Maxim Gorki
Ehemalige Leute und andere Erzählungen
Maxim Gorki

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Ein sonderbarer Leser

Es war Nacht, als ich aus dem Hause trat, in dem ich im Kreise mir nahestehender Personen eine meiner gedruckten Erzählungen vorgelesen hatte. Reicher Beifall war mir von allen Seiten gespendet worden und in gehobener Stimmung schritt ich langsam durch die menschenleere Straße. Es war das erstemal in meinem Leben, daß ich die Süßigkeit des Daseins voll empfunden hatte.

Das war im Februar. Die Nacht war hell, der klare Himmel dicht mit Sternen besät. Die von dem eben gefallenen Schnee prächtig geschmückte Erde atmete eine erfrischende Kälte aus. Die Zweige der über die Zäune herüberhängenden Bäume warfen sonderbare Schattenmuster auf meinen Weg. Grell und heiter glänzten die Schneeflocken im bläulichen, freundlichen Lichte des Mondes. Nirgends war ein lebendiges Geschöpf zu sehen und das Knirschen des Schnees unter meinen Füßen war das einzige Geräusch, das die feierliche Stille dieser hellen, mir so lebhaft in Erinnerung gebliebenen Nacht unterbrach . . . Ich dachte:

Wie schön ist es doch, unter den Menschen auf Erden als etwas zu gelten! Und meine Phantasie malte mir die Zukunft in den verschwenderisch reichsten und grellsten Farben . . .

»Ja, Sie haben ein ganz vortreffliches Dingelchen geschrieben . . . Das ist Tatsache!« ertönte eine unbekannte Stimme hinter meinem Rücken.

Ich fuhr überrascht zusammen und sah mich um.

Ein kleiner, dunkel gekleideter Mann hatte mich eingeholt und hielt gleichen Schritt mit mir. Er sah mich von unten herauf an und lächelte spitz. An ihm war alles spitz: sein Blick seine Backenknochen, sein Kinn mit dem Zwickelbart. Sein ganzes kleines, vertrocknetes Figürchen stach durch seine sonderbare Eckigkeit in die Augen. Er ging leicht und geräuschlos, als wenn er über den Schnee glitte. Ich hatte ihn dort, wo ich gelesen hatte, nicht bemerkt und war daher begreiflicherweise über seine Äußerung nicht wenig verwundert . . . Woher? und wer mag er sein?

»Sie . . . haben auch gehört?« fragte ich.

»Jawohl, ich hatte das Vergnügen.«

Er sprach im Tenor. Seine Lippen waren dünn, der kleine schwarze Schnurrbart konnte ihr Lächeln nicht gut verbergen. Es verschwand nicht und übte auf mich einen unangenehmen Eindruck aus, denn ich fühlte, wie sich dahinter ein bissiger, für mich wenig schmeichelhafter Gedanke verbarg. Allein ich war viel zu gut gelaunt, um mich bei der Beobachtung dieses Zuges an meinem Begleiter lange aufzuhalten, vielmehr flimmerte dieser vor meinen Augen wie ein Schatten rasch vorüber, er verblaßte vor meiner Selbstzufriedenheit. So ging ich mit ihm und war gespannt, was er sagen werde, im stillen hoffend, daß er die Zahl der von mir an diesem Abend durchlebten angenehmen Augenblicke noch vergrößern werde. Der Mensch ist nun einmal gierig, weil das Geschick ihm so selten freundlich zulächelt.

»Es ist wohl hübsch, sich als etwas Hervorragendes zu fühlen?« fragte mein Begleiter.

Ich merkte an seiner Frage nichts Besonderes und beeilte mich, sie zu bejahen.

»Che! che! che!« lachte er bissig, seine kleinen Hände mit den dünnen, schmiegsamen Fingern nervös reibend.

»Sind Sie aber ein lustiger Mann . . .« bemerkte ich trocken, durch sein Lachen verletzt.

»Ja, das bin ich auch,« bestätigte er kopfnickend und lächelte. »Ich bin auch außerdem noch sehr neugierig . . . Ich will immer wissen; alles zu wissen – das ist mein fortwährendes Streben, und eben dies erhält mir Mut und Kühnheit. Nun, so möchte ich denn auch jetzt erfahren, was Ihnen eigentlich Ihr Erfolg gekostet hat?«

»Einen Monat Arbeit . . . vielleicht noch etwas mehr . . .«

»Aha!« fiel er lebhaft ein . . . »Ein wenig Arbeit, sodann ein gutes Teil Lebenserfahrung, die doch immerhin auch was kosten dürfte . . . Indessen ist das doch nicht teuer, wenn Sie um einen solchen Preis das Bewußtsein erlangen, daß in einem gegebenen Moment einige Tausend Menschen Ihre Gedanken durchleben, indem sie Ihr geistiges Erzeugnis lesen. Sodann aber sind auch die Aussichten für die Zukunft nicht zu unterschätzen, daß, vielleicht mit der Zeit . . . Che! che! . . . und, wenn Sie mal sterben . . . che! che! che! . . . Für alles dies könnte man wahrlich schon mehr geben, noch mehr als das, was Sie uns gegeben haben – nicht wahr?«

Ein gebrochenes, bissiges Lachen folgte dieser Rede, und wiederum sah er mich hinterlistig an mit seinen spitzen, schwarzen Äuglein. Ich maß ihn von oben herab mit meinen Blicken, und verletzt fragte ich ihn kalt:

»Entschuldigen Sie . . . mit wem habe ich eigentlich das Vergnügen?«

»Wer ich bin? Sie erraten das nicht? Aber ich will Ihnen vorläufig noch nicht sagen, wer ich bin . . . Ist denn der Name eines Menschen für Sie wichtiger, als das, was er Ihnen sagen will?«

»Das freilich nicht . . . Aber das alles . . . ist so sonderbar,« erwiderte ich.

