Paul Grabein
Nomaden
Paul Grabein

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Heinz Bracke war wieder da. In quälender Ungewißheit hatte Elga diesem Augenblick entgegengeharrt. Auf ihren langen, inhaltsschweren Brief, den sie ihm damals nach der Unterredung mit seinem Vater geschrieben hatte, war nach zwei Tagen nur ein kurzes Telegramm von Heinz gekommen: »Alles nähere mündlich, sobald geschäftlich abkömmlich.« Seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört, und vergeblich hatte sie auf dies Kommen gewartet Tag für Tag. Das sagte ihr genug. Heinz war offenbar im Innersten getroffen. Er vermochte sich zu dem Entschluß, vor den sie ihn gestellt hatte, nicht so schnell durchzuringen. Es war ihr das in all ihrem Weh ein Trost, zeigte es ihr doch noch einmal, wie tief und ernst seine Liebe zu ihr war. Aber allmählich übertönte dies Gefühl eine sich steigernde Angst um ihn: Wenn er nun die Kraft nicht fand, sich von ihr loszureißen? Was dann?

So hatte sie ihm denn noch einmal, aus all ihrer Sorge heraus, geschrieben; aber auch hierauf war keine Antwort erfolgt, bis er nun plötzlich selber da war.

Elga erschrak, wie er zu ihr ins Zimmer trat; so verändert – verfallen und verstört – sah er aus. Die Tränen brachen ihr da aus, und wortlos nahm sie ihn in ihre Arme.

Eine geraume Weile hielten sie sich stumm umfangen, von tiefstem Schmerz erschüttert, dann trocknete sich Elga die Tränen vom Antlitz, und entschlossen sagte sie:

»Du hast meinen Brief erhalten, Heinz, und weißt, was ich deinem Vater versprochen habe, hast mir aber noch mit keinem Wort darauf geantwortet.«

»Was ist darauf zu antworten?« Mit einer müden Bewegung hob Heinz Bracke das Haupt. »Du hast ja bereits entschieden.«

»Heinz!« Ihre Stimme erzitterte.

Da brannte es in seinen Augen auf.

»Daß es für mich nicht so ganz einfach ist, deinen Entschluß hinzunehmen, das brauche ich dir ja wohl nicht noch ausdrücklich zu versichern. Und darum habe ich versucht, was in meinen Kräften stand, um uns unser Glück zu retten. Du hast dich gewundert, daß ich in all diesen Tagen nichts von mir hören ließ. Ich wollte eben erst reden, wenn ich meinen Weg klar vor mir sah. Und nun ist es so weit.«

Sein seltsam schwerer Ton machte sie heimlich erschauern, und sie drängte:

»Sprich doch weiter!«

»Ich muß dir zunächst eine Mitteilung machen, Elga, die ich dir bisher aus Schonung vorenthalten habe. Noch bevor dein Brief kam, hatte mich ein anderes schweres Unheil betroffen: Mein Freund hat mir die Mitarbeiterschaft aufgekündigt.«

Elga nickte nur langsam. »Das sah ich kommen.«

»Wie gut du mich kennst!« Mit einem bitteren Lächeln sah er sie an. »Ja, es konnte wohl nicht ausbleiben. Ich traf den richtigen Ton nicht im Verkehr mit diesen Krämerseelen, ich – –«, er brach ab, mit einer Handbewegung des Widerwillens. »Wozu das alles haarklein berichten? Es ist ja nun ganz gleichgültig. Ja, Elga, siehst du – als mich dieser erste Schlag traf, da ging es mir eigentlich schon ans Mark, es hätte des zweiten vielleicht gar nicht mehr bedurft. Denn bei all meiner Unfähigkeit sonst hab' ich doch noch so viel klares Urteil und Verantwortungsgefühl, daß ich mir von selber sagte: Wie kannst du eine Frau an dich binden wollen, du, der du nicht einmal imstande bist, dir selber eine Existenz zu schaffen – du unfähiger, jämmerlicher Kerl!«

»Heinz, nicht diese Bitterkeit – ich beschwöre dich!«

Er machte eine Gebärde der Beschwichtigung.

»Auch dies Stadium liegt schon hinter mir. Sei also ohne Sorge, ich werde dir damit nicht auf die Nerven fallen. Es bleibt mir nur noch zu berichten, daß ich trotz allem die Flinte nicht gleich ins Korn warf. All die Tage, wo du nichts von mir hörtest, bin ich herumgelaufen von früh bis spät, um mir irgend eine neue Existenzmöglichkeit zu suchen – allerdings eine solche, die sowohl im Hinblick auf dich wie auf meine persönlichen Eigentümlichkeiten angemessen und aussichtsreich war.«

»Du fandest aber nichts?«

Er schüttelte den Kopf, wieder mit jenem sarkastischen Lächeln. »Es scheint, daß für so eine prominente Persönlichkeit wie mich erst noch etwas ganz besonderes geschaffen werden muß. Vorläufig ist Fehlanzeige zu erstatten – nirgends zu gebrauchen!«

»Noch einmal, Heinz, nicht so! Du ängstigst mich. Das klingt so furchtbar, so hoffnungslos!«

»Worauf denn auch noch hoffen?« Und wieder jene Bewegung unsäglichen Überdrusses. Aber als er ihre gequälte Miene sah, raffte er sich zusammen. Aus seinem Ton brach die alte, verehrungsvolle Zärtlichkeit, als er ihre Hand ergriff und sagte: »Verzeih, Elga, aber bedenke, wie es in mir aussieht – was es mich gekostet hat, bis ich mich zu meinem Entschluß durchgerungen habe.«

»Ich weiß es, Heinz, mußte ich doch denselben Kampf kämpfen.« Mit einem verzweifelten Druck preßte sie seine Rechte, dann sagte sie wieder gefaßt: »Auch du siehst nun ein, es bleibt nur das eine: Du versöhnst dich wieder mit den Deinen, gehst wieder zu deinem Vater zurück.«

Sie spürte, wie es in seiner Hand aufzuckte, doch nur einen Augenblick und er bestätigte:

»Ja, ich werde meinen Frieden mit ihnen machen.«

»Und wann wirst du zurückkehren?«

»Bald – in wenigen Tagen schon – sowie ich meine Angelegenheiten hier erledigt habe.«

»So wäre denn alles in Ordnung. Bei dir zu Hause kann man wieder beruhigt sein, nur wir –,« sie wandte sich schnell ab.

»Elga –!« Erschütternd klang es, wie ein letztes Aufbäumen des Willens zum Glück, bevor er gänzlich in ihm erstarb; und verzweifelt riß er sie an sich.

* * *

Fränze hatte das erwartete Telegramm Ewalds erhalten. In der elften Vormittagsstunde des nächsten Tages brachte es ihr ein Bote aus Villa Montana. Endlich! Mit einem Ruck riß sie die Depesche auf, doch ihre Augen weiteten sich, wie sie ihren Wortlaut überflogen. War es denn möglich? Stand da wirklich: »Kommen vor Erledigung Angelegenheit hier unmöglich. Stell Dich unter Schutz der Freunde. Bleib ruhig und fest. Ewald.«

Nein, es war kein Irrtum, klar und deutlich stand es so auf dem Papier. Da warf sie die Depesche mit einem Auflachen in den Papierkorb. Das war alles! Das war die Antwort auf ihren verzweifelten Angstschrei. Wichtiger als sie mit ihrer Herzensnot war ihm jene fremde Frau mit ihrer Sorge. O, wie weh das tat! Statt daß es ihn zu ihr trieb auf schnellstem Wege, um sie sich zu retten, überließ er sie dem Schutze anderer!

