Maxim Gorki
Mein Weggenosse und andere Erzählungen
Maxim Gorki

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kirilka

Als das Wägelchen aus dem Walde an den Waldrand herauskam und sich vor mir ein weiter, trüber Horizont auftat, erhob sich Issaj vom Bocke, reckte den Hals, blickte in die Ferne und sagte: »Ach, Teufel . . . mir scheint, der Eisgang hat begonnen!«

»Wirklich?«

»Es scheint so . . .«

»Fahr doch schneller!«

»Ach, du Vieh!«

Das kurzbeinige dicke Tier mit den Ohren eines Esels und der Wolle eines Pudels sprang, vom Schlage mit dem Peitschenstiel auf den Rücken getroffen, vom Wege auf die Seite, blieb stehen, trat von einem Bein aufs andere und schüttelte beleidigt den Kopf.

»Hü! Ich werde dir kokettieren!« schrie Issaj und zupfte an den Zügeln.

Der Küster Issaj Mjakinnikow war ein mißgestalteter Mann von vierzig Jahren. An der linken Wange und unter dem Kinn wuchs ihm ein roter Bart, auf der rechten Wange hatte er aber eine riesengroße Geschwulst, die ihm ein Auge zudeckte und als faltiger Sack auf die Schulter herabhing. Der furchtbare Säufer und gar nicht üble Philosoph und Spötter Issaj fuhr mich zu seinem Bruder und meinem Freund, einem Dorfschullehrer, der an der Schwindsucht starb. In den fünf Stunden hatten wir noch keine zwanzig Werst zurückgelegt, denn die Straße war schlecht, und das phantastische Tier, das uns zog, hatte einen schlechten Charakter. Issaj nannte es: Teufel, Mühlstein, Mörser, und gebrauchte noch viele andere seltsame Namen, von denen übrigens jeder in gleicher Weise zu diesem Pferde paßte und die eine oder andere Eigentümlichkeit seines Äußeren oder Charakters bezeichnete. Auch unter den Menschen kommen solche komplizierte Geschöpfe vor, die man mit jedem beliebigen Namen nennen darf – ein jeder paßt zu ihnen, nur der Name »Mensch« nicht.

Über uns hing ein grauer, dicht bewölkter Himmel, um uns herum lagen Wiesen voll dunkler Flecke. Vorne, drei Werst vor uns, ragten die bläulichen Hügel des hohen Wolgaufers, auf die sich der schwere Himmel stützte. Der Fluß war von der struppigen Mähne der Ufergebüsche verdeckt. Vom Süden her wehte der Wind, das Wasser in den Pfützen kräuselte sich und schnitt Grimassen, und langweilige, feuchte Töne stiegen in die Luft: es war der Schmutz, der unter den Hufen des Pferdes aufspritzte . . . In der ganzen Natur lag etwas Trauriges, als wäre sie in der Erwartung der hellen Frühlingssonne ermattet und unzufrieden, daß die Strahlen noch immer nicht kommen wollten, als wäre ihr ohne die Sonne so schwer und so langweilig zumute.

»Der Fluß wird uns aufhalten«, sagte Issaj, auf seinem Bocke hüpfend. »Jakow wird uns nicht erwarten können und sterben . . . so wird diese ganze Wanderung nur zu einer Plage für das Fleisch werden. Und wenn wir ihn auch am Leben antreffen, was wird das nützen? Es wird nur eine Störung sein und sonst nichts. Man soll nicht in der Sterbestunde vor den Augen des Entschlafenden herumstehen, man muß den Menschen allein lassen, damit er seine Blicke in sein Innerstes und nicht auf außenstehende Gegenstände richte. In der Sterbestunde muß der Mensch in die Tiefe seines Herzens schauen, und nicht auf irgendwelchen Unsinn, denn der Lebende ist für den Sterbenden ein überflüssiger Gegenstand.