Er faßte mich, ich weiß nicht wozu, am Ärmel meines Überziehers, und leise spöttelnd begann er:

»Nun, meinetwegen, mag es noch sonderbar sein. Warum soll der Mensch sich nicht erlauben dürfen, einmal aus dem Rahmen des Gewöhnlichen und Alltäglichen herauszutreten? Wenn auch Sie nicht abgeneigt sein sollten, so zu handeln, dann gestatten Sie, daß wir offen sprechen. Stellen Sie sich einmal vor, daß ich – ein Leser, ein sonderbarer Leser – sehr neugierig bin und gern wissen möchte: wozu und wie ein Buch – zum Beispiel von Ihnen – gemacht wird? Wollen wir das nicht besprechen?«

»O, bitte sehr!« sagte ich, »mir ist es sehr angenehm . . . Derartige Begegnungen und . . . Unterhaltungen werden einem ja nicht jeden Tag geboten.«

Dies war aber schon gelogen, denn angenehm war mir die Sache durchaus nicht. In meinem Innern dachte ich mir fortwährend: Was will er eigentlich? Und aus welchem Grunde soll ich mir das gefallen lassen, dieser flüchtigen Straßenbekanntschaft mit einer mir bis jetzt vollständig unbekannten Person den Charakter irgendwelcher ernsten Disputation zu geben?

Und doch wandelte ich noch immer langsam an seiner Seite und bemühte mich sogar, ihm eine freundliche Aufmerksamkeit zu zeigen, was mir allerdings nur mit großer Anstrengung gelang. Meine Stimmung war indessen noch gut genug. Ich wollte daher diesen Mann nicht durch meine Abweisung verletzen, beschloß aber, mich vor ihm in acht zu nehmen.

Am Himmel hinter uns schien der helle Mond, und unsere Schatten lagen uns unter den Füßen. Sie vereinigten sich zu einer dunklen, gespenstischen Figur, die sich auf dem Trottoir vor uns kriechend fortbewegte. Ich betrachtete diese Schatten und fühlte, als wenn sich in mir etwas ebenso Dunkles und Unfaßbares zu entwickeln begonnen hätte, etwas, das gleich den Schatten noch vor mir läge.

Mein Begleiter hielt eine Weile inne, hierauf begann er im sichern Tone eines Herrn seiner Gedanken:

»Es gibt im Leben nichts Wichtigeres, nichts Interessanteres, als die Motive menschlicher Handlungen . . . Nicht wahr?«

Ich nickte mit dem Kopfe.

»Sie sind also damit auch einverstanden! . . . Nun, so gestatten Sie doch, daß wir offen sprechen . . . verpassen Sie nicht die Gelegenheit, offen zu sprechen, so lange Sie noch jung sind!«

Ein sonderbarer Mensch! – dachte ich mir, und mit gesteigertem Interesse für seine Worte fragte ich ihn lachend:

»Aber wie ist das möglich . . . so auf einmal? Und worüber denn sprechen?«

»Ach! Warum denn langsam gehen, wenn man sein Ziel mit einem Sprung erreichen kann?« entgegnete er lebhaft, mir dabei familiär ins Gesicht blickend wie ein alter Bekannter. »Wir wollen nun von den Zielen der Literatur sprechen!«

»Meinetwegen . . . ich fürchte aber, es wird dafür schon zu spät sein.

»O! für Sie ist es noch nicht zu spät!«

Ich blieb stehen, verwundert über die eben gesprochenen Worte . . . Er sprach sie mit einer so ernsten Überzeugung . . . und sie klangen wie eine Allegorie. Ich blieb stehen und wollte ihn etwas fragen, er aber faßte mich bei der Hand, führte mich langsam und beharrlich vorwärts und fuhr fort:

»Bleiben Sie doch nur nicht stehen, denn mit mir befinden Sie sich auf dem rechten Wege. Genug also der Vorreden! Sagen Sie doch, bitte, – was will die Literatur? . . . Sie dienen ihr, also müssen Sie es doch wohl wissen.«

Mein Staunen wurde immer größer. Es wuchs aber auf Kosten meiner Selbstbeherrschung. Was will dieser Mensch von mir? Wer ist er?

»Hören Sie mal,« sagte ich, »Sie werden doch wohl selbst einsehen, daß alles, was zwischen uns bis jetzt sich zugetragen hat . . .«

»Seinen zureichenden Grund hat, – glauben Sie es mir! Geschieht doch überhaupt nichts in der Welt ohne einen zureichenden Grund . . . Lassen Sie uns also schneller gehen, aber nicht vor-, sondern tiefwärts . . .«

Gewiß! Er war interessant, dieser Kauz, aber er brachte mich auf. Ich machte von neuem eine ungeduldige Bewegung nach vorwärts; er folgte mir und sprach in ruhigem Tone:

»Ja, ich begreife Sie wohl. Es fällt Ihnen momentan schwer, die Ziele zu bestimmen, welche die Literatur zu verfolgen hätte. Na, so will ich es versuchen.

Ein Seufzer entrang sich seiner Brust. Hierauf sah er mich freundlich lächelnd an.

»Ich glaube, Sie werden sicher meiner Behauptung beipflichten, daß die Literatur vornehmlich folgende Aufgaben zu erfüllen hat: Sie soll dem Menschen zur Selbsterkenntnis verhelfen, sein Selbstvertrauen heben und in ihm ein Streben nach Wahrheit entwickeln; sie hat das Böse im Menschen zu bekämpfen und das Gute in ihm aufzusuchen. Sie muß es verstehen, in seiner Seele Scham, Zorn und Tapferkeit zu wecken, überhaupt soll sie alles aufbieten, um die Menschen größer, edler und tugendhafter zu machen und ihr Leben vom hehren Geiste der Schönheit gleichsam verklären zu lassen. – Hier ist die Formel, in der ich die Aufgaben der Literatur zusammenfasse. Sie ist selbstverständlich noch nicht ausgefüllt, bloß schematisch . . . Füllen Sie sie aber mit allem aus, was das Leben vergeistigen könnte und sagen Sie mir dann: – Sind Sie mit mir einverstanden?«

»Jawohl, das stimmt . . .« sagte ich. »Man pflegt so zu denken, daß die Aufgabe der Literatur im allgemeinen – in der Veredlung des Menschen besteht . . . Das ist so.«

»Sehen Sie nun, welch großer Angelegenheit der Menschheit Sie dienen!« Er sprach dies sehr eindringlich . . . und lachte wiederum recht bissig: »Che! che! che!«

»Indessen, wozu sagen Sie mir das alles?« fragte ich, mich so stellend, als wenn ich mich von seinem Lachen nicht betroffen fühlte.

