Jeremias Gotthelf
Eine alte Geschichte zu neuer Erbauung
Jeremias Gotthelf

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Indessen liefen auf das Geschrei hin doch eine Menge Bürger zusammen, bunt wimmelte es auf den Gassen: Franzosen und Bürger durcheinander wie Kraut und Rüben; wild brüllte es in allen Tönen und vielen Sprachen, in Fragen und Antworten. Alle wollten wissen, was es gegeben, niemand wußte es recht; daher desto schrecklichere Gesichter. Draußen im Sommerhaus sollte eine ganze Kompanie Franzosen erschlagen worden sein, am Leuen gar eine ganze Brigade tot liegen, die Stadt sollte an allen vier Ecken angezündet werden und niedergebrannt mit Mann und Maus; schon seien in der untern Stadt die Leute in die Häuser gejagt, die Türen verschlossen, und der Mordbrand habe begonnen. Und wie die Gerüchte schwollen, schwoll der Zorn in den Gemütern, die Augen funkelten sich an wie Katzenaugen, ehe der Streit beginnt. Französische Beine und Bernerbeine wollten sich nicht mehr aus dem Wege gehen, man rannte zusammen, und mancher leichte Franzose ward von den schwerern Bürgern überrannt. Begreiflich schrie, wer fiel, galt für tot, wenigstens für halb. Die Gerüchte wuchsen, des Zornes Flammen schlugen hellauf zum Dache hinaus, Säbel blitzten, Messer wurden gezuckt, wer einen Franzosen umgerannt hatte, ließ ihn nicht liegen, sondern kniete auf ihn, hielt ihn fest, ja, es fehlte nicht viel, daß einem mit einem Hakenmesser wirklich die Kehle abgeschnitten worden wäre. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn nicht der französische Platzkommandant ein verständiger Mann gewesen wäre und, vereint mit besonnenen, angesehenen Bürgern, in den Tumult sich geworfen hätte. Gemeinsamen Anstrengungen gelang es endlich, die Menschen auseinanderzubringen, aber mit großer Not. Flachssamen aus einer Harzpfanne lesen, wäre fast ein leichter Stück Arbeit gewesen; fast unmöglich war es, die Bürger in ihre Häuser, die Franzosen in ihre Quartiere zu bringen, sie beidseitig zu überzeugen, daß weder tote Brüder zu rächen noch Gefahr für die Stadt vorhanden sei. Namentlich waren die jüngern Bürger fast nicht zu besänftigen. Stafetten seien bei beginnendem Tumulte nach Bern gesandt worden, wahrscheinlich Verstärkung zu fordern; komme diese, so könne man sich denken, wie es gehe; am kürzesten sei, die, welche hier seien, totzuschlagen, dann Sturm zu läuten, vereint mit den Bauern der Umgegend werde man dann auch mit denen, welche nachkommen, leicht fertig – so sprach das junge Burgdorf. Diese Meinung gewann jedoch nicht die Oberhand.

Die Nacht ging ruhig vorüber, und am Morgen kam ein großer Schlotter über die Stadt; es kamen Nachrichten von Bern her von greulichem Zorne und einer schrecklichen Heeresmacht, welche gegen Burgdorf heranziehe und keinen Stein auf dem andern lassen, das Kind im Mutterleibe nicht verschonen werde. Da gab es großes Geschrei und Gejammer in Burgdorf, es war, wie der Prophet sagt: »Zu Rama hat man ein Geschrei gehört, viel Klagens, Weinens und Heulens. Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, dieweil sie nicht mehr sind.« Nun lebten in Burgdorf die Kinder zwar noch alle, indessen konnten sie doch alle verloren gehen, und bekanntlich halten die Weiber dafür, es sei besser, zu viel zu weinen als zu wenig, besser, zu früh zu jammern als zu spät. Auch ist es anständig, daß, wenn Weiber heulen und weinen, es den Vätern der Stadt angst und bange wird; das junge Gesindel nur dieser Tage kümmert sich um Weiber und Weinen nichts. Der Venner der Stadt versammelte den Rat; damals war die Republik Bern kein Schreiberstaat, sondern ein Kriegerstaat, daher Kriegstitel wie Venner die höchsten. Der damalige Venner war ein großer Mann mit einer stark gebogenen Nase; er hatte aber auch ein großes Herz, das heißt, aller Weiber Weh in der ganzen Stadt hatte Platz darin und offenen Eintritt, zog daher auch beständig aus und ein, und wenn beim untern Tor ein Weib von einer Floh gebissen ward, so wußte es alsbald der Venner, auch wenn er vor dem obern Tor spazieren ging.

