Straße hätte er sie fast aus den Augen verloren, so rasch war sie ausgeschritten. In der letzten Sekunde noch sah er, wie sie bei der Brücke einbog, am Kanalufer weiterging. Hier, unter dem jungen Grün der Bäume, zögerte sie, blieb dann stehen, sah sich nach ihm um, wartete.

Ihre verwirrte Mädchenhaftigkeit verwirrte auch ihn, so daß er nicht zum Glück dieser Sekunde kam. Aber wäre es anders gewesen, hätte wohl im selben Augenblick der Versuch eingesetzt, sich von ihrer Macht zu befreien, sie nur in sich verliebt zu machen. Doch hier, von der ersten Sekunde an hatte er es gespürt, war etwas, das ihn überwältigte, zaghaft machte. Am liebsten hätte er ihr es gleich gestanden, dann wären sie sofort da gewesen, wohin er wollte: auf den Austausch ihrer Empfindungen füreinander. Er wollte wissen, wie sehr sie ihn liebte, denn daß er ihr wenigstens nicht gleichgültig war, bewies ja ihr Kommen, bewies, daß er zu ihr sprechen durfte ...

Aber sie sagte nur immer ein paar zustimmende Worte, schwieg dann wieder befangen. Einmal glückte es ihm auch, ihr ein Lachen zu entlocken, aber gerade, als er eben hoffte, daß sie ins Gleise gekommen seien und er sie fragte: »Warum haben Sie denn Ihre Freundinnen vor mir gewarnt?«, sagte sie: »Es ist ja schon ganz dunkel geworden, ich gehe nicht weiter, muß jetzt rasch nach Hause. Ich konnte ja nur weg, weil Vater seinen Kegelabend hat!«

»Dann können wir uns also an diesem Tage stets treffen! Darf ich Ihnen dann einmal in der Zwischenzeit schreiben?«

Sie wehrte erschrocken ab. »Schreiben Sie, bitte, niemals, um Gottes willen, wenn mein Vater solchen Brief fände, Sie wissen ja nicht, wie er ist!«

»Und Ihre Mutter?«

»Mutter ist nicht so streng, aber eine Herrenbekanntschaft würde sie auch nicht dulden!«

Nun, auf dem Rückweg, den Walter ohne Widerspruch sofort angetreten, wurde sie lebhafter, es schien ihr darauf anzukommen, den bisherigen Eindruck zu verwischen.

»Haben denn Ihnen meine Freundinnen nicht besser gefallen, auch nicht die mit den schönen dunklen Augen? Ich bin sehr stolz, daß sie meine Freundin ist, schon von der Schulzeit an, sie ist adlig!«

Er lachte spöttisch und sie wandte sich gekränkt ab. »Sie mögen wohl auch Gedichte nicht? Ich jedenfalls sehr!«

»Zum Beispiel?«

»Ach so viel! Ich werde Ihnen mal eins sagen – wenn Sie es nicht kennen!« Wie bei einer Prüfung begann sie:

»Der Hirt bläst seine Weise,
Von fern ein Schuß noch fällt,
Die Wälder rauschen leise,
Und Ströme tief im Feld.
Nur hinter jenem Hügel
Noch spielt der Abendschein,
O hätt' ich, hätt' ich Flügel
Zu fliegen da hinein.

Es ist von Eichendorff, finden Sie es nicht auch sehr schön?«

»Ja, wann ist denn Ihr Geburtstag?«

»Der war schon!«

»Und wie alt sind Sie da geworden?«

»Raten Sie!«

»Siebzehn!«

»Nein, schon achtzehn!«

»Sie sind wohl das einzige Kind?«

»Nein, ich habe noch zwei jüngere Geschwister!«

Ehe sie aus dem Dunkel der Bäume in die lebhafte Straße traten, bat sie: »Bitte, nicht weiter, hier muß ich Ihnen jetzt Adieu sagen. Nein, Sie dürfen mich nicht begleiten.«

Sie war stehengeblieben, hielt ihm die Hand hin. Er hielt diese Hand fest, trat dicht an Elsbeth heran und sagte: »Wenn wir jetzt auseinandergehen, weiß ich nicht, wann ich Sie wiedersehe. Schreiben soll ich Ihnen nicht, Sie selbst werden es auch nicht tun?«

»Was soll ich Ihnen schreiben?« fragte sie, nun wieder verwirrt.

»Was Sie wollen, es soll mir nur der Beweis sein, daß auch Ihnen an einem Wiedersehen mit mir liegt. Am liebsten also Zeit und Ort des Rendezvous, freilich, noch lieber wäre es mir, wenn Sie mir schrieben: ›Ich liebe Dich!‹«

»Adieu, ich muß nach Haus! Vielleicht schreib' ich Ihnen, aber sowas nicht, adieu!«

Sie riß ihre Hand aus der seinen, ging rasch davon, ohne sich umzusehen.

Als Walter heimkam, hatte ihn die Mutter schon sehnsüchtig erwartet. Ein froher Schimmer war in den Augen ihres vergrämten Gesichtes. »Die Wohnung ist vermietet, der Oberst, an den ich geschrieben, hat mir einen hierher versetzten Major geschickt. Seine Möbel sind noch in Metz, kommen erst später, darum will er die ganze Einrichtung benutzen, ich brauche also nicht Hals über Kopf zu verkaufen. Nur deine Sachen nimmst du mit, wenn ich was Passendes für dich gefunden habe, denn ich will wissen, wo du bleibst, was das für Leute sind, zu denen du kommst. Wenn nun bloß noch eine günstige Antwort vom Stift käme – ach, wie hat mich diese Verhandlung mit dem Major aufgeregt, aber mir ist doch ein schwerer Stein vom Herzen!«

»Na siehst du, Mama! Und was hast du dir für schwere Sorgen gemacht –«

»Und mache sie mir auch weiter, deinetwegen! Ja, deinetwegen, der alles an sich herankommen läßt! Ist es dir denn ganz gleichgültig, daß wir diese Wohnung, in der wir mit dem Papa unsere schönste Zeit verlebt haben, jetzt verlassen müssen? Daß die alten schönen Möbel verkauft werden sollen?«

»Ach Mama! Da ist Paps Schreibtisch, da ist die Diele, auf der ich stand, wenn Gericht über mich gehalten wurde, glaubst du, daß diese Zeit so besonders schön gewesen ist? Und dann meine kleine Stube, was hab' ich dadrin seelisch durchgekämpft, nachdem man mich geschaßt hatte. Ich hab's dir bloß nicht gezeigt, wie mir zumute gewesen ist, denn ich stehe noch heute auf dem Standpunkt, daß mir bitteres Unrecht geschehen ist. Ich hab' mir nur selbst ein Urteil bilden wollen, wenn ich in diese Versammlungen ging, aber wozu jetzt noch darüber sprechen! Wie lächerlich komme ich mir vor, daß ich jetzt als Student 'rumrennen muß, kein Wunder, daß ich so unlustig bin, aber ich beiße die Zähne zusammen und büffle! Wenn du nicht wärst Mama, wer weiß, ob ich's nicht so machte wie Onkel Herbert, weg nach Amerika! Nee, Mama, in anderer Umgebung wird's sicherlich besser gehen, hier drückt zu vieles auf mich. Das einzige, was ich bedauere, ist die Trennung von dir, du wirst mir sehr fehlen!«

»Und doch hast du mir, besonders in letzter Zeit, vieles verschwiegen – ach, rede doch nicht dagegen, das Auge einer Mutter sieht scharf. Aber ich kann dich nicht mehr am Gängelbande haben – du weißt, von welcher Seite dir Gefahr droht!«

»Ich weiß, ich weiß«, fuhr er auf, »jedes hübsche Mädchen ist eine Giftschlange für mich!«

»Denke an Onkel Herbert!«

»Der Teufel hole diesen Onkel, dieses Schreckgespenst meines Lebens!«

»Und wenn du nun an einer anderen gutmachen müßtest, was er an jener unglücklichen Person, dieser Verrückten, verschuldet hat!«

»Ich bitte dich, Mama, werde nicht komisch, was soll denn das überhaupt heißen? Wieso kann ich an einer andern gutmachen, was ihr geschehen ist, und warum soll ich für Onkel büßen, jeder hat doch für sich selbst zu büßen, oder nicht?«

»Ich glaube an geheimnisvolle Zusammenhänge!«

»Wenn's die wirklich gibt, dann trifft mich keine Schuld, und da brauchst du dich nicht drum zu ängstigen, was ich tue, denn die geheimnisvollen Zusammenhänge sind dann stärker als ich. Aber, Mama, wozu haben wir uns eben ganz unnütz erregt –«

»Du hast dich erregt!«

»Ja, und ich bitte dich deshalb sehr um Verzeihung, aber meine Erregung war eigentlich nur Traurigkeit darüber, daß du meinetwegen Kummer hast. Ach Mama, kannst du dir nicht denken, daß ein junger Mensch, wie heißt's in dem Liede: ›Ist denn Lieben ein Verbrechen, darf man denn nicht glücklich sein?‹«

»Nein, man darf nicht, wenn man dadurch ein Mädchen unglücklich macht und sich selbst seine Zukunft verdirbt!« sagte die Mutter hart.