»Aber wie denken Sie darüber? Erklären Sie es offen!«

»Offen gestanden . . .« begann ich, in meinem Innern nach einer Stichelei suchend, und schwieg. Was heißt denn offen sprechen? Dieser Mann ist ja nicht dumm, er sollte doch auch wissen, in welch engen Grenzen die menschliche Offenheit eingeschlossen ist und wie beharrlich diese von der Selbstliebe bewacht werden. Ich blickte meinem Begleiter ins Gesicht und fühlte mich durch sein Lächeln tief gekränkt – es lag in demselben so viel Ironie, so viel unverhohlene Mißachtung! Dabei war es mir noch, als wenn ich mich vor etwas zu fürchten begönne, und diese Angst nötigte mich, von ihm fortzugehen.

»Auf Wiedersehen!« sagte ich trocken, meinen Hut lüftend.

»Warum denn?« rief er leise.

»Ich liebe keine Späße, wenn sie takt- und maßlos sind.«

»Gehen Sie wirklich schon? Das ist allerdings Ihre Sache . . . aber merken Sie es wohl, wenn Sie jetzt von mir gehen, sehen wir uns niemals wieder.«

Das Wort »Niemals« unterstrich er gleichsam, und es klang in meinen Ohren wie das Läuten einer Begräbnisglocke. Ich kann dieses Wort nicht ausstehen, ich fürchte es. Es kommt mir immer so schwer, so kalt vor, so wie eine Art von Hammer, der von der Vorsehung dazu bestimmt ist, die Hoffnungen der Menschen zu zertrümmern! Dieses Wort hielt mich zurück.

»Was wollen Sie?« fragte ich erbittert und gereizt.

»Setzen wir uns hierher,« sprach er, von neuem lachend, faßte mich an der Hand und zog mich nieder.

In diesem Moment befanden wir uns in einer Allee des städtischen Gartens, unter erstarrten, eisbedeckten Zweigen von Akazien und Fliederbäumen. Sie hingen vom Monde beschienen über meinem Haupt in der Luft, und es kam mir vor, als wenn diese rauhen, vereisten und reifbedeckten Zweige mir in die Brust bis ans Herz dringen wollten.

Das sonderbare Auftreten meines Begleiters brachte mich in Verlegenheit, machte mich stutzig; ich sah ihn an und schwieg.

Es ist ein kranker Mensch, dachte ich, indem ich auf diesem Wege mir selbst Mut einflößen und seine Handlungsweise erklären wollte. Er aber schien meine Gedanken erraten zu haben.

»Du denkst wohl, daß ich nicht normal bin? Pfui, laß doch solche Gedanken fallen! Sie sind gräßlich, trivial und äußerst schädlich! Wie oft unterlassen wir es, indem wir uns dieses Deckmantels bedienen, unseren Nebenmenschen zu verstehen, doch nur darum, weil er origineller ist als wir. O, wie gibt doch diese verwerfliche Sinnesart unserer ohnehin so beklagenswerten gegenseitigen Nichtbeachtung fortwährend neue Nahrung!«

»O, ja . . .« sagte ich, in mir das Unbehagen vor diesem Manne immer mächtiger empfindend. »Aber, verzeihen Sie, ich gehe doch . . . Ich muß . . . jetzt schon . . .«

»Gehe!« sagte er, mit den Achseln zuckend. »Gehe . . . aber merke es dir wohl, daß du in dein eigenes Verderben eilst . . . che! che! . . .« Er ließ meine Hand los und ich entfernte mich von ihm.

Er blieb im Garten auf einer nach der Wolga zu abflachenden Anhöhe zurück. Sie war ganz von Schnee wie von einem weißen Tuch bedeckt, und die Stege hoben sich davon wie schwarze Bänder ab. Vor ihm eröffnete sich ein weiter Ausblick über die hinter dem Flusse sich ausbreitende, schweigende und melancholische Ebene. Er ließ sich dort auf eine der Bänke nieder und starrte in die öde, weite Ferne hinaus. Ich schritt durch die Allee vorwärts, fühlte aber, daß ich von ihm nicht wegkommen würde . . . und setzte trotzdem meinen Weg fort. Ich überlegte, welches Tempo ich beim Gehen einschlagen sollte, um jenem Menschen, der noch immer dort hinter mir saß, durch die Art meines Gehens am deutlichsten zu zeigen, wie wenig er mir gelte.

Da begann er ein mir bekanntes Motiv leise vor sich hin zu pfeifen . . . Es war das tragikomische Lied vom Blinden, der die ihm so wenig zustehende Rolle eines Führers anderer Blinder übernommen hatte. Warum pfeift er gerade dieses Motiv? dachte ich.

Und da wurde mir mit einem Male erst klar, daß ich von eben dem Zeitpunkte an, als mir dieser Mann begegnete, in einen dunklen Kreis von eigentümlichen, mir bis dahin völlig fremden Empfindungen und Stimmungen getreten war . . . Wo war jene gleichmäßige und zufriedene Stimmung meines Gemüts hin, die noch soeben in mir geherrscht hatte? Meiner Seele bemächtigten sich äußerst unklare, nebelhafte Ahnungen und Erwartungen. Etwas Großes und Schweres schien immer näher an mich heranzurücken, um alles Gute, das mein bisheriger Erfolg mir gebracht, alle Träume und Hoffnungen, die er in mir geweckt hatte, schonungslos zu verschlingen.

»Wie willst dich du einen Führer nennen,
Ohne selbst den Weg zu kennen?«

Diese Worte des Liedes, das jener Mann eben zu pfeifen begonnen hatte, kamen mir sehr lebhaft in Erinnerung.

Ich wandte mich um und schaute ihn an. Den Arm aufs Knie gestützt, das Haupt in der Hand ruhend, saß er da, blickte auf mich und pfiff. Sein Gesicht war vom Monde grell beschienen, der schwarze Schnurrbart bewegte sich leise wie ein dunkler Schatten hin und her. Ich faßte den Entschluß, zurückzukehren; ein mir selbst unerklärliches Gefühl drängte mich dazu. Rasch ging ich an ihn heran, setzte mich neben ihn und sagte ohne Erregung, aber mit Wärme:

»Hören Sie mal, wollen wir doch einfach und offen sprechen.«

»Ja, das eben tut den Leuten not,« bestätigte er kopfnickend.