. . . Allerdings ist es üblich und vom Lebensgesetz vorgeschrieben, daß am Sterbelager diejenigen, die dem dieses Jammertal Verlassenden nahestehen, anwesend sind . . . wenn man aber mit Anwendung von Vernunft urteilt und nicht mit dem Gehirn seiner Fersen, so ergibt es sich wiederum, daß in dieser Sitte gar kein Nutzen, weder für die Lebenden noch für die Toten, enthalten ist, sondern nur eine überflüssige Herzensqual. Der Lebende darf nicht einmal daran denken, daß es einen Tod gibt, der ihn erwartet. Für den Lebenden ist es schädlich, denn es verdüstert seine Freuden. Du Teufelskeule! Beweg doch die Beine, fixer . . .! Hü . . .!«

Issaj sprach eintönig mit tiefer, heiserer Stimme, und seine unsinnige, lange, in einen weiten, zerrissenen, braunroten Bauernrock gehüllte Gestalt wackelte plump auf dem Bock, hüpfte auf und ab, bog sich nach rechts und links, nach vorn und nach hinten. Der breitkrempige schwarze Hut, ein Geschenk des Geistlichen, war mit schmalen Bändern festgebunden, und der Wind warf ihm die vom Kinne herunterhängenden Bandenden ins Gesicht. Der Küster schüttelte seinen spitzen Kopf, der Hut rutschte ihm in die Augen, und der Wind blähte die Schöße seines Mantels. Issaj rückte hin und her, duckte sich und fluchte; ich aber sah ihn an und dachte mir, wieviel Energie doch der Mensch im Kampfe mit solchen Kleinlichkeiten verschwendet. Wenn uns das gemeine Gewürm der kleinen Alltagsübel nicht so zusetzte, könnten wir wohl leicht die schrecklichen Schlangen unserer großen Leiden erdrücken.

»Der Eisgang!« rief Issaj bekümmert aus.

»Siehst du es denn?«

»Ich sehe im Gebüsch Pferde . . . und Menschen neben ihnen. Teufel! Also gibt's keine Überfahrt!«

»Vielleicht kommen wir doch irgendwie hinüber.«

»Was ist da noch zu reden?! Natürlich kommen wir hinüber . . . wenn der Eisgang zu Ende ist. Aber was werden wir bis dahin tun? Das ist es. Außerdem will ich essen. Ich habe solchen Hunger, daß man es in gewöhnlicher Sprache gar nicht ausdrücken kann. Ich sagte dir doch: Essen wir zuerst. Aber du sagtest: Fahr zu . . . Nun sind wir da . . .!«

»Auch ich will essen. Hast du nichts mitgenommen?«

»Wenn ich's vergessen habe!« antwortete Issaj böse.

Hinter seinem Rücken hervorguckend, sah ich eine Troika und einen Korbwagen mit zwei Pferden. Die Pferde blickten uns entgegen, neben ihnen standen aber Menschen: der eine lang, mit rotem Schnurrbart und einer Mütze mit rotem Rande, der andere in einem schwarzen, langschößigen, pelzgefütterten Rock.

»Der Landrat Ssuschtschow, und der andere ist der Mühlenbesitzer Mamajew«, murmelte Issaj, indem er sich zu mir halb umwandte, und gebot seinem Pferde in respektvollem Tone Halt:

»Steh, mein Wohltäter. Wir sind also etwas zu spät gekommen«, wandte er sich an den dicken Kutscher, der neben der Troika stand, und rückte den Hut vom Kopfe. Der Kutscher blickte finster auf seinen kahlen eiförmigen Schädel und wandte sich stumm zur Seite.

»Wir haben es nicht getroffen«, antwortete statt seiner der Kaufmann Mamajew, ein kleiner dicker Mann mit rotem Gesicht und spitzbübisch freundlichen Augen.

Der Landrat stand an den Flügel der Equipage gelehnt, rauchte, drehte seinen Schnurrbart und musterte uns mit gerunzelter Stirne. Es waren noch zwei Menschen dabei: Mamajews Kutscher, ein großer Kerl mit Lockenhaar und großem Mund, und ein kleiner Bauer mit krummen Beinen, in einem zerfetzten, eng umgürteten Halbpelz; er stand mit gekrümmtem Rücken da und schien in einer Verbeugung vor uns erstarrt. Sein kleines, runzeliges Gesicht war von einem dünnen grauen Bärtchen bewachsen, die Augen verschwanden in den Runzeln, die dünnen Lippen waren zu einem Lächeln verzogen, und dieses Lächeln drückte zugleich Achtung und Hohn, Dummheit und Gaunerei aus. Er kauerte wie ein Affe auf dem Boden, bewegte den Kopf hin und her und beobachtete uns, ohne jemand seine Augen zu zeigen. Aus den zahllosen Löchern seines Halbpelzes guckten Stücke schmutziger Schafwolle heraus, und der ganze Bauer machte einen seltsamen Eindruck: er sah ganz zerkaut aus, als wäre er soeben aus irgendeinem Riesenrachen entkommen, der ihn hatte auffressen wollen. Der hohe Sandhügel vor uns schützte uns und verdeckte den Fluß vor unsern Blicken.

