Maxim Gorjki
Judenmassakre
Maxim Gorjki

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Judenmassakre

Es war vor etwa fünfzehn Jahren in einer Stadt an der Wolga. An einem heißen Junitag arbeitete ich vom frühen Morgen am Ufer des Flusses, ich beteerte eine Barke, und es nahte schon die Mittagsstunde, als hinter mir irgendwo in der Vorstadt ein dumpfes, zorniges Geräusch ertönte, das wie Gebrüll gereizter, hungriger Ochsen klang. Ich war auch hungrig und wollte mit der Arbeit rascher fertig werden, weshalb ich auch anfangs diesem fernen Geräusch keine Aufmerksamkeit schenkte. Mit jedem Augenblick aber wuchs der Lärm, wie der Rauch mit dem Brande wächst.

In der schwülen Luft über der Vorstadt stand eine trübe Staubwolke. Ich schaute in jene Richtung, und es kam mir vor, als wenn disharmonische Töne die Luft schwängerten, indem sie sich mit dem Staub von der Erde erhoben. Immer dichter wurde der Staub, die Töne lauter und mannigfaltiger, die Luft zitterte, und mit ihr erbebte auch das Herz in der Vorahnung vor etwas Bösem.

Ich warf die Arbeit fort und stieg auf dem sandigen Ufer hinauf, um auszuschauen. Aus den Toren der Häuser stürzten Leute heraus; sie liefen längs der Straße irgendwohin in die Tiefe des Vorortes, ihnen nach liefen Hunde und Kinder, erschreckte Tauben flatterten über ihren Köpfen und Hühner irrten vor den Füßen umher. Hingerissen von der allgemeinen Verwirrung, begann auch ich zu laufen.

»Auf der Elisawetenskaja rauft man!« schrie jemand.

Ein Lastwagen kam den Dahinströmenden entgegen, der Kutscher peitschte mit dem Riemen wütend die Rosse und schrie aus voller Brust: »Lastträger! Man schlägt unsere Kameraden!«

Ich bog in eine enge Gasse ein und blieb stehen. Eine dichte Menschenmenge stopfte mit ihren Leibern die Gasse, daß sie wie ein Sack voll Körner aussah. Voran, irgendwo weit her, vernahm man Gebrüll und Winseln von Menschen, es klirrten die Scheiben, dumpf hämmerten schwere Schläge, etwas krachte und fiel nieder, Töne deckten einander wie Wolken im Herbst und hingen in der Luft wie eine schwere Gewitterwolke.

»Die Juden schlägt man!« sagte mit vergnügter Stimme ein honetter, sauberer Alter. »Geschieht ihnen auch recht,« fügte er hinzu, indem er seine kleinen, trockenen Händchen tüchtig rieb.

Ich stieß mich durch nach vorn, der erregenden, anziehenden Macht des Lärmes folgend. Nicht nur mich, alle lockte dieser fürchterliche Lärm, alle sog er in sich wie das Moor. Die Gesichter der Leute, die an mir vorüberjagten, waren alle erregt von heftiger, ungestümer Bosheit, alle Augen funkelten gierig, die ganze Menge schob sich nach vorn wie eine schwere, dichte Masse, bereit die Wände und Zäune, die sie beengten, umzustürzen, bereit die Vorderen vor die Füße zu werfen, über ihre Körper zu treten, sie zu erdrücken. Ich stürzte in den Hof eines der Häuser dieser Gasse, sprang über den Zaun in den anderen Hof, dann noch einmal und wieder, und ich war neuerdings in einem dichten Menschenknäuel. Der enge Hof eines großen steinernen Hauses war voll von Menschen; es sah aus, als ob sie da sieden würden, als ob die Erde unter ihnen erbebte. Wie besessen, mit hoch erhobenen Köpfen brüllten sie durcheinander; die Gesichter glühten, im geöffneten Munde glänzten die Zähne, sie schwenkten die Arme und stießen einander, versuchten aufs Dach des Wirtschaftsgebäudes zu klettern, rutschten ab, fielen hin und kletterten von neuem. Und trotz der Verschiedenartigkeit der Bewegungen schien etwas Gemeinsames in allen zu sein. Der Mensch wurde ein Teil eines gewaltigen Körpers, beseelt von der gleichen gewaltigen Macht.