»Sie – ich fühle es – besitzen die Macht, mich irgendwie zu beeinflussen; offenbar haben Sie mir auch etwas zu sagen . . . Ja?«

»Endlich hast du in dir doch einmal den Mut gefunden zu hören!« rief er lachend. Diesmal klang aber sein Lachen ganz mild und sanft; ja, ich glaubte sogar aus demselben etwas wie Freude herauszuhören.

»So sprechen Sie, bitte,« sagte ich, »und womöglich ohne alle Sonderbarkeiten.

»O, schön, sehr gern! Du wirst mir aber wohl zugeben, daß die Sonderbarkeiten unumgänglich nötig waren, um deine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Der Sinn für das Einfache und Klare stumpft sich in unseren Tagen immer mehr ab. Das Einfache und Klare erscheint uns allzu kalt, eisig und rauh. Allein die Kraft, etwas zu erwärmen und zu beleben, zu mildern und zu besänftigen ist uns ebenfalls verloren gegangen. Wir selbst sind ja kalt und rauh geworden! Wir – so kommt es mir vor – verlangen jetzt von neuem nach Träumen, nach schönen Phantasien, Schwärmereien und Seltsamkeiten, denn das Leben, welches wir geschaffen haben, ist arm an Farben, trübe, langweilig! Die Wirklichkeit, die wir einst so voll heißer Sehnsucht ummodeln wollten, wie hat sie uns zertrümmert und zertreten! . . . Was soll nun geschehen? Versuchen wir mal, vielleicht gelingt es, etwas zu ersinnen, auszudenken, was den Menschen wieder befähigt, sich wenigstens für kurze Zeit über die Erde zu erheben und seinen Platz auf ihr wiederzufinden, der ihm verloren ging. Verloren ging, nicht wahr? Ist doch der Mensch jetzt nicht mehr Herr der Erde, sondern ein Sklave des Lebens, ging ihm doch längst der Stolz auf seine ›Erstgeburt‹ verloren, indem er sich vor der Macht der Tatsachen beugte. Ist es etwa nicht so? Aus den Tatsachen, die er eigentlich selbst geschaffen hat, zieht er Schlüsse und spricht zu sich: Hier stehst du vor einem unleugbaren Gesetze! Und indem er sich diesem Gesetze unterwirft, merkt er nicht, daß er sich eine Schranke errichtet, die ihm den Weg zu einem freien, schöpferischen Leben versperrt, und ihn im Kampf für sein Recht, niederzureißen um wiederaufzubauen, hindert. Ja, er kämpft auch gar nicht mehr, er sucht sich nur anzupassen . . . Zu welchem Zwecke sollte er auch kämpfen? Wo sind denn jene hohen Ideale, die ihn zu Heldentaten begeistern könnten? Da liegt der wahre Grund, weshalb das Leben so arm, so elend, so öde geworden ist, weshalb im Menschen die Freude am Schaffen erlahmte. Manche suchen tastend nach etwas, was die Vernunft beflügeln könnte, um dadurch dem Menschen den Glauben an sich selbst wiederzugeben. Aber nur allzuoft gehen sie gar nicht dorthin, wo alles Ewige, die Menschen Einende ruht, wo die Gottheit thront . . . Diejenigen aber, die auf dem Wege zur Wahrheit sich verirren – mögen zugrunde gehen! Was liegt an ihnen? Man braucht sie nicht zu hindern, es ist wirklich kein Grund vorhanden, sie zu bedauern – Menschen gibts ja genug! Wertvoll ist das Streben, wertvoll ist das Suchen der Seele nach Gott, und wenn es im Leben Seelen gäbe, die von einem innigen Streben nach Gott ergriffen wären, so würde Er mit ihnen sein und sie neu beleben, denn Er ist ja nichts anderes als das unendliche Streben nach Vervollkommnung . . . Ist dem nicht so?«

»Ja,« sagte ich, »das ist so.«

»Du verstehst allerdings recht gut, dich einverstanden zu erklären,« bemerkte mein neuer Bekannter mit bissigem Lachen. Dann schwieg er, in die Ferne blickend. Sein Schweigen erschien mir sehr lang, und vor Ungeduld entschlüpfte mir ein Seufzer. Seine Blicke irrten aber noch immer ins Weite, und ohne mich anzusehen, fragte er:

»Und wer ist denn dein Gott?«

Bis zu dieser Frage war seine Rede milde und freundlich, und ich hörte ihm gern zu. Wie alle denkenden Menschen war auch er ein wenig traurig, seine ganze Art flößte mir Sympathie ein, und meine Schüchternheit vor ihm war geschwunden. Und nun stellte er plötzlich diese verhängnisvolle Frage, die ein Mensch unserer Zeit doch so schwer zu beantworten vermag, wenn er gegen sich selbst ehrlich sein will. Wer ist mein Gott? Wenn ich das nur wüßte!

Ich war wie erdrückt von der Frage dieses Mannes, und wer würde dabei an meiner Stelle seine Geistesgegenwart behalten haben! – Er aber blickte mich durchbohrend an, lächelte fortwährend und wartete auf meine Antwort.

