Maxim Gorjki
Judenmassakre
Maxim Gorjki

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Sechsundzwanzig und Eine

Wir waren unser sechsundzwanzig – sechsundzwanzig lebendige Maschinen, eingepfercht in ein feuchtes Kellergewölbe. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend kneteten wir Teig und formten ihn zu Kringeln und Brezeln. Die Fenster unseres Kellergewölbes lehnten sich an eine Nische an, deren Wände von Feuchtigkeit grün gewordene Ziegel auskleideten. Die Fensterrahmen umgab ein dichtes Eisennetz und das Sonnenlicht vermochte nicht durch die mit Mehlstaub bedeckten Scheiben zu uns zu dringen. Unser Meister hatte das dichte Eisengitter anbringen lassen, damit wir kein Stück seines Brotes einem Bettler geben könnten oder einem Kameraden, der etwa arbeitslos war und hungerte. Unser Meister nannte uns Tagediebe und gab uns zu Mittag statt Fleisch – faules Gekröse zu essen.

Eng und dumpfig war's in dem steinernen Kasten unter der niedrigen, drückenden Decke, die von Ruß und Spinngewebe starrte; unerträglich qualvoll war unser Leben innerhalb der dicken, in Schmutz und Fäulnis modernden Mauern. Wir standen um fünf Uhr morgens auf, ohne Zeit gefunden zu haben, uns auszuschlafen, setzten uns stumpf und gleichgültig an den Tisch, um Brezeln zu formen aus dem Teig, den unsere Kameraden vorbereitet hatten, während wir schliefen. So saßen die einen den ganzen Tag am Tisch, rollten den elastischen Teig mit den Händen aus und wiegten sich, um nicht steif zu werden; die anderen kneteten den Teig. Den ganzen Tag summte traurig das siedende Wasser im Kessel, in dem die Brezel gebrüht wurden, und die Schaufel des Bäckers scharrte hastig und zornig im Ofen und schleuderte die schlüpfrigen, brühenden Teigstücke auf die heißen Backsteine hinunter.

Vom Morgen bis zum Abend brannten auf der einen Seite des Ofens die Holzscheite und der rote Widerschein der Flamme flackerte an der Wand der Werkstätte, als lachte er stumm über uns. Der gewaltige Ofen glich dem mißgestalteten Schädel eines märchenhaften Ungeheuers – als rage er aus der Erde empor, als hauche er aus weitem Rachen Feuergluten auf uns aus, und die beiden schwarzen Luftlöcher über dem Ofen starrten gespannt auf unsere endlose Arbeit. Diese beiden tiefen Höhlen erschienen uns wie die erbarmungslosen kalten Augen des Ungeheuers: sie starrten uns mit immer gleichen finstern Blicken an, als wären sie müde worden, auf Sklaven zu blicken, von denen nichts Menschliches zu erwarten sei und die sie mit der kalten Verachtung der Weisheit behandelten.

In dem Mehlstaub, dem Schmutze, den wir mit unseren Füßen vom Hofe hereintrugen, in der dicken, dumpfen Luft rollten wir tagaus, tagein den Teig aus und formten ihn zu Brezeln, die unser Schweiß befeuchtete. Wir haßten unsere Arbeit, wir aßen nie das, was wir buken und zogen Schwarzbrot den Brezeln vor. Wir saßen an einem langen Tische, auf jeder Seite neun, einander gegenüber, bewegten gedankenlos die Hände und die Finger stundenlang und waren an unsere Arbeit so gewöhnt, daß wir unsere Bewegungen nicht mehr bemerkten. So oft hatten wir einander angeschaut, daß jeder von uns alle Runzeln auf den Gesichtern der Kameraden kannte. Wir wußten nichts, worüber wir hätten sprechen können, wir waren gewöhnt daran und schwiegen, wenn wir einander nicht gerade schimpften – es gibt immer Gründe, einen Menschen zu beschimpfen, insbesondere einen Kameraden. Doch schimpften wir einander auch nur selten – was könnte auch ein Mensch verschulden, der einem Klotze gleicht und dessen Gefühle durch die Last der Arbeit erdrückt werden? Aber das Schweigen ist nur für die schrecklich und qualvoll, die schon alles gesagt und nichts mehr zu sagen haben; für Menschen, die noch nicht zu reden begonnen haben – ist das Schweigen einfach und leicht . . . Aber manchmal sangen wir, und unser Lied begann folgendermaßen: inmitten der Arbeit seufzte irgendeiner plötzlich auf wie ein müder Gaul und begann leise eines jener langgezogenen Lieder zu singen, deren klagend zarte Melodie stets die Last erleichtert, die auf der Seele des Sängers ruht. Einer singt und wir hören zuerst stumm seinen einsamen Gesang an, der unter der schweren Decke des Kellergewölbes still verhallt und erlischt, wie ein kleines Flämmchen eines Steppenfeuers in einer feuchten Herbstnacht, wenn der graue Himmel einem Bleidach gleich über der Erde hängt.