Auf dem Dache des Hauses hoch über dieser dichten, durch Erbostheit zusammengeschmolzenen Menge stand neben dem Rauchfang ein magerer, alter Jude. Er riß mit den Fingern die Ziegel heraus, und indem er sie hinunterschleuderte, schrie er mit scharfer, dem Schrei einer Möwe ähnlicher Stimme. Sein langer, grauer Bart zitterte auf seiner Brust und seine weiße Hose war bedeckt mit roten Flecken. Wütende Schreie flogen hinauf:

»Schieß' ihn nieder!«

»Holt Flinten!«

»Schlag' ihn nieder mit einem Ziegel!«

»Klettere hinan!«

In den Fenstern des Hauses sah man dunkle Gestalten, die Fensterrahmen hinausschlugen und Hausgeräte in den Hof warfen. Es klirrten die Scheiben. Ein breitschultriger, lockiger Bursche schritt mit einem Spiegel zum Fenster, schob ihn durch und rief: »He! Achtung!« Und der Spiegel flog zur Erde, die Sonnenstrahlen wiedergebend. Dann schob sich der Bursche durchs Fenster. Sein breites Gesicht war nur besorgt und ernst, aber nicht erbost.

Im anderen Fenster erschien ein schwarzbärtiger Bauer mit einem Polster in den Händen; er riß ihn auf, und eine dichte, weiße Federwolke verteilte sich in der Luft.

»Es schneit, Achtung, daß euch die Nase nicht abfriert, Burschen!« rief der Bauer, als die weißen Flocken sich auf die Köpfe der Menge niedersenkten. Im Hofe brüllte man:

»Hieher, im Fasse habe ich Judenkinder gefunden.«

»Schlag' sie nieder!«

»Mit den Schädeln an die Wand!«

»He, alter Jude, kriech' nur herunter, wir haben deine Enkel gefunden! Komm nur, sonst schlagen wir deine Brut tot!«

Ein gellender Schrei eines Kindes erfüllte die Luft. Ein entsetzlicher Laut! In dem verworrenen Tosen der Menge leuchtete er blendend wie der Blitz zwischen den Wolken auf. Der Lärm schien danach geringer.

»Rühr' die Kinder nicht an!« brüllte jemand.

»Rühr' die Kinder nicht an, schlage die Großen!«

Da erscholl von neuem der Schrei eines Kindes, scharf und fein, er schnitt ins Herz und betäubte mehr als alle Töne.

»Ach, der Teufel!« schrie jemand wütend, alle anderen überschreiend.

»Am Schädel?«

»Die Füße traf er!«

»Geschickt, der alte Teufel!«

»Antip, komm, wir klettern hinauf und stoßen den Juden hinunter.«

Zwei riesengroße Lastträger stießen die Menge auseinander, gingen zu dem Wirtschaftsgebäude und kletterten auf das Dach hinauf.

In einem Fenster des Hauses erschien wieder der ernste, rotfratzige Bursche. Er strengte sich sehr an, irgendeinen Kasten oder eine Kiste durch das Fenster zu schieben, und schrie hinunter:

»Brüder, Achtung auf das Geschirr!« . . .

Die Kiste ging nicht durchs Fenster, da zog sie der Bursche zurück und verschwand für einen Augenblick; dann kam er wieder ans Fenster und begann zu heulen wie ein Wolf:

»Aus dem W–e–g–e!«

Ein Haufen Teller fiel vom Fenster herab, dann kam, blitzend im Sonnenschein, ein Samowar. Die Leute liefen auseinander, bedeckten die Köpfe mit den Händen und lachten aus vollem Halse. Ein rothaariger, dicker Junge ergriff den Samowar, hob ihn hoch über den Kopf, schleuderte ihn dann zu Boden und begann mit den Füßen darauf zu treten.

Vom Dache hörte man entsetzliches Wehgeschrei . . .

Alle erhoben die Köpfe. Das Eisen der Dachrinne rasselte . . . Plötzlich erschien am Rande des Daches etwas Großes, blieb einen Augenblick in der Luft erbebend hängen, dann winselte es, heulte, riß ab und flog hinunter. Ein weiches, widerliches Klatschen . . .

Ich lief davon, und hinter mir hörte ich frohlockendes, wildes Gebrüll.

