Maxim Gorki
Ehemalige Leute und andere Erzählungen
Maxim Gorki

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Der Pilger

I

Meine Begegnung mit ihm

Stolpernd im Finstern über niedere Zäune, schritt ich tapfer im Straßenschmutz von Fenster zu Fenster. Ich klopfte leise an die Fensterscheiben und rief:

»Wollen Sie einen Wanderer übernachten lassen?«

Als Antwort auf meine Anfrage sandte man mich zu den Nachbarn, ins Gesindelhaus, zum Teufel. Aus einem Fenster versprach man die Hunde auf mich zu hetzen, aus einem andern drohte man mir in nicht mißzuverstehender Weise mit der Faust, wieder aus einem andern rief eine kreischende Frauenstimme:

»Trolle dich, so lange du noch ganz bist, mein Mann ist zu Hause . . .«

Höchstwahrscheinlich pflegte sie nur in Abwesenheit ihres Mannes Nachtgäste aufzunehmen. Bedauernd, daß er zu Hause war, ging ich ans folgende Fenster und bat: »Gute Leute, laßt doch einen Wanderer bei euch übernachten.«

Man antwortete mir freundlich: »Gehe in Gottes Namen weiter.«

Und das Wetter war schlecht, ein feiner, kalter Regen rieselte herab, und die schmutzige Erde war dicht umhüllt von Finsternis. Zuweilen kam ein heftiger Windstoß und fuhr raschelnd durch die Zweige der Bäume und über die nassen Strohdächer. Er verursachte allerhand unheimliche Geräusche; durch Seufzen und Stöhnen unterbrach er die dunkle Stille der Nacht, ein schauriges Konzert. Übelgelaunt, wahrscheinlich durch das traurige Vorspiel des nahenden Herbstes, verweigerten die Glücklichen, die sich unter Dach und Fach befanden, mir das Unterkommen. Ich bemühte mich noch lange vergebens, die Unfreundlichkeit der Leute zu bekämpfen. Da es mir nicht gelang, mußte ich meine Hoffnung, ein Nachtlager unter Dach zu finden, aufgeben. Ich ging ins Feld hinaus, hoffend, vielleicht einen Heu- oder Strohfeimen zu finden, um darin zu nächtigen, obwohl nur ein glücklicher Zufall mich in dieser dichten Finsternis einen solchen entdecken lassen konnte.

Ich war noch nicht lange gegangen, so erblickte ich, kaum drei Schritt vor mir, etwas Großes, Dunkles, noch finstrer als die Finsternis selbst. Was war es? Ich vermutete ein Brotmagazin und ging darauf zu. Die Brotmagazine pflegt man auf Pfählen oder Steinen zu erbauen. Zwischen dem Boden des Magazins und dem Erdboden befindet sich ein hohler Raum, wo ein anständiger Mensch noch Platz nehmen kann, er braucht sich nur auf den Bauch zu legen und unterzukriechen.

Wahrscheinlich wollte das Schicksal mich nicht nur unter Dach, sondern sogar unter die Diele bringen. Zufrieden damit, kroch ich über die trockene Erde, mit Brust und Seiten nach einem ebenen Fleckchen für meine Lagerstätte fühlend. Plötzlich erscholl eine warnende Stimme:

»Halten Sie sich links, Verehrtester.«

Das klang nicht schrecklich, aber wahrlich unerwartet.

»Wer ist hier?« fragte ich.

»Ein Mensch mit einem Stock.«

»Einen Stock besitze ich auch, sind aber Streichhölzer da?«

»Auch Streichhölzer besitze ich.«

»Das ist gut.«

Ich sah darin zwar nichts Gutes, weil nach meinem Dafürhalten wenigstens noch Brot und Tabak zu meinem Wohlbefinden gehört hätten und nicht nur Streichhölzer.

»Also man läßt im Dorfe nicht übernachten?« fragte die Stimme des Unsichtbaren.

»Man läßt nicht,« sagte ich.

»Auch mich ließ man nicht.«

Das war klar, vorausgesetzt, daß er sich überhaupt um ein Nachtlager im Dorfe beworben hatte. Vielleicht war es ihm aber gar nicht um ein solches zu tun, möglicherweise war er nur hier untergekrochen, um irgendein lichtscheues Unternehmen ins Werk zu setzen und den günstigen Augenblick dazu hier abzuwarten. Freilich ist jede Arbeit gottgefällig, indes beschloß ich doch, meinen Stock fest in der Hand zu halten.

»Sie ließen nicht, die Teufel!« wiederholte die Stimme. »Die Verruchten! Bei gutem Wetter lassen sie übernachten, aber in einem solchen lassen sie einen heulen!«

»Und wohin gehen Sie?« fragte ich.

»Nach . . . Nikolajeff. Und Sie?«

Ich sagte ihm wohin.

»Mitreisender also. Nun brennen Sie einmal ein Streichholz an, ich will rauchen.«

Die Streichhölzchen waren feucht geworden, ich mußte lange ungeduldig streichen an den Brettern über meinem Kopfe. Endlich kam ein kleines Flämmchen zum Vorschein, und aus dem Dunkel tauchte ein blasses Gesicht auf mit dichtem schwarzem Bart.

Große kluge Augen blickten mich lächelnd an, weiße blitzende Zähne leuchteten unter dem dunklen Schnurrbart hervor, und der Mann fragte mich: »Wollen Sie rauchen?«

Das Streichholz erlosch, wir entzündeten ein neues und besahen uns wiederum gegenseitig, worauf mein Schlafgenosse in überzeugter Weise verkündete:

»Nun, es scheint mir, wir beide brauchen uns nicht zu genieren . . . Nehmen Sie eine Zigarette!«

Er hatte eine andere zwischen den Zähnen, und wenn er einige kräftige Züge tat, flammte sie auf und warf auf sein Gesicht einen schwachen rötlichen Schimmer. Um Stirn und Augen des Mannes zogen sich tiefe und fein geschnittene Falten. Bei der Beleuchtung mit dem Streichhölzchen hatte ich bemerkt, daß er in den Überresten eines alten wattierten Paletots steckte, umgürtet mit einem Strick; an den Füßen hatte er Halbstiefel, aus einem Stück Leder gearbeitet, – »Porschni«, wie man sie in den Donaugegenden nennt.

»Ein Wandersmann?« fragte ich.

»Ja, ich wandre. Und Sie?«

»Ebenfalls.«

Er bewegte sich geschäftig, dabei klirrte etwas Metallenes, scheinbar eine Teekanne oder Kessel, das sind unentbehrliche Requisiten eines Pilgers nach den heiligen Stätten. Aber in seinem Tone war nichts, was an jene fuchsschlaue Frömmelei und Unterwürfigkeit erinnerte, die stets den Pilger kennzeichnen. Es war in seinem Wesen nichts Bigottes und in seiner Rede nichts Salbungsvolles, nichts von andächtigem Stöhnen und Seufzen über sich und die sündhafte Welt, kein Wort von der »Schrift«. Überhaupt hatte er keine Ähnlichkeit mit den professionsmäßigen Pilgern nach den heiligen Stätten, keine Ähnlichkeit mit dieser schlimmsten, vielgestaltigen Ausgeburt des in Unzahl »landstreichenden Russentums«, schlimm im höchsten Grade wegen ihrer moralischen Eigenschaften, und ganz besonders deshalb, weil dieser entmenschte Schnorrertypus eine Fülle von Lüge und Aberglauben in das nach geistiger Nahrung schmachtende Dorf tragt. Dazu kam noch, daß er nach Nikolajeff ging, wo keine heilige Stätte zu finden ist.

»Und woher kommen Sie denn?« fragte ich.

»Von Astrachan.«

In Astrachan gibt es aber auch keine heilige Stätte, und ich fragte ihn nun wieder:

»So gehen Sie also wohl von ›Meer zu Meer‹ und nicht nach heiligen Stätten?«

»Ich besuche auch heilige Orte. Warum soll ich nicht auch einen heiligen Ort aufsuchen? Dort verpflegt man uns ja gut, besonders wenn man sich mit den Nonnen in Intimitäten einläßt. Unsereiner wird von ihnen immer geachtet, weil er eine große Abwechslung in ihr Leben hineinbringt. Und wie denken Sie darüber?«

Ich erklärte ihm meine Ansichten über solche Dinge.

»Ja, gute Pflegestätten sind es. Woher aber kommen Sie? Stecken Sie doch ein Streichholz an, wir wollen rauchen. Wenn man raucht, ist einem, als ob es wärmer wird.«

Es war wirklich kalt, sowohl durch den eindringenden Wind als auch infolge unserer nassen Kleidung.

»Vielleicht wollen Sie essen? Ich habe Brot, Kartoffeln und zwei gebratene Krähen. Wollen Sie?«

»Eine Krähe?« fragte ich neugierig.

»Essen Sie etwa diese nicht? Unsinn!« . . .

Er schob mir eine große Stulle Brot zu.

»Ich habe noch niemals Krähen gekostet.«

»Na, da haben Sie, kosten Sie! Im Herbst sind die Krähen außerordentlich schmackhaft. Und auch nachher ist es viel angenehmer, eine Krähe zu essen, die man selbst erworben hat, als Brot oder Speck, der dir durch die Hand des Nächsten gereicht wird aus dem Fenster seines Hauses . . ., das du doch immer, nachdem du die milde Gabe empfangen hast, in Brand stecken möchtest . . .«

Diese Worte klangen sehr kategorisch und ausdrucksvoll. Der Gebrauch von Krähen als Nahrungsmittel war zwar neu für mich, doch wunderte ich mich darüber nicht weiter, wußte ich doch, daß in Odessa im Winter auch Ratten verzehrt werden und in Rostow – Schnecken. Was ist denn hierbei Unglaubliches? Haben doch selbst die Pariser, als sie sich im Belagerungszustände befanden, mit Vergnügen allerhand Dinge verzehrt. Manche Menschen aber befinden sich ihr ganzes Leben lang im Belagerungszustande.

»Und wie fangen Sie denn diese Krähen?« erkundigte ich mich.

»Nicht mit dem Mund freilich. Man kann sie mit einem Stock erschlagen oder auch mit einem Stein, aber richtiger ist es, sie zu angeln. Man bindet an das Ende einer langen Schnur ein Stück Speck oder Brot, die Krähe ergreift, verschlingt es; nun packt man sie, dreht ihr dann den Kopf ab, rupft sie, nimmt sie aus, steckt sie auf einen Stock und bratet sie auf einem Feuer.«

»Wie gut wäre es jetzt, an einem solchen Lagerfeuer zu sitzen,« stöhnte ich.

Die Kälte wurde immer empfindlicher, es schien, als ob der Wind selbst erfröre. Heulend und stöhnend prallte er an die Wände des Speichers, damit vermischte sich zuweilen das Heulen der Hunde, das Krähen der Hähne, der wehmütige Glockenklang der Dorfkirche, die in Dunkelheit verborgen war. Die Regentropfen fielen schwer von dem Dach des Magazins auf die feuchte Erde.