»Aber das weiß man doch nicht!«

»Doch, man weiß es, und du weißt es ganz genau. Was dann aus so einem überspannten Mädchen werden kann, wenn es in seinen Hoffnungen getäuscht worden ist – beweist dir das Schicksal der Verrückten.«

Walter saß ein Weilchen stumm da, dann sagte er, und die Frau Hauptmann war im Zweifel, ob er scherzte oder es wirklich ernst meinte: »Mama, jetzt glaube ich auch an geheime Zusammenhänge, weil ich Onkel Herbert so ähnlich bin und ich der unglücklichen Frau über den Weg laufen mußte.«

»Sei also auf deiner Hut!«

»Das hat ja dann doch keinen Zweck! Trotzdem werde ich mich jetzt hinsetzen und arbeiten, bis mir die Lampe vor der Nase ausgeht, gute Nacht, Mama, schlaf unbesorgt!«

 

Schon am nächsten Tage erhielt er den ersehnten Brief.

»Mein hoher Herr!

Ich rede Sie so an, denn so hat Käthchen von Heilbronn auch immer gesagt, und ich finde es so am passendsten. Ich schreibe Ihnen hier den Brief, den Sie so gerne haben wollten, aber ich bitte Sie dringend, ihn sofort zu verbrennen, obschon nichts weiter drinne steht. Denn ich merke jetzt schon, wie schwer es mir fällt, etwas zu schreiben, obwohl ich Ihnen so viel zu sagen hätte. Glauben Sie aber, bitte, nicht, daß ich ganz so unbedeutend bin, wie ich Ihnen erschienen sein mag.

Manchmal denke ich, daß alles nur ein schöner Traum gewesen ist. Jetzt kann ich Ihnen ja auch sagen, daß ich immer an Sie gedacht habe von dem Abend an, wo wir zusammen getanzt haben. Ich hätte nie geglaubt, daß ich Sie noch einmal wiedersehen würde, und dann kam es so überraschend für mich. Aber jetzt muß ich denken, daß vielleicht alles schon wieder vorbei ist, denn wer weiß, wie Sie nun über mich denken. Vielleicht wäre es so am besten.

Meine Eltern gehen am Sonntag mit mir und meinen Geschwistern nach dem Lindenpark in Schöneberg, wo das Sommertheater schon eröffnet wird. Zu so etwas gehen Sie wohl aber nicht, denn sonst hätten wir uns dort wiedersehen können, ohne daß Sie aber verraten dürften, daß Sie mich kennen. Denn das dürfen meine Eltern nicht wissen, grüßen Sie mich also, bitte, nicht und kommen Sie auch nicht an unsern Tisch, selbst wenn da noch ein Stuhl frei ist. Aber wenn Sie etwas Besseres vorhaben, lassen Sie sich nicht stören.

Also vielleicht Sonntagnachmittag von 5 Uhr ab, ganz bestimmt.

Herzlich grüßend
E. K.«

Trotz der flotten Handschrift ein Backfischchenbrief, den Walter mit gemischten Empfindungen gelesen hatte, weil Selbstvorwürfe in ihm aufstiegen, ein so junges Wesen für sich gewinnen zu wollen. In seiner Fähnrichszeit hatte er solche Briefe von den Mädchen aus der Tanzstunde erhalten, die noch Schneckenfrisuren oder Mozartzöpfe getragen, Tintenkleckse gemacht, sie auszuradieren versucht und, wenn es nicht gelungen, dieser schwarzen Flecke wegen im Postskriptum um Entschuldigung gebeten hatten.

Dieses schlanke, blonde Mädchen war aber kein Kind mehr, nur einen Liebesbrief hatte es wohl vorher noch nie geschrieben. Und nach solch einem unberührten Mädchen hatte sein Herz sich gesehnt, nach einem, das noch keinen geliebt und geküßt ...

Ja, er mußte der Erste sein, die andern nannte er »wurmstichig«.

Und mit Beschämung dachte er an die hübsche Kellnerin aus dem Pichelsteiner Krug, die er, in seinem Glauben an die Keuschheit eines Mädchens, selbst in verfänglicher Umgebung nicht für »wurmstichig« hatte halten wollen, bis er zum Gespött der Erfahrenen geworden war, ihm Volkmar endlich »den Star hatte stechen müssen«, wie er es genannt.

Als Walter, viel zu früh, nach dem »Lindenpark« kam, fand er den Eingang dieser Schöneberger Vergnügungsstätte der kleinen Leute aus der Potsdamer Vorstadt mit großen, grünen Plakaten beklebt:

»Heute große Spezialitäten-Vorstellung!!!
Eröffnung der Sommersaison!
Bei kühler Witterung im Saal!«

In einer Bretterbude mit der Aufschrift »Kasse« saß ein Mann, der trotz seines unscheinbaren Aussehens etwas Theatralisches hatte. Vor ihm auf einem Teller lagen so viele Nickelstücke Entreegeld, daß man bereits jetzt auf eine gute Besucherzahl im Garten schließen konnte.

Und wirklich, als Walter dann zu der Sommertheaterbühne vorgedrungen, fand er die meisten Plätze schon besetzt. Da und dort war zwar noch ein Tisch frei, aber die dazugehörenden Stühle standen nur auf zwei Beinen, waren gegen den Tisch gelehnt und galten deshalb für »reserviert!« Und solche Reservate wurden von kleinen Jungen bewacht, die sofort Kampfstellung einnahmen, wenn Walter sich ihnen näherte und Miene machte, sich dort niederzulassen. »Dat is unsa Tisch, schon seit viere belegt, da darf keener mehr ran, hat och keener Platz nich mehr!«

Walter hielt Umschau, konnte aber weder Elsbeth noch den kaiserbärtigen Vater erspähen und setzte sich endlich zu einer Familie, deren freundliches Wesen ihm verriet, daß man ihn nicht ungern am Tisch sah, vielleicht der mannbaren Jungfrau wegen, die neben dem weiblichen Oberhaupt saß und gleich diesem strickte.

»Wenn fängt's denn nu wirklich an, det janz richtje Theata, die Musike hat doch nu schon fünf Sticker jespielt?« erkundigte sich ungeduldig eins der älteren Kinder am Tisch.

Die Mutter antwortete gar nicht mehr auf diese nun schon so oft gestellte Frage, aber der Vater sagte tröstend: »Jleich fängt's an, horste nich, sie kloppen ja schon Näjel in hintern Vorhang!«

Plötzlich gab sich Walter einen Ruck. Er hatte Elsbeths Vater erkannt, der den Weg für die Familie bahnte. Hinter ihm kam seine Frau mit der großen Tochter und einem kleinen Mädchen. Sie steuerten einem der noch freien Tische zu, den ein Junge mit einer Matrosenmütze bis jetzt gegen alle Angriffe der Besucher verteidigt hatte.

Elsbeth spähte, ehe sie sich setzte, unauffällig umher, hatte Walter aber, der sich erhoben, nicht bemerkt. Da klingelte es auf der Bühne, er mußte sich wieder setzen, wenn er nicht auffallen wollte.

»Einmal!« sagte das Familienoberhaupt bedeutungsvoll, als das Klingelzeichen ertönte.

»Einmal ist keinmal«, sagte die Mutter, »dreimal muß es sind, wahr, Lenchen?« Forschend sah sie von der mannbaren Tochter zu Walter, welchen Eindruck der schöne Mädchenname auf ihn gemacht habe.

Ja, der Vorhang rollte wirklich erst nach dem dritten Klingelzeichen hoch, trotzdem war die Bühne leer, damit die Zuschauer erst die Szenerie bewundern konnten.

»Det is een Wald, wahr, Mutter?«

»Und dahinter jeht die Sonne uff«, sagte eines der anderen Kinder.

»Unter jeht sie«, sagte die Mutter, »uff die andre Seite seht ihr doch schonst den Mond!«

»Und nu kommt bald eener, wahr, Vater?«

»Watter, wo kommt eener, ick seh noch keenen!«

»Na, da kommt er doch! Det is eener Wilder mit'n schwärzet Jesicht und ebenso schwarze Beene!«

»Und um'n Bauch hat er Federn, scheene Straußenfedern, wie jut ich die for meinen Hut jebrauchen könnte, statt die Rosen von vorichte Jahr!«

»Stille, ihr stört ja den jungen Herrn an'n Tisch! Wat will denn nu überhaupt der schwarze Mohr?«

»Na paß doch uff«, sagte der Vater geärgert, »er hat's doch eben jesagt! Seine schwarze olle Mutter is jestorben, und die haben sie hier in dat fremde Land injebuddelt. Nu is er extra hierhergekommen, will ihr wieder ausbuddeln und in seine schwarze Heimat mitnehmen!«

In dem Augenblick, da der Wilde das Wort Mutter ausgesprochen, hatte der Kapellmeister ans Pult geklopft, die Musik begann zu spielen und der schwarze Held rührend zu singen, weil er seinem tiefen Empfinden nur noch durch Töne Ausdruck verleihen konnte. Er kniete dabei nieder, und zugleich wurde es um ihn Nacht, bengalisch-blaue Nacht, über deren Entstehung sich die Kinder den Kopf zerbrachen. Die Mutter aber und die mannbare Tochter begannen zu schluchzen – ein Beweis, wie zartbesaiteten Gemüts sie waren.

Und nun erschienen auch andere Personen auf der Bühne, die Handlung wurde wildbewegt, man ahnte, es würde Blut fließen. Denn da war einer mit einem Revolver, den er dem Wilden bedrohlich unter die Nase hielt, ihn »Sklave« nannte und der Flucht beschuldigte.