Ihr war, als griffe plötzlich eine kalte Hand nach ihrem Herzen, daß es ganz starr wurde. Ein harter Zug grub sich in dieser Minute in ihr Antlitz und blieb dort stehen. Lange saß Fränze dann in stummem Vorsichhingrübeln allein in ihrem Zimmer. Es läutete zum Lunch, aber sie mochte keinen Menschen sehen. In ihr war eine so schreckliche Gleichgültigkeit gegen alles ringsum.

Nach Tisch klopfte es, Lyncker und Morburg kamen und fragten, ob sie denn nicht mit wolle an die Bahn? Richtig, sie hatten sich ja gestern abend verabredet, der scheidenden Ria das Geleit zu geben. Notgedrungen machte sich Fränze fertig und ging mit.

Da waren sie denn alle, bis auf Ewald Wilms, noch einmal im Wartesaal des Bahnhofs vereint, der kleine Kreis, der den ganzen Winter hindurch so treulich zusammengehalten hatte. Wie viele frohe, übermütig frohe und glückliche Stunden hatte man nicht gemeinsam verlebt, und nun heute! Die Last, an der Fränze, Elga, Bracke und in ihrer Art auch Morburg und Lyncker jeder insgeheim trugen, machte sich nur allzu fühlbar, und auch Axel Nibüll war sehr beklommen zumute. Würde es Ria wirklich gelingen, ihr Recht durchzusetzen? Wenn es nicht glückte, dann schwebte ja ihr ganzer Zukunftsplan in der Luft.

Gemeinsam bedrückte sie alle der eine Gedanke: Ob und wie man sich wohl einmal wiedersehen würde? Ria wollte ja zwar sobald wie möglich zurückkehren, aber dann waren die Inséparables schon fort, und wer konnte wissen, was sonst noch kam? Eines war gewiß: In diesem Kreis, wie er hier zum letztenmal versammelt war, kam man sicher nicht mehr zusammen!

Still stand man so beieinander. Da raffte sich Morburg auf; er fand seinen Galgenhumor wieder:

»Herrschaften – so geht das doch nicht! Ja gerade wie bei einem Begräbnis. Paßt das zu uns Lebenskünstlern? Man muß auch aus dem Scheiden noch ein Fest machen. – He, Kellner: Eine Flasche Schampus – aber schnell!«

Der Sekt kam. Noch einmal hob man die schäumenden Kelche empor: »Auf frohes Wiedersehen allerseits!«

»Auf Wiedersehen!« Mit jedem stieß Ria, Abschied nehmend, an; nun auch mit Heinz Bracke.

»Auf Wiedersehen,« klang es von ihm zurück, aber sein Lächeln dabei war seltsam ernst.

Der Zug rollte ein, man ging auf den Bahnsteig und brachte Ria an den Wagen. Ein letzter Abschied, den Freunden ein Händedruck, den Freundinnen eine herzliche Umarmung, dann sprang Ria in ihr Abteil, und die Lokomotive zog an. Tücher- und Händewinken zu der Scheidenden hin, die sich noch einmal am Fenster zeigte. Gleich den andern sah ihr Fränze nach, schwermutsvoll – in ihrer Verlassenheit war es ihr doppelt schmerzlich, nun auch Ria nicht mehr zu haben.

Da hörte sie halblaut jemanden sagen:

»Es ist doch ein eigen Ding, wenn man jemanden so zum letzten Male sieht.«

Fränze drehte sich um. Es war Heinz Bracke, der neben ihr stand und mit dunklem Blick der Scheidenden nachschaute. Sie war etwas verwundert. Gewiß, wohl möglich, daß er Ria nicht wieder begegnen würde – Bracke gehörte ja nicht zu den ständigen Gästen hier oben – aber trotzdem, der schwere Ton, mit dem er gesprochen, berührte sie eigen. Fragend ruhte ihr Auge auf ihm, doch da lächelte er schon wieder, winkte dem davoneilenden Zuge noch einen letzten Gruß nach und wandte sich nun ab, den andern nach, die bereits vom Bahnsteig schritten. Fränze blieb an seiner Seite. Gemeinsam gingen sie alle zum Supérior zurück, ziemlich schweigsam, jeder in seine Gedanken verloren. Doch plötzlich fesselte ein grellfarbiges Plakat den Blick. Man blieb stehen. Im Kurhaus noch einmal ein Kostümfest, Apachenball – Kehraus der Saison. In Brackes Augen leuchtete es dunkel auf: »Kehraus – da sollte man hin! Gerade in der Stimmung, in der wir alle mehr oder minder sind. Also – wie wär's, Herrschaften?!«

Elga, die vor ihm mit Axel Nibüll ging, schüttelte ernst das Haupt, mit einem traurigen Blick. Auch Nibüll lehnte ab, ihm war nicht danach zumut. Aber Morburg und Lyncker waren sofort bereit. Ja, noch einmal tollen, die Misere des Lebens vergessen – übermorgen ging es ja in das Sanatorium, die zusagende Antwort von dort war inzwischen eingetroffen.

»Nun, und Sie, Frau Fränze?« Bracke sah ihr forschend ins Antlitz. »Ich glaube, Sie könnten so eine kleine Auffrischung auch ganz gut vertragen. Und sie stehen ja unter unserm Schutz.«

Fränze hatte noch geschwankt. Jetzt riß Bracke sie mit fort; das bittere Gefühl von Verlassenheit – wer fragte noch nach ihr? – und ein wilder Trotz brachen durch. Da rief sie:

»Topp – ich tu' mit! Drei Kavaliere auf einmal – was will man mehr?!«

Im Weitergehen besprachen sie das Nähere. –

Als die vier im Kurhaus erschienen, war der Ball schon auf der Höhe. Das Fest machte seinem Namen Ehre. In den eleganten Gesellschaftsräumen des Hauses waren überall die Lichter rot verhängt, ein gedämpftes, aufreizendes Licht, hier und da eine Ecke im Kaschemmenstil, blanke Holztische mit Likörflaschen, dazu das dichte Gewoge der Gäste. Die bekannten Typen vom Montmartre, Straßensänger, verkommene Genies, verbotene Gestalten mit frech wehenden roten Halstüchern, am Arm ihre »Damen«. Ihr ganzes Gebaren, ihr Tanzen nur allzu echt – ein Locken, Werben, Drohen mit brutalen Bewegungen, zwischendurch ein schriller Pfiff durch die Finger.

Beim ersten Anblick dieses Hexensabbats stieg in Fränze ein heftiger Widerwille, ein Ekel auf. Wie abstoßend! Wie konnte man einen Gefallen daran finden, auch nur im Scherz das wüste Treiben dieses Abschaums der Menschheit nachzuahmen! Was für ein krankhaft überreizter Drang nach Sensation einer entarteten Gesellschaft! Sie bereute, mitgegangen zu sein, und machte Miene umzukehren, aber ihre Begleiter hingen sich rechts und links bei ihr ein. Mitgegangen, mitgefangen! Nun war man einmal hier, und ein Ausreißen gab's nicht!

So machte Fränze denn gute Miene zum bösen Spiel. Zum Glück fanden sie wenigstens noch einen Tisch, abseits von dem Haupttreiben in einem stilleren Raum, wo ein kleines russisches Balalaika-Orchester spielte, eigenartige, schwermütige Volksweisen. Hier ließ es sich zur Not aushalten, und Fränze kam denn auch kaum aus diesem Raum heraus. Nur einmal drängte sie Bracke, mit dem sie gerade tanzte, hinüber in den Hauptsaal. Sie wanden sich da durch das dichte Gewühl der Hunderte. Einen Moment schrak sie zusammen – das Gesicht da! An der offnen Tür eines Nebensaals hatte sie im Vorübergleiten einen Gaucho bemerkt in Franzenhosen, Mexikanerhemd und roter Schärpe, unter dem tief in die Augen gezogenen Sombrero ein gelbes, scharf geschnittenes Gesicht. – Ruaz! durchfuhr es sie. Aber nein – erleichtert atmete sie wieder aus – der Fremde dort hatte ja einen mächtigen, schwarzen Vollbart. Also nur eine Täuschung.