»Es ist langweilig, schweigend zu liegen,« sagte mein Schlafgenosse.

»Zum Sprechen ist es aber zu kalt,« bemerkte ich.

»So stecken Sie Ihre Zunge in den Busen . . . Da wird ihr warm werden.«

»Ich danke für den Rat.«

»Also werden wir zusammen gehen, haben wir doch denselben Weg.«

»Ja, wir gehen.«

»So wollen wir uns näher bekannt machen . . . Ich bin zum Beispiel ein Edelmann, Pawel Ignatjeff Promtoff.«

Ich stellte mich auch vor.

»Nun, jetzt möchte ich wissen, wie sind Sie auf diesen Pfad geraten, aus Schwäche zum Schnaps, nicht wahr?«

»Aus Überdruß am Leben, aus Langerweile.«

»Na, auch das ist möglich . . . Kennen Sie eine Veröffentlichung des Senats unter dem Titel: ›Auskünfte über Gerichtsverhandlungen‹?«

»Ich kenne das . . .«

»Ist Ihr Name dort gedruckt?«

Ich war zu der Zeit noch nirgends gedruckt und sagte ihm das.

»Ich bin ebenfalls noch nicht gedruckt.«

»Aber Sie hoffen wohl?«

»Alles in Gottes Hand!«

»Aber Sie scheinen mir ein lustiger Mensch zu sein?«

»Nun, soll man sich denn grämen?«

»Nicht jeder würde in Ihrer Lage so sprechen,« sagte ich, die Aufrichtigkeit seiner Worte bezweifelnd.

»Die Lage ist wohl rauh und kalt, sie wird sich aber doch mit Anbruch des Tages ändern. Es wird die Sonne aufgehen . . . sie wird doch aufgehen? Dann werden wir hier herauskriechen, werden Tee trinken, essen, uns erwärmen. Ist das denn schlecht?«

»Nein, gut,« stimmte ich ein.

»Nun, so sehen Sie, alles Schlechte hat auch seine guten Seiten . . .«

»Alles Gute hat auch seine schlechten Seiten.«

»Amen!« rief Promtoff im Tone eines Diakon.

Bei Gott, seine Gegenwart heiterte mich auf! Ich bedauerte, daß ich sein Gesicht nicht sehen konnte, das, nach der reichen Intonation seiner Stimme zu schließen, sehr ausdrucksvoll sein mußte. Wir sprachen lange miteinander über Kleinigkeiten, hinter denen wir den beiderseitigen Wunsch, uns kennen zu lernen, verbargen. Im Innern ergötzte mich die Geschicklichkeit des Mannes, mit der er mich nötigte, mich auszusprechen, während er über seine Person schwieg.

Während wir ruhig und friedlich uns unterhielten, hörte der Regen auf, und die Finsternis begann, ohne daß wir es gemerkt hatten, zu weichen. Im Osten erglühte bereits ein zartrosiger Streifen des beginnenden Morgens. Mit dem Anbruch des Tages entwickelte sich gleichzeitig die Frische des Morgens, die so angenehm und anregend auf uns wirkt, wenn sie uns in warmer und trockener Kleidung findet.

»Könnten wir nicht hier etwas auffinden, um uns ein Feuer anzuzünden, trockene Späne etwa?« fragte Promtoff.

Über die Erde kriechend, suchten wir herum, konnten aber nichts finden. Dann entschlossen wir uns, irgendein nicht ganz fest angebrachtes Brett abzuschlagen. Nachdem das geschehen, verwandelten wir es in Späne. Hierauf machte Promtoff den Vorschlag, zu versuchen, ein Loch in die Diele des Speichers zu bohren, um Kornfrüchte zu erlangen, da Roggen in Wasser gekocht eine gute Nahrung gibt. Ich protestierte dagegen, mit der Begründung, daß dies nicht angängig wäre, denn wir würden aus dem Magazin einige Pud herauslassen, um vielleicht zwei bis drei Pfund davon zu nehmen.

»Aber was kümmert Sie das?« fragte Promtoff.

»Man muß doch,« so hörte ich, »Achtung vor fremdem Eigentum haben!«

»Das, Väterchen, muß man nur dann, wenn man selbst Eigentum besitzt, und auch nur aus dem Grunde, weil dieses für jeden andern auch fremdes Eigentum ist.«

Ich schwieg und dachte mir, daß dieser Mann doch wohl extrem liberal in Eigentumsfragen sein müßte und infolgedessen die Annehmlichkeit einer Bekanntschaft mit ihm auch ihre Schattenseiten habe.

Bald zeigte sich die Sonne heiter und hell leuchtend. Zwischen den zerrissenen Wolken, die langsam nach Norden zogen, zeigte sich der blaue Himmel, überall erglänzten die Regentropfen. Promtoff und ich krochen unter dem Speicher hervor und gingen durch das abgemähte Feld nach einer Allee von Bäumen, die wir von weitem erblickten.

»Dort ist ein Fluß,« sagte mein Bekannter.

Ich sah ihn mir bei hellem Tageslicht an, und er machte auf mich den Eindruck eines ungefähr vierzigjährigen Mannes, dem das Leben kein Scherz war. Seine Augen, dunkel und tief in ihre Höhlen zurückgesunken, glänzten ruhig und selbstvertrauend. Wenn er sie dagegen etwas zusammenkniff, bekam sein Gesicht einen schlauen, verbissenen Ausdruck. In seinem festen Gang, dem festgeschnallten Tornister zeigte sich die Gewohnheit des Wanderlebens, die Erfahrenheit des Wolfes und die schlaue Anpassungsfähigkeit des Fuchses.

»Wir gehen,« so sprach er. »Gleich hinter diesem Fluß, etwa sechs Werst von hier, kommt das Dorf M., von dort führt dann ein gerader Weg nach Neu-Prag. Um dieses Städtchen wohnen Stundisten, Baptisten und noch andere schwärmende Bäuerlein. Sie verpflegen ausgezeichnet, wenn man ihnen etwas Tröstliches aufschneidet. Aber von der ›Schrift‹ mit ihnen – kein Wort! Sie selbst sind in der Schrift wie zu Hause.«

Wir suchten uns einen Platz unterhalb einer Gruppe von schwarzen Pappeln, sammelten Steine, die am Ufer des vom Regen getrübten Flusses herumlagen, und brannten auf diesen Steinen ein Feuer an. Ungefähr zwei Werst von uns lag auf einer Anhöhe ein Dorf, auf dessen Strohdächern das rosige Gold der Morgenröte erglänzte. Die Wände der weißen Bauernhäuschen waren verdeckt von pyramidenförmig gewachsenen Pappeln, die mit ihrer Herbstfarbe in der Morgensonne prangten.

»Ich will baden,« erklärte Promtoff, »das ist unbedingt nötig nach einer so schlecht zugebrachten Nacht. Ich rate es auch Ihnen, und während wir uns erfrischen, kocht der Tee auf. Wissen Sie, man muß dafür sorgen, daß unsere Natürlichkeit stets sauber und frisch bleibt.«

Indem er dies sprach, entkleidete er sich. Sein Körper hatte Rasse, er war schön gebaut und mit festen, gut entwickelten Muskeln versehen. Als ich ihn nackend sah, erschienen mir die von ihm abgelegten schmutzigen Lumpen doppelt so häßlich und abscheulich, als bisher. Wir badeten im kalten, schäumenden Wasser des Flusses, sprangen hinaus aufs Ufer, zitternd und blau vor Kälte, und zogen unsere am Feuer erwärmten Kleider schnell an. Hierauf setzten wir uns an den Feuerherd, um Tee zu trinken.

Promtoff hatte einen eisernen Krug. Er füllte denselben mit kochendem Tee und bot ihn mir zuerst an. Allein der Teufel, der immer bereit ist, über den Menschen sich lustig zu machen, rüttelte mich an einer der lügenhaften Saiten meines Herzens, und ich erklärte großmütigst:

»Ich danke! Trinken Sie zuerst, ich will warten.«

Ich sagte dies in der festen Überzeugung, daß Promtoff unbedingt Lust haben würde, mit mir in Großmut und Höflichkeit zu wetteifern, worauf ich nachgeben und zuerst trinken wollte. Er aber sagte ganz einfach:

»Nun gut . . .« – und brachte den Krug an seinen Mund.

Ich wandte mich zur Seite und besah mir angelegentlich die vor uns liegende öde Steppe. Ich wollte damit Promtoff glauben machen, daß ich seine dunklen, über mich höhnisch spottenden Augen nicht sähe. Er aber schlürfte den Tee, kaute das Brot, mit den Lippen schmatzend, und führte alles dies quälend langsam aus. Vor Kälte zitterte selbst mein Inneres, so daß ich bereit war, den kochenden Tee mir in die Faust einzuschenken.

»Ei, ei,« sagte Promtoff lachend, »es ist nicht vorteilhaft, allzu höflich zu sein!«

»Ja, eine Lehre!« sagte ich.

»Nun, so ist's auch hübsch! Lassen Sie sich belehren . . . Warum denn andern überlassen, was einem selbst angenehm und vorteilhaft ist. Zwar wird gesagt, daß alle Menschen Brüder sind, jedoch hat niemand es versucht, durch einen Geburtsschein dies zu beweisen . . .«

»Denken Sie in der Tat so?«

»Wozu würde ich denn so sprechen, wenn ich nicht so gedacht hätte?«

»Wissen Sie, der Mensch liebt doch immer, sich in einem andern Lichte zu zeigen.«

»Ich verstehe nicht, wodurch ich bei Ihnen ein solches Mißtrauen gegen mich erweckt habe . . .« zuckte dieser Fuchs mit den Achseln. »Etwa dadurch, daß ich Ihnen Brot und Tee gab? Ich tat aber dieses nicht aus brüderlichen Gefühlen, sondern aus Neugierde. Ich sah einen Menschen in einer fremden Gegend und wollte wissen, wie und wodurch ihn das Schicksal aus dem Leben hinausgestoßen hat . . .«

»Auch ich möchte das . . . Sagen Sie mir doch, wer und was Sie sind?« fragte ich ihn. Er sah mich fragend an, und nach einer kurzen Pause sagte er:

»Ein Mensch weiß niemals genau, wer er ist . . . man muß ihn fragen, wofür er sich selbst hält.«

»Meinetwegen mag es so sein.«

»Nun . . . ich denke, daß ich ein Mensch bin, dem das Leben zu eng ist. Das Leben ist schmal, aber ich bin breit . . . Vielleicht ist das nicht richtig. Aber in der Welt gibt es eine eigentümliche Sorte Menschen, die, wie es scheint, von dem ewigen Juden abstammen. Ihre Besonderheit besteht darin, daß sie niemals eine Stätte auf dem Erdboden finden, wo sie sich fest niederlassen könnten. In ihrem Inneren wohnt ein glühendes Verlangen nach etwas Neuem . . . Die kleinen Menschen unter diesen können niemals Hosen nach ihrem Geschmack finden und fühlen sich daher immer unzufrieden und unglücklich. Die Bedeutenderen befriedigt nichts – weder Geld, noch Frauen, noch Ehren . . . Solche Menschen werden im Leben nicht geliebt – sie sind frech und unverträglich. Die meisten Menschen sind doch bloß Groschen, – Scheidemünze . . ., sie unterscheiden sich voneinander lediglich durch das Jahr ihrer Prägung. Der eine ist mehr abgerieben, der andere etwas neuer, aber ihr Wert bleibt derselbe, das Material einerlei, und in allem sind sie bis zum Ekel einander ähnlich. Aber ich, sehen Sie, bin kein Groschen . . . obgleich ich vielleicht nur einen Pfifferling wert bin. Da haben Sie alles.«

Er sprach dies mit einem skeptischen Lächeln, und es schien mir, als wenn er selbst seinen eigenen Worten nicht glaubte. Indessen erweckte er in mir eine spannende Neugier, und ich entschloß mich, ihm so lange zu folgen, bis ich erfahren habe, wer er eigentlich sei. Daß er ein sogenannter »intelligenter Mensch« sei, daran war mir kein Zweifel, gibt es doch ihrer viele unter den Landstreichern, aber all diese sind tote Menschen, sie verlieren jede Selbstachtung, jede Fähigkeit, ihrem eigenen Wesen irgendeinen Wert beizulegen, und ihr Leben besteht lediglich darin, daß sie mit jedem Tag noch tiefer in Schmutz und Niedertracht versinken, bis sie endlich, darin gänzlich aufgelöst, aus dem Leben verschwinden.