»Man sollte doch mal hinaufgehen, nachschauen, was dort los ist . . .« sagte Issaj und stieg auf den Hügel. Ihm folgte der mürrische Landrat, dann ich und der Kaufmann. Der Bauer kroch auf allen vieren hinauf. Als wir den Gipfel erreichten, setzten wir uns alle hin, finster wie die Raben. Etwa vier Arschin vor uns und drei Klafter unter uns lag als blaugrauer Streifen der Fluß, ganz von Runzeln, Wunden und Haufen zerriebenen Eises übersät. Das Eis bedeckte ihn wie ein krankhafter Ausschlag und bewegte sich langsam, aber in dieser langsamen Bewegung lag eine unbesiegbare Kraft. Die kalte und feuchte Luft war von einem knarrenden Geräusch erfüllt.

»Kirilka!« rief der Landrat.

Der Bauer sprang auf, zog die Mütze und verbeugte sich vor dem Landrat so, als wolle er sich von ihm köpfen lassen.

»Nun, wird's bald?«

»Es wird nicht lang dauern, Euer Wohlgeboren, gleich bleibt es stehen. Belieben zu sehen, wie es drängt? Wenn es so fest kommt, muß es stehenbleiben. Dort, eine Werst höher ist eine Landzunge. Wenn das Eis dort anlangt, ist's fertig. Der ganze Witz ist das große Treibeis: wenn das große Treibeis in der Enge bei der Landzunge steckenbleibt, so verstopft's den Fluß! Es wird in der Enge zusammengedrückt und bleibt stehen.«

»Nun, gut . . . schweig . . .!«

Der Bauer schnappte mit den Lippen und verstummte.

»Nein, der Teufel weiß, was das ist!« begann der Landrat empört. »Ich hab' dir doch gesagt, du Idiot, daß du zwei Boote auf diese Seite herüberbringen sollst. Hab' ich es dir nicht gesagt?«

»Sie haben's gesagt. Es stimmt . . .« antwortete der Bauer schuldbewußt.

»Na, und du?«

»Es war keine Zeit mehr dazu . . . denn gleich begann schon der Eisgang . . .«

»Narr! – Nein«, wandte sich der Landrat zu Mamajew, »diese Esel verstehen nicht die gewöhnlichste Menschensprache!«

»Mit einem Worte – Bauern!« zischte Mamajew mit freundlichem Lächeln. »Eine wilde Rasse . . . ein stumpfsinniges Volk, Schädel aus Espenholz. Jetzt erwarten wir aber von der Tätigkeit der Semstwoverwaltung und den von ihr verbreiteten Schulen Aufklärung und Bildung . . .«

»Ja, die Schulen! Lesehallen, Projektionsapparate – das ist ja alles sehr schön! Ich verstehe es . . . ich bin zwar kein Gegner der Volksaufklärung, wie Sie wissen, aber eine ordentliche Tracht Prügel erzieht den Menschen besser und kostet weniger . . . Jawohl! Für die Rute hat der Bauer nichts zu zahlen, aber für die Aufklärung schindet man ihm die Haut vom Leibe, und zwar viel schmerzhafter als mit der Rute. Vorderhand bedeutet die Aufklärung für ihn nur überflüssige Ausgaben und Verarmung, das ist es . . . Ich sage aber nicht: klärt das Volk nicht auf; ich sage nur: habt mit ihm ein Einsehen und wartet . . .«

»Sehr richtig!« rief der Kaufmann vergnügt. »Es ist sogar sehr notwendig zu warten, denn der Bauer hat es heutzutage schwer. Mißernten, Seuchen, Trunksucht – das trifft ihn alles sozusagen bei der Wurzel; da kommt man ihm aber mit den Schulen und Lesehallen. Was darf man von einem Bauer bei diesen Zuständen verlangen? Nichts darf man von ihm verlangen . . . glauben Sie es mir!«

»Sie müssen es besser wissen, Nikita Pawlowitsch«, sagte Issaj höflich und überzeugt und seufzte andächtig.