Doch der Schreck, der sie im Augenblick durchfahren, wirkte in ihr nach. Sie bat Bracke, den Tanz abzubrechen und lieber noch ein wenig mit ihr zu promenieren. So geleitete er sie denn aus dem Gewühl hinaus, in eine Flucht stiller Räume, und plötzlich sahen sie sich vor einer offnen Tür.

»Ach ja – lassen Sie uns einen Augenblick frische Luft schöpfen! Da drinnen ist's zum Ersticken.

Sie traten auf den Balkon und blickten hinaus in die schweigende Nacht, voll all der erhabenen Schönheit, die sie so oft erfreut hatte. Am sammetweichen, dunklen Himmel die goldenen Sterne, auf den Firnen drüben ein silbriges Leuchten, und um sie her eine weiche, aber wonnig kühlende, balsamische Luft. Wie das wohltat, wie da mit einem Schlage alles abfiel, was häßlich und widerwärtig war, wie das da drinnen! Wie die Seele wieder weich und gut wurde!

Mit einem Male zuckte es in Fränze auf: War es nicht gerade so eine Nacht gewesen, als sie mit ihm Hand in Hand, in glückseligem Schweigen durch die feierliche Stille im Schlitten gefahren war – in jener Stunde, als ihre Herzen sich gefunden hatten? Und ein Weh, ein Sehnen ohnegleichen überkam sie. Wäre er doch nur bei ihr, jetzt in dieser Stunde – alles, alles, wäre ja wieder gut!

Es war ja Unsinn, was ihr Trotz ihr hatte einreden wollen. Ihr Herz, ihre Seele, ihr ganzes Sein gehörten ihm wie nur je! Unwillkürlich, ganz vergessend, wo sie war, hoben sich ihre Arme, sein Name wollte sich über ihre Lippen drängen, da riß sie Brackes Stimme in die Wirklichkeit zurück. Er hatte ihrer sehnenden Bewegung wohl eine andere Deutung gegeben, aus seinem eignen Empfinden heraus, und so sagte er denn:

»Ja – es zieht einen hin zu der feierlichen Stille da oben,« und er nickte hinüber zu den Firnen am jenseitigen Talhang. »Wie sie locken – so überirdisch, so friedvoll!«

Stumm blickte er eine Weile dorthin, unbeweglich, mit einem großen Ernst, und nun sprach er weiter, wie in einem endgültigen Entschluß:

»Ich will auch noch einmal da hinauf.«

Fränze sah ihn fragend an. Da erklärte er ihr, ohne jedoch die Augen von den Firnhängen drüben abzuwenden:

»Ich will es Ihnen nur sagen, kleine Frau Fränze, ich hatte eigentlich vor, heute Nacht schon zu gehen – mitten aus dem tollen Trubel heraus, aus dem Bacchanal des Lebens.«

»Wie denn – Sie wollten abreisen? Ganz plötzlich? Ohne Abschied auch von Elga?«

Er nickte. »Sie haben es ja wohl schon gehört, daß wir unsere Verlobung lösen mußten.«

»Allerdings – Elga hat mir Andeutungen gemacht. Mein Gott, wie ist das traurig! – Es wird schwer für Sie sein, armer Heinz Bracke.«

Sie sah mitleidvoll zu ihm hin. Er hatte beide Hände auf das eiserne Gitter gesetzt, und sie gewahrte jetzt, wie sie sich krampfhaft um das Geländer preßten.

So kam es von seinen Lippen:

»Ich kann mir kein Leben mehr denken ohne sie!«

Erschüttert sah sie ihn an und trat näher, strich sanft über seine Rechte:

»Was soll denn aber nur werden?«

Da richtete er sich auf, und fest sprach er:

»Mein Weg ist mir klar vorgezeichnet.«

Fränze nickte leise. Sie verstand: Es blieb ihm ja nichts anderes, als sich in sein Schicksal zu fügen, wieder zurückzukehren zu den alten Eltern, der einzigen Zuflucht, die er noch hatte. Und sie gab dem Ausdruck:

»Sie wollen nun wieder nach Haus?«

Er nickte. »Ich will heim, und wie ich Ihnen vorhin schon sagte, ich dachte eigentlich daran schon heute nacht – mit dem Frühzug abzureisen. Nun habe ich mir's aber anders überlegt. Man soll doch nicht so mit dumpfem Kopf Abschied nehmen von dem, was groß und heilig war. Nein, es soll mit klaren Sinnen geschehen und am würdigen Ort. Und darum will ich morgen da«, er wies zu den Schneehängen drüben hin, »noch einmal hinauf.«

»Jetzt noch?« Befremdet blickte sie ihn an. »Ist es denn nicht schon zu spät für eine Skitour?«

»Warum zu spät?«

»Der Lawinengefahr wegen. Wir haben doch schon Mitte März.«

Er lächelte still. »Das wird nicht gleich so schlimm werden. Außerdem – ich kenne mich da droben so ziemlich aus, war ja oft genug dort.«

»Seien Sie nur recht vorsichtig!« warnte Fränze noch einmal.

Bracke nickte. Doch dann sah er zu Fränze hin.

»Es wird wohl Zeit, daß wir wieder zurückgehen – in ihrem leichten Anzug.«

»Schade, es war so schön hier,« und mit einem Seufzer trat sie wieder ins Zimmer.

Sie gingen zu den andern in dem kleinen Saal, jedoch Fränze fand sich jetzt noch viel weniger auf dem Fest zurecht, trotzdem ihre Begleiter sich alle Mühe gaben sie aufzuheitern, besonders Heinz Bracke; aber sie fühlte nur zu deutlich, es war bloß eine gewaltsame Lustigkeit, die ihm nicht von Herzen kam. Wie hätte es auch sein sollen? In ihr selber klang die Stimmung draußen auf dem Balkon so stark nach.

Ihr Sehnen nach Ewald ward immer ungestümer und, konnte sie ihn auch in Person nicht haben, seine Briefe waren doch da! All die lieben Worte, die er ihr geschrieben. Allein wollte sie sein, auf ihrem stillen Stübchen, und sich dort ganz vertiefen in diese Briefe, daß sie wieder fühlte: Sie war doch nicht verlassen! Da war einer, zu dem sie gehörte, und all das Glück, das er ihr geschenkt, es würde bald, bald wieder vollste Wirklichkeit werden.

In plötzlichem Entschluß stand Fränze vom Tisch auf. Sie äußerte nichts von ihrer Absicht, das Fest zu verlassen. Sie scheute die unausbleibliche Quälerei, doch noch zu bleiben, und die Notwendigkeit, Gründe für ihren frühen Fortgang angeben zu müssen. Heimlich verließ sie das Gemach, die Festräume, und war nun eine Treppe tiefer im Vorraum zu der Garderobe. Es war um diese Stunde hier ganz menschenleer, und rasch wollte sie um eine Gruppe von Oleanderbäumen herumbiegen, zu der Kleiderablage hin, als sie zurückprallte. Sie stand plötzlich einem Manne gegenüber, dem Gaucho von vorhin oben im Saal, aber er hatte den schwarzen Vollbart nicht mehr, der war nur eine Maske gewesen. Unter dem breitkrämpigen Sombrero zeigten sich ihr jetzt wohlbekannte Züge – Pedro Ruaz!