»Ick kann det Jeknalle nicht vertragen«, sagte die Mutter, »ick halt' mir die Ohren zu – wer jescheit is, macht's mir nach, denn die Trommelfelle können einen bei platzen.«

Doch nur die mannbare Tochter folgte dem guten Rat der Mutter. Die Sympathie steigerte sich für den armen Wilden, auf den der Sklavenhalter, der außer durch den Revolver noch durch ein paar ganz neue, gelbe Schaftstiefel ausgezeichnet war, dann auch wirklich dreimal schoß, ohne ihn aber zu treffen. Daß ihm der Wilde nun mit dem auf dem Rücken gehaltenen und für die Zuschauer sichtbaren Dolch das Herz mitten durchbohrte, löste einen Beifallssturm aus, der sich noch steigerte, als plötzlich die verstorbene Mutter des Schwarzen in fleischfarbenem Trikot herabschwebte, um ihrem Sohn, der mit den andern Darstellern bei nixenhaft grünem Licht Apotheosenaufstellung eingenommen hatte, einen Kranz auf den wolligen Kopf zu setzen.

Der Vorhang fiel, große Pause.

Gleich vielen andern hatte sich auch Walter erhoben, ging nun nach vorn, dicht an dem Tisch vorbei, an dem Elsbeth saß. Sie hatte ihn gesehen, aber rasch den Kopf gesenkt.

Hinter dem Biergarten war noch ein Stück freies Land, von Gemüsegärtnereien umgeben. Ein Karussell, eine Würfelbude, ein paar Schaukeln und eine Blumenlotterie, deren Lose in einer Glastrommel lagen. Auch einen Schießstand gab es, wo junge Leute, die sich aus Theaterkunst offenbar nichts machten, nach Tonpfeifen oder einem auf dünnem Springbrunnenstrahl tanzendem Ei schossen.

Hier wartete Walter, blickte nach dem Garten zurück.

Endlich kam Elsbeth, aber nicht allein, sondern mit der jüngeren Schwester, einem wenig ansprechenden, gedrückten Kinde. Walters Stimmung, schon beeinflußt durch das Biergartenpublikum, durch die Beobachtung des Kienitzschen Ehepaars, erhellte sich auch nicht, da er nicht wußte, wie er sich in Gegenwart des Kindes benehmen sollte, wagten sie doch nicht einmal, sich richtig zu begrüßen.

Doch da begann der Drehorgelmann beim Karussell zu spielen. Elsbeth führte die Kleine hin, setzte sie in eine der Schlittenkutschen, und gleich darauf begann sich das Karussell zu drehen.

»Mehr Qual als Glück«, flüsterte er, als er nun, wie zufällig, neben ihr stand.

»Aber ich bin doch so glücklich«, sagte sie leise, ohne ihn anzusehen.

Da durchzuckte es sein Herz, er liebte sie plötzlich noch heißer, das kleine Löckchen im Genick machte ihn taumelig vor Verlangen, es zu küssen.

»Ja, es ist ein großes Glück, auch für mich, schon daß Sie in meiner Nähe sind, ich Ihre Hand halten kann!«

»Die Schwester darf es nicht sehen, jetzt kommt sie herum ...«

Elsbeth entzog ihm ihre Hand, griff dann aber selbst nach seiner.

»Ich danke Ihnen für den Brief.«

»Sie werden darüber gelacht haben, ist er verbrannt?«

»Noch nicht, ich konnte mich noch nicht von ihm trennen!«

Eine Glutwelle ging über ihr feines Gesichtchen, sie entzog ihm ihre Hand, wandte sich ab.

»Ich hätte mich doch so gut, als ganz Fremder, zu Ihren Eltern an den Tisch setzen können!«

Sie schüttelte den Kopf. »Vater hätte es sofort gemerkt, dann wäre es nie mehr möglich gewesen, uns allein zu treffen.«

Der Karussellmann klingelte, die Holzpferde und Kutschen drehten sich langsamer.

»Ich muß jetzt rasch zurück an den Tisch! Wenn ich wieder einmal von zu Hause fortkann, schreibe ich Ihnen rechtzeitig!«

Er drückte ihr eine Visitenkarte in die Hand: »Hier meine neue Adresse. Übermorgen ziehe ich von Hause fort, ich wohne dann möbliert, das muß ich Ihnen aber alles ausführlich erzählen!«

Da sprang schon die kleine Schwester aus der Gondel, stand da, noch ganz taumelig von der Rundfahrt.

Noch einen langen Blick, dann nahm Elsbeth die Schwester an der Hand, eilte in den Garten zurück.

 

Frau von Eschwege war schon in den Morgenstunden in das »Stiftshaus für verarmte Offizierswitwen adliger Geburt« übergesiedelt. Jetzt, am Nachmittag, verstaute Walter in einer Droschke zweiter Güte das, was er in seiner neuen Behausung unbedingt brauchte, alles andere ließ er, mit Einverständnis des neuen Wohnungsinhabers, noch zurück.

Der Kutscher hatte die schwere Bücherkiste neben sich auf den Bock gestellt, schnalzte mit der Zunge, und der Gaul wollte gerade anziehen, als es noch einen Aufenthalt gab.

»Ja, wenn nu noch Briefe hierherkommen?« fragte die Portiertochter, die die letzten Sachen heruntergetragen hatte.

»Mamas Adresse steht ja auf der polizeilichen Abmeldung und meine, warten Sie, ich schreib's Ihnen zur Sicherheit doch lieber auf!«

Mit der Karte zugleich wollte er ihr ein Markstück geben. »Da, Fräulein Marie, und schönsten Dank für die Hilfe!«

»Det hab' ick so jetan«, sie nahm das Geld nicht, hob die Schürze vors Gesicht und lief schluchzend ins Haus. Ach, wie hatte sie ihn geliebt, ohne daß er es geahnt ...

»Sei froh, dat er dir nich unjlücklich jemacht hat«, sagte der Vater. »Hätt' er dir wat anjehext, säßte jetz da mit'n dicken Kopp. Ick hab' immer so wat jefürchtet, denn der is von die Sorte, wo ihr dämlichen Meechens sofort schwach werdet. Und die Mark hättste ruhig nehmen sollen, dann hättste dir wenigstens die Absätze jrade machen lassen können, für mehr hätt's freilich nich jelangt.«

Im Zuckeltrab ging es nach dem Platz an der Zwölfapostelkirche. Der Gaul stand, und der Kutscher drehte sich fragend um, wies mit dem Peitschenstiel nach der Hausnummer. »Is doch richtig, wahr?«

»Ja! Aber nun müssen Sie mir mit 'rauftragen helfen!«

»Wie hoch is denn?«

»Zwei Treppen!«

Der Kutscher sah nachdenklich am Hause hinauf, taxierte kopfschüttelnd die Höhe und sagte: »Nich zu machen, lieber Herr, kann ick wahrhaftg nich! Ick derf det Pferd nich alleene lassen – wenn det een Blauer sieht, schreibt er mir uff! Der kost dann mehr Strafe, als Sie mir Trinkjeld jeben. Dann ha' ick for umsonst jeschwitzt und muß noch zuzahlen. Sonst sehr jern, lieber Herr, denn ick bin sonst sehr jefällig!«

»Dann werde ich mich inzwischen auf den Bock setzen«, erbot sich Walter.

»Jeht nich, lieber Herr! Sowie det Liese merkt, jeht sie durch – die duldet patuh keenen andern uff'n Bock. Det is een janz merkwürdjes Tier, die verkoof ick noch mal an'n Zappalotschen!«

»Dann kriegen Sie auch bloß fünf Groschen Trinkgeld.«

»Jott, die ollen Semester jeben nie mehr! Ick kränke mir deshalb nich! Sehen Sie, da kommt ja ooch schon der neue Potjeh raus, mit den hätten Sie sich jleich verkracht, wenn Sie den det nich hätten rauftragen lassen, aber Sie sind woll nich ville umjezogen! Also, Jlück in die neue Bude – hoffentlich mit'n separaten Eingang vom Flur aus!«

Der neue Portier grüßte zuvorkommend. »Sie sind der Möblierte von Frau Vietz, zwei Treppen. Ja, ick weeß schon Bescheid. Und det is die Bücherkiste –«

Er ruckte sie prüfend an. »Die hat Jewicht«, sagte er anerkennend, »als wenn Blei drinne is. Ja – Bücher sind immer schwer und dabei is Papier doch so leicht. Na, ick setze erst mal vor die Haustür ab, die holt sich keener, und trage inzwischen die beiden Koffer ruff. Ach so, wie ick heeße? Na immer noch Lüdicke – aber ich bin nich verwandt mit den Jeigenmacher aus die Potsdamer Straße, denn det werde ick immer jefragt.«

Und ebenso herzlich wie vom Portier wurde Walter auch von seiner Wirtin empfangen, denn sie hatte sogar Kaffee gekocht, die Mama hatte offenbar beim Mieten der Stube sehr gut vorgearbeitet.