Aber in Promtoff war etwas Festes, Standhaftes, und er klagte auch nicht über das Leben, wie seine Schicksalsgenossen es zu tun pflegen.

»Nun gehen wir,« schlug er vor.

»Wir gehen.«

Wir erhoben uns vom Erdboden, erwärmt durch den Tee und die Sonne, und gingen am Ufer, dem Laufe des Flusses folgend, entlang.

»Und wie erlangen Sie Ihre Nahrung,« fragte ich Promtoff. »Arbeiten Sie?«

»Ob ich a–ar–beite? Nein, dazu habe ich keine Lust.«

»Nun, wie machen Sie es denn?«

»Sie werden es schon sehen.«

Er verhielt sich schweigend. Hierauf, als wir einige Schritte gegangen waren, begann er irgendein lustiges Liedchen durch die Zähne zu pfeifen. Seine scharfblickenden Augen hielten prüfend Umschau über die Steppe, dann schritt er fest weiter wie ein Mann, der seinem Ziele entgegengeht.

Ich schaute ihn an, und das Verlangen, zu erfahren, mit wem ich es zu tun habe, entbrannte immer heftiger in mir.

Eine weite, öde und stille Steppe umgab uns. Über uns schien heiter und freundlich die Sonne des Südens. Wir atmeten mit voller Brust die reine, ermutigend wirkende Luft. Wir gingen weiter und weiter, dorthin, wo sich uns eine Fülle kleiner Lämmerwölkchen am Horizonte in einem schönen farbenreichen Bilde darstellte.

Als wir in die Straße eines Dorfes einlenkten, fuhr uns ein Hund kläffend zwischen die Beine und sprang mit lautem Gebell um uns herum. Sobald wir ihn ansahen, sprang er erschreckt und winselnd zur Seite, um sich gleich darauf mit zudringlichem Gebell uns wieder zu nähern. Auf sein Gebell kamen noch mehr Hunde zum Vorschein, die indes nicht dieselbe Hartnäckigkeit besaßen, sondern nach ein- und zweimaligem Gekläff wieder verschwanden. Die Gleichgültigkeit seiner Genossen schien den braunen Hund noch mehr gereizt zu haben.

»Sie sehen, was für eine gemeine Natur!« sagte Promtoff, mit dem Kopf auf den sich ereifernden Hund zeigend. »Und doch lügt er, er weiß, daß er ohne Grund bellt; er ist auch gar nicht schlecht, er ist bloß feige und will sich vor seinem Herrn auszeichnen. Es ist ein rein menschlicher Zug und zweifellos in dem Hunde auch durch einen Menschen erzogen. Die Menschen verderben die Tiere . . . Es wird noch eine Zeit kommen, wo die Tiere bald ebenso gemein sein werden wie ich und Sie.«

»Ich danke schön,« sagte ich.

»Keine Ursache. Indessen muß ich jetzt losschießen.« . . . Auf seinem ausdrucksvollen Gesicht erschien eine demutsvolle Miene, die Augen blickten blöde, seine Haltung wurde gebeugt und seine Lumpen blähten sich auf.

»Ja, man muß sich an seinen Nächsten wenden mit einer Bitte um Brot,« erklärte er mir seine Umwandlung und begann scharf in die Fenster der Häuser hineinzusehen. An einem Hause unter dem Fenster stand eine Frau, ein Kind auf dem Arme tragend und es an der Brust nährend. Promtoff verbeugte sich und sagte bittend:

»Gnädigste, geben Sie doch wandernden Leuten Brot.«

»Es tut mir leid,« antwortete die Frau, uns einen verächtlichen Blick zuwerfend.

»Soll dir doch die Milch in der Brust stocken, du Hundestochter!« fluchte mit strenger Stimme mein Mitreisender.

Die Frau schrie auf wie von einer Schlange gebissen und ging auf uns los:

»Ach, ihr . . .«

Promtoff wich nicht von der Stelle, blickte ihr ins Gesicht mit seinen schwarzen Augen, deren Ausdruck wild und unheilverkündend war. Das Weib wurde blaß, zitterte, und etwas vor sich hinmurmelnd, ging sie schnell ins Haus hinein.

»Wollen wir gehen,« schlug ich Promtoff vor.

»Noch nicht! Wir wollen warten, bis sie uns Brot bringt.«

»Sie wird ihren Mann mit der Heugabel auf uns hetzen.«

»Sie verstehen viel!« lächelte skeptisch mein Gefährte.

Und er hatte recht. Die Frau erschien vor uns, hielt in der Hand einen halben Laib Brot und ein solides Speckstück. Schweigend näherte sie sich Promtoff, machte eine tiefe Verbeugung und sagte bittend:

»Wollen Sie es doch freundlichst nehmen, Mann Gottes, zürnen Sie doch nicht.«

»Es bewahre dich nun Gott vor bösem Auge, vor Behexung und Krankheiten!« segnete sie eindringlichst Promtoff. Und wir gingen.

»Hören Sie doch,« sagte ich, als wir uns von dem Hause entfernten, »was haben Sie doch für eine befremdende, um nicht noch mehr zu sagen, Art zu bitten.«

»Diese Art ist eine vollständig richtige . . . Wenn Sie auf ein Weib tüchtig mit den Augen losschießen, so nimmt sie Sie für einen Zauberer, sie erschrickt und gibt Ihnen nicht allein Brot, sondern die ganze volle Tasche ihres Mannes ab. Wozu soll ich denn betteln und mich vor ihr erniedrigen, wenn ich befehlen kann? Ich dachte es mir immer, daß es besser ist, abzunötigen, als zu betteln . . . Nun, allerdings, wo man nichts abdringen kann, da muß man auch betteln.«

»Kam es aber nicht vor, daß man Ihnen, anstatt Brot . . .?«

»Etwas auf den Buckel gab? . . . Nein, sie möchten es bloß probieren. Ich besitze, Väterchen, ein magisches Papierlein . . . Sobald ich dasselbe einem Bäuerlein zeige, so ist es sofort – mein Sklave. Wollen Sie, ich zeige es Ihnen!«

Ich hielt dieses ziemlich schmutzige und zerknüllte Papierlein in meinen Händen und besah es. Es war ein Durchgangspaß, ausgestellt für Pawel Ignatjef Promtoff, der auf administrativem Wege aus Petersburg ausgewiesen war, um damit von Astrachan nach Nikolajeff zu gehen. Auf dem Dokument war ein Amtssiegel des Astrachaner Polizeiamts aufgedrückt und die entsprechende Unterschrift darunter . . . alles, wie es sich gehört . . .

»Ich begreife nicht,« sagte ich, indem ich das Dokument seinem Inhaber zurückgab, »wie kommen Sie, ein aus Petersburg Ausgewiesener, aus Astrachan?«

Er lachte laut, und sein ganzes Wesen drückte seine Überlegenheit über mich aus.

»Und doch ist es sehr einfach! Denken Sie mal – man wies mich aus Petersburg aus und stellte es mir unter gewissen Ausnahmen frei, mir einen Wohnort zu wählen. Ich nannte, sagen wir zum Beispiel, Kursk. Ich komme hin und melde mich auf der Polizei . . . ›Ich habe die Ehre, mich vorzustellen.‹ Die Kursker Polizeiverwaltung kann mich unmöglich freundlich empfangen – hat sie doch von ihren eigenen Sorgen den Kopf voll. – Sie glaubt vor sich einen Gauner zu haben, und zwar einen äußerst gewandten Gauner, den man in der Hauptstadt durch die Macht und Hilfe des Gesetzes nicht loswerden konnte, und zu dessen Ausrottung administrative Maßregeln ergriffen werden mußten. Deshalb wird sie auch immer froh sein, mich irgendwohin abstoßen zu können, und sei es – mit dem Kopf in den Abgrund. Indem ich ihre Verlegenheit sehe, komme ich ihr nun aus Menschlichkeit zu Hilfe. ›Da ich‹ – so schlage ich ihr vor – ›mir selbst einen Wohnort gewählt habe, so wird es Ihnen vielleicht recht sein, wenn ich mir auch diesmal wieder ihn selbst wähle.‹ Die Polizei ist zufrieden, mich vom Halse zu haben. Ich sage ihr auch, daß ich bereit bin, aus dem Gebiete, in dem sie die Unantastbarkeit der Personen und des Eigentums zu wahren hat, mich zu entfernen; für meine Liebenswürdigkeit muß ich aber etwas auf die Reise haben. Sie geben mir fünf, zehn und mehr Rubel – je nach Stimmung und Charakter. Immerhin geben sie es mit Vergnügen. Ist es den Beamten doch lieber, fünf Rubel zu verlieren, als eine überflüssige Unruhe durch meine Person sich auf den Hals zu laden, nicht wahr?«

»Mag sein,« sagte ich.