Fränze wollte aufschreien, sich jäh wenden und die Treppe hinaufstürzen zu den Freunden und Beschützern, aber wie sie es noch dachte, hatten Ruaz' Hände schon die ihren gepackt und hielten sie mit klammerndem Griff. Seine stechenden, schwarzen Augen bohrten sich in die ihren; ein einziger, furchtbarer, herrischer Befehl: Still – keinen Laut!

Voll Todesangst starrte sie ihn an. Ein Hilferuf würgte ihr in der Kehle, doch die Stimme versagte ihr den Dienst, ebenso wie ihre Glieder, über die sich langsam, aber unaufhaltsam eine Lähmung verbreitete. Sie fühlte ganz deutlich, wie das Grausen, diese völlige Willenlosigkeit an ihr hochkroch von seinen Händen her, die sie in ihrem unentrinnbaren Zwang hielten. Wie leblos, regungslos erstarrt, stand sie so. Nur ihre Augen lebten und zeigten ihm ihr namenloses Entsetzen, ein Bitten, Flehen, einen in seiner Stummheit um so ergreifenderen Appell an sein Mitleid.

Aber seine Mienen blieben ungerührt. Ja, ein grausamer Triumph, im Bewußtsein seiner Macht über sie, brannte jetzt in seinem Blick auf. Sekundenlang weidete er sich so an ihrer Qual, dann aber, wie er das leise Zittern, das Erschlaffen ihrer Glieder spürte, wie er die Verzweiflung in ihren Augen erlöschen und einer stumpfen Ergebung in das unentrinnbare Verhängnis weichen sah, da preßte er in einem letzten abschließenden Befehl ihre zarten Gelenke und nun herrschte er sie an, indem er ihre Hände plötzlich freigab, seines Sieges gewiß:

»Deine Garderobemarke!«

Mit langsamen, automatenhaften Bewegungen gehorchte sie der Weisung, entnahm ihrem Täschchen die Marke und reichte sie ihm. Dann nahm er ihren Arm und führte sie zu der Garderobe.

Die Kleiderbewahrerin erschien schlaftrunken aus ihrer dunklen Ecke und suchte Pelz und Mantel hervor. Wohl wunderte sie sich etwas über dies schweigsame Paar, besonders über die junge Frau, die mit einem so seltsam leeren Blick vor sich hinstarrte, wie geistesabwesend. Aber sie hatte ja so manches schon erlebt – vermutlich wohl ein verzanktes Ehepaar. Das war ja nichts Ungewöhnliches. Halb mitleidig, halb schadenfroh sah sie der jungen Frau nach, die nun – stumm, wie sie gekommen – am Arm ihres Begleiters das Vestibül verließ. Ja, ja, auch die reichen Leute waren nicht immer glücklich. Und gähnend ging sie zu ihrem Stuhl in der dunklen Ecke zurück.

* * *

Heinz Bracke hatte allein gefrühstückt, schon im Sportdreß trat er jetzt bei Elga ein. Mit blassem, welken Antlitz fand er sie vor. In einem müden Verwundern sah sie auf seinen Anzug, da erklärte er ihr, den Blick durch das Fenster auf die Höhen drüben richtend:

»Ich will noch einmal zur Ischa-Alp hinauf mit den Skiern – Abschied nehmen von Davos.«

Sie sah ihn an mit umflortem Blick. Nun wurde ihr auch noch dieser letzte Tag genommen. Aber dann dachte sie: Besser so! Dies Beisammensein mit all dem Weh im Herzen, war ja doch nur eine Qual. Da nickte sie still und fragte:

»Wann kommst du wieder?«

Er stand noch immer, die Augen auf die Berghänge gerichtet; so antwortete er, wie von weit her:

»Am Nachmittag – noch vor Einbruch der Dunkelheit jedenfalls.«

»Und wann fährst du?«

»Morgen in der Frühe.«

Sie schrak mit einem leisen Laut zusammen. Er vernahm es und ging langsam zu ihr, den Blick auf sie gerichtet, auf das geliebte, jetzt so leidvolle Antlitz. Es fuhr über seine Züge hin, aber gleich hatte er sich wieder, und fest klangen seine Worte, wie er nun nach ihrer Hand griff.

»Es ist besser, Elga, den Abschied kurz zu machen.«

Sie hob die Augen zu ihm auf, und diese kurze Bewegung ließ ihr Haupt matt an seine Schulter sinken, ihre Lider schlossen sich. So gewahrte sie nicht, wie seine Blicke noch einmal inbrünstig das Bild ihres Antlitzes in sich aufnahmen. Doch nun fühlte sie seine Lippen auf ihren Lidern.

»Leb wohl, Elga, ich muß fort – muß noch bei Zeiten dort oben sein. Auf Wiedersehen!«

Sie schlang ihm die Arme um den Hals, einen langen Kuß drückte sie ihm auf die Lippen, – wie oft noch, schoß es ihr durch den Sinn?

Dann ging er. Von der Schwelle her winkte er ihr noch einmal stumm mit der Hand zu. Da ward ihr plötzlich bang ums Herz. Wie blaß er aussah und was für ein seltsamer Ausdruck in seinen Zügen – so todernst und doch leuchtend, wie verklärt.

»Heinz –!«

Aber schon hatte sich die Tür geschlossen.

* * *

Wilms hatte bei seiner Abreise von Berlin im Büro Auftrag gegeben, ihm seine Privatpost einstweilen nach Boppard nachzusenden, von wo aus er mit seiner Klientin die Nachforschungen nach dem entführten Kinde aufnehmen wollte. Diese Adresse hatte er in seinem letzten Schreiben auch Fränze angegeben. Als er auf dem Postamt in Boppard am Tage nach seiner Ankunft zum zweiten Male in später Nachmittagsstunde nachfragte, wurde ihm ein Expreßbrief ausgehändigt mit der Aufschrift von Fränzes Hand. Etwas besorgt erbrach er das Schreiben und las es; es war jener erregte Brief, der ihm Ruaz' Rückkehr mitteilte und ihn angstvoll bat, zu kommen – das sei er ihr nun schuldig.

Das war eine unerwartete Kunde! Im ersten Augenblick überfiel Wilms ein Schrecken. Mußte er nicht zu ihr? Stand hier nicht alles auf dem Spiel? Seine Hand griff schon nach einem Depeschenformular, um ihr seine schleunige Ankunft zu melden, da aber rief er sich selber ein Halt zu. Ruhig bleiben, nicht gleich der ersten Gefühlsregung folgen! Und noch einmal – rein verstandesmäßig diesmal – durchlas er Fränzes Brief. Was stand denn dort eigentlich? Nibüll wollte den Brasilianer auf der Straße bemerkt haben – aber war es nicht vielleicht nur eine Täuschung gewesen? Wilms konnte sich nicht recht vorstellen, daß Ruaz so eine Art heimlichen Nachrichtendienstes mit Davos unterhielt und nun seine Abwesenheit zu einem Anschlag gegen Fränze ausnutzen sollte. Das alles kam seinem nüchternen Denken viel zu abenteuerlich vor. So etwas geschah doch nur im Film! Je öfter er sich das sagte, mit einer gewollten überlegenen Ruhe, desto glaubhafter wurde ihm, daß Nibüll nur eine Ähnlichkeit getäuscht hatte, und daß Fränzes ganze Aufregung also unbegründet war. Wenn Ruaz aber wirklich wieder in Davos aufgetaucht sein sollte, mein Gott – konnte es dann nicht einen ganz anderen, harmlosen Grund haben? Die Saison ging ihrem Ende entgegen, der Brasilianer hatte alte, gute Bekannte in Davos – was war natürlicher, als daß er sie noch einmal sehen wollte, bevor er die Berge verließ? Immer ruhiger wurde Wilms bei seinen Erwägungen, und schließlich beschwichtigte sein letztes Bedenken der Gedanke, daß Fränze in Davos ja nicht verlassen war; die Freunde waren doch auch noch da! Wenn sie sich unter ihren Schutz stellte und es vermied, sich ohne ihre Begleitung außerhalb des Hotels zu zeigen, so konnte ihr doch wirklich nichts geschehen. Da schwand auch die letzte Besorgnis. Entschlossen griff Wilms nach dem Depeschenformular, aber was er nun hinschrieb, lautete anders, als es ihm der erste Impuls hatte diktieren wollen. Er schrieb jenes Telegramm nieder, das ihr die Unmöglichkeit seiner sofortigen Rückkehr erklärte und sie zur Ruhe ermahnte.