»Das will ich meinen! Siebzehn Jahre habe ich mit ihnen zu tun! Was die Bildung betrifft, so denke ich es mir so: zur rechten Zeit kann sie Nutzen bringen . . . einem jeden Menschen. Wenn aber mein Magen, Sie entschuldigen schon, leer ist, so will ich nichts lernen außer Diebstahl . . .«

»Was brauchen Sie auch zu lernen!« rief Issaj respektvoll und freundlich.

Mamajew sah ihn an und verzog die Lippen.

»Da ist so ein Bauer . . . Kirilka!« rief der Landrat. »Da ist ein Bauer«, wandte er sich an mich mit einer gewissen Feierlichkeit im Ausdruck und Ton, »ich empfehle ihn Ihnen, kein ganz gewöhnlicher Bauer . . . eine Bestie, wie es ihrer wenige gibt! Als der ›Grigorij‹ brannte, rettete dieser zerlumpte Kerl, dieser . . . eigenhändig sechs Passagiere . . . im Spätherbst, setzte vier Stunden hintereinander sein Leben aufs Spiel, badete im Flusse, im Sturm, bei Nacht . . .! Er rettete die Menschen und verschwand. Man sucht ihn und will ihm danken, will sich um eine Rettungsmedaille für ihn bemühen . . . er aber stiehlt in dieser selben Zeit in den Staatswaldungen Holz und wird auf dem Tatorte erwischt. Ist ein guter Hauswirt, sparsam, hat seine Schwiegertochter ins Grab gebracht, seine Alte pflegt ihn mit Holzscheiten zu prügeln . . . trinkt furchtbar, ist dabei religiös und singt im Kirchenchor . . . hat eine ordentliche Bienenzucht . . . und ist bei alledem ein Dieb! Als hier einmal ein Lastkahn umgeladen wurde, erwischte man ihn beim Diebstahl von drei Kisten Rosinen . . . Nun sehen Sie, was das für ein Mensch ist?«

Wir alle betrachteten aufmerksam den talentvollen Bauern. Er stand vor uns, hatte seine Augen versteckt, schnaubte mit der Nase und hielt das Gesicht den eleganten Stiefeln des Landrats zugewandt. An seinen Lippen zitterten zwei Fältchen, aber die Lippen waren fest zusammengepreßt, und das Gesicht drückte gar nichts aus.

»Nun wollen wir ihn fragen. – Kirilka! Sag mal, was für ein Nutzen ist von der Bildung . . . von den Schulen?«

Kirilka seufzte, schmatzte mit den Lippen und sagte nichts.

»Nun, du verstehst ja zu lesen und zu schreiben«, sagte der Landrat etwas strenger, »du mußt es wissen: ist dein Leben besser, weil du zu lesen verstehst?«

»Es ist ganz verschieden«, sagte Kirilka und beugte den Kopf noch tiefer.

»Aber sag doch, du kannst lesen, nun, hast du irgendeinen Nutzen davon?«

»Einen Nutzen, ich meine einen, den man greifen könnte, hab' ich natürlich nicht . . . aber wenn man es so bedenkt: sie lehren uns, also haben sie einen Nutzen davon . . .«

»Wer hat den Nutzen?«

»Nun, die Lehrer . . . das Semstwo und so . . .«

»Ein Dummkopf bist du! Ich frage dich, ob du einen Nutzen hast?«

»Ganz wie man will, Euer Wohlgeboren . . .«

»Wie wer will . . .?«

»Wie Sie wünschen. Sie sind doch die Obrigkeit . . .«

»Geh weg!«

Das Gesicht des Landrats war rot geworden, und seine Schnurrbartspitzen zitterten.

»Nun sehen Sie es, er hat nichts gesagt, aber seine Antwort ist klar. Nein, meine Herren, ehe man dem Bauern das Abc beibringt, muß man ihm . . . Disziplin beibringen! . . . Er ist ein verdorbenes Kind, jawohl! Aber er ist auch der Boden! Sie verstehen . . .? Die Basis der Pyramide des Staatsgebäudes . . . und plötzlich . . . beginnt dieser Boden zu schwanken! Sie begreifen doch, wie gefährlich solch ein . . . Unfug ist.«

»Die Sache ist klar«, sagte Mamajew. »Man muß den Boden wirklich festigen . . .«

Da auch ich mich für das Los der Bauern interessiere, mischte ich mich gleichfalls ins Gespräch, und bald disputierten wir vierstimmig erregt und besorgt über das Los der Bauern. Der eigentliche Beruf eines jeden von uns ist die Festsetzung der Lebensvorschriften für unsere Nächsten, und unrecht haben die Prediger, die uns Egoismus vorwerfen: in unserem selbstlosen Bestreben, die Menschen gebessert zu sehen, vergessen wir immer uns selbst, und das ist vielleicht der Grund, warum wir alle so schlecht sind. Wir stritten, und der Fluß kroch wie eine riesengroße Schlange vor uns dahin und rieb sich mit seinen kalten, grauen Schuppen am Ufer.