»Jawohl, so ist es in der Tat. Und nun versehen sie mich mit einem Papierlein, das keine Ähnlichkeit mit einem Paß hat. In diesem Unterschied zwischen diesem Papierlein und einem Paß liegt gerade seine magische Kraft. Auf demselben steht geschrieben: Ad–mi–ni–stra–tiv herausgeschickt aus Pe–ters–burg! O, ich zeige dieses Papier dem Gemeindevorsteher, der in der Regel stockdumm ist, und von dem Inhalt des Papiers nicht das mindeste versteht. Er hat aber Angst vor ihm, ist doch ein Amtssiegel darauf. Ich sage zu ihm: ›Auf Grund dieses Papiers bist du verpflichtet, mir Nachtlager zu geben!‹ Er gibt. ›Du mußt mich verpflegen!‹ Er verpflegt. Anders kann er auch nicht, denn in dem Papier ist ja ausdrücklich gesagt: aus Petersburg administrativ. Weiß der Teufel, was dieses ›administrativ‹ sein mag. Vielleicht bedeutet es, daß sein Inhaber als Geheimpolizist ausgesandt ist, um Untersuchungen über Gewerbeverhältnisse, Falschmünzereien, heimliche Branntweinbrennereien anzustellen, vielleicht gar darüber, ob man fleißig die orthodoxe Kirche besucht. Sodann kann auch sein, daß es sich um Grund- und Bodenverhältnisse handelt. Denn wer kann klug daraus werden, was das ›administrativ aus Petersburg‹ bedeutet. Vielleicht bin ich irgendein verkleideter . . . Der Bauer ist dumm, was versteht er denn?«

»Ja, er versteht sehr wenig,« bemerkte ich.

»Das ist eben gut!« erklärte Promtoff sehr lebhaft und überzeugt, »eben so soll er auch sein, und lediglich in einer solchen Gestalt ist er auch unentbehrlich für alle, wie die Luft. Denn was ist ein Bauer? Ein Bauer ist für alle Menschen Nahrungsmaterial, das heißt ein eßbares Tier. Zum Beispiel ich, könnte ich denn auf der Welt existieren ohne den Bauer? Für die Existenz eines Menschen ist unbedingt nötig: Sonne, Wasser, Luft und der Bauer.«

»Aber der Boden?«

»Wenn nur der Bauer da ist, Erdboden wird schon sein! Man braucht ihm nur zu befehlen: ›he du, Bäuerlein, schaff mal Erde!‹ und die Erde ist geschaffen. Der Bauer kann ja gar nicht ungehorsam sein.«

Er sprach gern, dieser lustige und heitere Kauz! Wir waren schon längst aus dem Dorfe heraus, gingen an vielen Landhäusern vorbei und gelangten von neuem in ein Dorf, das gleichsam im vergilbten Herbstlaub versunken war. Promtoff schwatzte lustig wie ein Zeisig; ich hörte zu und dachte über den Bauer und über die für mich neue Parasitengestalt, die den bäuerlichen Wohlstand zernagt, nach. »Wann wird man dem Bauer mit etwas Gutem vergelten für all das Schlechte, was man ihm so reichlich antut? Hier neben mir geht ein Produkt des städtischen Lebens, ein zynischer und kluger Landstreicher, der auf Kosten der Säfte dieses Bauern lebt, ein Wolf, der seiner Wolfsmacht vertraut . . .«

»Hören Sie mal!« – ich erinnerte mich plötzlich eines Umstandes. »Wir begegnen uns unter Lebensverhältnissen, die mich die magische Kraft Ihres Papiers bezweifeln lassen, wie ist das zu erklären?«

»Ei!« lachte Promtoff, »das ist ganz einfach, ich habe schon diese Gegenden passiert, und nicht immer ist es ratsam, sich in Erinnerung zu bringen.«

Seine Offenheit gefiel mir. Offenheit ist immer eine gute Eigenschaft, und es ist zu bedauern, daß man ihr so selten unter anständigen Menschen begegnet. Ich hörte aufmerksam auf das ungezwungene Geschwätz meines Mitreisenden, prüfend, ob er wirklich der war, für den er sich ausgab.

»Hier ist vor uns ein Dorf . . . Wollen Sie, so will ich Ihnen die Macht meines Papierleins zeigen,« schlug Promtoff vor.

Ich wies dies Anerbieten zurück und ersuchte ihn, mir lieber zu erzählen, wofür man ihn mit diesem Papierlein belohnt hatte.

»Das ist eine lange Geschichte,« sagte er mit einer Handbewegung, »aber ich werde es Ihnen noch einmal erzählen, bis dahin wollen wir ausruhen und etwas beißen. Mit Nahrungsmitteln sind wir vorläufig versehen, ins Dorf zu gehen und den Nächsten zu beunruhigen, haben wir jetzt also noch nicht nötig.«

Wir gingen abseits vom Wege und setzten uns auf die Erde, unsere Mahlzeit abzuhalten. Hierauf streckten wir uns hin, recht faul geworden durch die heißen Sonnenstrahlen, wie durch den sanften Steppenwind, und schliefen ein. Als wir erwachten, stand die Sonne bereits rot und groß am Horizont, und über die Steppe lagerten sich die Schatten des südlichen Abends.

»Nun sehen Sie« – erklärte Promtoff – »das Geschick will es, daß wir die Nacht in diesem Dörflein zubringen sollen.«

»Kommen Sie, so lang es noch hell ist« – schlug ich vor.

»Haben Sie nur keine Angst, heute übernachten wir unter Dach.«

Er hatte auch recht. Im ersten Bauernhaus, wohin wir uns mit der Bitte um Nachtquartier wandten, lud man uns gastfreundlich ein, einzutreten.

Der Hauswirt, kernig von Gestalt und gutmütig, kam eben von dem Felde gefahren, wo er gepflügt hatte; seine Frau bereitete das Abendbrot. Vier schmierige Bengel, die in einer Ecke des Hauses aneinandergedrängt saßen, blickten von dort aus mit neugierigen, schüchternen Augen auf uns. Die behäbige Frau machte sich viel zu schaffen, flink und stillschweigend ging sie oft vom Hause in den Flur und zurück, indem sie bald Brot, bald Melonen, bald Milch hereinbrachte. Der Wirt saß uns gegenüber auf einer Bank und rieb sich nachdenklich das Kreuz, indem er uns fragende Blicke zuwarf. Es folgte bald darauf eine gewöhnliche Frage. »Wohin gehen Sie denn?«

»Wir gehen, guter Mann, von ›Meer zu Meer‹, bis zur Stadt Kiew,« antwortete lebhaft Promtoff in den Worten eines alten Wiegenliedes . . .

»Was gibt es dort in Kiew?« fragte der Mann nach einigem Nachdenken.

»Aber wissen Sie denn nicht, die heiligen Reliquien?«

Der Mann blickte auf Promtoff und spuckte schweigend. Hierauf fragte er: »Woher kommen Sie denn?«

»Ich aus Petersburg, er aus Moskau,« antwortete Promtof . . .

»So, so,« sprach der Bauer und zog seine Augenbrauen. »Was ist das, dieses Petersburg? Die Leute sagen, daß es auf dem Meer erbaut ist und vom Meer überflutet wird.«

Die Türe ging auf, und es erschienen zwei Bauern.

»Wir kommen zu dir, Michael,« erklärte einer von ihnen.

»Was führt euch zu mir?«

»Siehst du, es ist so eine Sache . . . Was sind das für Leute?«

»Diese da?« fragte der Wirt, indem er mit dem Kopfe nach uns zeigte.

»Jawohl.«

Der Wirt schwieg, sann eine Weile nach, drehte langsam den Kopf und erklärte:

»Weiß ich's denn? . . . woher soll ich das wissen?«

»Sie sind wahrscheinlich Wanderer?« fragten sie uns.

»Jawohl,« antwortete Promtoff.

Es stellte sich ein langes Schweigen ein, währenddem die drei Bauern uns anhaltend verdächtig und neugierig besahen . . . Endlich setzten sie sich alle um den Tisch und begannen laut schmatzend blutrote Melonen zu verzehren.

»Vielleicht ist einer von Ihnen auch Schriftkundiger?« wandte sich einer der Bauern an uns.

»Beide,« antwortete kurz Promtoff.

»Wissen Sie denn, was ein Mensch tun soll, wenn es ihn im Rücken sticht und brennt, so daß er nachts nicht schlafen kann?«

»Gewiß wissen wir es!« erklärte Promtoff.

»Na und was denn?«

Promtoff kaute lange an seinem Brote, hierauf reinigte er die Hände an seinen Lumpen und blickte sinnend an die Zimmerdecke, dann begann er in entschiedenem Tone:

»Man pflücke Brennesseln, befehle dem Weibe, in der Nacht mit diesen Brennesseln den Rücken zu reiben, hierauf streiche man Hanföl mit Salz auf die schmerzenden Stellen; das ist alles, was Sie tun können!«

»Und was wird daraus?« erkundigte sich ein Bauer.

»Gar nichts wird daraus,« sagte Promtoff achselzuckend.

»Gar nichts?«

»Jawohl, gar nichts.«

»Na aber, wird es denn helfen?« fragte der Bauer.

»Wird helfen.«

»Na, ich werde es versuchen . . . Danke Ihnen.«

»Zur guten Gesundheit!« sagte Promtoff mit ernster Miene.

Ein langes Stillschweigen, – Schmatzen der Melonenesser –, Geflüster der Kinder.

»Haben Sie vielleicht gehört,« begann der Hauswirt, »wie ist es . . . ist Ihnen vielleicht bekannt . . . vielleicht haben Sie in Petersburg oder in Moskau ›mit der Spitze Ihres Ohres‹ gehört . . . wegen Sibirien . . . darf man hinübersiedeln oder nicht? Der Dorfschulze – lügt er oder spricht er die Wahrheit? – sagte, daß es durchaus nicht geht.«

»Man darf nicht!« – erklärte Promtoff kurz.

Die Bauern sahen sich gegenseitig an, und der Wirt murmelte vor sich hin:

»Mag ihm doch ein Frosch in den Bauch kriechen.«

»Man darf nicht!« erklärte von neuem Promtoff, und sein Gesicht nahm einen verklärten Ausdruck an. »Und zwar darf man es deshalb nicht, weil überall so viel Boden vorhanden ist, als man haben will.«

»Richtig ist es zwar, daß für die Toten überall genug Erde vorhanden ist, für die Lebendigen aber wäre es noch zu wünschen, daß . . .« erklärte bitter ein Bauer.

»In Petersburg hat man beschlossen,« fuhr Promtoff feierlich fort, »den Bauern und Gutsbesitzern den Grund und Boden abzunehmen, für die Krone nämlich.«

Die Bauern stierten ihn wild mit den Augen an und schwiegen. Promtoff warf ihnen strenge Blicke zu und fragte:

»Abnehmen für die Krone, wissen Sie denn warum?«

Das Schweigen nahm einen gespannten Charakter an, und die armen Bäuerlein schienen vor Staunen und Erwartung zu bersten. Ich sah sie an und konnte meine Wut über die Art, wie Promtoff diese armen Leute zum besten hatte, kaum zurückhalten. Aber sein freches Lügengewebe aufdecken, hieße ja, ihn den Fäusten der Bauern preisgeben. Ich schwieg daher, niedergedrückt von diesem unerfreulichen Dilemma.

»So sprechen Sie doch, guter Mann,« bat leise und schüchtern einer der Bauern.