Noch am selben Abend reiste er mit seiner Begleiterin im Auto weiter, dem Orte entgegen, auf den die inzwischen von Boppard aus telephonisch eingezogenen Erkundigungen hinwiesen. Die nächsten Tage hatten ihm dann ein stetes Hin und Her, Hetzereien und Aufregungen in Fülle gebracht, schließlich aber doch zu dem erhofften günstigen Ausgang geführt. Es war ihm gelungen, das Kind und seinen Vater zu ermitteln, und mehrfache persönliche Unterredungen unter dem Druck einer bereits erwirkten richterlichen Verfügung, hatten den Ehemann bestimmt, sich mit dem Unvermeidlichen abzufinden, das Kind der Mutter zurückzugeben und sich gütlich mit ihr über die Zukunft des Kindes zu einigen.

So war denn Wilms' Aufgabe gelöst, und er konnte endlich wieder an seine eigenen Angelegenheiten denken. In diesen vier Tagen war oft eine lebhafte Unruhe über ihn gekommen. Er war durch die Umstände von jeder Verbindung mit Fränze abgeschnitten, so hörte er nichts, wie es ihr ergangen war, wie sie seine Depesche aufgenommen hatte. Bisweilen regten sich in ihm Selbstvorwürfe. War sein Telegramm nicht doch etwas kurz und unfreundlich gewesen? Mußte es sie nicht enttäuscht, ja vielleicht verletzt haben? Aber dann rief er sich jedesmal wieder zu: Es war richtig so gewesen! Er durfte ihre Haltlosigkeit nicht noch unterstützen durch eine allzu schnelle Hilfsbereitschaft, gerade im Hinblick auf zukünftige Fälle, die ja nicht ausbleiben würden.

Trotz allem wich die Unruhe nicht von ihm, und er war froh, als er endlich am fünften Tage wieder nach Boppard kam. Leider aber war die Post schon geschlossen, und er mußte bis zum nächsten Morgen warten, um die zweifellos dort für ihn lagernden Briefe ausgehändigt zu erhalten. Gleich um acht Uhr morgens war er am Schalter; er erhielt zwei Eilbriefe und ein Telegramm ausgehändigt. Er las die Depesche zuerst und erschrak. Dann riß er den ersten Brief auf und überflog seinen Inhalt, nur ein paar Zeilen, offensichtlich in höchster Angst und Eile niedergeschrieben.

»Ruaz stellt mir nach! Er steht seit Stunden vor meinem Hause – er führt etwas gegen mich im Schilde. Ich wage nicht mehr auszugehen. Komm, komm sofort! Noch einmal bitte ich es, flehentlich: Nun brauche ich Dich mehr als jene andere, um die Du Dich so sorgst, für die Du ganz da bist. Jetzt habe ich ein Anrecht an Dich! Wenn Du mich wirklich liebst – dann mußt Du kommen!

Fränze.«

Wilms war erblaßt. Schnell griff er noch einmal nach dem Telegramm, verglich Datum und Zeit des Abgangs – kein Zweifel, die Depesche war erst nach dem Brief abgeschickt worden, als sie noch immer ohne Antwort von ihm war, in gesteigerter Angst, ja in offenbarer Verzweiflung. Diese sprach deutlich aus den wenigen Worten und trotz der gebotenen Zurückhaltung im Ausdruck:

»Erbitte nochmals allerdringlichst sofortiges Kommen. Bin Dir sonst verloren. Fränze.«

Wilms überlief ein Frösteln. Eiligst erbrach er jetzt das zweite Schreiben:

»Ich saß und wartete in all meiner Herzensangst, fast zwei volle Tage auf eine Antwort von Dir. Kein einziges Wort! Immer banger wurde mir zumute. Aber dann rief ich mir laut zu: Er muß ja kommen! Er hat dich doch lieb und wird sein Fränzekind nicht im Stich lassen.

Und nun ist Dein Telegramm da, das so sehnsüchtig erwartete, das mir Deine schleunige Rückkehr und damit die Erlösung von aller Angst bringen sollte. Aber was brachte es? Muß hier erst meine Geschäfte erledigen – bleib' ruhig! – Das ist es, was Du mir auf meine verzweifelten Notschreie zu erwidern hast!

Wie ich es aufgenommen? Interessiert es Dich überhaupt noch? Vielleicht ist Dir auch das nur eine unliebsame Störung bei der Verfolgung Deiner geschäftlichen Angelegenheiten, zu wissen, wie es aufschrie in mir bei diesen kalten, nüchternen Worten. So konntest Du zu mir sprechen – Du! Ich konnte es ja nicht fassen. Und langsam, aber unaufhaltsam bohrte sich mir ein Stachel ins Herz.

Ich ahne was nun kommen wird, fühlte es ja schon immer heimlich mit solcher dunklen Angst, von der Du zwar nichts wissen wolltest: Ich werde einsam werden, ganz einsam; durch meine Schuld, wie Du sagen wirst – durch das mir bestimmte Schicksal, wie ich sage.

So gehe ich denn dem entgegen, das mir beschieden ist. Wirst Du vielleicht doch noch kommen vorher, ehe es zu spät ist? Das letzte Fünkchen Hoffnung, das noch in mir glimmt, ist sehr schwach. Wenn es ganz erlischt –?

Deine Fränze.«

Einen Augenblick stand Wilms, von einem Erschrecken gepackt, dann aber kam es über ihn: Zu ihr – keine Sekunde mehr verlieren! Er trat zum Schreibpult. Eine dringende Depesche kündigte ihr sein Kommen auf allerschnellstem Wege an und rief ihr Worte der Liebe zu, unbekümmert um die fremden Augen am Schalter, die sie lesen würden. Dann eilte er zum Hotel, zur Bahn.

Eine bittere Qual war dies untätige Sitzen im Zuge, dessen Tempo, dessen häufiges Halten ihn mitunter zur Verzweiflung bringen wollte. Ein Glück nur, daß er allein war in seinem Abteil erster Klasse.

Dann kamen wieder Minuten, wo er den Kopf in der Ecke des Polsters vergrub, überwältigt von seinen Empfindungen: Fränze, liebe, kleine Fränze! Wie hast Du gebaut auf mich, wie gerufen nach mir in Deiner Herzensangst, und ich –? Er grub die Zähne in die Lippen. Bis ihn eine Angst überfiel: Wenn nun geschehen war, was sie befürchtete – wenn er zu spät kam? Es schüttelte ihn. Er hätte aufstöhnen mögen, und er sprang empor. Nein, nein, laut rief er es, um den furchtbaren Gedanken wegzujagen, der ihn anpacken wollte. Das konnte ja nicht sein, er kam noch zurecht!

Und dann malte er sich ihr Wiedersehen aus – wie sie ihm entgegenfliegen, wie er sie in seine Arme reißen, wie er sie nun halten und schützen wollte, immer, immer – und wehe dem Elenden, der sie so geängstigt hatte!