»Sehen Sie, Herr von Eschwege, so, wie ich Kaffee koche, ist er nicht aufregend, nicht im jeringsten! Sie können 'ne janze, jroße Bunzlauer voll austrinken und kriegen doch kein Herzklopfen von. Aber das ist mein Jeheimnis, das verrat ick bloß mal Ihre Frau Jemahlin, wenn Sie heiraten, aber vorläufig sollen Sie erst mal recht lange bei mir wohnen bleiben. Und nu lassen Sie Lüdicke sich abrackern, rühren Sie keinen Finger, wozu ist er denn sonst da!«

Frau Vietz hatte einen dünnen Silberscheitel über dem verrunzelten Großmuttergesicht und eine Korallenbrosche unter dem Kinn. »Ich hab' Jußzwiebäcke jenommen, aber die kommen nicht auf Rechnung, die spendier ich zum Einzug. Ich weiß nicht, wo hab' ich Ihnen bloß früher schon mal jesehen, jleich vom ersten Augenblick an waren Sie mir so bekannt, ebenso der Name!«

Lüdicke brachte, schwer keuchend, die Bücherkiste herauf, »Donnerwetter, wenn da Jold drinne wäre! Na, Pillaus unter uns werden denken, dat ick durch die Decke durchkomme, wenn ich jetz absetze.«

Dann, als die Kiste in der Ofenecke stand, wollte er ohne Lohn und Dank verschwinden, mußte erst wieder zurückgerufen werden, und war ganz erschrocken, als er den Taler bekam. »Na wat zu ville is, haben Sie jut bei mir, Herr von Eschwege!«

Frau Vietz sah ihm gönnerhaft nach, als hätte sie selbst das Trinkgeld gegeben. »Wissen Sie, wie Lüdicke hier im Haus heißt? Verzingetorix! Ja, den komischen Namen hat ihn der Herr Oberlehrer über uns«, sie deutete nach der Decke, »jejeben. Verzingetorix, das ist nämlich einer aus das klassische Altertum.«

Sie erzählte immer noch weiter, bis sie merkte, daß Walter gar nicht mehr zuhörte.

»Na ja, Sie wollen nu 'n bißchen zu sich selber kommen, die Sachen auspacken und so! Also, wenn irgendwas ist, kommen Sie bei mir rüber!«

Es war ein gemütliches, geräumiges Zimmer mit frischen Gardinen und behaglichem Bett, ja, ja, die Mama hatte für so etwas einen Blick.

Walter machte sich ans Auspacken, brachte auch alles bequem unter – nur mit den Büchern hatte er Schwierigkeit. Nur die notwendigsten konnte er handlich aufstellen, die andern ließ er in der Kiste, er wußte, vorläufig würde er ja doch nicht zum Arbeiten kommen. Die Kommilitonen mit ihrem Leichtsinn, das Studium nicht schwer zu nehmen, hatten ihn beeinflußt. Wozu gab es denn die Repetitoren, wenn es aufs Examen zuging. Jetzt war ihm eins viel wichtiger: Elsbeth! – »Sie ist mein Gedanke bei Tag und bei Nacht ...«, summte er, als er das Fenster öffnete und die Aussicht auf den Kirchplatz prüfte.

Ein Brief, ein in die neue Behausung nachgeschickter Brief von Elsbeth! Nur ein paar Zeilen, Zeit und Ort für ein Wiedersehen.

Und so saß Walter am Nachmittag zur angegebenen Stunde in Holtzapfels Konditorei – wartete. Vor dem Laden in der Bülowstraße war ein Zeltdach gespannt, ein paar Lebensbäume in grünen Kübeln erweckten die Vorstellung eines Gärtchens.

Die Marmortischchen standen verödet, um diese Stunde war die Konditorei leer, ein herrlicher Rendezvousplatz also. Elsbeth konnte, beim Vorbeigehen, mit einem einzigen Schritt von der Straße unter dem Zeltdach sein. Wenn sie doch wirklich käme – denn ganz sicher war es nicht.

Da, als er eben die Hoffnung aufgeben wollte, trat sie ein, schlank, verwirrt, glückselig, atemlos.

»Beinahe hätte ich nicht kommen können – ich hab' meine Mutter belügen müssen, ach, was tue ich überhaupt!«

Das Konditormädchen brachte die beiden Windbeutel, bekam gleich das Geld, ging hinein und stellte sich dann so hinter dem Ladenfenster auf, daß es ungesehen die beiden beobachten konnte. Denn die beiden waren doch ein Liebespärchen, das sich küssen mußte.

Aber das Liebespärchen unterhielt sich nur, sah sich in die Augen, verließ sogar nachher getrennt die Konditorei. Na ja, das war eine List, damit konnte man andere dumm machen, nur nicht sie, die Mamsell.

Am einsamen Nollendorfplatz wartete Walter, bis Elsbeth herangekommen, und beide stellten sich an, obwohl ringsum kein Beobachter zu entdecken war, als ob sie sich hier zufällig begegneten, schritten dann durch die halbbebaute Maaßenstraße den tiefgelegenen Wiesen zu.

»Wollen wir nicht du zueinander sagen?«

»Sie können es ja zu mir!«

»Aber du, ja du, mußt es auch zu mir!«

»Vielleicht später!«

»Ich müßte dich schon mal geküßt haben, dann würde es dir nicht schwer werden.«

Eine beklommene Pause. Dann sagte er: »Warum sagst du nun nicht, daß ich auch das kann, dich küssen?«

»Weil das doch hier nicht geht!«

»Sonst aber ...?«

Sie standen an einem Erlenbusch und sahen sich in die Augen.

»Ich küß dich, Elsbeth!« sagte er entschlossen.

Sie ließ es geschehen. Und plötzlich, in süßem Erschauern, fühlte er Erwiderung seiner Küsse. Tief aufatmend gab er sie endlich frei. Scheu blickten sie um sich, niemand hatte sie belauscht. Nun fanden sie keine Worte, waren befangener als vorher.

»Bist du nun nicht auch sehr glücklich?«

»Vorher war es doch schöner!«

Er nahm ihre Hand, küßte sie. Elsbeth spürte seine tiefe Dankbarkeit, aber beschämt wehrte sie ab. »Nicht doch, nein, nicht! Und nicht wahr, so 'was tun wir nicht wieder!«

»Nein, das tun wir nicht wieder, nur noch ein einziges Mal!« Und er zog sie an sich und küßte sie. Elsbeth hatte die Hand auf seine Schulter gelegt, küßte ihn immer wieder. Riß sich dann aber plötzlich los und sagte: »Sie müssen mich ja verachten, wenn das jemand von mir wüßte!«

»Es weiß niemand und wird niemals ein Mensch wissen! Hörst du den Kuckuck, aber nicht mitzählen! Er kann plötzlich stille sein, und dann wird man traurig, wenn man nicht bis hundert gekommen ist!«

»Ich hab' ihn schon lange gehört, ich hab' ein paar Pfennige im Portemonnaie – vielleicht sind es jetzt Goldstücke geworden!«

Nein, die Hoffnung erwies sich als trügerisch.

»Glaubst du denn an so was?« fragte er.

»Erst recht, seitdem ich Sie kenne! Damals, als Sie mich ansprachen – da hatte ich in der Nacht vorher von Fischen geträumt, und das ist immer gut! Ach, ich hab' so viele Wünsche, wenn die sich einmal erfüllen möchten!«

»Was denn zum Beispiel?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, ich will nichts von zu Hause erzählen!«

»Na, denn einen andern Wunsch!«

»Im Märchen, da wünscht sich eine drei Rosen auf einem Stiel, darüber hab' ich mich immer gewundert, weil's doch gar nichts so Besonderes ist, denn drei Rosen auf einem Stiel hab' ich schon öfter gesehen. Aber ich möchte einmal bei Mondenschein Kahn fahren – und dann möchte ich wunderbar singen können, und dann möchte ich, ach, ist ja alles Dummheit, Sie lachen mich schon aus!«

»Sage doch du!«

Aber sie vermochte es immer noch nicht, trotz der Küsse. »Meine Freundinnen haben mir erzählt, daß sie Sie früher immer in Offiziersuniform gesehen haben!«

»Ja ich war Leutnant, bin's aber nicht mehr. Kurz vor dem Avancement zum Premier mußte ich den Abschied nehmen. Aus der verfluchten Sparsamkeit, in der ich als mittelloser Offizier lebte, aus diesem glänzenden Elend heraus, war ich durch die Zeitungsberichte auf die Lohnkämpfe in den unteren Schichten aufmerksam geworden und wollte mir nun selbst ein Urteil bilden, da ich den aufhetzerischen Flugblättern, die man mir abends auf der Straße gab, nicht glaubte. Ich ging in Versammlungen, wo sozialdemokratische Redner sprachen, natürlich war ich nicht in Uniform. Aber da waren auch Spitzel, die mich gesehen haben, die mich denunzierten. Als ich vom Obersten zur Rede gestellt wurde, äußerte ich Ansichten, die sich mit denen eines Offiziers nicht vereinbaren ließen, also seitdem gehe ich nicht mehr in Uniform!«

»Und jetzt?«

»Na, ich hatte glücklicherweise mein Abitur gemacht, ehe ich Militär wurde, so kann ich wenigstens studieren, und das tue ich jetzt.« Er deutete in die Ferne: »Siehst du da hinten, nein da, siehst du die einsame Villa? Dort wohnt Eisrieke, weißt du, wer das ist?«

»Ja die Verrückte!«

»Die wäre beinahe meine Verwandte geworden.« Elsbeth hörte erstaunt zu, als er die unglückliche Liebesgeschichte erzählte.