Auch unser Gespräch wand sich wie eine Schlange, wie eine gereizte Schlange, die sich nach allen Seiten wirft, um das zu erhaschen, was sie braucht und was ihr immer entschlüpft. Uns entschlüpfte immer der Gegenstand unserer Unterhaltung – der Bauer. Was ist er? Er saß auf dem Sande nicht weit von uns; er schwieg, und sein Gesicht war leidenschaftslos.

Mamajew sagte:

»Nein, er ist gar nicht dumm! Er ist durchaus nicht dumm . . . es ist sehr schwer, ihn anzuführen . . .«

»Nein, er ist gar nicht dumm . . .«

Der Landrat ereiferte sich: »Ich sage ja nicht, daß er dumm ist! Ich sage, er ist verdorben! Begreifen Sie es doch! Er lebt ohne die notwendige Vormundschaft, wie ein Minderjähriger – darin liegt die Wurzel aller Mißstände in seinem Leben . . .«

»Ich aber glaube, mit Verlaub zu sagen, daß er gar nicht so schlecht ist! Ein Geschöpf Gottes wie alle . . . Aber Sie müssen schon entschuldigen! Er ist ganz dumm geworden . . . das heißt, er hat infolge der Mißstände in seiner Existenz alle Hoffnungen eingebüßt . . .«

Das sagte Issaj in salbungsvollem und ehrfurchtsvollem Tone, süß lächelnd und seufzend; seine Äuglein blinzelten scheu und wollten nicht geradeblicken, aber die Geschwulst an der Wange zitterte so, als wäre sie mit Lachen angefüllt, das aus ihr entweichen wollte, es aber nicht wagte. Und ich behauptete, daß der Bauer einfach hungrig sei und daß er sich ganz gewiß bessern würde, wenn er einmal genug zu essen bekäme.

»Sie sagen, er ist hungrig!« rief der Landrat gereizt. »Aber warum ist er es, zum Teufel? Man muß doch begreifen, warum er hungrig ist? Sagen Sie mir um Gottes willen: warum hat er vor vierzig, fünfzig Jahren gar nicht gewußt, was Hunger ist, und war satt und gesund? Das heißt, ich . . . ich wollte etwas anderes sagen. . . . Ich meine . . . ich . . . habe jetzt selbst Hunger! Ja, zum Teufel, augenblicklich habe ich dank ihm Hunger! Was sagen Sie zu ihm? Ich hatte ihm befohlen, die Boote herüberzubringen und mich hier zu erwarten. Ich komme her, Kirilka sitzt da. Pfui! Nein, ich sage Ihnen, es sind Idioten . . . das heißt Menschen, die nicht den geringsten Respekt vor den Worten eines Vertreters der Staatsgewalt haben . . .«

»In der Tat . . . es wäre recht angenehm, etwas zu essen«, sagte Mamajew melancholisch.

»Ach ja,« seufzte Issaj.

Wir alle waren durch den Streit erregt und hatten uns schon mehr als einmal wütend angefahren. Nun verstummten wir, durch den gemeinsamen Appetit geeinigt, und sahen Kirilka an, der unter unseren Blicken die Achsel zuckte und sich langsam die Mütze vom Kopfe nahm.

»Wie ist es nun mit dem Boot, Bruder?« fragte Issaj vorwurfsvoll.

»Was taugt das Boot . . .? Wenn es auch da wäre, essen kann man es doch nicht . . .« antwortete Kirilka schuldbewußt. Wir wandten uns alle vier von ihm ab.

»Sechs Stunden sitze ich schon hier«, erklärte Mamajew nach einem Blick auf die goldene Uhr, die er aus der Tasche zog – aus seiner Tasche, muß ich hinzufügen.