»Für einen Mann, der auf meine Frage eine Antwort geben könnte, dauert dein Schweigen allzu lange. Vielleicht aber weißt du etwas zu erwidern, wenn ich dich nun nach folgendem frage: Du schreibst und Tausende von Menschen lesen dich, was predigst du eigentlich? Und hast du denn überhaupt einmal über dein Recht, andere zu belehren, ernstlich nachgedacht?«

Zum erstenmal blickte ich voll Aufmerksamkeit tief in mein Inneres hinein. Man soll bei folgendem von mir nicht etwa denken, ich wollte mich erheben oder erniedrigen, um dadurch die Aufmerksamkeit der Menschen auf mich zu lenken, – von Bettlern verlangt man ja keine Almosen! Wohl entdeckte ich in mir nicht wenig edler Gefühle, Stimmungen und Strebungen, nicht wenig davon, was man gewöhnlich »gut« nennt, aber ein Grundgefühl, welches all dies einte, einen klaren, durchgebildeten und in sich gefestigten Grundgedanken, der all die Erscheinungen des Lebens umspannte – das konnte ich in mir nicht finden! In meiner Seele ruht zwar viel glühenden Hasses, beständig glimmt er dort . . . Zuweilen lodert er auch in grellen Zornesflammen empor, aber mehr noch gibts Zweifel in meinem Innern . . . Oft erschüttern sie meine Vernunft dermaßen, pressen mein Herz so zusammen, daß ich mir selbst oft lange wie hohl und leer vorkomme . . . Nichts weckt mich dann zum Leben, mein Herz ist kalt, starr und tot, meine Sinne schlafen und mein Hirn durchwirbeln die tollsten Phantasien. So lebe ich blind, stumm und trüb lange Tage dahin, wunsch- und fassungslos. Dann scheint mir, als wäre ich bereits ein Leichnam und nur dank einem sonderbaren Mißverständnis noch nicht der Erde übergeben. Das Grauen vor einer solchen Existenz wächst noch gewaltig durch das Bewußtsein, leben zu müssen . . . Denn der Tod hat ja noch viel weniger Sinn, aber um so mehr Finsternis . . . Vermutlich raubt er sogar die Lust zu hassen . . .

In der Tat, was predige ich eigentlich, ich – so wie ich bin? Und was kann ich denn der Menschheit sagen? Doch nur das, was man ihr schon längst gesagt hat und immer noch sagt; was wohl unter den Menschen Zuhörer findet, sie aber trotzdem nicht bessert! Und welches Recht habe ich denn, solche Ideen und Ansichten zu predigen, wenn ich selbst, wiewohl in ihnen erzogen, ihnen oft zuwiderhandle? Wenn ich mich diesen Ideen und Anschauungen widersetze, kann dann meine Überzeugung von ihrer Wahrheit eine wirklich aufrichtige heißen, so daß sie die Grundlage meines »Ichs« bildete . . .? Was soll ich nun diesem Manne antworten, der da neben mir sitzt?

Er aber wurde des Wartens müde und begann von neuem:

»Ich würde dir solche Fragen nicht gestellt haben, wenn ich mich nicht überzeugt hätte, daß dein Ehrgeiz deine Ehre noch nicht in dir erstickt hat. Du hast Mut mich zu hören . . . das beweist mir, daß deine Selbstliebe vernünftiger Natur ist, denn um ihretwillen scheust du selbst vor Qualen nicht zurück . . . Daher will ich dir nun auch die Schwierigkeit deiner Situation mir gegenüber erleichtern. Ich werde mit dir zwar wie mit einem Schuldigen, aber nicht wie mit einem Verbrecher sprechen.

»Einst lebten unter uns die großen Meister des Wortes, die feinen Kenner des Lebens und der menschlichen Seele, Männer, beseelt von einem unüberwindlichen Streben, das Dasein zu vervollkommnen, beseelt von einem tiefen Glauben an die Menschheit. Sie schufen Werke, die niemals der Vergessenheit anheimfallen werden, denn in ihnen sind ewige Wahrheiten mit ehernem Griffel tief eingegraben, aus jeder Seite weht uns ein Hauch unvergänglicher Schönheit entgegen. Die Gestalten, die in jenen Werken gezeichnet sind, leben, weil sie von einer mächtigen Inspiration beseelt waren. Ewig werden ihre Taten und Handlungen vorbildlich bleiben, und die Maximen ihres Lebens gelten unerschüttert fort. Tapferkeit und glühender, heiliger Zorn flammt in jenen Büchern, aber auch die Stimme einer großen und freien Liebe tönt uns daraus entgegen; da gibt es auch kein überflüssiges Wort! Von dort – ich weiß es wohl – hast auch du Nahrung für deine Seele geschöpft. Aber deine Seele wurde scheinbar schlecht genährt, denn deine Worte von Wahrheit und Liebe haben einen falschen, heuchlerischen Klang, es ist, als wenn du dich erst dazu zwingen müßtest, um davon zu reden. Du gleichst dem Monde; wie er, so leuchtest auch du mit fremdem Lichte; es ist traurig und trübe, hat wenig Kraft und spendet keine Wärme. Du selbst bist ja zu arm dazu, um den Menschen etwas wirklich Wertvolles geben zu können, und das, was du gibst – gibst du nicht aus einem edlen Drange, aus dem inneren Bedürfnis, das Leben durch die Schönheit des Gedankens und des Wortes zu bereichern, sondern vielmehr deswegen, um nur die rein zufällige Tatsache deiner Existenz zu einer für die Menschheit angeblich außerordentlich bedeutungsvollen, phänomenalen und unentbehrlichen zu stempeln. Du gibst, um vom Leben und von den Menschen mehr nehmen zu können. Du bist zu arm oder zu engherzig, Geschenke auszuteilen, du bist ein Wucherer – du gibst die paar Brocken der Erfahrung gegen Prozente von Aufmerksamkeit gegen dich, die dir so erwünscht ist . . . Deine Feder bohrt die Wirklichkeit nur schwach an, sie wühlt nur ein wenig in den Kleinigkeiten des Lebens herum. Und während du alltägliche Gefühle und alltägliche Menschen schilderst, entdeckst du vielleicht ihren Sinn, findest womöglich auch manche billige Wahrheit, aber verstehst du denn eine, wenn auch noch so kleine, die menschliche Seele erhebende Illusion zu schaffen? . . . Nein! Du glaubst, wunder wie nützlich es ist, im Schutte der Trivialität zu wühlen und in demselben nichts anderes als miserable kleine Wahrheiten zu entdecken, welche doch nur ›feststellen‹, daß der Mensch boshaft, dumm und ehrlos ist, daß er durchaus und immer von der Masse äußerer Bedingungen abhängt, daß er für sich allein ohnmächtig, haltlos und beklagenswert ist . . . Ja, weißt du, es ist dir auch vielleicht schon gelungen, die Menschen davon zu überzeugen! Denn erkaltet ist ihre Seele, und ihr Verstand ist stumpf geworden . . . Und kein Wunder! Die Bücher zeigen ja dem Menschen angeblich sein Bild und – wenn sie nun mit jener Zuversicht geschrieben sind, die so oft als Talent gilt – wirken sie auf ihn auch hypnotisierend, bis zu einem gewissen Grade wenigstens . . . Er spiegelt sich nun in dieser Darstellung, und im Anblick seiner »ausgemachten« Schlechtigkeit sieht er keine Möglichkeit, besser zu werden. Bist du denn imstande, ihm eine solche Möglichkeit zu zeigen? Kannst du es denn tun, wenn du selbst . . . Aber ich will dich schonen, weil du mir so aufmerksam zuhörst und – das merke ich wohl – nicht darüber nachgrübelst, wie du mir widersprechen und dich rechtfertigen könntest. Und so ist es auch recht! Denn ein Lehrer, der ehrlich sein will, muß immer noch ein aufmerksamer Schüler sein können. Ihr alle, ihr heutigen Lehrer des Lebens, nehmet den Menschen viel mehr als ihr ihnen gebt, weil ihr immer nur von ihren Fehlern sprecht, immer nur diese seht. Aber in dem Menschen müssen doch auch wertvolle Eigenschaften zu finden sein; glaubt ihr denn nicht selbst solche zu besitzen? Wodurch aber unterscheidet ihr euch von jenen farblosen Dutzendmenschen, die ihr so unbarmherzig und schonungslos schildert, wobei ihr euch für Prediger haltet, die berufen sind, Sünden und Fehler aufzudecken zur Verherrlichung der Tugend. Aber merkt ihr denn gar nicht, daß Tugend und Laster sich durch eure Bemühungen, sie genau zu definieren, unentwirrbar verschlingen, so wie zwei Knäuel schwarzer und weißer Fäden durch fortwährende nahe Berührung sich gegenseitig abfärben und dann beide grau aussehen? Ich kann kaum glauben, daß ihr von Gott auf die Erde gesandt seid . . . Er würde ganz andere als euch erwählt haben. Er würde im Herzen jener das Feuer leidenschaftlicher Liebe zum Leben, zur Wahrheit, zum Menschen entzündet haben, und diese Männer würden das Dunkel unseres Daseins mit strahlendem Lichte erhellen, wie Leuchten seiner Macht und seines Ruhmes . . . Ihr aber qualmt wie Fackeln von Satans Gnaden, und der Dunst, der von euch ausgeht, dringt in Verstand und Gemüt tief hinein und durchsetzt sie mit dem Gifte des Unglaubens an sich selbst . . . O, sprich doch, was lehrt ihr?!«