»Ich glaube«, sagte sie dann, »ich würde auch wahnsinnig werden, wenn, aber wollen nicht mehr davon sprechen! Und Sie sind diesem Onkel so ähnlich?«

»Alle sagen es!«

»Aber, wenn sie so reich ist und sich so für Sie interessiert, könnte sie Ihnen doch –«

»Wollte ja auch – aber ich wollte nicht, trotzdem ich einen monatlichen Zuschuß jetzt, da Mama fast alles eingebüßt hat, sehr gut gebrauchen könnte.«

»Dann sagen Sie's ihr doch! Sie haben, als Sie mir die Liebesgeschichte eben erzählten, so geheimnisvolle Andeutungen gemacht, daß Sie das Unrecht Ihres Onkels sühnen müßten, dann haben Sie aber auch Anspruch auf das Vermögen, das er durch seine Heirat mit der Millionärstochter bekommen hätte!«

»So!«

Walter war einigermaßen verwundert, daß in ihrem romantischen Köpfchen solche praktischen Gedanken auftauchen konnten. »Vielleicht«, sagte er, »würde ich meine Forderung auch geltend machen, wenn sich's wirklich herausstellte, daß ich die Sündenbockrolle zu spielen habe, noch fühle ich aber, daß ich mein Schicksal selbst regiere. Daß Mama ihre paar Kröten einbüßte, war ja nicht gerade nötig, aber warum hört sie auf solche Weiber wie diese Kuttig! Die ist an allem schuld, weil sie erzählte, der Bankier könne so hohe Zinsen wegen seiner guten Börseninformationen zahlen!«

»Kuttig, die Modistin?« fragte Elsbeth. »Die hat doch auch alles eingebüßt, die muß jetzt als Hausschneiderin gehen, macht bei allen meinen Freundinnen die Frühjahrsgarderobe!«

Da trug der Wind den Klang der Uhr von der Zwölfapostelkirche herüber. Elsbeth zählte mit: »So spät schon? Ich muß nach Hause, aber schnell, so lange dürfte ich ja gar nicht bleiben!«

»Wir gehen quer durch die Wiesen«, sagte er, »dann sparen wir die Hälfte Wegs. Aber vorher noch einmal, ein einziges Mal, ehe uns jemand begegnet!«

»Und nun sage wenigstens einmal du zu mir!«

Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und sah ihn an, seltsam ernst. »Du«, sagte sie, »du, entweder mein höchstes Glück oder mein Unglück!«

 

Fräulein Kuttig kam, in später Nachmittagsstunde, aus der einsamen Villa, wo sie jetzt ebenfalls seit ein paar Tagen schneiderte, denn Fräulein Friederike Sandbohm ließ sich gleich drei neue Kleider machen. Hinter ihr trabte ihr Mops, zuweilen empört kläffend, weil er seiner Herrin kaum zu folgen vermochte, so rasch schritt sie aus, ganz erfüllt von der Unterhaltung mit Rieke.

»Ja, ich muß mich jetzt in der Zeitung anbieten, als Hausschneiderin, denn nun kommen sie nicht mehr, die feinen Damen! Kaufen sich bloß noch Fertiges oder lassen sich Altes umändern, wenn sie's nicht sogar selbst machen wie die Frau von Eschwege, die ja durch den Betrüger auch ihr bißchen Geld losgeworden ist! Nicht mal die paar Mark zum Modernisieren hat sie!«

Riekes große Blauaugen waren starr geworden, sie hatte nichts gefragt, nichts gesagt, solange die Kuttig da war. Jetzt aber wandte sie sich an Albert. »Haste jehört, ausjezogen ist sie, und wo ist er jeblieben, was wird aus ihm, nu mußt du ran!«

»Laß mir bloß zufrieden! Wenn ich alles tun sollte, was du dir so ausdenkst, dann käme ich mir vor wie meine Dohle. Haste Jakob mal zujesehen? Janz stille sitzt er, so wie ich hier, aber plötzlich dreht er sich wie'n Triesel im Kreise, hackt nach'n Stück Modder, schmeißt es hin und versucht sich die Schwanzfedern auszureißen, jiebt dann, kein Mensch weiß warum, einem friedlichen Huhn eins auf'n Kopp, und auf einmal sitzt er wieder janz stille, als wenn er immer so jesessen hätte. Nee, Rieke, laß mir man aus's Spiel, es kommt nischt bei raus.«

»Aber man muß ihm doch helfen!«

»Das kannste doch bloß mit Jeld, und des nimmt er doch nicht!«

»Dann wird ihn eine höhere Jewalt dazu zwingen.«

»Oder auch nicht!«

»Ach Jott, Albert, ich hab' doch bei den Besuch jespürt, was da bei ihm zu Hause los ist! Die janze Offiziersluft sitzt da noch in die Stuben! Die Mutter mit ihrer Lebensauffassung hat dem armen Jungen eine Zwangsjacke angezogen, mit die lauft er nu 'rum durchs Leben und wird sie nicht los!«

»Wieso Zwangsjacke?«

»So wird's natürlich nicht jenannt, wenn sie von sprechen. Aber ich kenne den Zimt von Herberten her. Da heißt's dann Karriere, oder Standesrücksichten, oder Jesellschaft! Ach, es jibt wunderhübsche Namen für so eine Zwangsjacke, mit die ein Herz jebändigt wird, damit's nicht jlücklich werden soll!«

Sie seufzte tief auf. »Wenn so ein armes Menschenskind einen schönen Wahn hat von Jlück und Liebe, dann nennen es die andern wahnsinnig oder verrückt oder überkandidelt. Weil ich an Treu und Liebe so fest jejlaubt habe, hätte man mir bewundern müssen – aber nee, ausjelacht haben sie mir! Dadrüber hab' ich mir aber nie nich jeärgert, Lausejungs sind Lausejungs, es jiebt große und kleine, und wenn sie sich nich lausejungsch benähmen, wären sie eben keine!«

»So is das also!«

»Ja, so ist es! Und Unjlück ist Unjlück, schüttelt es einer ab, wie ich jetzt, dann rennt's hintern andern her und macht bei dem Huckepack, dem es am leichtesten anspringen kann. Und der, ich will seinen Namen janich nennen, ist anfällig! Auf den wird sich das Unjlück nu stürzen, und darum fühle ich mir schuldig. Bei seine Mutter hat's anjefangen, nu kommt er selber d'ran, wo er allein ist.«

»Oder auch nicht!«

Sie sah den Bruder mitleidig an. »Man muß verrückt jewesen sein, um vernünftig werden zu können!«

»Na, dann hab' ich ja auch Hoffnung!«

»Aber du mußt dir beeilen, sonst wird es nischt mehr in diesem Leben! Dein Zustand verschlimmert sich von Tag zu Tag, du merkst es bloß nicht. Ein Verrückter hält sich immer für jesund und die andern für jeisteskrank!«

Es war inzwischen dunkel geworden, und Rieke und Albert waren nach dem etwas gereizt gewordenen Gespräch verstummt. Nun sagte er: »Wie dichte ans Fenster die Fledermäuse vorbeisausen!«

»Ja, du siehst nach die Fledermäuse und ich nach die Sterne, wie sie funkeln – da haste den Unterschied von uns beide!«

»Vor dem lieben Jott ist 'ne Fledermaus ebenso schön wie ein Stern, vielleicht noch schöner, weil er sich bei die Erschaffung von son kleines Dings viel jrößere Mühe jeben mußte. Aber nu will ich dir mal was sagen, Rieke, damit du mit die Quengelei aufhörst. Ich werde also was in die Sache unternehmen, was, das weiß ich selber noch nicht. Ich tue es aber nicht wegen die höhere Jewalt oder sonst einen Mumpitz, sondern weil ich dem jungen Mann ja auch helfen will, wenn er in die Klemme sitzt.«

»Es war ein schweres Stück Arbeit, ehe ich dir soweit jebracht habe«, sagte sie, »aber dein armer, schwacher Kopp kann nich so rasch mit. Doch – nun sage morgen früh nicht, daß ich das etwa jeträumt habe, was wirste also machen?«

»Es jenügt, wenn ich feststelle, wo er jetzt wohnt, das ist die Hauptsache.«

Als Walter am nächsten Tag aus der Vorlesung heimkam, machte Verzingetorix das kleine Fenster seiner Portierstube im Hausflur auf und sagte: »Ein Herr hat nach Ihnen jefragt, er sagte, er will noch mal wiederkommen!«

»In meinem Alter, was? Wird mein Freund Volkmar gewesen sein, der sich die neue Bude mal ansehen wollte.«

»Nee, nich in Ihr Alter, älter, ville älter! Er hatte 'ne jrüne Maikäferbüchse aufm Rücken und ein Schmetterlingsnetz in der Hand. Wird woll ein Naturforscher jewesen sein – aber ein janz richtiger, keiner von die Sorte, die mit'n Feuerhaken in die Müllkute polken.«

»Solchen Bekannten, nee, hab' ich nicht! Aber ich muß rauf, ich erwarte einen wichtigen Brief!«

Und wirklich, in dem kleinen, gelben Blechbriefkasten, den er zusammen mit seiner Visitenkarte an der Entreetür befestigt hatte, schimmerte etwas Weißes – ein Brief von Elsbeth.

»Mein Geliebter!