»Da sehen Sie es!« rief der Landrat gereizt und bewegte den Schnurrbart. »Aber diese Bestie . . . sagt, daß das Eis bald stehenbleibt. Du! Wird es bald?«

Der Landrat glaubte offenbar, daß Kirilka irgendeine Gewalt über den Fluß und über die Bewegung des Eises habe; und Kirilka schien auch wirklich verantwortlich dafür zu sein, denn die Frage des Landrates brachte alle seine Glieder in Bewegung. Er trat an den Rand des Hügels, hielt sich die Hand über die Augen und fing an, mit gerunzelter Stirne in die Ferne zu schauen, wobei er mit dem linken Fuß zappelte und die Lippen bewegte, als flüstere er Beschwörungsformeln oder erteile dem Flusse leise Befehle.

Das Eis kam als kompakte Masse, die bläulichen Eisschollen schoben sich mit dumpfem Geräusch übereinander, zerbrachen, krachten, zerfielen in kleine Stücke; ab und zu zeigte sich zwischen ihnen trübes Wasser, das gleich wieder unter dem Eise verschwand. Vor uns schien ein riesengroßer, von einer Hautkrankheit betroffener Körper voller Wunden und Schwären zu liegen, während eine unsichtbare mächtige Hand ihn von den schmutzigen Schuppen reinigte: noch einige Minuten, und der Fluß wird sich von seinen schweren Fesseln befreien und breit, mächtig und schön vor uns liegen; seine Wellen werden unter dem Schmutz und Eis aufleuchten, und die Sonne wird die Wolken zerreißen und ihn freudig und hell anblicken.

»Gleich kommt's, Euer Wohlgeboren!« rief Kirilka lebhaft.

»Es wird immer dünner . . . dort! dort bei der Landzunge!«

Er zeigte mit der Hand, in der er die Mütze hielt, in die Ferne, wo ich nichts als Eis sah.

»Ist es bis Olchowa noch weit?«

»Wenn man ganz gerade geht, sind es fünf Werst, Euer Wohlgeboren . . .«

»Der Teufel auch. Hm! Vielleicht hast du was? Kartoffeln, Brot?«

»Brot . . .? Brot hab' ich wohl . . . aber Kartoffeln hab' ich keine . . . sie sind heuer nicht geraten, die Kartoffeln . . .«

»Hast du das Brot bei dir?«

»Das Brot . . .? Hier hab' ich es im Busen . . .«

»Pfui Teufel! Was trägst du es im Busen herum?«

»Es ist ja nur ganz wenig, Euer Wohlgeboren, an die zwei Pfund . . . auch ist es da wärmer.«

»Dummkopf. Ich hätte eben den Kutscher gestern nach Olchina schicken müssen . . .! Wenn ich doch wenigstens etwas Milch haben könnte . . . er redet aber immer: gleich! gleich . . .! Diese Gemeinheit!«

Der Landrat zupfte sich wütend den Schnurrbart, aber Mamajew blickte freundlich auf den Busen des Bauern, der mit gesenktem Kopfe dastand und langsam die Hand mit der Mütze an den Busen führte. Issaj machte Kirilka irgendwelche Zeichen mit den Fingern. Der Bauer sah ihn an und begann sich ihm langsam zu nähern, den Blick auf den Rücken des Landrates gerichtet.

Der Eisgang nahm immer mehr ab, und zwischen den Eisschollen zeigten sich Spalten; sie waren wie Runzeln auf einem langweiligen, blutleeren Gesicht. Indem sie sich immer verschoben, verliehen sie dem Fluß bald den einen, bald den anderen Ausdruck; diese waren immer gleich weise, gleich kalt, aber – bald traurig, bald spöttisch, bald vom Schmerz verzerrt. Die feuchte Masse der Wolken sah dem Spiele des Eises unbeweglich und leidenschaftslos zu, und das Geräusch, mit dem sich die Eisschollen am Sande rieben, klang wie ein schüchternes Geflüster und stimmte traurig.

»Gib mir etwas Brot, Bruder!« flüsterte Issaj.