Dann schließt sich dem Sänger ein zweiter an und jetzt schweben zwei Stimmen leise und sehnsuchtsvoll durch die stickige Luft unserer engen Grube. Und plötzlich fallen mehrere Stimmen ein – das Lied braust auf gleich einer Welle, mächtig und laut, als dränge es die feuchten schweren Wände unseres steinernen Gefängnisses auseinander . . .

Alle sechsundzwanzig singen, die lauten, geübten Stimmen erfüllen die Werkstatt; dem Liede wird darin zu enge: es hallt an der Wandmauer, es stöhnt, es weint und greift mit einem leisen, kitzelnden Schmerz ans Herz, wühlt in alten Wunden und erweckt Sehnsucht . . . Die Sänger seufzen tief und schwer; einige brechen plötzlich ab und horchen lange, wie die Kameraden singen, um dann von neuem ihre Stimme der allgemeinen Welle zuzugesellen. Mancher schreit sehnsuchtsvoll auf: »Eh!« er schließt die Augen und singt, und die dichte, breite Tonwelle dünkt ihm vielleicht ein Weg zu sein, der irgendwohin in die Ferne führt, erglänzend in hellen Sonnenstrahlen, eine weite Bahn, auf der er selbst dahinschreitet . . .

Die Flamme im Ofen flackert noch immer, die Schaufel des Bäckers scharrt über die Ziegel, das Wasser im Kessel summt und der Widerschein des Feuers lacht wie früher still über uns. Und wir singen mit fremden Worten von unserem dumpfen Schmerz, dem bitteren Gram lebendiger Menschen, die der Sonne beraubt sind, dem Gram der Sklaven. So lebten wir sechsundzwanzig in dem Keller eines großen steinernen Hauses und so schwer war es zu leben, als wären alle drei Stockwerke dieses Hauses gerade auf unseren Schultern aufgebaut . . .

* * *

Doch gab es außer den Liedern noch etwas anderes Schönes, das wir liebten, das uns vielleicht die Sonne ersetzte. Über uns, im zweiten Stockwerke des Hauses, befand sich eine Werkstätte. Zahlreiche Goldstickerinnen arbeiteten dort, und mit ihnen lebte das sechzehnjährige Stubenmädchen Tanja. Alle Morgen preßte sie ihr rosiges Gesichtchen an die Scheibe des Fensters, das an der Werkstättentür angebracht war. Blaue, schelmische Augen blickten auf uns und eine helle, freundliche Stimme rief:

»Her mit den Brezeln, Arrestantchen!«

Wir blickten augenblicklich in die Richtung, aus der die wohlbekannte, klangvolle Stimme kam und mit gutmütiger Freude betrachteten wir das reine Mädchengesicht, das uns so lieb zulächelte. Es freute uns, die an die Scheibe gedrückte Nase zu sehen, die feinen, weißen Zähne, die hinter den im Lächeln halbgeöffneten rosigen Lippen hervorguckten. Wir stürzen zur Tür, stoßen einander und sie tritt so heiter, so lieb zu uns herein, hält ihre Schürze hin und steht vor uns, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, steht und lächelt immerzu. Ein langer, dichter Zopf kastanienbrauner Haare fällt über die Schulter zur Brust hinab. Wir schmutzigen, häßlichen, düsteren Menschen schauen zu ihr hinauf – die Türschwelle ist um vier Stufen höher als die Diele – wir schauen mit hochgehobenen Köpfen zu ihr hinauf, wünschen ihr guten Morgen und sagen ihr gewisse ungewöhnliche Worte, die wir sonst nie sagen. Unsere Stimmen sind weicher, unsere Scherze gesitteter, wenn wir mit ihr sprechen. Alles für sie ist anders. Der Bäcker holt aus dem Ofen die schönsten, besten Brezeln hervor und wirft sie geschickt in die Schürze Tanjas.

»Sieh zu, daß dich der Meister nicht sieht,« warnten wir sie. Sie lacht schelmisch und ruft uns heiter zu:

»Lebt wohl, Arrestantchen!« Und sie verschwindet rasch wie ein Mäuschen.