Wie habe ich dieses Wort früher gehaßt, weil es so etwas Anrüchiges hatte, wenn man sagte, er ist ihr Geliebter. Heute finde ich es berauschend schön, denn Du bist mein Geliebter und ich Deine Geliebte. Ich sage es in stolzem Glücksgefühl, und das ist so groß, daß ich manchmal wie schwindelig werde auf einer Schaukel. Ich weiß nicht, daß ich früher so habe leben können, ohne Dich zu haben. Nun haben wir uns doch bloß wenige Tage nicht gesehen, und das ist mir jetzt schon wie eine Ewigkeit, weil ich mich so sehr nach Dir sehne. Damit Du immer aber auch jede Stunde an mich denkst, wollte ich Dir mein Bild schicken, wenn es auch noch das von meinem Konfirmationstage ist, wo ich zwei Zöpfe habe, aber es ist bloß noch eine Photographie im Album, und ich hatte gedacht, daß hinten noch welche lose liegen. Ich kann Dir also kein Bild schicken, weil es gleich gemerkt werden würde, und schicke Dir deshalb eine Locke, wenn Du Dir was daraus machst, aber Du findest mein Haar ja schön – oder wolltest Du mir bloß was Angenehmes sagen. Denn ich weiß manchmal wirklich nicht, wie Du es meinst und ob Du Dich nicht heimlich lustig machst! Locken soll man ja nicht verschenken, weil die Liebe dann stirbt, aber wenn sie auf solchem Aberglauben ruhte, wäre sie auf keinem festen Grund gebaut und nichts wert.

Morgen hat mein Vater wieder seinen Vereinstag. Ich werde, wenn ich für Mutter eine Ausrede finde, um dieselbe Zeit wie neulich bei der Konditorei vorbeigehen und hereinsehen, ob Du da bist.

Jetzt muß der Brief aber in den Kasten, sonst bekommst Du ihn nicht mehr rechtzeitig.

Gruß und K..., was sich darauf reimt, aber nicht Schluß.

Deine Elsbeth.«

Gerade hatte Walter das blonde Löckchen geküßt und in seine Brieftasche getan, als es an die Entreetür klopfte. Wer wollte denn etwas von ihm, was sollte die Störung! Ärgerlich öffnete er.

»'n separaten Eingang haben Sie ja, aber warum keine Klingel dran?«

Albert stand vor dem Verdutzten: »Bitte, doch eintreten zu dürfen, oder nicht?«

»Bitte, Herr Sandbohm, ich bin nur so überrascht. Sind Sie's, der heute schon einmal hier war?«

»Ja, die Beschreibung stimmt nu aber woll nicht mehr janz! Ich hatte heute früh 'ne Expedition auf Wasserkäfer jemacht, und da fiel mir auf einmal ein, wie's Ihnen eijentlich jehen mag. Wie jeht's Ihnen eijentlich, immer ein Bein vor's andere, was?«

Walter hatte Albert zum Sitzen genötigt, brachte nun Zigarren. »Hoffentlich schmecken sie Ihnen?«

»So schlecht sind sie? Dann rauchen wir doch lieber meine Sorte. Hier, bitte sehr! Die sind nicht janz so jesprenkelt wie Ihre.« Er hielt ihm sein großes Lederetui hin, in dem beide Seiten vollgesteckt waren.

»Ich wäre längst schon wieder einmal in die einsame Villa gekommen, wenn ich – –«

»Na ja – 'n junger Mann in Ihre Jahre hat was Besseres zu tun, als bei uns olle Rejisters zu sitzen. Wundern Sie sich nicht, daß ich Ihnen hier jefunden habe? Ja, ich hab' 'ne Pfadfinder -Natur! Aber es war janz einfach! Das hübsche Portiermädel – so 'ne Schwarze mit 'n Wuschelkopp, hat's mir verraten. Sie läßt Ihnen schön jrüßen!«

»Danke, und wie geht's Fräulein Sandbohm?«

»Danke, die wird immer normaler! Andere Leute werden immer verrückter, die nicht! Die blüht auf wie 'ne Päonie, läßt sich auch neue Kleider machen. Eins ist schon fertig – wenn sie's anhat, sieht sie aus wie 'ne Rejimentskommandöse, Ihr Onkel hätte Staat mit ihr machen können, auf die Hofbälle und so!«

Albert schwieg, sah sich um in der Stube, hatte wohl alles gesagt, was er sich für den Anfang vorgenommen und suchte nun nach der Überleitung.

»Sie läßt Sie auch schön jrüßen!« setzte er dann noch hinzu.

»Danke, das ist nun schon der zweite Gruß, den Sie mir von einem weiblichen Wesen bestellen!«

»Ja, aber von die Kuttig hab' ich keinen Jruß, die schneidert jetzt nämlich bei uns!«

Walter kniff die Augen zusammen. »Und erzählt wohl vieles?«

»Die quatscht das Blaue vom Himmel runter!«

»So, na, da sind Sie ja auf dem laufenden, brauch ich Ihnen also gar nicht erst zu erzählen, warum ich jetzt hier wohne.«

»Nee, brauchen Sie nicht! Aber brauchen Sie nischt anderes?«

»Danke, nein!«

»Jlauben Sie an himmlische Fügungen, ich meine, an höhere Jewalten?«

»Das kommt d'rauf an!«

»Ich bin so'ne höhere Jewalt, jawoll! Ich möchte Ihnen die Zwangsjacke ausziehen, mit der Sie rumlaufen, denn Sie tun sich doch Zwang an, mächtigen Zwang sojar, und das sollten Sie nicht. Ich und meine Schwester, wir meinen es jut mit Ihnen, und die jute Jesinnung will sich auch 'n bißken betätigen, verstehen Sie? Wir werden uns also betätigen, wir setzen Ihnen ein Stipendium aus, mehr sag ich nicht. Sie müssen doch durch das Studium durch, na, ich freu mir, daß Sie sich nicht wieder auf den hohen Pegasus setzen. Und nu noch eine Frage, haben Sie vielleicht 'ne Braut? Ich will sie Ihnen nicht wegnehmen, ich frage auch nicht bloß aus dumme Neujier! Na, ich frage bloß, um Ihnen dadrauf sagen zu können, daß da in die einsame Villa zwei sitzen, auf die Sie sich jederzeit verlassen können! So, nu freue ich mir, daß ich Rieken jute Nachricht bringen kann. Also, jeden Ersten, und nu arbeiten Sie nicht zu ville, ad je, Herr von Eschwege!«

Nahe dem Ausgang des Botanischen Gartens in der Potsdamer Straße war ein Konditorladen mit einem selbst an strahlenden Sonnentagen dämmerigen Hinterzimmer. Ein schwarzes Glanzledersofa stand da, weiße Porzellanköpfe der Nägel garnierten die Ränder. Darüber hing ein Regulator, rechts von ihm ein Öldruckbild des greisen Kaisers, links, als Pendant, eines des schönen, bärtigen Kronprinzen, des Lieblings der Damenwelt. Auf diesem Sofa nahmen aber nur würdige Ehepaare Platz, die Liebespärchen und jungen Mädchen bevorzugten die kleinen Tische.

Und hier saß das »Kränzchen« – Elsbeths Freundinnen, ehemalige Mitschülerinnen aus der Charlottenschule, alles Mädchen aus guter Familie, wie sie selbst zu sagen pflegten.

Sie sprachen von ihren neuen Strohhüten und den Frühlingskleidern, die Fräulein Kuttig gemacht hatte. Aber diese ganze Unterhaltung war nur ein Vorspiel – heute war man hier aus einem ganz besonderen Grund zusammengekommen, man wollte Gericht halten über Elsbeth.

Als nun auch Hannchen Kunoldt, die Tochter des Konsistorialrats, gekommen, war der große Augenblick endlich da, die Anklage konnte beginnen.

Hilde Seidel tippte die Kuchenkrümel mit dem Zeigefinger von ihrem Tellerchen und sagte so nebenbei: »Fräulein Kuttig, die noch für Mama zu arbeiten hat, erzählte gestern, daß sie den ›Leutnant in Zivil‹ Arm in Arm mit einem Mädchen am Nollendorfplatz gesehen hat. Nach ihrer Behauptung soll dieses Mädchen eine von meinen Freundinnen gewesen sein, also, wer von euch hat sich mit diesem elenden Schürzenjäger eingelassen?«

Eine nach der andern sagte: »Ich nicht!«

Elsbeth, totenblaß geworden, sah starr vor sich hin, nun war, als letzte, sie daran. Und sie schwieg.

Hannchen Kunoldt sagte: »Du also, Elsbeth Kienitz! Ja, du hast etwas, das ein Mädchen nicht haben darf, darum hat er dich auserwählt!«

Sie hob den Kopf, sah Hannchen Kunoldt an und sagte: »Ich weiß doch, daß ihr alle in ihn verliebt seid, daß ihr doch nur deshalb eure Abendpromenaden in der Potsdamer Straße macht, um ihm zu begegnen, aber er sagte mir, daß ihm keine von euch hübsch genug ist!«

Nach dem ersten Erstaunen erhob sich ein rachsüchtiges Gelächter. Hilde Seidel sagte halblaut: »Sie wird noch frech, das habt ihr davon, daß wir uns mit ihr abgegeben haben, sie paßt doch gar nicht in unseren Kreis!«

»Seht!« machte Hannchen Kunoldt. Und dann wandte sie sich zu Elsbeth: »Wenn man, an hellichtem Tag, mit einem Herrn Arm in Arm geht, das darf man doch nur als öffentlich Verlobte, und dann eigentlich auch noch nicht, wann verlobt ihr euch denn nun eigentlich, ich meine, wann verschickt ihr Karten und wann steht es in der Zeitung?«

Hannchen Kunoldt blickte die andern an. Einigen war es doch peinlich, sie starrten beharrlich auf die Marmorplatte, andere nickten zustimmend, der Ausdruck ihrer Augen war grausam hart.

»Untergehakt seid ihr gegangen, auf der Straße? Na ich dank' schön!« Else Burghardts Nase bekam beim Hochziehen krause Fältchen. »Hättest du uns wenigstens etwas davon gesagt, daß er hinter dir her sei, aber durch diese Heimlichkeit gegen uns hast du gegen unsere Kränzchenparagraphen verstoßen!«

»Ja, das hat sie!« echote der Chor.