Im gleichen Augenblick räusperte sich Mamajew, aber der Landrat sagte laut und streng: »Kirilka! Gib das Brot her . . .«

Der Bauer riß sich mit der einen Hand die Mütze vom Kopfe, steckte die andere in den Busen, legte das Brot auf die Mütze und reichte es mit gekrümmtem Rücken dem Landrat. Der Landrat nahm das Brot in die Hand, sah es mit Ekel an und sagte uns mit einem sauren Lächeln unter dem Schnurrbart: »Meine Herren! Ich sehe, daß wir alle auf dieses Stück Brot reflektieren und daß wir alle das gleiche Recht darauf haben . . . das Recht von Menschen, welche essen wollen. Nun? Teilen wir . . . dieses karge Mahl . . . Hol's der Teufel! Eine komische Situation, aber Sie müssen mir glauben, ich hatte es so eilig, weil ich hoffte, noch eine Überfahrt zu erwischen . . . Ich bitte sehr . . .«

Er brach sich ein Stück ab und reichte das Brot Mamajew. Der Kaufmann kniff eine Auge zusammen, neigte den Kopf auf die Seite, maß mit den Blicken das Brot und brach sich seinen Teil ab. Den Rest nahm Issaj und teilte ihn mit mir. Wir setzten uns wieder nebeneinander und fingen an, einträchtig und schweigend dieses Brot zu kauen . . . obwohl es wie Lehm war, nach schweißigem Schafpelz roch und . . . und ganz unbeschreiblich schmeckte . . . Ich aß und beobachtete, wie auf dem Flusse die schmutzigen Fetzen seines Winterkleides schwammen.

»Hier«, sagte der Landrat mit einem vorwurfsvollen Blick auf das Stück Brot in seiner Hand. »Belieben es zu sehen: das ist Brot! Während der Bauer im Auslande Wein, Käse und gutes Weizenbrot hat, ißt unser Bauer diesen . . . diesen Dreck. Es ist Spelze darin, es ist eine Säure darin . . . und damit ernähren sich Menschen am Vorabend des zwanzigsten Jahrhunderts . . .! Und warum?« Da diese Frage an Mamajew gerichtet war, so seufzte dieser schwer auf und antwortete bescheiden: »Die Nahrung ist nicht gut . . . sie schlägt nicht an . . .«

»Und warum?«

»Die Fruchtbarkeit der Erde ist erschöpft . . . sozusagen . . .«

»Hm! Lassen Sie das! Dieses Gerede von der Erschöpfung des Bodens ist bloß eine Erfindung der Semstwo-Statistiker . . .«

Kirilka seufzte auf und schob sich die Mütze

»Du! Sag, trägt dein Boden was?« wandte sich an ihn der Landrat.

»Ja . . . es ist eben verschieden . . . wenn er kann, so trägt er, soviel man will.«

»Keine Ausflüchte! Sprich offen: trägt er was?«

»Das heißt . . . also, wenn man . . .«

»Unsinn!«

»Wenn man Hand anlegt, so geht es . . .«

»Aha! Sie hören es, man muß Hand anlegen! Darum trägt er auch nichts, weil niemand Hand anlegen will . . . Was sehen wir? Trunksucht, Sittenlosigkeit . . . Faulheit. Es gibt keinen Leiter. Bei einer Mißernte tritt gleich das Semstwo auf: Hier ist Brot, Väterchen, iß nur! Hier ist Saatgut, Väterchen, bestelle dein Feld. Nein, das ist keine Ordnung! Warum war der Boden vor dem Jahre 1861 gut? Weil man damals bei einer Mißernte sofort den Bauer ins Gebet nahm. Wie habt ihr gepflügt? Wie habt ihr gesät? und so weiter. Dann gab man ihm Saatgut, und er bestellte das Feld. Und dann gab es keine Mißernten, glauben Sie es mir! Aber jetzt, wo er unter der Obhut des Semstwo steht, hat er alle seine Fähigkeiten versteckt . . . denn er weiß nicht, wie er sie zu seinem Nutzen anwenden soll, und es ist niemand da, der es ihm zeigt.«

»Das kam wirklich vor . . . der Gutsbesitzer konnte ihn zu allem zwingen«, sagte Mamajew überzeugt. »Er konnte aus dem Bauern alles machen!«

»Musiker, Maler, Tänzer, Schauspieler . . .« fiel ihm der Landrat begeistert ins Wort. »Alles, was man nur wollte.«

»Wahrlich . . . ich kann mich auch erinnern, als ich noch ein kleiner Junge war . . . da hatten wir . . . das heißt der Graf . . . unter den Leibeigenen einen . . . Nachahmer, sozusagen . . .«

»Ja?«

»Der lernte alles nachahmen! Nicht nur Töne, die der Mensch und das Vieh von sich geben . . . sondern auch die von Holz und andere. Er stellte dar, wie man ein Brett sägt, oder wie Glas zerbricht. Er blies die Backen auf und . . . es kam sehr gut heraus! Oder der Graf sagte ihm mal: ›Fedjka, bell mal wie die Slobnaja bellt! Fedjka, bell mal wie der Perechwat . . .!‹ Und er bellte so! Das hatte der Mensch erreicht! Heute könnte man mit dieser Kunst viel Geld verdienen.«

»Die Boote kommen!« rief Issaj.