Weiter nichts . . . Aber wir sprechen noch lange danach vergnügt von ihr, und sprechen immer dasselbe, was wir gestern und früher gesprochen haben; denn auch sie und wir und alles ringsum ist genau so, wie es gestern und früher war. Es ist sehr traurig und peinigend, wenn der Mensch lebt und um ihn herum sich nichts ändert, und wenn er es aushält, wird die Unbeweglichkeit der Umgebung um so qualvoller, je länger er lebt . . . Wir sprachen von den Weibern sonst so, daß es uns zeitweilig selbst anwiderte, unsere rohen, schamlosen Reden anzuhören. Am Ende ist das begreiflich – die Frauen, die wir kannten, verdienten vielleicht gar keine anderen Reden. Allein von Tanja sprachen wir nie schlecht; nie hätte einer in ihrer Gegenwart einen rohen Scherz oder gar sie mit der Hand zu berühren gewagt. Vielleicht, weil sie nicht lange bei uns blieb: Wie ein Stern, der vom Himmel fällt, blitzt sie auf vor unseren Augen und verschwindet. Vielleicht, weil sie so klein und so schön war, und alles Schöne erweckt Achtung auch bei groben Menschen. Und am Ende waren wir immer noch Menschen, wenn auch das Sklavenjoch uns zu stumpfsinnigen Tieren machen konnte – wir waren Menschen, und vermochten nicht zu leben, ohne jemand anzubeten. Wir kannten niemanden, der besser war als sie, niemand, außer ihr, schenkte uns, die wir im Keller leben, Beachtung – niemand, obschon zahlreiche Personen das große Haus bewohnten. Und was wohl das Hauptsächlichste war – wir hielten sie gewissermaßen für unser eigen – für etwas, das nur dank unserer Brezeln existierte. Es war unsere Pflicht, ihr heiße Brezeln zu liefern, und wir betrachten diese Pflicht als eine tägliche Opfergabe an unser Idol – es war wie ein heiliger Brauch, der uns mit jedem Tag inniger mit ihr verband. Außer den Brezeln bekam Tanja von uns verschiedene Ratschläge – sich wärmer zu kleiden, über die Stiege nicht rasch zu laufen, keine schweren Holzbündel zu tragen. Sie hörte unsere Ratschläge mit einem Lächeln an und befolgte sie nie. Wir nahmen es ihr freilich nicht übel: wir wollten nur zeigen, wie besorgt wir um sie seien.

Oft wandte sie sich mit allerlei Bitten an uns, ersuchte uns zum Beispiel, ihr die schwere Kellertür zu öffnen oder Holz zu spalten – wir taten es mit Freuden, wir waren stolz darauf, tun zu dürfen, was sie wollte.

Als aber einer von uns sie ersuchte, ihm sein einziges Hemd auszubessern, schrie sie ihn verächtlich an und sagte:

»Was denn sonst noch! Freilich! . . .«

Wir lachten sehr über den wunderlichen Kauz und baten sie seither nie um etwas. Wir liebten sie – damit ist alles gesagt. Der Mensch ist immer bestrebt, seine Liebe auf jemand zu übertragen, obgleich er damit oft einen andern belästigt, vielleicht sogar ihn beschmutzt oder sein Leben vergiftet, wenn er liebt, ohne zugleich zu achten.

Manchmal begann einer zu nörgeln:

»Warum verwöhnen wir das Mädchen denn? Was ist sie so Außerordentliches? Wie? Wir beachten sie, so scheint mir, doch zu sehr? . . .«

Wir wiesen den Waghals, der so zu reden sich getraute, rasch und barsch zurecht; wir mußten etwas lieben; wir hatten es gefunden und liebten es, und weil wir alle sechsundzwanzig es in gleicher Weise liebten, mußten es alle hochhalten wie ein Heiligtum, und wer nicht tat wie wir – war unser Feind. Möglich, daß der Gegenstand der Liebe in Wirklichkeit nicht so ist, wie wir es wollen; aber wir sind sechsundzwanzig und deshalb wollen wir, daß allen teuer sei, was uns teuer ist.

Unsere Liebe ist nicht leichter zu ertragen als unser Haß . . . vielleicht behaupten auch darum manche hochmütige Menschen, daß sie unseren Haß unserer Liebe vorziehen . . . Ja, warum meiden sie uns dann nicht? . . .