»Ah . . . ah . . . ah . . .«

»Aha . . . a . . .«

»Hinuntergeschleudert! Ah . . . ah . . .«

Auf der Gasse zerbrachen die Leute Sessel, Tische, zerschlugen Koffer, zerrissen lachend allerlei Gewänder. In der Luft schwebten Flaumfedern, aus den Fenstern zweier Häuser flogen zu den Füßen der Leute Polster, Körbe, Möbelstücke, Fetzen, und die Menge, ganz toll im Drange zu zerstören, ergriff diese Sachen, zerriß, zerbrach und zerschlug sie. Zwei Frauen mit wirrem Haar, verschwitzt, mit roten Gesichtern, hielten irgendeine Kiste fest und zerrten jede in ihrer Richtung. Sie schrieen einander etwas zu, Federn und Flaumen kreisten um ihre Köpfe, sie rissen beide weit den Mund auf, aber ihre Stimmen wurden erstickt vom Krachen des Holzes, vom Heulen und Brüllen der Menge und von winselnden, entsetzlichen Schreien, die aus den Fenstern des Hauses ertönten.

Ein großer Bauer ging an mir vorüber, mit zerrissenem Hemd, ohne Mütze. Das Haar war zerzaust, über das schmutzige Gesicht floß dickes, fast schwarzes Blut. Er fuchtelte mit den Händen und lächelte stumpf mit dem zufriedenen Lächeln eines satten Tieres. Er schritt auf eine Laterne zu und begann daran zu rütteln, indem er sich mit der Brust an das Holz stemmte. Die Laterne schwankte und fiel zu Boden.

»Zerschlage sie!« rief ihm ein anderer Bauer zu, indem er hinzulief. Auch er faßte sie und rüttelte sie.

Von irgendwo warf sich ein Mädchen in die Menge, wie eine Taube in eine Rauchwolke – das Kleid zerrissen, das Haar aufgelöst. Sie lief, den Kopf zurückgeworfen, und die Augen in ihrem blassen Gesicht waren unglaublich groß.

»Haut die Jüdin!« brüllte jemand. Und das Mädchen verschwand in der dichten Menge wie ein Stäubchen Zucker unter einer Unmasse von Fliegen. Über ihr kochte irgendein dunkler Brei aus Menschenleibern, in der Luft sausten Fäuste, man hörte wollüstiges Krächzen und weiche, klatschende Schläge. Zynische Späße, Schimpfworte, ein Zischen wie von Schlangen, alles vermengte sich zu einem hämischen und schadenfrohen Klang.

»Auseinander, ihr Leute!«

»Seliman fährt!«

So schrie die Menge, die irgendwas auf dem Pflaster schleifte. Sie zog einen Menschen oder die Leiche eines Menschen, einen halbnackten, ausgetrockneten Körper, gedrückt, zerrissen, ganz mit Schmutz und Blut bedeckt. Um Selimans Füße war ein Strick gewunden, daran zogen ihn die Leute auf dem Pflaster, und ein breiter Blutstreifen blieb auf dem Wege.

Magere, lange Arme badeten in diesem, und zwischen den Armen, dort, wo sie in die Schultern einwachsen, schlug ein verunstalteter, blutiger, geschundener Klumpen auf die Steine. Ein Junge lief zu dem Körper hin, sprang hinauf, und die Füße versanken in dem Bauch wie in Teig; der Bursche schwenkte die Arme und fiel hin, allgemeines Gelächter erregend.

Seliman war ein reicher Lieferant, ich sah ihn früher öfter; aber was ich jetzt sah, war weder einem Lieferanten noch überhaupt einem Menschen ähnlich.

Abgestumpft von all dem, was ringsum geschah, erstickend vor Staub, drehte ich mich in der Menge wie ein Holzspan im Wasser und schaute auf alles, wie auf einen fürchterlichen Traum. Da, auf der Dachrinne, hoch über der Erde, blieb ein weißer Rock hängen. Ein altes Weib, auf den Zehenspitzen stehend, will ihn erreichen und hebt ihre knochige, dunkle Hand. Neben ihr setzt ein bärtiger Lastträger eine Samtmütze auf den Kopf. Kleine Jungen huschen zwischen den Füßen Erwachsener, heben Splitter eines Spiegels auf, und einer hüpft um eine in der Luft fliegende Feder, die er fangen will.

Den Säbel in der Scheide schwenkend, läuft ein Polizeimann. Man lacht und schreit ihm nach:

»Haltet ihn!«

»Fangt den Pharao!«

Jemand wirft dem Laufenden eine gebrochene Kiste vor die Füße, und der Polizeimann fällt, sich überstürzend, zu Boden.

Lautes Lachen dröhnt in der Luft.