»Ah! Endlich! Kirilka, meine Pferde . . . übrigens will ich es selbst dem Kutscher sagen . . .«

»Nun haben wir's doch erwartet«, sagte mir lächelnd Mamajew.

»Ja . . .«

»Es ist ja immer so: man wartet, wartet und erwartet es schließlich! He, he, he,! Alles hat sein Ende . . .«

»Das ist doch tröstlich, nicht?«

»Das glaub' ich!«

»Wenn es nicht so wäre, könnten viele Menschen das Leben überhaupt nicht ertragen«, bemerkte Issaj.

Am jenseitigen Ufer bewegten sich zwei schwarze Punkte.

»Sie kommen«, sagte Kirilka, nachdem er einen Blick auf sie geworfen.

Der Landrat sah ihn von der Seite an und fragte: »Nun, trinkst du noch immer?«

Kirilka antwortete schuldbewußt: »Wenn sich's mal trifft . . . trinke ich . . .«

»Stiehlst du auch noch Holz?«

»Was brauche ich Holz, Euer Wohlgeboren?«

»Nein, im Ernst?«

»Niemals hab' ich was mit Holz zu tun gehabt, Euer Wohlgeboren«, sagte Kirilka und schüttelte sogar verneinend den Kopf.

»Und weswegen hab' ich dich mal verurteilt?«

»Gewiß, Sie haben mich verurteilt, das stimmt . . .«

»Weswegen?«

»Da Sie die Obrigkeit sind . . . müssen Sie uns halt richten.«

»Eine schlaue Bestie! Nun, und stiehlst du noch immer bei der Umladung der Schiffe?«

»Ein einziges Mal hab' ich's versucht, Euer Wohlgeboren!«

»Und bist gleich 'reingefallen, ha, ha, ha!«

»Wir sind es nicht gewohnt, darum bin ich 'reingefallen.«

»Man muß sich daran gewöhnen? Ha, ha, ha!«

»He, he, he!« lachte Mamajew.

Die Boote näherten sich unserem Ufer, mit langen Stangen von den Eisschollen zurückgestoßen, die gegen ihre Borde drängten. Die Bauern, die in ihnen saßen, schrien einander etwas zu. Kirilka führte die Hand wie einen Trichter vor den Mund und schrie ihnen mit unerwartet lauter Stimme zu:

»Steuert auf die Weide los . . .!«

Er schrie es ihnen zu und kugelte fast vom Hügel zum Fluß hinunter . . . Wir folgten ihm.

Bald stiegen wir in die Boote: in das eine ich und Issaj, in das andere Mamajew und der Landrat.

»Mit Gott, Burschen!« kommandierte der Landrat, die Mütze abnehmend und sich bekreuzend. Die beiden Bauern bekreuzten sich ebenfalls mit großer Andacht und fingen an, mit den Bootshaken gegen die Eisschollen zu stoßen, die die Boote zusammenpreßten. Die Eisschollen schlugen mit unheimlichem Knirschen gegen die Bordseiten. Auf dem Wasser war es kalt. Mamajews Gesicht war, wie ich sah, eigentümlich dunkel geworden. Der Landrat runzelte die Brauen und blickte besorgt und streng die Strömung hinauf, von wo aus mächtige, blaugraue Stücke Eis gegen unsere Boote trieben. Die kleineren Eisstücke knirschten am Kiel, und es klang, als nagten spitze, große Zähne am Holz der Boote.

Es brauste, es war feucht und unheimlich, und wir alle blickten über Bord auf das schmutzige, kalte Eis, das so stark und so dumm war. Aber plötzlich hörte ich mitten im Rauschen um uns herum eine Stimme vom Ufer und blickte hin. Das Ufer war schon an die zehn Klafter von uns entfernt, darauf stand ohne Mütze Kirilka, ich sah seine grauen, lebhaften, spöttischen Augen und hörte seine auffallend starke Stimme: »Onkel Anton! Wenn ihr die Post holen fahrt, bringt mir Brot mit, hörst du? Die Herrschaften haben, auf die Überfahrt wartend, mein Brot aufgegessen, ich hatte nur das eine.«

 


 << zurück weiter >>