* * *

Unser Meister hatte außer der Brezel- und Kringelbäckerei auch eine Weißbrotbäckerei; sie befand sich in demselben Hause und war von unserem Loch nur durch eine Wand getrennt; aber die Gehilfen – es waren vier Mann – verkehrten mit uns nicht. Sie hielten ihre Arbeit für vornehmer als die unsere und dünkten sich selbst besser als wir. Sie kamen nicht zu uns und lächelten nur verächtlich, wenn sie uns auf dem Hofe sahen. Auch wir besuchten sie nicht: Der Meister befürchtete, wir könnten dort ein Stück Weißbrot stehlen und hatte uns verboten hinaufzugehen. Wir mochten die Weißbrotbäcker nicht, die wir um ihre leichtere Arbeit, den besseren Lohn, die bessere Kost beneideten; sie hatten dazu eine geräumige, freundliche Backstube und waren alle sauber und gesund. Auch aus diesem Grunde waren sie uns zuwider. Wir alle sahen irgendwie gelb und grau aus. Drei von uns waren syphilitisch, einige litten an Krätze, einer war vom Rheumatismus ganz gekrümmt. An Feiertagen und nach Feierabend gingen sie in Jaquets und in knarrenden Stiefeln einher, zwei von ihnen hatten eine Harmonika und manchmal gingen sie im Park spazieren. Unsere Kleider aber waren schmutzig und zerrissen und an den Füßen trugen wir alte Stiefel oder Bastschuhe; uns erlaubte die Polizei nicht in den Park einzutreten. Wie hätten wir die Weißbrotbäcker leiden mögen?

Da hörten wir eines Tages, ein Bäcker habe sich dem Trunke ergeben und sei vom Meister entlassen worden, es sei auch schon ein neuer Gehilfe angenommen worden, ein ehemaliger Soldat, der eine Atlasweste und eine Uhr an einer goldenen Kette trage. Es interessierte uns sehr, einen solchen Stutzer zu sehen und einer nach dem anderen lief auf den Hof, um ihn zu erblicken.

Nun kam er aber selbst in unsere Backstube. Er stieß die Tür mit einem Fußtritt auf, ließ sie offen stehen und auf der Schwelle stehen bleibend, rief er uns lächelnd zu:

»Grüß Gott, Brüder! Helf euch Gott!«

Frostige Luft drang als dichte Wolke ein und umwogte seine Füße, während er lächelnd von der Schwelle auf uns herabsah; hinter seinem blonden, kühn geschwungenen Schnurrbart glänzten zwei Reihen großer gelber Zähne hervor. Er trug in der Tat eine seltsame Weste – blau, geblümt, ganz eigenartig schillernd, die Knöpfe aus roten Steinchen . . .

Hübsch war der Junge, das Soldatchen, hoch gewachsen, gesund, mit roten Wangen und die großen, hellen Augen blickten freundlich und klar. Auf dem Kopfe trug er eine weiße, steifgeplättete Mütze und unter der peinlich sauberen Schürze schauten die Spitzen modischer, glänzender Stiefel hervor.

Unser Bäcker forderte ihn respektvoll auf, die Tür zu schließen, was er ohne Eile tat; dann begann er uns über unsern Meister auszufragen. Einander ins Wort fallend, riefen wir ihm zu, daß der ein gemeiner Schuft, ein Spitzbube, Halunke und Plagegeist sei, mit einem Wort, wir sagten alles, was man Böses von einem Meister sagen kann, was sich aber nicht gut hier wiedergeben läßt. Der Soldat hörte zu, bewegte den Schnurrbart und sah uns mit weichen, freundlichen Blicken an.

»Mädels habt ihr da . . .« sagte er plötzlich.

Einige von uns lachten respektvoll, manche schnitten lüsterne Grimassen und einer erzählte dem Soldaten, daß neun Mädchen im Hause wären.

»Na und ihr, habt ihr was davon?« fragte der Soldat blinzelnd.

Wieder lachten wir, nicht gar laut, ziemlich verwirrt . . . Mancher von uns hätte sich vor dem Soldaten gern für den verwegenen Burschen ausgegeben, der er selbst war, aber kein einziger verstand es, keiner hatte das Zeug dazu. Einer gestand es ihm und sagte leise:

»Wie käm' unsereiner dazu . . .«

»Glaub's wohl, euch fällt's schwer,« sagte der Soldat selbstbewußt, während er uns aufmerksam musterte. – »Ihr seid eben nicht . . . Ihr habt keine Haltung . . . Kein entsprechendes Äußere, will sagen, kein richtiges. Das Weib geht nun einmal auf das Äußere, auf den strammen Körper kommt es ihr an, es soll alles akkurat sein und vor allem lieben sie die Kraft . . . Der Arm muß so sein, da!«

Der Soldat zog die rechte Hand aus der Tasche und zeigte uns den bis zum Ellenbogen entblößten Arm . . . Es war ein weißer, kräftiger, mit glänzendem, goldig schimmerndem Flaum bedeckter Arm.