Der Grimm gab ihm seine Spannkraft wieder. Freilich, die fiebernde Erregung in ihm blieb und verließ ihn nicht auf dieser schlimmsten Reise seines Lebens, die ihn nach endloser, völlig durchwachter Nacht schließlich am Morgen nach Davos zurückbrachte.

Kaum daß Wilms sich einigermaßen auf dem Bahnhof aufgefrischt hatte, eilte er hinaus zur Villa Montana. Im Herankommen schon spähte er nach Fränzes Fenstern, aber die Vorhänge waren noch geschlossen. Außer Atem von dem schnellen Aufstieg, mit erregt pochenden Pulsen trat er in das Haus ein und stieg gleich die Treppe empor; er wollte zum zweiten Stock hinauf, wo Fränze wohnte. Auf dem Treppenabsatz des ersten Stocks stieß er auf Cathérine und, ihr zunickend, wollte er an ihr vorüber mit der Frage:

»Frau Dietmar ist doch schon auf?«

Das Mädchen sah ihn verwundert an.

»Madame Dietmar ist doch gestern abgereist! Wissen denn der Herr Doktor gar nichts davon?«

»Abgereist –?«

Bestürzt sah er das Mädchen an. Aber als er das Befremden in Cathérines Mienen gewahrte, gab er sich schnell wieder Haltung. »Daß Frau Dietmar abreisen wollte, war mir natürlich ja bekannt, nur gestern schon – sie wollte doch eigentlich erst übermorgen fahren.«

»Freilich, es ist etwas Hals über Kopf gegangen mit der Abreise von Madame – es liegt übrigens auch ein Brief von ihr im Zimmer von Herrn Doktor.«

»So – ein Brief. Nun, da werde ich ja gleich wissen, wie das so schnell kam.« Und mit einem Lächeln, das er sich abzwang, ging Wilms weiter, zu seinem eignen Zimmer hin.

Schon von der Tür her suchte sein Blick. Richtig, da auf dem Schreibtisch! Mit drei Schritten war er dort, der Briefumschlag flog zu Boden und seine Augen stürzten sich auf die Schrift. Aber nach den ersten Worten schon flimmerte es ihm vor den Augen, die Buchstaben begannen zu tanzen. Eine Weile währte es, bis er wieder so weit gefaßt war, daß er lesen konnte, was ihm Fränze noch zu sagen hatte in ihrem letzten Brief an ihn.

»Nun ist geschehen, was kommen mußte, und alles ist aus! Wie ich das so ruhig hinschreiben kann! Aber bin ich's denn wirklich noch, die diese Worte schreibt. Bin ich noch dieselbe, die ich vorher war, noch vor ein paar Tagen war, als ich auf unser Wiedersehen hoffte, an ein Glück glaubte – an unser Glück!

So kalt und starr ist es in mir, als ob ich gar nicht mehr lebte, als ob mich das alles gar nichts mehr anginge, was ich Dir nun sagen muß, das Furchtbare, das Du zuerst gar nicht wirst fassen können: Ich habe Dich verloren, habe mich selber verloren – denn Pedro Ruaz hat wieder Besitz von mir ergriffen.

Wie es dazu gekommen ist? Ich bin zu müde, Dir das in allen Einzelheiten zu berichten. Laß Dir's von Heinz Bracke erzählen, oder auch von Lyncker oder Morburg – sie alle wissen es, wie es kam, daß ich mit ihnen ins Kurhaus ging. Nur das Letzte, das weiß keiner – das muß ich selber Dir schon sagen, wie grauenhaft schwer es mir auch wird.

Mitten im Fest, an dem ich schon vom ersten Augenblick an keinen Anteil nahm, trieb's mich fort. Eine Sehnsucht war in mir – nach dem Alleinsein mit Dir, in meinen Gedanken wenigstens. Und das ist das Grauenhafteste an meinem Schicksal, so hohnvoll, daß ich noch jetzt wild aufschreien könnte: daß es gerade die Liebe, die Sehnsucht nach Dir war, die mich in mein Verhängnis trieb! Nie vielleicht war ich Dir innerlich mehr zu eigen als in der Stunde, die mich für immer von Dir schied!

Also ich stahl mich von dem Fest fort, unbemerkt von den andern, die mich sonst unfehlbar wieder gequält hätten, noch zu bleiben, und drunten in der ganz menschenleeren Garderobe fiel ich – ihm in die Hände, vor dem mich schon seit Tagen die Angst umherhetzte, dem zu entgehen ich mich ins »Supérior« geflüchtet hatte – Ruaz! Ist es nicht wirklich ein Spiel des Zufalls, wie man es sich grausamer nicht vorstellen kann?

Aber es war ja gar kein Zufall, es war vollste Absicht, kalte Berechnung von Ruaz' Seite. Er umlauerte mich – hernach hat er es mir mit zynischer Offenheit selber gesagt – schon seit Tagen, und wäre es ihm in dieser Stunde nicht geglückt, einmal mußte es ja kommen! Nur Einer hätte mich vor ihm retten können, und dieser Eine blieb mir fern.

Du kennst ihn ja und den dämonischen Zwang, den er über mich hat. Schon sein bloßer Anblick, so ganz unvermutet, lähmte mich völlig. Keine Menschenseele zu Hilfe, da – im selben Augenblick wußte ich, daß ich verloren war. Was dann weiter kam, es ist mir wie ein furchtbarer, wirrer Traum. Mein klares Denken hörte auf mit dem Moment, wo sich seine Blicke in die meinen bohrten, mein Herz erstarren ließen und mich zu seinem willenlosen Werkzeug machten. Da bin ich ihm denn gefolgt, als ob es so sein mußte, in sein Hotel. Was dort geschah – erlaß es mir anzudeuten. Du wirst es Dir selber sagen und weißt damit so gut wie ich, daß nun alles aus ist.

Aus! Ich sitze und starre vor mich hin, höre immer nur dies eine, einzige Wort im Ohr gellen, so erbarmungslos vernichtend. Aus – all das, was doch einmal so groß, so schön und lebensstark gewesen ist und für alle Ewigkeit gebaut schien. Ich kann es ja nicht fassen. Da hatten sich zwei Menschen lieb, lieb wie nichts auf der Welt, und nun vorbei!

Und jetzt heißt es Abschied nehmen. Er weiß es, daß ich diese Zeilen schreibe, duldet es »großmütig«; er weiß ja nur zu gut, daß ich ihm verfallen bin, daß es ein Zurück zu Dir nicht mehr gibt. »Sag Deinem Freund in Gottes Namen Lebewohl«, mit seinem kalten grausamen Lächeln rief er's mir zu, bevor er mich vorhin allein ließ.

Abschied! Noch einmal steigt da alles vor mir auf, was einmal war – all das namenlose selige Glück, das Du mir gabst. Wie hatte ich mich geborgen bei Dir gefühlt, wie hattest Du alles Gute in mir geweckt! Was warst Du mir alles! Wie sich ein Kind zu seiner Mutter flüchtet, mit allem was sein Herz bedrängt, so kam ich zu Dir, und immer verstandest Du mich, wenn ich – nein, nein – nicht mehr daran denken! Es könnte mich wahnsinnig machen. Vergessen will ich, wieder kalt und starr werden, versinken in jene stumpfe Gleichgültigkeit, die von nichts mehr wissen will.

Nur danken laß mich Dir noch einmal für das, was Du mir gabst, Du über alles geliebter Mann. Und wenn es Dir ein Trost ist, es zu hören, so laß es mich Dir sagen: Nach Dir wird es nie mehr ein Glück für mich geben! Das sinkt mit hinab in die Gruft, die unserer Liebe gegraben ist. Ewald, mein Herz zittert, indem ich Dir das schreibe. Dein Bild steht vor mir, noch einmal trinke ich Deine geliebten Züge in mich hinein, dann werde ich es verbrennen zusammen mit Deinen Briefen – nichts wird mich mehr erinnern an das, was mein Höchstes im Leben war.