»Es soll der Boden deshalb eingezogen werden, damit die ganze Erde gerecht und richtig unter die Bauern verteilt wird. Es ist dort« – Promtoff führte dabei eine seitliche Handbewegung aus – »anerkannt worden, daß der Bauer der wahre Wirt der Erde ist, und deshalb wurde also verordnet, niemand nach Sibirien zu lassen. Die Verteilung ist nun abzuwarten.«

Einem der Bauern fiel bei diesen Worten ein Stück Melone aus der Hand. Sie alle blickten Promtoff auf den Mund, mit gierigen Blicken, und schwiegen, bestürzt über seine wunderbare Verkündigung. Nach einigen Sekunden ertönte gleichzeitig ein vierfacher Aufschrei:

»O heilige Mutter Gottes!« seufzte hysterisch die Frau.

»Ach, vielleicht lügen Sie?«

»So sprechen Sie doch, guter Mann!«

»Nun weiß ich, warum die Morgenröten in diesem Jahre so auffallend grell waren,« schrie überzeugt der Bauer mit den Kreuzschmerzen auf.

»Das ist bloß ein Gerücht,« sagte ich, »vielleicht stellt sich das noch als eine Erfindung heraus.«

Promtoff sah mich mit wahrem Staunen an und sprach erregt:

»Wieso ein Gerücht? Wieso eine Erfindung?«

Und es strömte aus seinem Munde eine Melodie der frechsten Lügen, – eine süße Musik für seine Zuhörer, außer mir. Er verfaßte viel Erheiterndes und Hinreißendes, so daß die Bauern bereit waren, »ihm in den Mund hineinzuspringen«, mir aber wurde eigentümlich zumute, diese phantasievolle Lüge anzuhören, die in ihrem Endresultate auf die Köpfe dieser beschränkten Leute ein großes Unglück heraufbeschwören konnte. Ich ging aus dem Hause und legte mich auf den Hof, darüber nachdenkend, wie ich das häßliche Spiel meines Reisekameraden vereiteln könnte. Noch lange klang seine Stimme in meinen Ohren, dann schlief ich ein . . .

Ich wurde von Promtoff bei Sonnenaufgang geweckt.

»Stehen Sie auf, wir gehen!« sprach er.

Neben ihm stand verschlafen der Hauswirt, und die Reisetasche Promtoffs war gespannt nach allen Seiten. Wir verabschiedeten uns von ihm und gingen fort. Promtoff war heiter, sang, pfiff und blickte mich von der Seite ironisch an. Ich überlegte eine Rede für ihn, während ich stillschweigend an seiner Seite schritt.

»Nun, warum kreuzigen Sie mich nicht?« fragte er plötzlich.

»Und Sie gestehen also, daß es Ihnen zukommt?« erkundigte ich mich trocken.

»Nun, das versteht sich doch von selbst. Ich verstehe Sie und weiß, daß Sie mich dafür hassen. Ich will Ihnen sogar sagen, wie Sie es machen würden. Wollen Sie? Doch – wozu diese Aufregung? Lassen Sie es lieber. Was für Schlimmes ist darin, daß die Bauern etwas schwärmen werden? Sie werden dadurch nicht klüger. Ich aber gewinne dadurch. Sehen Sie mal, wie sie meine Reisetasche vollgepackt haben!«

»Aber Sie könnten doch den Leuten zu einer Tracht Prügel verholfen haben.«

»Kaum . . . Und wenn auch? Was geht mich der fremde Rücken an? Wenn ich nur den meinigen schadlos halte. Das ist freilich unmoralisch, aber was geht es mich wieder an, ob es moralisch oder unmoralisch ist? Gestehen Sie doch, daß es ganz egal ist!«

»Wahrhaftig,« dachte ich, »der Wolf mag gar nicht so unrecht haben . . .«

»Nehmen wir sogar an, daß sie durch mich leiden werden, aber würde trotzdem auch nachher der Himmel nicht noch ebenso blau und das Meer ebenso salzig sein?«

»Tun Ihnen die Leute nicht leid?«

»Mit mir hat auch keiner Mitleid . . . Ich bin wie das Unkraut auf dem Acker, und jeder, dem mich der Wind unter die Füße weht, stößt mich zur Seite.«

Er war ernst und innerlich böse, und seine Augen glänzten rachgierig.

»Ich verfahre immer so, und zuweilen noch schlimmer . . . Einem Bauer im Soratower Gouvernement empfahl ich gegen Leibschmerzen, auf Schaben gegossenes Baumöl zu trinken . . . weil er geizig war. Welch eine Unzahl von Bosheiten und drolligen Späßen habe ich nicht schon im Laufe meiner Wanderung angerichtet? Wieviel albernen Aberglauben und Schwärmereien führte ich nicht in die geistige Atmosphäre der Bauern ein? Und überhaupt, ich geniere mich gar nicht, das zu gestehen . . . Warum sollte ich das? auf Grund welcher Gesetze, frage ich? Es gibt keine anderen Gesetze außer denen, die in mir sind! Das ist meine Überzeugung.«

»Ja, womit Sie prahlen!« . . .

»Mögen Sie immerhin von Ihrem Standpunkt so urteilen. Aber ich, sehen Sie, bin kein Freund von wohlanständigen Gesichtspunkten . . . Ich nehme an, daß, wenn man mich schlägt, ich nicht verpflichtet bin, stillzuhalten, sondern mich nach Kräften zu wehren.«

Als ich das hörte, dachte ich mir, daß es meinerseits sehr vernünftig sein würde, den ersten Psalm des Königs David mir vor die Seele zu führen und einem Sünder aus dem Wege zu gehen. Aber vorher wollte ich seine Lebensgeschichte noch kennen.

Ungefähr drei Tage brachte ich noch in seiner Gesellschaft zu, und in diesen drei Tagen überzeugte ich mich von vielem, was ich früher nur vermutet hatte. So ist mir zum Beispiel klar geworden, auf welchem Wege in den Reisesack Promtoffs verschiedene unnötige und alte Sachen hineingeraten waren, wie kupferne Leuchter, Spitzenstücke und Korallenschnüre. Ich erkannte, daß ich mit ihm meine Rippen Gefahren aussetzte, und daß ich sogar dahin geraten könnte, wo gewöhnlich derartige Sammler wie Promtoff hineingeraten. Es war dringend nötig, mich von ihm zu trennen . . . Aber seine Geschichte!

Und siehe da, eines Tages, als uns ein rauher Sturm das Vorwärtsschreiten unmöglich machte, und wir zitternd vor Kälte uns in einen Heuschober flüchteten, erzählte mir Promtoff, was ich gewünscht hatte.

 

II

Seine Lebensgeschichte

Nun wollen wir erzählen . . . Ihnen zum Frommen und zur Belehrung . . .

Ich beginne vom Vater. Mein Vater war ein strenger und wohlanständiger Mann. Er erlangte an seinem 65. Lebensjahre eine volle Pension und siedelte nach einem Kreisstädtchen über, wo er sich ein Häuschen gekauft hatte . . . Meine Mutter war eine Frau von gutem Herzen und heißblütigem Temperament, . . . so daß es auch möglich ist, daß mein Vater in Wahrheit gar nicht der meinige war. Er schonte mich nicht; für jede Kleinigkeit stellte er mich in den Winkel oder peitschte mich mit dem Riemen. Die Mutter dagegen liebte mich, und es gefiel mir bei ihr gut. Für jedes Zettelchen, das sie durch mich an ihre Herzensfreunde, und solche hatte sie immer, zu schicken pflegte, bekam ich von ihr gebührende Belohnung und für meine Bescheidenheit noch Besonderes.

Als der Vater verreist war, blieb ich auf der sechsten Klasse des Gymnasiums stecken, aus der ich bald darauf ausgeschlossen wurde, weil ich die Lehrer der Physik in Verwirrung gebracht hatte. Ich sollte nämlich Unterricht bei unsern Lehrern nehmen, nahm ihn aber beim Zimmermädchen des Inspektors. Der letztere verübelte mir das und jagte mich hinaus. Ich kam zum Vater und erklärte ihm, daß ich infolge eines Mißverständnisses des Herrn Inspektors aus dem Tempel der Wissenschaft ausgestoßen wurde. Der Inspektor aber hatte, wie es sich herausstellte, in einem Briefe dem Vater den ganzen Sachverhalt auseinandergesetzt, dabei aber wohlweislich die Tatsache verschwiegen, daß er mich am Orte des Vergehens überrascht hatte, nämlich in der Kammer des Zimmermädchens. Daß er selbst des Nachts im Schlafrock dort erschienen war, beim Eintritt in süßem Tone flüsternd: »Dunchen!« das mag seine Sache sein. Freilich schimpfte nun der Vater auf mich, so oft er mich erblickte, und die Mutter ebenfalls. Sie schimpften hin, sie schimpften her und beschlossen, mich nach Pskow zu schicken, wo ein Bruder meines Vaters wohnte. Man beförderte mich nach Pskow. Ich sehe, daß der Onkel roh und dumm ist, die Kusinen aber sind niedlich, – also es geht. Es stellte sich aber heraus, daß auch hier kein Heim für mich war. Nach drei Monaten schickte mich der Onkel nach Hause zurück mit der Beschuldigung, daß ich einen entarteten Lebenswandel führte und einen schlechten Einfluß auf seine Töchter ausübte. Von neuem schimpfte man auf mich, von neuem verschickte man mich, aber diesmal aufs Dorf zu einer Tante im Gouvernement Kasan. Die Tante war, wie ich fand, eine heitere, lebenslustige Frau, bei der eine ganze Menge junger Leute verkehrte. Aber zu jener Zeit waren alle von der törichten Mode angesteckt, verbotene Bücher zu lesen. Nun und siehe da, man sperrte mich ins Gefängnis, wo ich ungefähr vier Monate zugebracht haben dürfte. Die Mutter teilte mir schriftlich mit, daß ich sie getötet, der Vater berichtete mir, daß ich ihn entehrt hätte. Sehr langweilige Eltern hatte ich.

Wissen Sie, wenn dem Menschen erlaubt wäre, sich selbst Eltern zu wählen, das wäre viel bequemer als die jetzige Ordnung. – Nicht wahr? Nun, man entließ mich aus dem Gefängnis, und ich fuhr nach Nischni Nowgorod, wo eine verheiratete Schwester von mir wohnte. Ich fand die Schwester von einer großen Familie überbürdet und [sie] konnte nichts für mich tun. Als Ausweg erschien mir der Jahrmarkt. Ich trat in einen Chor von Sängern ein. Meine Stimme war gut, mein Äußeres war schön. Man stellte mich als Solisten an, ich sang auch. Sie denken womöglich, daß ich dabei tüchtig zu trinken pflegte, nein, ich trinke auch jetzt fast gar keinen Schnaps, und wenn ich es einmal tue, dann nur als Erwärmungsmittel. Ich war niemals das, was man einen Trinker nennt. Indessen betrank ich mich wohl einmal, wenn es gute Weine, namentlich Champagner zu trinken gab. Geben Sie mir Marsala, da betrinke ich mich unbedingt, weil ich diesen Wein liebe wie Frauen. Die Frauen liebe ich bis zum Wahnsinn . . . Es kann aber auch sein, daß ich sie gerade hasse . . . weil ich, sobald ich von der Frau das, was ich wollte, empfangen habe, ich sofort das unwiderstehliche Verlangen empfinde, ihr etwas Schimpfliches, Gemeines anzutun. So etwas, wissen Sie, daß sie weder Schmerz noch Erniedrigung, sondern daß sie die Empfindung haben soll, als wenn ihr Blut und das Mark ihrer Knochen gesättigt sei von einer häßlichen Vergiftung, und daß sie das ganze Leben in sich diese Vergiftung tragen und jeden Augenblick fühlen sollte. – Nun ja! Warum ich das den Frauen antue, weiß ich nicht, man kann es auch nicht erklären. Sie waren mir immer gewogen, weil ich hübsch und kühn war. Aber weil sie lügenhaft sind, möge sie der Teufel holen! Ich liebe es, wenn sie weinen und stöhnen – du siehst es an, du hörst es und denkst –, aha! dem Diebe geschieht recht!