»Das Bein, die Brust – alles muß stramm sein . . . Und auch die Kleidung muß dem entsprechen . . . Mich zum Beispiel, mich lieben die Weiber. Ich rufe sie nicht, ich locke sie nicht, gleich fünf auf einmal fliegen sie mir an den Hals . . .«

Er setzte sich auf einen Mehlsack und erzählte uns breit, wie sehr ihn die Weiber lieben und wie keck er mit ihnen umgehe. Dann ging er, und als sich hinter ihm die Türe knarrend geschlossen hatte, schwiegen wir noch lange und dachten an ihn und an seine Erzählungen. Dann begannen alle auf einmal zu sprechen und alle fanden plötzlich, daß er uns gut gefallen hatte. So einfach, so nett – kam, setzte sich und plauderte. Niemand kam zu uns, niemand sprach freundschaftlich mit uns . . . Wir sprachen von ihm und von seinen zukünftigen Erfolgen bei den Goldstickerinnen, die entweder verächtlich die Lippen zusammenpreßten oder uns auswichen, wenn sie uns auf dem Hofe begegneten, wenn sie nicht gar auf uns los gingen, als wären wir gar nicht da. Uns aber entzückten sie, wenn wir sie auf dem Hofe sahen oder wenn sie an unseren Fenstern vorbeikamen; im Winter in sonderbaren Mützen und Pelzen, im Sommer in Hütchen mit Blumen und bunten Schirmen in den Händen. Dafür redeten wir aber unter uns von diesen Mädchen so, daß sie vor Scham und Kränkung unglücklich wären, wenn sie es gehört hätten . . .

»Am Ende verdirbt er uns unser Tanjuschka,« meinte plötzlich besorgt der Bäcker.

Wir alle verstummten in Bestürzung über diese Worte. Wir hatten an Tanja gänzlich vergessen: Der Soldat schien sie durch seine große schöne Gestalt aus unserer Erinnerung verdrängt zu haben. Gleich aber entstand lärmender Streit: Die einen sagten, Tanja werde sich nicht so weit vergessen, andere schrieen, sie werde dem Soldaten nicht widerstehen können, noch andere erklärten dem Soldaten alle Rippen zu zerbrechen, wenn er mit Tanja anbandeln sollte. Und am Ende beschlossen alle, Tanja und den Soldaten scharf im Auge zu behalten, das Mädchen aber zu warnen, damit sie sich in acht nehme . . . So schloß der Streit.

* * *

Ein Monat war verstrichen; der Soldat buk Semmeln, ging mit den Goldstickerinnen spazieren, kam öfter zu uns in die Backstube, aber von Siegen bei den Mädchen erzählte er nichts; er drehte nur seinen Schnurrbart und schmatzte wohlgefällig mit den Lippen.

Tanja kam jeden Morgen zu uns, um Brezeln zu holen und war wie immer lustig, lieb und freundlich. Wir versuchten, mit ihr über den Soldaten zu sprechen, doch sie nannte ihn »glotzäugiges Kalb« und legte ihm noch andere Spitznamen bei, und das beruhigte uns. Wir waren stolz auf unser Mädchen, insbesondere auch, weil wir sahen, wie die Goldstickerinnen den Soldaten umschwärmten; Tanjas Verhalten hob unser Selbstbewußtsein und wir fanden Mut, den Soldaten zu verachten. Tanja aber war uns um so lieber geworden, und noch freudiger und treuherziger begrüßten wir sie alle Morgen.

Nun kam eines Tages der Soldat zu uns, ein wenig angeheitert, setzte sich und lachte vor sich hin. Wir fragten ihn, weshalb er lache und er erzählte uns:

»Die Lidka und die Gruschka haben sich meinetwegen geprügelt! . . . Wie sie sich nur zugerichtet haben, ach! Ha, ha! Hielten sich an den Haaren fest und wälzten sich auf dem Boden in der Einfahrt, eine setzte sich auf die andere und dann gings erst los . . . Hahaha! Zerkratzte Gesichter, . . . zerrissene Kleider . . . Zum Kranklachen! Daß das Weiberpack es nicht versteht, ordentlich zu prügeln! Weshalb kratzen sie denn immer? Wie?«

Er saß auf der Bank, gesund, kraftstrotzend, übermütig und lachte immerzu. Wir schwiegen, diesmal mißfiel er uns.

»N–nein, was ich Glück habe bei den Weibern! 's ist zum Kranklachen. Ich brauche nur mit einem Auge zu blinzeln – weg ist sie! T–teufel!«

Seine weißen, mit goldig schimmerndem Flaum bedeckten Arme hoben sich und sanken laut klatschend wieder auf die Kniee. Dabei sah er uns mit so fröhlichen überraschten Augen an, als wundere er sich selbst über sein außerordentliches Glück bei den Weibern. Sein rundes, gerötetes Gesicht lächelte selbstzufrieden und glücklich und er schmatzte lüstern mit den Lippen.

Unser Bäcker scharrte energisch und ärgerlich mit der Schaufel über die Ziegel des Backofens und sagte dann plötzlich spöttisch:

»Leicht fällt man kleine Tannenbäumchen, versuch's du nur mal mit einer ordentlichen Fichte . . .«

»Was? Ich? Mich meinst du?« fragte der Soldat.