Ich spürte auf meiner Wange den glühenden Odem dieses Mannes, doch wagte ich nicht, ihn anzusehen, aus Angst, seinen Blicken zu begegnen. Seine Worte fielen wie feurige Tropfen in mein Hirn, ich empfand einen brennenden Schmerz . . . Mit Entsetzen begriff ich jetzt, wie schwer es ist, auf so einfache Fragen zu antworten . . . Ich gab ihm keine Antwort. –

»Ich lese also, wie gesagt, sehr fleißig, was du und deinesgleichen schreiben, und frage dich nun: Zu welchem Zweck schreibt ihr eigentlich? Und ihr schreibt ja viel . . . Wollt ihr die guten und edlen Gefühle im Herzen der Menschen wecken? Mit kalten und kraftlosen Worten aber wird euch das nicht gelingen, nie und nimmer! Doch nicht das allein ist's, daß ihr dem Leben nichts Neues zu geben vermögt, sondern auch das Alte gebt ihr nur in einer bis zur Unkenntlichkeit verzerrten Gestalt wieder. Wenn man euch liest, lernt man auch nicht das Geringste; da schämt man sich für nichts anderes als höchstens für euch . . . Alles trivial, trivial bis zum äußersten: triviale Menschen, triviale Gedanken, triviale Ereignisse. Wann endlich wird man denn von dem in Banden schmachtenden ewigen Geiste und von der Notwendigkeit seiner Befreiung, ja seiner Wiedergeburt sprechen? Wo bleibt der Aufruf zu einem schaffensreichen Leben? Wo die Lehren der Tapferkeit? Wo die anfeuernden, ermutigenden Worte, die den Geist der Menschheit beflügeln könnten? . . .

Du könntest mir vielleicht entgegenhalten: Das Leben bietet ja gar keine anderen Vorbilder als die, welche wir eben zur Darstellung bringen. O, sage das lieber nicht! Denn für einen Menschen, der das Glück hat, das Wort zu beherrschen, ist es beschämend und erniedrigend, dem Leben gegenüber eine solche Ohnmacht einzugestehen; einzugestehen, daß er sich nicht über dasselbe erheben kann. Wenn du bloß auf demselben Niveau wie das Leben stehen bleibst und keine neuen Gestalten, keine für das Leben notwendigen neuen Ideale mit Hilfe deiner Phantasie zu schaffen vermagst – so sprich: Welchen Nutzen kann denn deine Arbeit stiften und wie rechtfertigst du deinen Beruf? Indem du Gedächtnis und Aufmerksamkeit der Menschen mit einem Wust von allerhand wertlosen photographischen Abbildungen eines ereignisarmen Lebens vollstopfst – überlege doch mal, ob du damit dem Menschen nicht schadest? Denn – das mußt du doch selbst zugestehen – so kannst du doch nicht zeichnen, daß deine Gemälde, welche du vom Leben entwirfst, im Menschen brennende Scham erzeugen und ein glühendes Verlangen in ihm wachrufen, neue, bessere und menschenwürdigere Daseinsformen zu schaffen. Kannst du die Pulsschläge des Lebens beschleunigen? Kannst du ihm Energie einhauchen, wie es andere taten?

Blicke ich um mich, so sehe ich wohl viel vernünftige und kluge Menschen, aber wie wenige unter ihnen sind wirklich edel und gut; und auch diese wenigen sind gebrochen und ihre Seele krankt. Und warum muß ich denn immer sehen, daß je besser der Mensch ist, je reiner und edler seine Seele ist, desto geringer seine Energie, desto krankhafter er ist und desto unerträglicher sich sein Leben gestaltet? Einsamkeit und kummervolles, banges Sehnen sind das Los solcher Menschen. Aber wie mächtig dieses Sehnen nach dem Bessern auch sein mag, die Kräfte, es zu schaffen, fehlen . . . Rührt aber diese beklagenswerte Zerschlagenheit des Gemüts solcher Menschen nicht etwa daher, daß man ihnen keine rechtzeitige Hilfe durch erhebende und ermutigende Worte geboten hat?« . . .