Nun also, ich singe ganz nett und lebe heiter. Einmal erscheint vor mir ein glattrasierter Mann und fragt: »Haben Sie auf dem Theater schon zu spielen versucht?« Ich spielte wohl im häuslichen Spektakel. Der Betreffende fragt weiter: »Wollen Sie auf Vaudevillerollen für 25 Rubel monatlich gehen?« Nun, so fuhren wir nach Perm. Ich spiele, ich singe in Divertissements – das Äußere eines leidenschaftlichen Brünetten, die Vergangenheit eines politischen Verbrechers. Die Damen sind von mir entzückt. Man gab mir zweite Liebhaberrollen, ich spielte sie. »Versuchen Sie,« sagte man mir, »Heldenrollen.« Ich versuchte, in den »Irrlichtern« den Max zu spielen und fühlte selbst –, es gelang! Ich spielte die Saison durch. Zum Sommer wurde eine überaus heitere Tournee zusammengestellt. Man spielte in Wjatka; man spielte in Ufa, selbst in Jelabuga. Zum Winter kehrten wir wieder nach Perm zurück.

Und in diesem Winter fühlte ich Haß und Widerwillen gegen die Menschen. Du gehst heraus – weißt du – auf die Szene, da starren dich sofort Hunderte von Dummköpfen und Niederträchtigen an. Es überläuft dich ein ängstlicher Schauder, und du empfindest ein Stechen, als wenn du dich in einen Ameisenhaufen hineingesetzt hättest. Sie sehen auf dich, wie auf ihr Spielzeug, wie auf eine Sache, die sie sich für einen Abend zur Benutzung gekauft haben. Ihnen steht es frei, dich zu verurteilen oder dich zu loben. Und siehe da, sie beobachten, ob du fleißig genug deine Kunststücke vor ihnen ausführst. Finden sie dich darin tüchtig, dann schreien sie wie die Esel an der Leine, sie brüllen, und du hörst sie an und fühlst dich befriedigt. Für eine Weile vergißt du, daß du ihr Eigentum bist. Hierauf erinnerst du dich daran, und dafür, daß dir ihr Beifall angenehm war, schlägst du dich selbst mit Fäusten.

Schauderhaft widerlich war mir das Publikum, und oft überkam mich die Lust, auf dasselbe von der Bühne aus zu spucken, es in den kräftigsten Ausdrücken zu beschimpfen. Zuweilen fühlst du es, wie ihre Blicke gleich Stecknadeln dir in den Körper hineindringen, und wie sie gierig warten, daß du sie kitzelst. Sie erwarten es mit der Zuversicht jener Gutsbesitzerin, der die Mägde in der Nacht die Sohlen streichelten. Du fühlst diese ihre Erwartung und denkst, wie gut wäre es, so ein langes Messer in der Hand zu haben, daß man mit ihm allen Zuschauern der ersten Reihe die Nasen abschneiden könnte. Der Teufel möge sie alle holen!

Aber habe ich mich da nicht, wie es scheint, allzusehr einer lyrischen Stimmung hingegeben? Also ich spielte, verachtete dabei gründlich das Publikum und wollte vor ihm davonlaufen. Darin kam mir die Gattin des Staatsanwalts zu Hilfe. Sie gefiel mir nicht, und das eben mißfiel ihr. Sie brachte ihren Gatten in Bewegung, und infolgedessen fand ich mich plötzlich in der Stadt Saransk ein, – so wie ein Stäubchen vom Wind wurde ich von den Ufern der Kama fortgetragen. Ach! Alles ist wie ein Traum in diesem abscheulichen Leben.

Ich sitze in der Stadt Saransk, und mit mir sitzt daselbst die junge Frau eines jungen Permer Kaufmanns. Es war ein entschlossenes Weib und hatte große Liebe zu meiner Kunst. Nun sitzen wir hier, ohne Geld, ohne Bekanntschaften. Mir ist's langweilig, ihr auch. Sie begann vor Langerweile mir Vorwürfe zu machen, daß ich sie nicht liebe. Anfangs duldete ich das, nachher wurde es mir lästig, und ich sagte ihr: »So gehe doch von mir zu allen Teufeln!« – »So also?« entgegnete sie, ergriff den Revolver und feuerte auf mich los. Die Kugel drang mir direkt in die linke Schulter; ein wenig tiefer – und ich wäre bereits im Paradies. Nun, ich fiel allerdings auch hin. Sie erschrak, sprang vor Angst in den Brunnen und ertrank.

Man brachte mich nach dem Krankenhaus. Nun, selbstverständlich, erschienen Damen. – Diese brauchst du nicht mehr »mit Brot zu nähren«, wenn sie nur an einer Liebesangelegenheit sich beteiligen können. Sie machten sich mit mir zu schaffen, bis ich auf den Beinen war; und sobald ich aufgestanden war, verschafften sie mir eine Sekretärstelle bei der Polizei. Wie meinen Sie? Ist nicht bei der Polizei angestellt zu sein besser, als unter Aufsicht derselben zu stehn? So lebte ich nun ein, zwei, drei Monate . . .

Eben in diesen Tagen empfand ich, zum erstenmal in meinem Leben, eine niederdrückende, die Seele zermarternde Langeweile.

Es ist eine der abscheulichsten aller Stimmungen, die den Menschen plagen und sein Gemüt entstellen. Alles um dich her hört auf, interessant zu sein, und du hegst immer ein Verlangen nach etwas Neuem. Du wirfst dich hin, wirfst dich her, fragst, grübelst, findest etwas – und greifst zu, aber gar bald siehst du ein, daß es nicht das war, was du brauchst . . . Du fühlst dich wie gefangen von etwas Dunklem, fühlst dich im Innern gefesselt, unfähig, mit dir selbst in Frieden zu leben; und eben dieser Friede tut dem Menschen am meisten not. Ein abscheulicher Zustand!

Dies brachte mich auch dahin, daß ich mich verheiratete. Ein solches Verfahren von einem Menschen mit meinem Charakter ist ja auch nur möglich aus Kummer oder aus Katzenjammer.

Meine Frau war die Tochter eines Pfarrers. Sie lebte bei ihrer Mutter, – der Vater war gestorben –, und so genoß sie volle Freiheit. Sie hatte ein eigenes Häuschen, ja man kann sogar sagen ein Haus; auch hatte sie Geld. Sie war ein hübsches Mädchen, nicht dumm, von heiterem Charakter; sie liebte aber außerordentlich, Bücher zu lesen. Und das eben war sowohl für sie als für mich von schlechter Wirkung. Immerfort pflegte sie aus ihren Büchern allerlei Lebensregeln aufzuschnappen, und kaum hatte sie irgendeine Regel aufgegriffen, so kam sie damit sofort zu mir. Ich aber konnte schon von der Zeit »meiner ersten Nägel« die Moral nicht ausstehen . . .

Anfangs lachte ich meine Frau aus, später wurde es mir lästig, sie anzuhören. Ich sah, daß sie fortwährend durch Einfälle, die sie Büchern entnahm, zu glänzen suchte; das aus Büchern Gelesene steht einer Frau aber so schlecht, wie dem Lakaien der Anzug seines Herrn. Wir fingen an, uns gegenseitig Vorwürfe zu machen . . . Inzwischen machte ich die Bekanntschaft eines Pfaffen. Dieser Pfaffe war ein eigentümlicher Mensch, Gitarrespieler, Sänger und ein Meister im Trinken. Für mich war er der beste Mann der Stadt, denn in seiner Gesellschaft ging es immer lustig zu. Meine Frau aber schimpfte über diese Bekanntschaft und wollte mich durchaus in ihre Gesellschaft von Büchermenschen und Pharisäern hineinziehen. Es erschienen bei ihr an den Abenden alle ernsten und besseren Männer der Stadt, wie sie dieselben nannte, für mich aber waren sie zu ernst und drückend. Ich selbst las damals zwar auch gern, aber ich konnte mich niemals über etwas Gelesenes in Unruhe versetzen, und ich sehe auch gar nicht ein, weshalb. Aber sie – die Frau und all die anderen Bekannten, – sobald sie irgendein Büchelchen gelesen hatten, gerieten sie in solche Aufregung, als ob jedem von ihnen hundert Splitter unter die Haut getrieben wären. Meiner Meinung nach liegt die Sache so: ein Büchelchen? schön! – ein interessantes? noch besser! Aber jedes Büchlein hat ein Mensch geschrieben, und über seinen Kopf hinaus kann doch keiner springen. Alle Bücher werden zu einem Zweck geschrieben; alle wollen beweisen, daß das Gute gut, und das Schlechte schlecht ist. Der Sinn wird immer derselbe bleiben, ob du hundert oder tausend davon durchgelesen hast. Meine Frau verschlang die Bücher dutzendweise, so daß ich ihr direkt sagte, ich würde viel besser leben, wenn ich den Pfaffen geheiratet hätte. Dieser allein rettete mich auch vor Langerweile, und wenn ich ihn nicht gehabt hätte, wäre ich meiner Frau davongelaufen. So kam es, daß, sobald die Pharisäer zu ihr kamen, ich zum Pfaffen ging. Auf diese Weise lebte ich ungefähr anderthalb Jahre. Vor Langerweile half ich dem Pfarrer den Gottesdienst abhalten; bald las ich die Apostel, bald sang ich aus dem »Cliros« stehend: »Von meiner Jugend an martern mich meine Leidenschaften.«

Während dieser Zeit litt ich sehr viel, und von vielen meiner Sünden werde ich am Jüngsten Gericht freigesprochen werden wegen dieser Leidenszeit. Aber da kam zu meinem Pfaffen eine Nichte zu Besuch. Sie kam deshalb, weil er Witwer war und auch aus dem Grunde, weil ihn die Schweine gefressen hatten, das heißt nicht ganz, sondern nur so, daß sie sein Aussehen entstellt hatten. Er war nämlich draußen auf dem Hofe betrunken hingefallen und eingeschlafen, da kamen die Schweine und fraßen ihm ein Ohr, eine Backe und den Hals an. Sie wissen doch, daß die Schweine allen Dreck fressen! Von diesem Schaden erkrankte mein Pfaffe und ließ die Nichte herkommen, daß sie ihn pflegte und ich sie. Wir, ich und sie, nahmen uns also der Sache mit großem Eifer und mit Erfolg an. Meine Frau aber erfuhr, was da vorging, und schimpfte selbstverständlich. Was blieb mir nun zu tun übrig? Ich begann auch zu schimpfen. Sie sagte zu mir: »Heraus aus meinem Hause!« Ich dachte nach und ging in Frieden fort – ganz aus der Stadt. So löste ich die Bande meiner Ehe . . . Meine Frau, wenn sie noch lebt, zählt mich gewiß schon zu den Toten.