»Bist du«, sagte Hannchen Kunoldt, »bist du jetzt etwa sein Verhältnis?« Sie hatte offenbar selbst nicht den Mut gehabt, dieses furchtbare Wort auszusprechen und war nun puterrot geworden.

»Pfui!« sagte Elsbeth. Sie war dem Weinen nahe.

»Ich meine nur«, setzte Hannchen hinzu, »du willst dich doch nicht etwa solchen Mißdeutungen noch länger aussetzen?«

»Meine Eltern«, sagte Wanda Petzold, die nun auch ihren Teil dazu geben wollte, »nein, meine Eltern würden so etwas überhaupt nicht dulden, und ich tät's auch nicht. Mein Papa ist Vortragender Rat im Kultusministerium.«

»Weiß denn eigentlich dein Vater davon, oder deine Mutter?«

Elsbeth, die alles über sich hatte ergehen lassen, richtete sich plötzlich auf, sah einer nach der andern in die Augen. Und leise sagte sie dann: »Es ist ein Liebesverhältnis und ich hab' an nichts gedacht! Aber ihr habt doch sonst immer so von Liebesverhältnissen geschwärmt, warum denn jetzt auf einmal nicht mehr?«

»Ja – in Ro-manen! Wenn man Liebesgeschichten liest, aber in Wirklichkeit ist das ganz was anderes!«

Und alle stimmten Wanda Petzold zu.

»Dann verachtet ihr mich also?« fragte Elsbeth.

Keine antwortete, keine sah sie an.

Da sagte Elsbeth: »Und jede von euch wäre glücklich gewesen, wenn er sie erwählt, auch du, Cäcilie von Lehsten. Du hast zwar nichts gesagt, hast aber auch nicht meine Partei ergriffen, und auf dich hatte ich felsenfest gerechnet, weil du meine beste Freundin gewesen bist!«

Elsbeth stand auf, zog sich, sehr umständlich, ihre braunen Glacés an, strich jeden Finger glatt, nahm ihren Sonnenschirm. »Eure Absicht, mich von ihm zu trennen, habt ihr nicht erreicht!«

Ein schrilles Lachen war die Antwort.

Elsbeth wandte sich kurz ab, ging vorn zum Ladentisch, bezahlte ihre Nußtorte.

Stand dann draußen auf der Potsdamer Straße und wußte, daß sie keine einzige Freundin mehr hatte, nur noch Feindinnen.

 

Die Wiesen waren rot vom blühenden Sauerampfer, das hohe Gras wogte wie Korn im Winde, der Kuckuck rief, die Lerchen stiegen jubelnd auf, unter dem blauen Himmel haschten sich die Schwalben.

Oft kamen jetzt in den Abendstunden schwere Gewitter herauf, Blitze gingen ununterbrochen nieder, aber die Regenwasser löschten das Feuer sehr bald, wenn einer der alten Weidenstümpfe zu schwelen begann.

Abseits von den als Wegeinfassung einstmals gepflanzten Bäumen stand eine hohe, schlanke Weide. Sie war bei solchen Gewittern am gefährdetsten. Doch sie blieb verschont, rauschte nur im Wettersturm, ließ Zweige und Blätter ergeben hängen, schüttelte nachher die Tropfen ab, stand stolz und frisch wieder da, wenn sich das Ungewitter verzogen.

Wie oft hatten Walter und Elsbeth unter diesen Bäumen gesessen, in den Abendstunden, wenn sich ein zarter Dunstschleier aus den Wiesen hob, oder in der Sonntagsfrühe, wenn das Glockengeläut der Zwölfapostelkirche bis hierher in die Stille und Einsamkeit drang.

Diese Weide war »ihr Baum«, sie gehörte mit zu ihrer Liebe, wie der Lerchenschlag, der Schwalbenschrei und der melancholische Singsang der Goldammer in den Erlenbüschen.

Als sie heute dort saßen, kam ihnen plötzlich zum Bewußtsein, daß es auf den Wiesen ringsum ganz einsam geworden war. Die Jungen, die im Wilmersdorfer See gebadet und dann den Heimweg, statt auf der hochgelegenen Chaussee, über das grüne Gelände angetreten, waren längst verschwunden. Auch der Herr Gendarm, der beim Vorüberkommen das einsame Pärchen kritisch gemustert, war jetzt nicht mehr zu sehen. Die armseligen Existenzen, die hier, bei Mutter Grün, in den trockenen Gräben, geschützt von einem Weidenbusch, Unterschlupf gesucht, lagen wohl längst im Schnapsdusel da, froh, daß sie der Grünrock nicht aufgestöbert hatte. Und nun stand auch die silberne Mondsichel am Himmel, die Fledermäuse huschten es war höchste Zeit für den Heimweg.

Aber die beiden da unter dem Weidenbaum vermochten sich heute nicht zu trennen. Bang und schwer war ihnen zumute in all ihrer Glückseligkeit. Sie sprachen nicht mehr, küßten sich nur. Kein Lächeln, kein Scherzen, schwermütiger Ernst in beider Gesichter. Und wenn sich zwischen diesen Küssen doch ein Wort von ihren Lippen rang, so hieß es: »Du, du!«

Doch plötzlich sagte Elsbeth: »Hinter dem Baum da steht jemand!«

Mit einem Ruck war Walter aufgesprungen, den Stock bereit zum Zuschlagen. Aber da trat schon hinter der Weide ein untersetztes, vierschrötiges Wesen hervor, ein freches Lächeln im Gesicht: »Ha'm Se nich 'n Ziehjarrn for mir?«

»Seien Sie froh, daß ich Sie nicht übern Schädel haue!«

»Wat, willste jar noch frech werden, Junkgekin?«

»Da kommt der Gendarm zurück«, rief Elsbeth und winkte dem Beamten.

Im nächsten Augenblick war der Kerl im aufsteigenden Nebelblau verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt.

Der Gendarm war im Laufschritt herangekommen.

»Wir sind eben von einem Strolch belästigt worden.«

Der Beamte sah von Walter auf Elsbeth, blickte nach der angedeuteten Richtung, zuckte die Schultern. »Dem hätten Sie sich nicht auszusetzen brauchen – da haben Sie selber Schuld. Was machen Sie eigentlich noch hier, mit dem jungen Mädchen, Sie sind mir vorhin schon aufgefallen!»

»Das ist meine Sache! Ich hab' erwartet, Sie würden sich unserer annehmen, statt mich zu examinieren. Komm, Elsbeth.«

Er nahm das zitternde Mädchen am Arm, maß den Gendarm mit hochmütigem Blick von oben bis unten, war im Innern gedemütigt und beschämt.

Hastig ausschreitend, schweigsam geworden, erreichten sie den Nollendorfplatz, kamen in die Bülowstraße, wo schon die Gaslaternen flackerten, gingen dann, etwas ruhiger geworden, langsam weiter.

»Alles stellt sich uns feindlich in den Weg«, sagte Walter bitter, »unsere Liebe ist heimatlos! Und warum erweckt sie überall Feindschaft, warum bloß – wir fallen doch niemandem lästig, gehen damit abseits, ach!«

»Unser Glück ist zu groß«, sagte Elsbeth.

Sie waren an der Potsdamer Straße angelangt, und sie entzog ihm ihren Arm. »Nicht weiter, wir werden immer beobachtet. Ich geh jetzt das Stückchen allein! Ach, ich hab' so Angst, wer weiß, was mich zu Hause erwartet! Vater wird wieder sagen, ich hab' mich 'rumgetrieben!«

»Wenn ich dich doch von alledem befreien könnte, wenn wir doch beide allein irgendwo auf einer einsamen Insel wären!«

»Wir sind noch zu erschreckt und verwirrt«, sagte sie. »Wenn heute alles gut abgeht, schreibe ich dir, adieu, Walter!«

»Also dann adieu, Elsbeth!«

»Adieu, ich werde es nie vergessen, wie du auf den Kerl losgingst! Wenn ich jetzt d'ran denke, überschauert's mich noch! Ach, und ich war grade so selig gewesen! Adieu, Walter, ich liebe dich so, daß ich's nicht sagen kann!«

»Und doch willst du nicht zu mir kommen, ich will's dir nun doch verraten, übermorgen hab' ich Geburtstag, was könnte das für ein Geburtstag werden, der schönste meines Lebens.«

Sie sah ihn gequält an. »Ich muß gehen, Walter.«

»Ich warte von 7 Uhr an – Elsbeth, komm' doch!«

»Adieu, vielleicht!«

Der Geburtstag war gekommen. – –

Die Mutter hatte schon am Morgen ihren Besuch gemacht, hatte den »Altdeutschen« gebracht, den Blumenstrauß, und dem Sohne ein in Seidenpapier gewickeltes Zwanzigmarkstück in die Westentasche gesteckt.