Der Weibel flog von Ratsherr zu Ratsherr; eiligst stäubten die Frauen Ratsherrinnen den Männern die Perücken aus und puderten sie frisch oder banden ihnen die Zöpfe ein und die Halsbinden um, alles unter Heulen und Zähnklappern begreiflich. Wie das segelte und wie das schiffte dem Stadthause zu! Noch nie war eine Ratssitzung so pünktlich und vollzählig eröffnet worden. »Ach!« sagte der Venner, als er auf seinem Stuhle saß, und fast hätte er zu beten angefangen, und wäre er ein Römer gewesen, so hätte er sein Haupt verhüllet, und wäre er ein Jude gewesen, so hätte er die Kleider zerrissen und Asche, tannene natürlich, von wegen sie ist wohlfeiler, auf die Perücke gestreut. Da er aber ein Burgdorfer war, so sagte er nur noch einmal: »Ach! – Ach, meine hochgeachteten, hochgeehrten Herren und Mitburger! Was ist uns begegnet, und daß ich das erleben muß! Und jetzt, was machen?« Da war eine große Stille in der Ratsstube, guter Rat war eben wieder teuer. »Hochgeachteter Herr Venner, hochgeehrte Herren und Mitburger! Meine Meinung wäre, man würde sichere Berichte einziehen, was eigentlich vorgegangen, und wie es sich zugetragen, darauf kann man dann fußen. Ein junges Ratsglied, des hochgeachteten Herrn Venners Bruderssohn, soll von Anfang an dabeigewesen sein; der könnte vielleicht die beste Auskunft geben«, so sprach man. »Ach Gott, ja«, sagte der Venner, »leider war der Säubub dabei, wie immer, wenn eine Geschichte passiert irgendwo. Wenn es meinen hochgeehrten Herren Kollegen und Mitburgern recht ist, will ich ihn holen lassen; das ist gleich ein Anlaß, wo man ihm die Meinung sagen kann und ihm zu verstehen geben, was rechte Leute von solchen Streichen halten. Weibel, holt ihn, und daß er auf der Stelle komme; der Säubube soll einmal erfahren, wer Meister ist, und wer zu befehlen hat!«

Dieser Neffe war eben der David, welcher im Sommerhaus gewesen und bei der obern Türe zum Vortrag des Wirtes den Franzosen den Nachtrag auf den Rücken gegeben hatte. Derselbe ließ nicht auf sich warten, unerwartet rasch trat er ein, ehe noch der Onkel seine Gedanken recht gesammelt hatte zu der Galgenpredigt, welche der löbliche Rat erkannt hatte. Der Neffe war unten im Rathause in der Pinte gesessen, denn, wie oben im menschlichen Körper die Seele ist, unter ihr Magen und Bauch, so ists in vielen Ratshäusern auch: oben der Sitz der Weisheit, unten ein anderer Sitz, wo das Fleisch gepflegt wird und der Lust gehuldigt. Es hatte ihn wundergenommen, was gehe, darum war er hergekommen; um so willkommner war ihm daher jetzt der Ruf in den Ratssaal selbst. Er nahm sich nicht einmal Zeit, sein Glas auszutrinken, was viel sagen will, und folgte dem Weibel.

»O Neveu, bist schon da? O David, du unglücklicher Mensch, weißt du, was du angestellt hast? Wenn das dein Vater wüßte, mein Bruder selig, er kehrte sich unter dem Boden um! Ja, Neveu, in welches Unglück hast du uns gebracht, Kind und Kindeskinder werden es entgelten müssen und Rache schreien über dich, o David, du unglückseliger Mensch! In eine solche Lage kam vor mir noch nie ein Venner und zwar durch den eigenen Bruderssohn. Da sind wir jetzt, und jetzt, was machen? Hinein habt ihr uns gebracht, und wie jetzt hinaus? Rede, rate, o David, du unglückseliger Mensch!« David war vor dem Throne stehen geblieben kaltblütig; Schauer vor der Majestät merkte man keine an ihm, er hatte wahrscheinlich den Onkel zu oft schon ohne Perücke gesehen. »Wißt Ihr was, Onkel«, sagte er gewichtig nach reifem Bedenken, »schießed i dHose!« Darauf sah er ringsum, drehte sich um, ging kaltblütig ab.