Ich fühlte niemals das geringste Verlangen, sie wiederzusehen, und ich nehme an, daß auch sie mich bereits vergessen hat und in Frieden lebt. Sie hat mir seinerzeit arg zugesetzt.

So kam ich wieder als freier Mann nach Pensa. Ich versuchte bei der Polizei unterzukommen, fand aber keine Stelle für mich frei, anderswo hatte mein Versuch ebenfalls nur ungünstigen Erfolg! So trat ich denn bei den Psalmensängern ein . . . Ich trat ein und sang und las Psalmen. In der Kirche wiederum das Publikum; von neuem tauchte in mir die alte Abneigung gegen dasselbe auf –, ein miserabler Verdienst und eine abhängige Lebensstellung. Schlecht ging es mir. Da kam mir eine Kaufmannsfrau zu Hilfe. Es war eine dicke, gottesfürchtige Frau, und das Leben war ihr langweilig. Nun gewann sie mich lieb, und um der geistlichen Erbauung willen verlangte sie oft nach meinem Besuch. Ihr Mann war im Irrenhaus. Sie selbst verwaltete ein großes Mehlgeschäft. Ich machte mich aber vorsichtig an sie heran. »Es ist Ihnen wohl schwer, alles zu bewältigen, Gnädigste.« »Jawohl, sehr schwer.« »Nehmen Sie mich doch zum Gehilfen.« »Du würdest mich doch betrügen,« meinte sie und nahm mich schließlich doch an. Nun begann für mich ein sehr gutes Leben. Die Stadt aber war sehr häßlich, weder Theater, noch gute Restaurants, noch interessante Menschen waren da . . . Selbstverständlich wurde es mir langweilig. Da schrieb ich an meinen Onkel einen Brief: »Im Laufe meiner fünfjährigen Abwesenheit von Petersburg bin ich sehr vernünftig geworden. Ich bitte um Verzeihung für alles, was ich getan habe, und verspreche, in Zukunft dergleichen zu vermeiden.« Unter anderem fragte ich, ob es für mich nicht möglich sei, in Petersburg wohnen zu können. Der Onkel antwortete: »Man kann, aber man muß vernünftig sein.« Da verabschiedete ich mich von meiner Kaufmannsfrau.

Wissen Sie, das war ein dummes, fettes, derbes und unschönes Weib. Ich hatte unter meinen Geliebten sehr hübsche, feine und vernünftige Weibchen . . . N–ja–a . . . Ich kam mit ihnen aber schlecht auseinander; entweder jagte ich das Weib mit Wut und Verachtung fort, oder das Weib tat mir irgendeine Gemeinheit an. Dagegen hat mir diese Frau eine Achtung vor ihr eingeflößt . . . durch ihre Einfachheit . . .

Ich sagte ihr: »Lebe wohl!«

»Lebe wohl,« sagte sie, »mein Schatz! Mag es dir gut gehen . . .«

»Tut dir denn die Trennung nicht leid?«

»Wie soll es mir denn nicht leid tun, einen so hübschen und vernünftigen Mann zu verlieren? Ewig würde ich mich von dir nicht trennen, aber es muß doch geschehen . . . Ich kenne dich wohl . . . du bist ein freier Vogel! . . . Nun, so gehe in Gottes Namen!« – Dabei weinte sie bitterlich . . .

Da sagte ich: »Verzeih' mir doch, Gnädigste!«

»Ach, was . . . zu danken habe ich dir, nicht zu verzeihen!«

»Wieso denn danken? wofür denn danken?«

»Aber wie denn anders,« sagte sie, »bist du doch so ein Mann, der mich leicht an den Bettelstab hätte bringen können; ich hatte alles in deinen Händen, du konntest mich nach Belieben berauben, ohne daß ich dich darin zu hindern vermocht hätte; du wußtest es auch . . . du gehst aber ehrlich ab . . . Ja, ich weiß auch, wieviel du bei mir im Laufe der Zeit verdient hast – zusammen ungefähr 4000 Rubel. – Ein anderer an deiner Stelle würde den ganzen Brei aufgezehrt und auch das Gefäß zertrümmert haben« . . .

N–ja–a . . .

Sehen Sie mal, so sprach das Weib . . . Das war ein liebes, nettes Weib!

Ich küßte sie zum Abschied, und mit einem Achtungsgefühl für sie, mit leichtem Herzen und mit 5000 Rubel in der Tasche – sie hatte sich verrechnet – erschien ich nun in Petersburg. Hier lebte ich wie ein Edelmann, besuchte das Theater, machte Bekanntschaften, spielte auch manchmal vor Langerweile auf der Bühne, viel mehr aber – Karten! Eine schöne Beschäftigung, das Kartenspiel: du sitzest am Tisch, und im Laufe der Nacht stirbst du zehnmal und lebst wieder auf! Unheimlich wird dir zumute, wenn du weißt, daß in dem folgenden Augenblick dein letzter Rubel totgeschlagen wird und du ein Bettler geworden bist . . . Geh' hinaus . . . stiehl . . . oder erschieß' dich . . .! Ein ebenso eigentümlicher, wunderbar anregender Genuß ist es, zu merken, wie dein Nachbar oder Partner dasselbe unheimlich kitzelnde Gefühl bei seinen letzten Rubeln verspürt, das du selbst eben durchlebt hast . . . Auf die roten und blassen Gesichter der Mitspielenden zu sehen, wie sie vor Angst zu verspielen und vor Gier nach Gewinn in grenzenlose Erregung geraten und zwischen Furcht und Hoffnung, zwischen Wut und Entzücken hin und her geworfen – und ihre Karten eine nach der andern geschlagen werden . . . o, in welch wunderliche Wallung bringt es Blut und Nerven! . . . Du schlägst eine Karte, und es ist, als wenn du einem Menschen stückweise das Fleisch samt Blut und Nerven aus dem Herzen herausrissest . . . Das ist recht saftig! . . . Dieses fortwährende Riskieren, auf die Gefahr hin unterzugehen . . . das ist das Beste am Leben . . . Und wie drückt doch der Dichter diesen Gedanken so treffend aus:

»O, Wonnerausch – im Kampfesbraus,
Dort, an des düstern Abgrunds Rand!«

Ja, ein großer Genuß liegt darin . . . und überhaupt fühlst du dich nur dann wohl, wenn du etwas riskierst. Je mehr aufs Spiel gesetzt, desto mehr Leben! Haben Sie schon einmal hungern müssen? Mir passierte es schon, daß ich zwei Tage nacheinander hungern mußte . . . Und eben dann, wenn dein Magen sich selbst zu verzehren beginnt, wenn du fühlst, wie deine Eingeweide »trocknen« und dein »Absterben« nahe ist – dann bist du bereit, für ein Stückchen Brot einen Menschen oder ein Kind zu töten . . . Du bist zu allem bereit . . . Und eben in diesem Bereitsein, ein Verbrechen zu begehen, liegt eine besondere Poesie . . . das ist ein wertvolles Empfinden, und, wenn du es durchgemacht hast, achtest du dich selbst mehr . . .!

Aber setzen wir doch unsere bunte Erzählung fort; sie dehnt sich ohnehin in die Länge wie eine Begräbnisprozession, in der ich die Rolle des Verschiedenen einnehme . . . Pfui! . . . Was für ein närrischer Vergleich mir in den Kopf gekrochen ist . . . Na, meinetwegen, er ist vielleicht auch richtig . . . Warum indessen nicht vernünftiger werden?

Bei Herrn Balzac findet sich irgendwo ein sehr richtiger und treffender Ausdruck: »Es ist dumm wie ein Fakt.« Dumm? Nun es sei! Was geht mich der Unterschied zwischen dumm und vernünftig an?

Also ich lebte in Petersburg. Das ist eine schöne Stadt, aber sie wäre doppelt so schön, wenn man die Hälfte ihrer Einwohner im Meer, das die Stadt umspült, ersäufte. Ich lebte also und verrichtete verschiedene Dinge, wie sie einem Menschen zukommen. Ich gefiel einer Dame, und sie erwarb mich, um mich auszuhalten. Wurden Sie niemals von Damen ausgehalten? Versuchen Sie es einmal, es ist interessant. Sie sind gleichzeitig Sache und Herrscher Ihrer Dame. Sie hat Sie gekauft wie ein Spielzeug, aber Sie spielen mit ihr, die Sie gekauft hat. Schließlich befindet sich diese Käuferin in Ihren Händen, und zwar in einer sehr lächerlichen Situation – weil Sie vor ihr immer die Rolle eines Pantoffels spielen können, der ein Hut sein will und fordert, daß man ihn auf dem Kopfe tragen soll. So lebte ich nun ein, zwei, drei Jahre – alles ging gut, das heißt heiter und lustig. Da ereignete sich eine operettenartige Geschichte. Es kam nämlich ein sonst sehr guter Mann zu mir, der sich aber mit einer schlechten Sache befaßte – mit der Politik nämlich, derentwegen ich übrigens seinerzeit feste brummen mußte. Er kam und sprach: »Erlange doch für mich einen Paß!« »Was für einen?« »Na,« – sagte er, »für ein Fräulein, brünett, zwanzig Jahre alt, mittlerer Wuchs, alles übrige – gewöhnlich.« »Wozu?« »Nun, es existiert nämlich ein solches Mädchen, es ist aber nötig, daß sie nicht mehr existiert, und so will ich sie unter fremdem Namen verheiraten.« »Na, warum denn nicht? Das ist ja ein drolliges Geschichtchen.« Zufällig war auch bei meiner Dame eine Zofe, die diesen Anforderungen ganz genau entsprach . . . Ich nahm ihren Paß und gab ihn diesem Scharlatan. Schön! Es verging eine lange Zeit.