»Mama – du brauchst es selber!«

»Ich kann's entbehren – nur, damit du 'was hast, wenn's zum standesgemäßen Auftreten notwendig ist, sollst dich nicht zu genieren brauchen.«

»Und wie geht's dir denn da im Stift?«

»Nun ja!« sie seufzte. »Man gewöhnt sich, man hat schließlich auch Mitleid, denn jede einzelne hat doch ihr besonderes Schicksal, viel Glück ist da begraben worden, wenn man sie erzählen hört. Wenn ich's so bedenke, hat's der liebe Gott noch gut gemeint mit mir, hat mich nicht ganz so hart geprüft wie die andern und darum danke ich. Er ist mein Gott, der in der Not – mich wohl weiß zu erhalten – darum will ich ihm danken. Und ich laß mir's nicht nehmen – gehe in die Kirche, wo ich mich ihm am nächsten fühle. Schade, schade, daß du nie mehr mitkommst – in deinen Jahren glaubt man ja so leicht, auch ohne den himmlischen Vater auskommen zu können.«

»Ich weiß ja, Mama!«

Frau von Eschwege stand auf, glättete durch liebevolles Streicheln ihr gutes Schwarzes. »Ich gehe nun, denn wenn ich mich nicht an die Hausordnung halte, komme ich um mein zweites Frühstück ...«

»Ich spendiere, Mama, ohne den Rotfuchs von dir anzugreifen. Ich hab' noch so viel, daß wir irgendwo ein Schinkenbrötchen essen und ein Gläschen Bowle trinken können, zur Feier des Tages!«

»Ja, mußt du denn nicht in die Vorlesung?«

»Es kommt heute nicht so darauf an – –«

»Das würde Papa nie geduldet haben, erst die Pflicht, dann alles andere. Aber ich will dir einen Vorschlag machen: Setzen wir uns in eine Konditorei, trinken wir eine Tasse Kaffee, essen wir einen Windbeutel und jeder bezahlt für sich!«

»Großartig, Mama, aber nun auch nicht wieder unschlüssig werden, Gewissensbisse kriegen! Komm', komm', ehe es dir wieder leid tut!« –

Unterwegs dann fragte die Mutter: »Sei offen, Junge, hab' Vertrauen zu mir, sag, was ist das für eine Geschichte mit jenem Mädel, das dir so oft schreibt?«

»Ich liebe sie, mehr kann ich dir nicht sagen, Mama! Aber, woher weißt du?«

»Ich weiß alles, aber nun erzähle.«

»Es geht nicht, Mama, ich kann nicht!«

»Es ist mir nicht nur um dich, es ist mir auch um sie. Sie macht dich glücklich, aber soll sie deswegen unglücklich werden? Und wenn sie dich wirklich so liebt, wie du glaubst, so muß sie doch todesunglücklich werden, wenn die Sache aus ist. So ein junges Mädchen, ach, es ist gar nicht auszudenken, tut sich dann in seiner Verzweiflung ein Leid an. Willst du denn mit einem Mord auf dem Gewissen weiterleben?

Ich will nicht weiter sprechen, geb' dir das nur alles zu bedenken, suche dich frei zu machen, ehe es zu spät ist, aber in schonendster Weise. Mit deinem Freunde Volkmar kommst du wohl gar nicht mehr zusammen?«

»Doch, nur hatte er bis vor kurzem zuviel mit dem Examen zu tun. Nun hat er es gemacht, jetzt werden wir wohl unsere Sonnabendabende wieder aufnehmen.«

»Das wäre ein Glück, denn wenn er auch jünger als du, ist er doch der Gefestigtere.«

»Na ja, Mama, man kann's ja auch so ausdrücken. Ich glaube nur, Volkmar hat nicht so großen Glücksdrang von der Natur mitbekommen wie ich.«

»Lieber Junge, halte dich an das Moralgesetz, denn das Moralgesetz –«

»Nein, das Naturgesetz ist das stärkere –«

»Aber das Moralgesetz muß es bändigen, dadurch unterscheidet sich der Mensch vom Tier.«

»Mamachen, es widerstrebt mir, dir fortwährend zu widersprechen, ich glaube, alles das ist individuell, der eine hat mehr Moral, der andere mehr Natur und je nachdem handelt er. Und nu wollen wir unseren Kaffee trinken, ich freue mich, daß wir doch wenigstens noch ein Stündchen zusammen sein können, ohne dich wäre es kein richtiger Geburtstag gewesen!«

Sie waren in der Maukardtschen Konditorei in der Bendlerstraße angelangt, die kühl und angenehm nach dem sonnigen Weg anmutete.

Vom Turm der Zwölfapostelkirche schlug es sieben Uhr, der letzte Schlag zitterte noch lange in der Stille des schönen Sommerabends. Um den Kirchplatz verschlafene Einsamkeit wie in einer kleinen Stadt.

Walter saß am offenen Fenster, wartete, fühlte selbst, daß er Unmögliches erhoffte, obwohl er, eine Stunde vorher noch, an diese Unmöglichkeit felsenfest geglaubt hatte. Doch nun, jetzt! Nein, Elsbeth durfte nicht kommen, denn unter welchem Vorwand sollte sie sich daheim freimachen, wenn der Vater zu Hause war? Und selbst, wenn ihre Sehnsucht ebenso brennend, war es zuviel verlangt, daß sie allein das fremde Haus betreten, an dem fragenden Portier vorbei zu ihm hinaufkommen sollte! Aber, wenn er sie unten erwartete, hinaufführte, würde der wachsame Verzingetorix erst recht aufmerksam werden.

Die Sperlinge begannen jetzt im Chor in den Fliederbüschen der Anlage ihr Abendlied zu schilpen. Ein paar verhutzelte Weiblein kamen mit ihren Klappstühlen, machten es sich an der Kirchenmauer behaglich.

Und da bog Elsbeth plötzlich um die Ecke, ging zögernd auf der anderen Seite dahin, blickte herauf.

Walter war aufgesprungen, winkte. Sah ihr Nicken, trat zurück. Ging auf den Fußspitzen zur Entreetür, öffnete lautlos, lauschte, über das Treppengeländer gebeugt, in den Hausflur hinunter. Leise, eilige Schritte kamen herauf.

Elsbeth trat ein, schon war die vorher weitgeöffnete Tür lautlos wieder geschlossen.

Sie sahen sich stumm an, wagten nicht zu sprechen. Zitternd vor Erregung sank Elsbeth auf den nächsten Stuhl. Die roten Rosen, die sie mitgebracht, lagen auf ihrem Schoß.

»Beruhige dich doch, jetzt bist du in Sicherheit!« Er zog die lange Hutnadel heraus, nahm den wippenden Hut, fuhr ihr scheu über das Blondhaar.

»Ich habe dem Portier gesagt, ich wollte nur oben bei deiner Wirtin etwas abgeben, er wartet doch jetzt darauf, daß ich wieder herunterkomme!«

»Der wartet nicht auf dich, bloß auf das Trinkgeld von mir!«

»Dann haben wir doch einen Mitwisser!«

»Er ist nicht gefährlich, im Gegenteil, geht für mich durchs Feuer. Aber nun sieh dich doch mal um in der Stube, da, mein Geburtstagskuchen von Mama.«

Sie reichte ihm die Rosen. »Und ich gratulier' dir von Herzen!« Sie legte den Arm um seinen Hals, zog ihn an sich und küßte ihn. Doch sofort wich sie wieder von ihm zurück, blickte nach der Tür. »Wenn nun deine Wirtin plötzlich hereinkommt ...?«

»Sie ist ausgegangen, ist bei den Stettiner Sängern, ich hab' ihr ein Billett gekauft!«

»Und niemand kann uns sehen?«

»Niemand, wir sind ganz allein! Deshalb bat ich dich so sehr, zu mir zu kommen. Nun können wir prüfen, wie wir sind, wenn uns niemand beobachtet.«

Sie saßen und schwiegen, waren scheuer als sonst bei ihrem Alleinsein auf den Wiesen.

Und er dachte: »Wie wunderschön sind ihre Augen, was hat sie für köstliches Haar, für feine Hände!«

Sie aber fragte sich: »Warum liebt er mich gerade, eine aus so untergeordneten Verhältnissen? Er könnte doch die Allerschönste haben, eine Adlige!«

Dann entdeckte er, denn bisher hatten ihn nur immer ihre sehnsüchtigen Augen, ihr Mund, ihre schlanke Gestalt entzückt, einen wie hohen Spann ihr Fuß hatte. Sie fing diesen Blick auf und zog den Fuß sofort unter den Rock zurück.

Sekundenlang schloß er die Augen, überwältigt von einem Gedanken. Unruhe kam in sein Herz, sie aber hatte jetzt die Augen eines glücklichen Kindes.

Dann drangen die Abendschatten in die Stube, die Vögel draußen auf dem Kirchplatz verstummten. Da war er wieder, der Gedanke von vorhin, zurückgeschnellt in seine Seele, mit so dringendem Ungestüm, daß Walter erschrak.

Um ihn abzuwehren, stand er auf, stellte den Leuchter auf den Tisch, zündete das Licht an.

In dem Lichtkreis konnte er ihre Augen wieder sehen, aber ihr Ausdruck verwirrte ihn noch mehr. Die Worte der Mutter fielen ihm ein, bedrückten ihn ...

Die Kerzenflamme flackerte bei dem frischen Abendhauch, der zuweilen ins Zimmer drang, aber dann stand sie wieder wie zuvor, einer spitzen Dolchklinge gleich, drohend zwischen beiden aufgerichtet.

Da sagte Elsbeth plötzlich: »Wie schön war es doch vorher im Dunkeln – als wir draußen die Menschen hörten ...«

Sein Herz stand still in Erwartung.

Als er schwieg, beugte sich Elsbeth vor, blies die Flamme aus.

Atemloses Schweigen. Im Dunkeln haschte er nach ihrer Hand. Im nächsten Augenblick fühlte er ihren Arm um seinen Hals und ihre wilden Küsse.


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