Man kann sich die Gesichter der Ratsherren denken, kann sich denken ihre Klagen über die gottlose Jugend und das Vaterland, welches eine solche Jugend hätte, in solche Hände kommen werde. Indessen ermannte man sich; zeigen wollte man, und erfahren sollte die Nachwelt, wer die Stadt in den Kot gebracht und wer wieder heraus; rätig wurde man, eine Deputation an den Platzkommandanten oder, wenn es sein müsse, nach Bern zu senden, welche die Vorgänge mißbilligen, Ergebenheit versichern, um Gnade bitten solle.

Der Platzkommandant war, wie gesagt, ein verständiger, wohlwollender Mann, der solche Gelegenheiten nicht zum Schlimmsten benutzte, jedoch auch die praktische Seite nicht unbenutzt ließ. Die besten unter den Franzosen hatten Geschenke nicht unlieb, kamen sie nun in einer Form, in welcher sie wollten: die einen wußten diese Liebhaberei feiner, die andern gröber verständlich zu machen. Ferner mußte jede Beleidigung der großen Nation gestraft werden zum Beispiel und Exempel für ewige Zeiten. Die brüderliche Gesinnung mit all ihren Manieren sollte man ganz brüderlich ertragen, und wer irgendwie dagegen muxte oder Gleiches sich erlaubte, der mußte erfahren, was Freiheit und Gleichheit zu bedeuten habe, und für wen sie daseien auf der Welt. Der Platzkommandant war also zu besänftigen, ihre Zusammenkunft fiel zu gegenseitiger Befriedigung aus, jedoch mit der Erklärung des Kommandanten, daß er das Geschehene nicht ungeschehen machen, sich bloß dahin verwenden könne, daß die Strafe so gelind als möglich sei. Er kenne Fälle, wo solche Vermessenheit Tausenden das Leben gekostet; hier sei es vielleicht anders zu machen, wenn man sich gegenseitig begreife, wozu er gerne behülflich sein wolle.

Das war ein Morgen für die in Angst getauchten Burgdorferinnen, für die Frauen Ratsherrinnen insbesondere! Wohl hatte man dafür gesorgt, daß von Zeit zu Zeit Bericht kam in die Häuser vom Stand der Dinge oder vielmehr des Rates im Sitzungssaale. Aber eben daher kam so lange nichts Tröstliches, sondern sogar Entsetzliches; die Bürgerinnen munkelten über die trostlosen Ratsherrn, und daß sie nichts Besseres tun könnten, als was David ihnen geraten, und die Frauen Ratsherrinnen erklärten: wenn der David nicht noch heute gehängt würde, so ließen sie sich scheiden und ruhten nicht, bis ihren Abgeschiedenen die Rute gegeben werde wie Kindern und zwar nach Noten.

Endlich war die lange Sitzung zu Ende. Die Herren liefen eilig heim, voran diejenigen, welche ausgeschossen worden waren, mit dem Platzkommandanten den Franzosen entgegenzureiten und um Gnade zu flehen. Sonst hatten die Frauen Ratsherrinnen viel auf dem Ausgeschossenwerden ihrer Männer; es gab Ansehen, Taggelder und Gelegenheit, den Weibern was heimzubringen auf Stadtkosten. Diesmal aber gab es ein gewaltig Geschrei über den Mann, der sich habe ausschießen lassen, und über die andern, welche ihren Mann immer voranstießen, wenn eine Suppe auszuessen sei, und ihn übergingen, wenn es Gelegenheiten gebe, der Stadt die Rechnung zu machen und den Weibern was heimzubringen. Den Männern selbst war es nicht so recht wohl um das Herz; sie pressierten mit dem Mittagessen, denn ungegessen hätten sie doch gar zu schlotterhaft ausgesehen, und nicht leicht gibt was einen sicherern Halt als eine warme Suppe, ein wacker Stück Fleisch und eine Flasche vom Bessern. Aber den Weibern gings bloß vom Maul, nicht von der Hand; aus lauter Zärtlichkeit schimpften sie die Männer schrecklich aus, und mit dem Essen gings schrecklich langsam. Umsonst sprang der Weibel herum und sagte, der Herr Venner, der weislich nicht ausgeschossen war, ließe bitten, zu pressieren, sonst sei es zu spät, und Gott wisse, was dann gehe. Der Weibel bekam die Antwort: man lasse dem Herrn Venner den Respekt vermelden, und wenn es ihm so pressiere, solle er selbsten gehen, was nichts als billig sei, habe doch sein Lumpenbub, der David, die Suppe eingebrockt.