Und Du? Wie wirst Du es tragen? Wie wirst Du denken über mich? – – – Ich wage nicht, es mir auszumalen. Vielleicht wirst Du mich verdammen, Dich kalt und kurz abwenden. Eine Frau, die so haltlos und schwach war, daß sie Dir im ersten Augenblick der Prüfung verloren ging – was hast Du auch groß an ihr verloren!

Vielleicht aber rührt sich bei Dir doch das Herz. Gewiß, sie war schwach, doch es war doch auch allerlei Gutes an ihr, und ihr Wollen war nicht schlecht. Ach, Ewald, wenn es möglich ist, verdamme mich nicht ganz – bewahre mir ein gutes Andenken.

Was nun mit mir wird? Es bleibt mir ja nur das eine. Ich gehöre wieder zu ihm, der mich nicht lassen will, von dem ich nicht mehr loskommen soll nach dem Willen des Schicksals. Er spricht von Heirat, von Übersiedlung nach seiner Heimat. Jedenfalls gehe ich mit ihm fort von hier, noch heute. Er drängt darauf, fürchtet wohl Deine Rückkehr. Und es ist gut so. Dich wiedersehen – es ging über meine Kraft! Und wozu auch? Besser für uns beide, wir begegnen uns nie mehr.

Vorhin war Tante Hete bei mir. »Mein Gott, Fränze, wie siehst Du aus?!« Ganz entsetzt rief sie es. Da hab' ich mich in ihre Arme geworfen und geweint wie nie in meinem Leben, meine kranke, zerrissene Seele ausgeweint. Heute nacht jagte mein Herz so, ich mußte ein paarmal aus dem Bett, dachte, ich müßte ersticken. Vielleicht hat das Schicksal, nachdem es mir so grausam mitgespielt hat, doch ein Erbarmen mit mir. Ich erschrecke, indem ich es niederschreibe. Ist es Versündigung an meinem Höchsten? Aber vielleicht verzeiht er es mir.

Mir sagte einmal ein alter Mann vor Jahren droben in Gryon, ich hätte so viel Schönstes, Allerbestes in mir, wollte immer zur Höhe, wollte fliegen – und bräche mir immer wieder die Flügel. Er hatte wohl recht. – –

Du Lieber, Lieber, Du Guter – leb' wohl!

Zum letztenmal

Dein Fränzekind.«

Wilms hatte zu Ende gelesen. Der Brief entglitt seiner Rechten. Den Kopf gesenkt, stand er regungslos am Schreibtisch. Totenstill war es in dem Gemach. Nur das gleichförmige Ticken der Uhr ihm zu Häupten war zu hören, fühllos geschäftig wie ein Mahnen, daß die Zeit unaufhaltsam weiterschreitet, unbekümmert um alles Menschenleid.

* * *

Es war am Nachmittag, ein einsamer Spaziergänger schritt trotz der drückenden Föhnluft den Weg am Hang des Kämpfenwaldes entlang – Ewald Wilms. Schwer war sein Schritt, die Augen zum Boden gerichtet ging er dahin mit leerem Blick. Nur hin und wieder sah er auf. Dann gewahrte er drüben auf der andern Talseite den langgestreckten Berghang mit den schwarzen Tannen unter der grellweißen Schneedecke, wie einen düsteren Katafalk unterm Bahrtuch. Und dann fuhr seine Hand wohl zur Stirn; sie war heiß und feucht. War es nur der Föhn? Einmal scholl von drüben, aus weiter Ferne, auch ein dumpfes Grollen herüber, unheimlich drohend, wohl eine Lawine, die zu Tal stürzte. Ja, es war vorbei mit der Saison in Davos.

Still lag auch drunten die Hotelstadt, von wo sonst um diese Stunde stets die frohen Klänge des Orchesters von der Eisbahn herauf wehten oder das lustige, silberhelle Klingeln der Schlittenglöckchen. Und mit einem Male brannte es Wilms in den Augen. Wie oft war er so mit ihr gefahren, und nun –!

Da brach es noch einmal über ihn herein mit unwiderstehlicher Gewalt, all die lieben Erinnerungen dieses Sonnenwinters. Er sah sie wieder vor sich hergehen, wie damals auf ihrem ersten gemeinsamen Wege auf eben diesem Pfad: Schlank, mit lässiger Grazie in all dem Liebreiz ihrer Jugend. Und leis rang sich ihm ihr Name von den Lippen, der geliebte Name, den er so oft genannt: Fränze! Er blieb stehen, erschüttert von Weh, die Fäuste zusammengekrampft, bis er es wieder überwunden hatte. Aber noch schwerer war sein Gang, als er dann weiterschritt.

Sich selber zum Schutz wiederholte er sich all das, was er sich im Laufe dieses Tages klar zu machen gesucht hatte: So furchtbar dieses jähe Ende seines Glückstraumes auch gewesen war, schließlich – es war gut so! Jawohl gut, denn dies Glück war auf schwankendem Boden erbaut; es mußte einstürzen früher oder später. Er sagte sich diesen Gedankengang her wie einen auswendig gelernten Spruch, diktiert von dem kühl urteilenden Verstand. Aber tönte ihm da nicht mit leisem Flehen eine Stimme im Ohr: Verdamme mich nicht ganz? Und allem Verstande zum Trotz schrie es in seinem Herzen: Nein, nein, Fränze! Trotz allem, was geschehen, unser Erleben im Sonnenlande Davos – auch mir bleibt es heilig für immerdar! – –

Weiter ging Wilms seinen Weg. Er zwang sich nun, an die Dinge des nüchternen Alltags zu denken – Reisedispositionen, berufliche Angelegenheiten – da störte ihn aus seinen Gedanken der Anblick einer menschlichen Gestalt auf. Ein Herr saß vor ihm auf der Bank und blickte, in sich versunken, hinab ins Tal. Nun erkannte er ihn auch und wäre gern umgekehrt – aber zu spät – schon hatte Axel Nibüll, aufsehend, ihn bemerkt, erhob sich und rief ihm zu:

»Da treffen wir uns auf halbem Wege! Ich war zu Ihnen unterwegs, hatte schon gehört, daß Sie wieder da sind – nur das Steigen bei der Föhnluft heut brachte mich etwas außer Atem, da machte ich hier einen kleinen Halt.« Er war inzwischen zu Wilms herangetreten und streckte ihm die Hand hin mit einem Blick voll tiefster Schwermut. »Da sind Sie nun wieder, – aber was für ein Wiedersehen!«

In Wilms' Züge trat Betroffenheit und Abwehr, doch Nibüll fuhr ganz arglos fort:

»Wer hätte das gedacht, als wir vor kurzem noch alle so vergnügt beisammen waren – der arme Bracke!«

»Was ist denn mit ihm?«

»Sie wissen noch gar nicht –? Er ist tot!«

»Wie – Bracke lebt nicht mehr?«

Ein stummes Bejahen. »Bei einer Skitour auf der Ischa-Alp,« Nibüll wies zu den jenseitigen Berghängen, »geriet er in eine Lawine. Gestern ist seine Leiche nach der Heimat überführt worden. Der Vater war selber hergekommen. – Der alte Mann war völlig gebrochen.«

»Bracke tot!« Trotz des eignen Leids war Wilms im Innersten ergriffen. Eine Weile sann er tiefernst vor sich hin. Dann sagte er: »Die arme Frau Elga – wie muß es sie getroffen haben!«

»Ja, sie war wie vernichtet, besonders wohl auch durch die tragischen Umstände. Ganz im Vertrauen – ich glaube, Bracke hat selber dies Ende gesucht.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Es spricht so manches dafür. Frau Elga deutete es ja nur an, aber es ist wohl überzeugend: Die Verlobung war unmittelbar vor dem Unglück zurückgegangen, er hatte seine Position verloren und sah keine Möglichkeit, sich mehr im Leben zurechtzufinden.«

»Stand es so mit ihm?« Wilms nickte mit trübem Verstehen. »Armer Kerl – ich hätte ihm ein besseres Los gewünscht.«

Wieder stockte ihre Unterhaltung, während sie langsam nebeneinander weiterschritten, bis Wilms die Frage tat:

»Ist Frau Elga noch hier?«

»Nein, sie reiste gleich nach der Überführung der Leiche ab. Nur zu begreiflich, wo hier alles sie an diese traurigen Dinge erinnert.«

»Auch ein armes, zielloses Leben.« Und Wilms senkte den Kopf.