Ich blicke unter meine Füße und sehe ein Stück blutiger Haut mit einem Büschel von Haaren.

»He da! Leute! Hieher!« Dieser Ruf tönt vom Hofe, und die dichte Menge rollt wie eine Welle in das Tor hinein.

Die Menschen brüllen, heulen, grunzen.

»H–au–t, h–au–aut sie!« klingt es in der Luft.

Im Innern des Hauses, im zweiten Stockwerk, arbeitet jemand mit dem Brecheisen, das Mauerwerk zwischen zwei Fenstern zerstörend. Auf die Gasse fallen Ziegel, Kalk, weißer Staub fliegt. Eine Tasse fällt aus dem Fenster; sie kreist unentschlossen in der Luft und fällt auf den Kopf eines dicken Weibes. Dieses kreischt auf und hockt nieder.

»Die Kosaken!«

»Lauft, Brüder!«

»Die Kosaken kommen!«

Im Eingang der Sackgasse erscheinen Pferdeschnauzen, blaue Kosakenmützen, Peitschen, und eine laute, singende Stimme kommandiert:

»Drei in die Reihe! Trab! M–a–rsch!«

Ein Haufen Ziegel fällt auf das Pflaster. Die Zwischenwand ist durchgebrochen, und sogleich wird durch das gräßliche Loch in der Wand des Hauses ein riesiger Kasten langsam durchgeschoben. Er erzittert, wie unwillig gleitet er an der Wand, streift das Gesimse, dreht sich dann in der Luft und zerschmettert krachend auf den Pflastersteinen. In der Luft schwirrt ein unaufhörliches Getöse, als ob ein unsichtbarer, stürmischer Fluß in ihr fließen würde, das Bett zerstörend in seinem Lauf, schäumend vor Zorn, in wilder Wut . . .

Unter Peitschenschlägen und Pferdestößen läuft die Menge wie eine Herde von Schafen, dumm und blind. Sie könnten sich in den Höfen verstecken, über die Zäune springen, aber alle laufen längs der Gasse irgendwohin, Köpfe, Schultern und Rücken den Peitschenhieben preisgebend. Ein kräftiger, lockiger Lastträger wendet sich plötzlich um, schlägt mit der Faust aus aller Kraft auf den Kopf eines Pferdes und verschwindet dann in der engen Masse der Kosaken. Über der Stelle, wo er verschwunden, sieht man lange noch die Peitschen schwingen, die Luft durchkreuzend.

Die Kosaken reiten weiter, Steigbügel an Steigbügel, eine starre Mauer. Und die Menschen laufen, versprengt, einander stoßend.

»Die Ziegel auf die Kosaken!« ruft jemand von oben.

Vor die Füße der Pferde wirft sich ein Weib, halbnackt, blutig. Sie erschien von irgendwo, als ob sie aus der Erde gekommen wäre. Sie faßt den Fuß eines Kosaken und drückt sich an ihn mit Geheul.

»Laufe!«

»Bleibt stehen!«

»Haut die Kosaken!«

Die Menge brüllt und läuft unaufhaltsam wie ein Bergstrom. Man hört dumpfe Tritte, wie ein Echo der aufschlagenden Hufeisen. Schwer bewegen sich die Pferde zwischen den Trümmern von Möbeln und Fetzen, die das Pflaster bedecken. Die Pferde bäumen sich . . . Die Menge bleibt auch stehen, die Gesichter den Kosaken zugewendet.

»Halbeskadron! Vorwärts!«

Die Menge brüllt dumpf und wartet. Aber ihr im Rücken, am Ende der Gasse, erscheinen jetzt Polizei und Kosaken zu Fuß . . . Dann beginnen die Leute über die Zäune zu springen, flüchten in die Höfe, und die Kosaken fangen sie . . .

Vor einigen Augenblicken waren diese Menschen Tiere, die ohne Erbarmen und ohne Besinnung Menschen mordeten, die ebenso unglücklich waren wie sie selbst, und jetzt sind diese Tiere – Feiglinge, und man schlägt sie ebenso ohne Erbarmen und ohne Besinnung, und sie laufen feig und schändlich vor den Schlägen . . .

Am Abend desselben Tages ging ich am Marktplatz an dem Pikett Kosaken vorüber und hörte, wie einer zum andern sagte:

»Vierzehn Juden soll man zerrissen haben.«

Und der andere rauchte seine Pfeife und erwiderte nichts auf die Worte des Kameraden.

 


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