Plötzlich tönte Hufschlag auf dem Pflaster, alles schoß an die Fenster: sechs französische Husaren sprengten zum Tore herein mit wehenden Helmbüschen, blitzenden Säbeln, schrecklich zu sehen, und hinter ihnen her trommelte, trompetete, paukte es ganz gräßlich. Da war ein Beben und Zittern, als ob es die letzte Posaune sei und das letzte, schreckliche Gericht vor den Toren. Jetzt war nicht kapituliert, jetzt war das Schrecklichste zu erwarten, jetzt, was machen? Fast wußten viele und gar Ratsherren keinen andern Rat als den welchen der David gegeben hatte. Das trampelte und trommelte, bis eine Brigade zum Tore herein war: schreckliche Menschen, Leute wie Waldteufel. Der Oberst, ein Unteufel von Angesicht, ritt voran; der Platzkommandant war bei der Hand und welschte mit dem Oberst.

Nun mußte der Venner her und vor. Ach Gott, dem war es übel ums Gemüt, und von seiner sonstigen Majestät brachte er wenig zur Hand; denn Spießruten gejagt und dann gehängt zu werden, das war das Geringste, was er erwartete. Jetzt wäre die Ehre, Venner von Burgdorf zu sein, um wenig feil gewesen, denn die Ehre, gehängt zu werden, sei es auch zur Ehre einer Stadt, gehört just nicht zu den angenehmen. In der Tat, anfangs hatte es auch den Anschein, als sollte das Greulichste geschehen. Der Venner wurde angeblitzt und angedonnert, wie er nie erlebt hatte; die verletzte Majestät der großen Nation sollte auf das fürchterlichste gerächt werden zum Exempel für ewige Zeiten und für Sonne, Mond und Sterne, damit alle wüßten, wer die große Nation sei, und wie sie sich zu wahren wisse. Allgemach begann der Platzkommandant den Blitzableiter zu spielen, übernahm ungefähr die Rolle einer Frau Oberamtmännin von Solothurn: Ein Bernerbauer hatte auf dem Markte zu Solothurn Schweine kaufen wollen, sie schienen ihm aber alle zu teuer; auf dem Heimwege stahl er eines, das schien ihm wohlfeiler. Die Sache ward ruchtbar; er sollte nach Solothurn vor den Richter. Das Ding war ihm nicht recht, denn er war daneben ein angesehener Mann und scheute das Zuchthaus. Er nahm daher eine große Butterballe mit sich, ging damit in die Küche des Oberamtmanns und gab sie ab in die Hände der Frau Oberamtmännin, erzählte seinen Fall und bat, daß sie bei ihrem Herrn zu seinen Gunsten sich verwenden möchte. Sie hieß ihn ins Gerichtzimmer gehen und unbesorgt sein, die Sache werde sich schon machen. Er ging nun, sein Fall kam vor. Sein Gegner tat die Sache dar, schimpfte schrecklich. Als er fertig war, tat sich eine Nebentüre auf, die Frau Oberamtmännin trat herein und sagte, sie wolle den Herrn Oberamtmann gebeten haben, daß er mit dem Manne nicht z'gryßlig verfahre, es sei ihm schreggli laid, sie könne es ihm versichern als eine gewisse Wahrheit. Ja, wenn das so sei, sagte darauf der Oberamtmann, wenn es ihm so schreggli laid sei, so solle er dem Manne das Schwein wiedergeben und etwas für seine Mühe, und dStrof söll ihm für diesmol gschänggt sein, aber hiete söll er sich vor einem andern Mol.

So ungefähr ging es in Burgdorf. Der Oberst begriff, wie leid es der Stadt sei, und für diesmal wollte er verzeihn, nur mußten die beleidigten Soldaten auch zufriedengestellt werden. Die Truppen wurden also sämtlich einquartiert, mußten gehörig mit Fleisch und Braten traktiert werden. Jeder Soldat mußte bei jedem Essen ein Frankenstück bei seinem Teller finden; so ward die Majestät der großen Nation und die verletzte Bruderliebe gerächt und zwar drei Wochen lang. Die Liebe der Franzosen zu den Burgdorfern wurde derweilen so groß, daß sie von denselben sich gar nicht trennen konnten; sie wären sechs, zwölf Wochen geblieben, ja, sie säßen vielleicht noch dort. Aber damals waren die Trommeln unbarmherzig; sie wirbelten alle Augenblicke zur Trennung, rissen Gatten und Brüder voneinander, Franzosen und Burgdorfer, wirbelten die Franzosen in die Schlacht hinein, wirbelten zur blutigen Trauung mit dem kalten Tode, wirbelten Tausend und abermal Tausenden ins kalte Grab hinein und alles wegen der Liebe zu Freiheit und Gleichheit; denn wo ist man eben gleicher als im kalten Grabe?


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