»Ja – Trübsal, wohin man blickt. Was ist aus unserm frohen Kreis geworden? Morburg und Lyncker sind auch abgereist, schon vor dem Unglück; Lyncker mußte in ein Sanatorium zur Entziehungskur, und daß Ria fort ist –« Nibüll holte schmerzlich Atem – »wissen Sie wohl schon?«

»Ich hatte bereits vor meiner Abreise gehört, daß sie fahren wollte, aber sie kommt doch bald wieder?«

»So war es ihre Absicht, doch es haben sich unerwartete Schwierigkeiten ergeben. Sie muß gegen ihre Familie prozessieren, um zu ihrem Gelde zu kommen, ohne das sie nicht wieder hier herauf kann – und solch Prozeß ist nicht abzusehen. Sie schrieb es mir selber, sie wage nicht mehr auf ein Wiedersehen zu hoffen.«

Damit fielen alle Zukunftspläne, die sie miteinander gemacht, so erklärte Nibüll mit trübem Ernst weiter, in sich zusammen. Schiffbruch all seiner Hoffnungen! Nun sei er wieder auf dem alten Fleck: Einsam, verlassen – ein Wrack, das auf dem Meer des Lebens trieb. Gott wußte, wohin!

Mit warmer Teilnahme hatte Wilms ihn angehört, jetzt streckte er dem andern die Rechte entgegen. Wortlos, doch in seinem Händedruck lag viel. Schicksalsgefährten waren sie beide. Und abermals senkte sich das Schweigen über sie. Jeder hing seinen traurigen Gedanken nach, die in der gleichen Richtung liefen.

Nibüll war es, der nach einer längeren Frist wieder das Wort nahm, etwas zögernd und mit einem unsicheren Blick auf den Begleiter:

»Auch Frau Fränze ist inzwischen abgereist – ganz plötzlich. Ich hatte immer geglaubt, Sie wollten zusammen, erst nach Ihrer Rückkunft, fort, und noch für ein paar Wochen nach Locarno?«

»So war es gedacht – aber es ist eben anders gekommen«, Wilms' Stirn hatte sich beschattet, und er sah hinaus ins Weite. Nach einigen Augenblicken fügte er noch erläuternd hinzu: »Es rufen mich unerwartete Berufspflichten sofort wieder nach Berlin zurück.«

Axel Nibüll begnügte sich mit einer taktvollen Gebärde des Verstehens. Er fühlte, was in dem Gefährten vorging, war es ihm doch bekannt geworden, daß Fränze in Begleitung von Ruaz abgereist war. Wenn er auch die näheren Umstände nicht kannte, soviel war sicher: Auch hier hatte das Schicksal mit rauher Hand eingegriffen und ein Glück grausam zerstört.

Diese Gewißheit verstärkte in Nibüll noch die tiefe Melancholie. Aus seinen schwermütigen Gedanken heraus sagte er da, zu dem Gefährten hingewandt:

»Entsinnen Sie sich noch unserer Unterhaltung damals, als wir vom Davoser Leben sprachen? Als ich die meisten, die ihr Los hier zusammengewürfelt, mit Nomaden verglich. Hatte ich nicht nur allzu recht? Es ist schon so. Es gibt Menschen, zur Unstetheit des Lebens, zur Friedlosigkeit des Herzens geboren, die da wandern müssen durchs Dasein, ohne Heim und Rast – bis auch ihnen endlich einmal die Ruhe vergönnt ist.«

»Ja – die gibt es. Doch wer ein seßhafter Bürger ist, tut gut, ihnen nicht erst zu nahen – es gibt keine dauernde Verbindung zwischen diesen beiden Welten.«

»Daran ist wohl allerlei Wahres, nur liegt in Ihren Worten zugleich etwas Absprechendes. Darf man wirklich so schroff urteilen über diese Nomaden des Lebens? Leiden sie nicht schon genug an sich selber? Sind es nicht Unglückliche, die vielmehr unser Mitleid verdienen?«

»Mag wohl sein.«

Aber Nibüll ward noch eindringlicher, und sein Auge suchte das des Gefährten:

»Können Sie sich nicht denken, daß es Menschen gibt, die nicht willensfrei sind, die man nicht verantwortlich machen kann für das, was ihnen widerfährt?«

»Wen fragen Sie das? Ich bin doch Jurist. Aber –« und Wilms' Ton hatte eine Entschiedenheit, die jede weitere Erörterung abschnitt – »solche Menschen sind nicht zu retten. Sie sind unheilbare Kranke, die man aufgeben muß.«

Da verstummte Nibüll. Arme, kleine Fränze! Und sein Mitleid ging ihr nach. Wäre ihm das widerfahren, wie hätte er alles verstanden und die arme, leidgequälte Frau nun erst recht an sich genommen, voller Güte und Liebe. Es war ja doch ein so heißer Wille zum Guten in ihr.

Doch von diesen Gedanken kehrte er dann wieder zu seinem eignen Schicksal zurück. Halb zu sich selber, tat er die Frage:

»Was fängt man nun mit sich an?«

»Es bleibt nur eines:« hart klang die Antwort von Wilms zurück, »wie Lao-Tse es sagt: Durchs Leben gehen, kalt wie ein Fremdling!«

»Oder aus dem Leben, wie der arme Bracke es tat.«

»Gewiß, wenn man hier nichts mehr zu schaffen hat. Aber wer da fühlt, daß er noch zu wirken hat, der darf diesen Weg nicht gehen.«

»Sie haben wohl recht«, müde erwiderte es Nibüll. »Jeder muß dem Gesetz seines Wesens folgen. Ich bin kein Heinz Bracke; ich bringe die Kraft zu solchem Entschluß nicht auf. Ich muß weiter wandern – weiter wandern und weiter suchen. Nur, mir graut's schon jetzt vor neuen Enttäuschungen und Schmerzen.«

»Und ich gehe zu meiner Arbeit, zu den Seßhaften im Tal.«

Wilms sagte es und blieb stehen, während sein Blick noch ein letztes Mal hinflog über die Stadt am Fuß der Hochzinnen, heute in trübes, lastendes Grau gehüllt. Das Sonnenland Davos, mit seinem strahlenden Zauber, wie war es versunken, als wäre alles nur ein flüchtiger Traum gewesen! Doch dann führte er den Gedanken, dem er eben Ausdruck verliehen, entschlossen zu Ende.

»Im Tal! Freilich, es weht da eine nüchterne Luft, es fehlt der lockende, leuchtende Schein, aber man steht auf sicherem Grund – man kann bauen dort. Und darauf kommt es an in unserer Zeit, mehr denn je!«

Mit einem Händedruck nahm Wilms Abschied von dem Gefährten seines Sonnenwinters, von dem planlos Schweifenden, und ging festen Schritts seinen Weg zurück zu den Menschen der Ebene.

 


 


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