»Eben dich . . .«

»Was soll's? . . .«

»Ach, nichts . . . es ist mir eben so eingefallen!«

»Halt! Was ist's? Was meinst du mit deiner Fichte?«

Unser Bäcker erwiderte gar nicht; er manipulierte aufgeregt mit seiner Schaufel beim Ofen, schob die gebrühten Brezeln hinein, zog die fertigen hervor und warf sie geräuschvoll auf den Boden den Lehrjungen hin, die sie auf Schnüre reihten. Er tat so, als hätte er an den Soldaten und an das Gespräch vergessen. Der Soldat aber war unruhig geworden. Er stand von seinem Platze auf, ging zum Ofen hin und hätte schier die Brust an den Schaufelschaft gestoßen, der heftig in der Luft hin und her geschoben wurde.

»Nein, so sag's – wen meinst du? Du hast mich beleidigt! . . . Mir, kommt keine einzige aus, n–nein! Und du sagst mir solche verletzende Worte . . .«

Es schien, als sei er ernstlich beleidigt. Mag sein, daß er nichts anderes in sich fand, was er achten konnte, als sein Geschick Weiber zu verführen; mag sein, daß diese Fähigkeit allein in ihm lebendig war und ihm ein Anrecht gab, sich als lebendiger Mensch zu fühlen.

Es gibt sicherlich Menschen, die irgendein seelisches oder körperliches Leid für das Wertvollste in ihrem Leben halten; sie tragen sich damit ihr Leben lang herum, leben und leiden dadurch, es hält sie aufrecht; sie beklagen sich vor den anderen über ihr Leid und wissen so die Aufmerksamkeit der Mitmenschen auf sich zu lenken. Sie erobern so das Mitgefühl der Menschen, und das ist alles, was sie besitzen. Nehmet ihnen ihre Krankheit, heilet sie, und sie sind unglücklich, werden hilflos und leer, da sie das einzige Mittel verlieren, das sie am Leben erhalten hat. Das Leben eines Menschen kann so armselig sein, daß er nur noch seine Laster zu schätzen, nur durch sie zu leben vermag; man kann geradezu behaupten, daß die Öde des Lebens Menschen häufig zum Laster herbeizieht.

Der Soldat war beleidigt; er rückte unserem Bäcker immer näher auf den Leib und brüllte:

»Du wirst es sagen, du mußt's – wer ist sie?«

»Soll ich's?« erwiderte der Bäcker und drehte sich plötzlich zu ihm um.

»Na? . . .«

»Kennst du die Tanja?«

»Na – was ist mit ihr?«

»Ja, versuch's nur . . .«

»Ich?«

»Ja. – Du!

»Die – Unsinn – eine Kleinigkeit für mich!«

»So! Wollen wir erst sehen!«

»Wirst du, haha!«

»Du, sie . . .«

»Einen Monat Zeit!«

»Bist du aber ein Prahlhans, Soldat!«

»Zwei Wochen! Ihr sollt mich kennen lernen! Tanjka! Ist da auch was dabei! Pah.«

»Jetzt scher' dich aber, du . . . steh' da nicht im Wege!«

»Zwei Wochen – dann ist's erledigt.«

»Fort! Scher' dich, sag' ich dir!«

Unser Bäcker war plötzlich grimmig geworden und holte mit der Schaufel aus. Der Soldat trat erst verwundert zurück, sah uns eine Weile schweigend an, sagte dann leise und drohend: »Ich zeig's euch noch« und ging.

Wir hatten während des Streites alle geschwiegen und voll Spannung zugehört. Sobald aber der Soldat draußen war, erhob sich unter uns ein lautes und lebhaftes Durcheinander von Stimmen.

Einer rief dem Bäcker zu:

»Hast was gar Gescheites angefangen, Pawel!«

»Meng' dich nicht ein, arbeite weiter!« schrie ihn der Bäcker an.

Wir fühlten, daß der Soldat an seiner empfindlichsten Seite getroffen wäre und daß Tanja gefährdet sei. Wir fühlten es und zugleich erfaßte uns eine angenehm prickelnde Neugier. Wie wird's nun enden? Bleibt Tanja fest? Und fast alle riefen überzeugt:

»Tanjka? Die bleibt fest. Die kriegt man nicht so mit bloßen Händen.«

Wir waren sehr geneigt die Widerstandsfähigkeit unseres Idols zu erproben und waren bemüht einander in dem Glauben zu bestärken, daß Tanja den Kampf siegreich bestehen werde.

Endlich meinten wir gar, wir hätten den Soldaten nicht hinreichend genug aufgehetzt, er könnte den Streit vergessen, und wir müßten seine Eitelkeit energischer anreizen. Seit diesem Tage befanden wir uns in einer seltsam nervösen Stimmung, die wir nie zuvor empfunden hatten. Wir debattierten tagelang und wurden dabei anscheinend klüger und redegewandter.