»Und noch eins,« begann mein wunderlicher Unterhaltungsgenosse von neuem: »Kannst du im Menschen ein lebensfrohes Lachen wecken, ein Lachen, das die Seele zu reinigen vermöchte? . . . Sieh doch mal zu, wie die Menschen das Lachen, das gute und frohe Lachen, vollständig verlernt haben! Sie lachen boshaft, sie lachen niederträchtig, oft lachen sie durch Tränen, niemals aber hört man unter ihnen ein freudiges, aufrichtiges Lachen, jenes Lachen, welches die Brust der Erwachsenen erschüttern sollte, denn von einem guten Lachen gesundet die Seele . . . Der Mensch muß lachen, ist es doch einer seiner wenigen Vorzüge vor den Tieren. Du aber kannst in den Menschen nur ein Lachen der Verhöhnung, des gemeinen Spottens über dich, den Menschen, erzeugen, dessen Lächerlichkeit von seinem Elend herrührt! O, begreife es doch mal: Dein Recht, zu predigen, muß ja seinen zureichenden Grund in deiner Befähigung haben, in den Menschen jene ernsten und aufrichtigen Gefühle und Stimmungen wachzurufen, durch welche gewisse beengende Lebensformen wie mit Hämmern zerschlagen und niedergerissen werden sollten, um an ihre Stelle andere, freiere, zu schaffen. Zorn, Haß, Tapferkeit, Scham, Entrüstung und endlich grimmige Verzweiflung – das sind Hebel, mit denen man alles in der Welt niederreißen könnte. Bist du imstande, solche Hebel zu schaffen? Könntest du sie in Bewegung setzen? Das Recht, zum Volke zu sprechen, steht nur dem zu, der in seinem Geiste entweder einen großen Haß gegen Fehler und Mängel desselben, oder eine gewaltige Liebe zu ihm für seine Leiden hegt. Fehlen deiner Seele solche Gefühle, so verhalte dich hübsch bescheiden und überlege lange, bevor du etwas zu sagen wagst.«

Der Morgen graute bereits, um uns her wurde es immer heller, in meiner Seele aber verdichtete sich die Finsternis immer mehr . . . Und der Mann vor dem das Innerste meiner Seele offen lag, sprach noch immer fort . . . Zuweilen blitzte in mir die Frage auf:

»Ist das überhaupt ein Mensch?«

Ganz und gar hingerissen von seinen Worten, konnte ich aber über das rätselhafte Wesen des wunderlichen Redners nicht weiter nachsinnen. Wie Nadeln drangen nun seine Worte von neuem in mein Hirn.

»Das Leben wächst aber trotz alledem in die Breite sowohl als in die Tiefe; es wächst immerzu, wenn auch nur langsam, weil euch die Kraft und die Kunst fehlen, seine Bewegung zu beschleunigen. Die Menschen lernen mit jedem Tag neue Fragen stellen. Wer wird sie ihnen beantworten? Das müßtet ihr eigentlich, o, ihr unberufenen Apostel! Versteht ihr aber denn das Leben so weit und so gründlich, daß ihr es andern klar und verständlich zu machen vermöchtet? Versteht ihr denn überhaupt die Anforderungen eurer Zeit, ahnt ihr denn die Zukunft voraus, und was könntet ihr zur Hebung und zur Wiederaufrichtung eines Menschen sagen, auf den die Abscheulichkeiten des Lebens zersetzend eingewirkt haben und dessen Mut gebrochen und gesunken ist? Sein Selbstbewußtsein ist geschwunden, seine Lebensinteressen sind niedriger Natur, kein Verlangen nach einem würdigen Leben, er will und sucht das Gemeine, er möchte so leben wie – das Schwein, und – ihr hört? – wie frech ist sein Höhnen, wenn man das Wort ›Ideal‹ ausspricht! Der Mensch wird zu einem mit Fleisch und dicker Haut bedeckten Knochenhaufen, der nicht vom Geiste, sondern nur noch von Begierden bewegt wird . . . Es ist die höchste Zeit, ihm besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden; hier muß rasch Hilfe geboten werden, sonst ist's zu spät! Wie aber soll es euch gelingen, in ihm den Drang nach einem menschenwürdigen Leben zu wecken, wenn eure ganze Tätigkeit entweder in fortwährendem gedankenlosem Seufzen und Stöhnen, oder im gleichgültigen geistlosen Zeichnen menschlicher Zersetzung und Auflösung sich erschöpft? Über das Leben geht ein Hauch der Verwesung, der Feigheit, Knechtsinn erfüllt die Herzen, Faulheit fesselt Sinne und Hände . . . Was werdet ihr in dieses Chaos von Gemeinheiten hineintragen? Wie seicht, wie elend, und dabei noch so zahlreich seid ihr! O, daß doch ein strenger und wahrhaft liebender Mensch mit flammendem Herzen und gewaltigem, allumfassendem Verstand erscheinen möchte! Wie die dröhnendsten Glockentöne würden dann seine verheißenden Worte die dumpfe Schwüle eines schimpflichen allgemeinen Stillschweigens durchdringen, und dann vielleicht werden die verachtungswürdigen Seelen der lebendigen Toten erzittern!« . . .

Nach diesen Worten schwieg er lange. Ich wagte nicht, ihn anzusehen. Ich entsinne mich nicht mehr, welches Gefühl sich meiner am stärksten bemächtigte: Scham oder Entsetzen?

»Was könntest du mir nun dazu sagen?« – ertönte eine teilnahmslose Frage.

»Nichts,« war meine Antwort.

Und wiederum stellte sich ein Schweigen ein.

»Wie aber gedenkst du nun zu leben?«

»Ich weiß nicht,« erwiderte ich.

»Was wirst du jetzt lehren?«

Ich schwieg.

»Ja, es gibt keine höhere Weisheit als das Schweigen!« . . .

Peinlich quälend war die Pause zwischen diesen Worten und einem hierauf folgenden Lachen. Er lachte hochvergnügt, mit wahrer Lust, wie ein Mensch, dem sich lange keine Gelegenheit geboten hatte, so leicht und angenehm zu lachen. Mein Herz weinte aber blutige Tränen bei diesem verfluchten Lachen.

»Che! che! che! Und du willst das – Lehrer des Lebens sein? Du, der so leicht in Verwirrung zu bringen ist? Jetzt, glaube ich, hast du begriffen, wer ich bin! Che! che! che! . . . Ja, ein jeder von euch, ihr schon als Greise geborenen Jünglinge, würde ebenso in Verwirrung geraten, wollte er nur mit mir in Berührung treten. Vor dem Gerichte des Gewissens erschauert wohl das Herz eines jeden, der sich nur nicht mit dem Panzer der Lüge, Frechheit und Schamlosigkeit umgibt . . . Nun sieh mal, wie mächtig du bist: Ein Stoß – und du bist gefallen. Sage mir doch, o, sage mir doch nun wenigstens etwas zu deiner Rechtfertigung, widerlege doch das, was ich behauptet habe! Befreie doch dein eigenes Herz von Scham und Schmerz. Sei doch wenigstens für eine Minute stark und voll Selbstvertrauen, so will ich gern alles zurücknehmen, was ich dir ins Gesicht geschleudert habe. Dann will ich mich in Achtung vor dir verbeugen . . . Zeig mir doch wenigstens etwas in deiner Seele, das mir ermöglicht, in dir den Lehrer zu erkennen! Ich muß einen Lehrer haben, denn ich bin ein Mensch. Ich habe mich verirrt im Dunkel des Lebens und suche einen Ausgang zum Licht, zur Wahrheit, zur Schönheit, zu einem neuen Leben – zeig mir den Weg! Ich bin ja nur ein Mensch – hasse mich, schlage mich meinetwegen, aber ziehe mich heraus aus dem Sumpf meiner Gleichgültigkeit gegen das Leben! Ich will besser werden als ich bin – wie soll ich das machen? O, sage es mir!«

Ich dachte: Kann ich es denn? Kann ich denn jenen Anforderungen befriedigend genügen, die dieser Mensch mit vollem Rechte an mich stellt? – Das Leben erlischt, das menschliche Gemüt wird von einer immer dichter werdenden Finsternis des Zweifelns umstrickt, und es muß ein Ausweg gefunden werden! Wo ist er aber zu suchen? – Ich weiß nur eines: nicht nach Glück hat man zu streben. Wozu dieses Glück? Der Sinn des Lebens ist nicht die Glückseligkeit, und die Selbstzufriedenheit kann die Menschen auf die Dauer unmöglich befriedigen – ist er doch jedenfalls höher als dieses . . . Der Sinn des Lebens liegt vielmehr im Schönen und in der Macht nach Zielen zu streben. Man muß immer und immer dafür sorgen, daß jeder Augenblick des Daseins sein hohes Ziel habe. – Wohl wäre das möglich . . . nicht aber in den alten Rahmen des Lebens, in welchen allen so eng ist und wo es dem menschlichen Geist an Freiheit mangelt . . .

Und von neuem lachte er, aber nur leise. Es war das bittere Lachen eines Mannes, dessen Herz von schweren, aufreibenden Gedanken ergriffen war . . .

»Wie viele Menschen gab es auf Erden,« begann er wieder, »wie gering aber ist die Zahl derer, denen man Denkmäler gesetzt hat! Wie kommt es? Warum ist's so? Aber lassen wir die Vergangenheit – sie stimmt uns allzu traurig! Wir befassen uns nun lieber mit der Gegenwart. Der Mensch schlummert . . . und keiner weckt ihn. Er schlummert und wird in ein Tier verwandelt. Eine Peitsche braucht er und ein Kosen feuriger Liebe. Habe nur keine Angst, wenn du ihm weh tust: schlägst du nur in aufrichtiger Liebe, so versteht er dich, und wenn er dann den Schmerz, die Scham für sich selbst empfindet, so kose ihn in glühender Liebe, und er ist – wiedergeboren . . . Die Menschen? Das sind ja alles noch Kinder, wenn sie auch zuweilen durch die Boshaftigkeit ihrer Handlungen wie durch die Entartung ihrer Gedanken Staunen erregen. Sie brauchen daher immer Erziehung, Fürsorge, Liebe, beständige Sorge um frische, gesunde Nahrung für ihre Seelen . . . Kannst du die Menschen lieben?« »Die Menschen lieben?« wiederholte ich die Frage nicht wenig verlegen, denn ich weiß wirklich nicht, ob ich die Menschen liebe. Man muß ja aufrichtig sein – ich weiß es also nicht . . . Und wer wird es von sich einfach behaupten können: Ich liebe die Menschen! Derjenige, der sich aufmerksam betrachtet, wird bei dieser Frage lange überlegen, bevor er sich zu der Behauptung entschließen würde: ich liebe! Jeder weiß es, wie entfernt unser Nächster von jedem von uns ist . . .

»Du schweigst also noch immer? – Na, ganz gleich – ich verstehe dich auch so . . . Jetzt aber gehe ich fort.«

»Schon?« fragte ich leise. Denn wie schrecklich seine Gegenwart mir auch war, so war ich für mich selbst noch schrecklicher . . .

»Ja, ich gehe . . . Es wird nicht das einzige Mal bleiben, daß ich dich besuchte . . . Warte!«

Und er ging.

Wie er wegging? Ich bemerkte es nicht. Rasch und geräuschlos wie ein Schatten war er verschwunden . . . Ich aber blieb noch lange im Garten, ohne die Kälte zu fühlen, und ohne zu merken, daß die Sonne bereits aufgegangen war und mit grellen Strahlen die weißen Zweige der Bäume beschien. Sonderbar berührte mich der Anblick des hellen Tages und der Sonne, die so gleichgültig leuchtete, wie immer; sonderbar – der Anblick dieser alten abgequälten Erde, wie sie sich in eine im Sonnenlicht so blendend-hellglänzende Schneedecke gehüllt hatte . . .

 


 


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