Es dünkte uns, als spielten wir mit dem Teufel irgendein Spiel und unser Einsatz wäre – Tanja. Und als wir von den Weißbrotbäckern hörten, daß der Soldat »tüchtig hinter Tanja her sei,« wurde es uns eigenartig bange und zugleich wohl zumute, und so interessant erschien uns unser Leben, daß wir es gar nicht merkten, wie der Meister unsere Aufregung ausnützte und uns vierzehn Pud Teig mehr im Tage verarbeiten ließ. Die Arbeit ermüdete uns gar nicht mehr. Wir sprachen den ganzen Tag von nichts anderem und jeden Morgen erwarteten wir sie mit außerordentlicher Unruhe. Wir malten es uns aus, wie sie eines Morgens bei uns eintrete und es werde nicht mehr unsere einstige Tanja sein, sondern eine ganz andere, Fremde.

Von unserem Streite mit dem Soldaten sagten wir ihr jedoch nichts. Wir fragten sie nach nichts und verhielten uns zu ihr in gleicher Weise liebenswürdig wie früher.

Aber es hatte sich zu unseren Beziehungen zu Tanja ein neues, fremdartiges Element hinzugesellt, eine quälende Neugier, scharf und kalt wie ein Messer von Stahl.

»Brüder! Heute ist der Termin,« sagte eines Morgens unser Bäcker, als er an seine Arbeit ging.

Wir wußten es alle ohnehin; dennoch fuhren wir auf.

»Schaut ihr nur recht ins Gesicht . . . sie muß gleich hier sein!« sagte der Bäcker.

Einer rief in teilnehmendem Tone:

»Was könnte man ihr auch anmerken!«

Wieder entbrannte unter uns eine erregte, lärmende Diskussion. Heute endlich sollten wir erfahren, ob dies Kleinod, dem wir unser Bestes hingaben, gegen den Schmutz gefeit wäre. An diesem Morgen fühlten wir plötzlich und zum ersten Male, welch gewagtes Spiel wir spielten und waren von der Sorge erfüllt, durch diese gefährliche Probe unseren Abgott gänzlich zu verlieren. Wir hörten alle diese Tage, daß der Soldat Tanja hartnäckig und zudringlich verfolge, aber sonderbarerweise hatte sie keiner von uns gefragt, wie sie sich zu ihm verhalte. Sie kam wie sonst regelmäßig jeden Morgen zu uns Brezeln holen, und wir merkten keine Veränderung in ihrem Wesen.

Auch an diesem Tage hörten wir bald ihre Stimme.

»He, Arrestantchen! Ich bin da . . .«

Wir beeilten uns sie hereinzulassen, und als sie eingetreten war, verhielten wir uns gegen alle Gewohnheit ganz still, glotzten sie an und wußten nicht, worüber mit ihr reden, was sie fragen. So standen wir in einem finsteren, stummen Haufen ihr gegenüber. Sie war allem Anscheine nach verwundert über unseren seltsamen Empfang, und plötzlich sahen wir, wie sie erblaßte, unruhig wurde und sich auf ihrem Platze hin- und herbewegte. Dann fragte sie mit gepreßter Stimme:

»Was seid ihr . . . so?«

»Und du?« versetzte der Bäcker finster, ohne den Blick von ihr zu wenden.

»Was – ich?«

»N–nichts . . .«

»Na, gebt rascher die Brezeln her . . .«

Nie zuvor war sie so ungeduldig gewesen.

»Wirst noch zurecht kommen!« rief der Bäcker, ohne sich vom Platz zu rühren und ihr unverwandt ins Gesicht blickend.

Sie wandte sich plötzlich um und verschwand hinter der Tür.

Unser Bäcker griff nach der Schaufel und während er sich zum Ofen wandte, sagte er ruhig:

»Die ist also fertig! . . . Hast schon recht, Soldat! . . . Schuft! . . . Schurke! . . .«

Wir drängten einander stoßend an den Tisch heran, gleich einer Hammelherde, setzten uns schweigend hin und begannen voll Widerwillen zu arbeiten.

»Vielleicht ist's gar nicht,« fing dann einer an.

»Schweig du!« schrie ihn der Bäcker an.

Wir wußten alle, daß er ein kluger Mensch sei, klüger als wir. Wir begriffen, daß der Verweis seine Überzeugung vom Siege des Soldaten bekunde . . . Traurig, bange war's uns zumute.

Um zwölf Uhr, während des Mittagessens, kam der Soldat zu uns, sauber, geckenhaft wie sonst, blickte er uns, wie immer, offen in die Augen. Wir aber empfanden es peinlich, ihn anschauen zu müssen.

»So, meine Verehrten, wenn's euch beliebt, könnt ihr sehen, was ein Soldat vermag,« sagte er stolz lachend. »Geht doch in den Flur hinaus und schaut durch die Ritze . . . ihr versteht mich?«

Wir gingen hinaus und drängten und preßten uns einer hinter dem andern zu einer Spalte im Bretterverschlag des Hausflurs, der in den Hof führte. Wir brauchten nicht lange zu warten . . . Bald kam eiligen Schrittes und mit besorgter Miene Tanja über den Hof gerannt, über Pfützen geschmolzenen schmutzigen Schnees hinwegsetzend. Sie verschwand hinter einer Kellertür. Hinter ihr kam, gemütlich vor sich hinpfeifend, der Soldat. Die Hände hatte er in den Hosentaschen versenkt und sein Schnurrbart bewegte sich . . .

Es regnete, und wir sahen, wie die Tropfen in die Pfützen fielen und wie sich an der Oberfläche Kreise bildeten. Es war ein feuchter, grauer, häßlicher Tag. Auf den Dächern lag noch der Schnee, auf der Erde gab es schon dunkle Schmutzflecke. Auch der Schnee auf den Dächern war mit einer dunkelbraunen Schmutzkruste bedeckt. Der Regen fiel langsam und traurig. Wir froren und warteten voll peinlichster Ungeduld . . .

Zuerst trat der Soldat aus dem Keller heraus, er ging gemessenen Schrittes über den Hof, hatte die Hände in den Hosentaschen und bewegte den Schnurrbart – völlig unverändert, wie er immer war.

Dann kam Tanja. Ihre Augen . . . ihre Augen leuchteten vor Freude und Seligkeit und ihre Lippen lächelten. Wie im Traume ging sie, mit unsicheren, schwankenden Schritten . . .

Wir hielten's nicht mehr aus. Alle drängten wir zur Tür, stürzten auf den Hof hinaus und begannen zu brüllen und zu pfeifen, – stürmisch, zornig, wild.

Sie zuckte zusammen, als sie uns erblickte, und blieb wie gebannt im Schmutze des Hofes stehen. Wir umringten sie, beschimpften sie schadenfroh mit den schamlosesten Worten und überschütteten sie mit den gröblichsten Ausdrücken.

Wir taten es nicht laut, ohne Hast, denn wir wußten, daß sie uns nicht entkommen könne und wir sie höhnen werden, wie lange es uns gefiele. Weshalb wir sie nicht auch schlugen, weiß ich nicht zu sagen. Sie stand mitten unter uns, drehte den Kopf bald dahin, bald dorthin und hörte unsere Beschimpfungen an. Und wir schimpften immer wütender und schleuderten das Gift und den Schmutz unserer Worte gegen sie.

Aus ihrem Gesichte war alle Farbe geschwunden; die blauen Augen, vor einem Augenblick noch so glückstrahlend, öffneten sich weit, schwer atmete ihre Brust und ihre Lippen bebten.

Und wir umringten sie und rächten uns, denn sie hatte uns beraubt. Sie gehörte uns, wir gaben ihr unser Bestes, und wenn es auch nur die Krümmel von Bettlern waren, was wir ihr geben konnten, – so waren wir doch sechsundzwanzig, und sie war nur eine. Und darum gab es nicht Qual genug, die ihre Schuld aufwiegen konnte. Wie gedemütigt haben wir sie! . . . Und sie schwieg noch immer, betrachtete uns mit verstörten Augen und bebte am ganzen Leibe.

Wir lachten, brüllten, heulten . . . Es kamen Leute herbei . . . Einer von uns zerrte Tanja am Ärmel ihres Jäckchens . . . Plötzlich blitzte es in ihren Augen auf; sie hob langsam ihre Hände zum Kopfe, strich sich das Haar zurecht und rief uns laut, doch ruhig, zu:

»Ach, ihr erbärmlichen Arrestanten!«

Und geradeaus schritt sie auf uns los, so unbekümmert, als ständen wir ihr gar nicht im Wege, als wären wir überhaupt nicht vorhanden.

Und als sie aus unserer Mitte getreten war, sagte sie laut, mit unbeschreiblicher Verachtung, ohne sich nach uns umzublicken:

»Ach, ihr elendes Gesindel . . . Pack . . .«

Und ging.

Wir aber blieben mitten im Hofe im Schmutz und Regen stehen, unter dem grauen Himmel ohne Sonne.

Dann kehrten auch wir lautlos in unsere feuchte, steinerne Grube zurück. Wie vorher blickte die Sonne nie in unsere Fenster, und Tanja kam nie wieder zu uns. – – – –

 


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