Auf einmal – Krach! erschienen zwei Gendarmen und sagten: »Bitte schön!« Ich ging mit . . . Irgendein grauer und außerordentlich strenger Herr fragte mich: »Haben Sie einem Mädchen soundso einen Paß verschafft?« »Jawohl, das stimmt, ich weiß aber nicht, ob es gerade für dieses Mädchen war.« »Wieso?« »Na, aber mein Freund vergaß wirklich, mir das Mädchen zu nennen.« Der strenge Mann glaubt's mir nicht. »Wie ist das möglich?« sagte er. »Sie kannten das Mädchen nicht und gaben ihr doch einen Paß?« »Ich gab ihn nicht dem Mädchen.« »Wem denn?« Ich sagte, wem. »Aha! –« sagte er – »so ist er nun endlich hineingeraten; ich danke für die Auskunft.« Sofort erließ er auch einen Befehl, meinen Freund zu fassen, mich aber in eine geräumige Zelle einzusperren. Nach zwei Tagen konfrontierte man mich mit meinem Freund, der selbstverständlich meine Worte bestätigte. Nun fragte man mich, wohin ich wegfahren möchte aus Petersburg. Ich sagte: »Ist es nicht möglich nach Zarskoje Sjelo?« »Nein« – erwiderte man – »weiter!« »Nach Russa vielleicht?« »Noch weiter!« Na, wir einigten uns auf Tula. »Sie können« – sagte er – »noch weiter fahren, wenn Sie Lust haben sollten, aber hierher dürfen Sie vor drei Jahren sich nicht wieder melden. Ihre Dokumente werden Sie vorläufig bei uns lassen, zum Andenken an Ihre Person, dagegen bekommen Sie hier ein Durchgangszeugnis bis Tula. Nehmen Sie es in Empfang und bemühen Sie sich, binnen vierundzwanzig Stunden von hier zu verschwinden.« Nun, was ist zu machen, dachte ich mir. Man muß seinem Vorgesetzten gehorchen. Wie soll man ihm denn den Gehorsam verweigern?

So verkaufte ich also meine ganze Habe meiner Wirtin für ein Butterbrot und ging zu meiner Dame. Sie weigerte sich, mich zu empfangen, die Hündin. Ich versuchte es bei zwei, drei anderen Bekannten, sie begegneten mir wie einem Aussätzigen. Ich spuckte auf alle und ging nach einer gottgefälligen Stätte, um dort die letzten Stunden meines Lebens in Petersburg zuzubringen. Gegen sechs Uhr morgens ging ich von dort ohne einen Groschen in der Tasche, rein alles in Karten verspielt. So gründlich hatte mich ein Beamter gerupft, daß ich sogar in Rührung vor seinem Talent alles ohne Überlegung verspielte . . . Ja . . . Nun, wohin sollte ich mich jetzt wenden! Ich ging, ich weiß nicht warum, auf den Moskauer Bahnhof, trieb mich dort herum und sah, daß ein Zug gerade im Begriff war, nach Moskau abzufahren. Ich stieg in einen Wagen, setzte mich hin, fuhr zwei Stationen und dann warf man mich mit Triumph aus dem Wagen hinaus. Man wollte ein Protokoll aufnehmen, ließ mich aber, als ich mein Zeugnis zeigte, in Ruhe. »Gehen Sie weiter« – sagten sie. Ich ging. Nachdem ich nun ungefähr zehn Werst gegangen war, wurde ich müde und fühlte, daß ich essen mußte. Da sah ich ein Wächterhäuschen, darin der Eisenbahnwärter. Ich wandte mich an ihn: »Gib mir doch, Freundchen, ein Stückchen Brot.« Er sah mich an und gab mir nicht allein Brot, sondern auch eine große Tasse Milch. Bei ihm übernachtete ich auch, das erstemal während meines Landstreicherlebens, unter freiem Himmel auf Heu, hinter der Hütte. Am Morgen erwachte ich – die Sonne schien, die Luft erquickend, – grüne Fluren, Vogelgezwitscher! Ich nahm noch Brot von dem Wärter und ging weiter.

Sie müssen es begreifen, – im Landstreicherleben gibt es etwas Verlockendes und Hinreißendes. Es ist so angenehm, sich frei von Pflichten zu fühlen, frei von den verschiedenen kleinen Strickchen, die deine Existenz unter Menschen fesseln, frei von allen Kleinigkeiten, die dein Leben so verunstalten, daß es aufhört, ein Vergnügen zu sein und nur noch als eine lästige Bürde, als ein schwerer Korb voll Pflichten empfunden wird . . . so die Pflichten, sich anständig anzuziehen, anständig zu sprechen und alles so zu tun, wie es gang und gäbe ist, aber nicht so, wie du es möchtest. Begegnet man einem Bekannten, muß man ihm, weil es so gebräuchlich ist, »guten Tag!« zurufen und nicht »krepiere!«, was man zuweilen doch lieber sagen möchte.

Überhaupt, wenn man die Wahrheit sprechen wollte, sind all diese feierlich-närrischen Beziehungen, die unter den anständigen städtischen Menschen sich eingebürgert haben, nichts als eine langweilige Komödie! Und dazu noch eine ganz gemeine, niederträchtige Komödie, weil niemand den andern in seiner Gegenwart einen Narren oder Schuft nennt, und wenn es einmal geschieht, so ist es nur in einem Anfall jener Aufrichtigkeit, die man Bosheit nennt . . .

Im Landstreicherleben dagegen befindest du dich außerhalb all dieser Plackereien, und eben der Umstand, daß du dich ohne Bedenken von verschiedenen Bequemlichkeiten des Lebens lossagen und ohne dieselben bestehen konntest – erhebt dich in deinen eigenen Augen so angenehm. Du wirst zu dir selbst viel nachsichtiger . . . wiewohl ich gegen mich selbst niemals besonders streng war; ich zermarterte mich nie, und die Zähne meines Gewissens taten mir niemals weh. Ich kratzte mein Herz niemals mit den Krallen meines Verstandes. Ich, sehen Sie, habe mir schon früh, für mich selbst unbemerkt, die allereinfachste und klügste Philosophie fest angeeignet: Wie du auch leben wirst – sterben mußt du immer. Warum denn mit sich selbst streiten? Warum sich selbst am Schwanze nach links zerren, während deine Natur mit der ganzen Macht dich nach rechts zwingt? Und die Menschen, die dich entzweireißen wollen, kann ich nicht ausstehen. – Wozu wenden sie denn ihre Mühe an? Ich pflegte mich mit solchen Käuzen zu unterhalten. Du fragst einen solchen: Warum, Freund, stürmst du denn? warum, Bruder, drängst du so? Ich strebe, sagt er dir, nach Selbstvervollkommnung . . . Wozu denn? – Wieso: »Wozu denn? In der Vervollkommnung des Menschen ist ja der Sinn des Lebens enthalten.« – Nun, ich verstehe das nicht. Sehen Sie, in der Vervollkommnung eines Baumes sehe ich einen klaren Sinn. Er vervollkommnet sich, bis er zu einem Zweck tauglich wird. Dann braucht man ihn zur Deichsel, zu Särgen oder noch zu anderen für den Menschen nützlichen Dingen. – Nun schön! Du vervollkommnest dich – das ist deine Sache; aber sage mir doch, warum du dich an mich herandrängst und mich zu deinem Glauben bekehren willst? Daher nämlich, sagt er, weil du ein Vieh bist und keinen Sinn im Leben suchst. Aber ich habe ihn ja gefunden, wenn ich ein Vieh bin und das Bewußtsein meiner Tierheit mich durchaus nicht belästigt. Du lügst, sagt er, wenn du dieses erkannt hast, mußt du dich bessern. Wie soll ich mich denn bessern? Lebe ich doch in Frieden mit mir selbst, Verstand und Gefühl sind in mir einig. Wort und Tat in voller Harmonie! Das ist, sagt er, Gemeinheit und Zynismus . . . Und so pflegen sie alle zu urteilen. Ich fühle, daß sie lügen, daß sie Narren sind; ich fühle es, und kann sie daher nicht genug verachten. Wenn, – o, ich kenne ja die Menschen! – wenn du alles, was heute gemein, schmutzig und böse, morgen als ehrenhaft, sauber und gut erklärst, so wird man dich gern als ehrenhaften, saubern und tugendhaften Menschen preisen. Und solche Charakterlosigkeit offenbart sich in ihrer widerlichsten Gestalt besonders vor dem, der die Macht besitzt, die Feigheit der Herzen zu knechten. Ja, so ist's!

»Das geht zu weit,« sagen Sie? – Das tut nichts; mag es auch allzuweit gehn, dafür ist es aber auch richtig . . . Sehen Sie, ich sage mir so: Diene dem Herrn oder dem Teufel, aber nicht dem Herrn und dem Teufel. Ein rechter Schuft ist immer besser als ein mangelhafter ehrlicher Mensch. Es gibt Weißes, es gibt Schwarzes, aber mischst du beides, so gibt es immer etwas Schmutziges. Ich begegnete während meines ganzen Lebens nur unbedeutenden ehrlichen Leuten, solchen, wissen Sie, bei denen die Ehrlichkeit aus Stückchen zusammengesetzt war, genau so, als ob sie dieselbe unter den Fenstern aufgelesen hätten, wie Bettler eine Gabe. Das ist eine Ehrlichkeit, schlecht zusammengeflickt und überall voller Risse . . . Und dann gibt es noch eine Ehrbarkeit, die durch Lesen von Büchern erworben wird; sie dient dem Menschen, wie seine besseren Beinkleider, für feierliche Gelegenheiten. Ist doch überhaupt alles Gute bei den meisten sogenannten guten Menschen Festtägliches und Gemachtes; sie tragen es nicht in sich, sondern bei sich zur Schau, um damit voreinander zu glänzen. Ich begegnete Menschen, die ihrer Natur nach wirklich gut waren, aber man trifft sie selten und fast nur unter den einfachen Leuten, außerhalb der Mauern der Städte. Bei solchen Menschen fühlst du sofort, sie sind gut! Und du siehst – sie sind gut geboren . . . Ja! . . .

Im übrigen hole sie alle der Teufel, die Guten wie die Schlechten! Was ist mir Hekuba . . .

Ich weiß, daß ich Ihnen Tatsachen meines Lebens kurz und oberflächlich erzähle, und daß es Ihnen schwer sein muß, zu verstehen, warum und wieso . . . Aber das ist schon meine Sache. Ja, das Wesentliche ist nicht in den Ereignissen, sondern in den Stimmungen. Geschehnisse sind vieles vollbringen, wenn ich nur Lust habe; ich nehme z. B. ein Messer und stoße es Ihnen in die Kehle, nun, das wäre eben ein Kriminalfaktum! Oder ich steche mir dasselbe durch die Brust, das wäre wiederum ein Faktum. Überhaupt kann man die verschiedenartigsten Dinge vollführen, wenn es die Stimmung erlaubt. Die ganze Sache liegt in den Stimmungen, sie erzeugen die Taten, sie schaffen die Gedanken und die Ideale. Und wissen Sie, was ein Ideal ist? Ja! Es ist einfach eine Krücke, ersonnen zu jener Zeit, als der Mensch noch ein schlechtes Vieh war und auf den Hinterbeinen zu gehen anfing. Den Kopf von der grauen Erde erhebend, erblickte er über sich den blauen Himmel und war von seiner Pracht und Herrlichkeit geblendet. Dann sagte er sich in seiner Dummheit: »Ich werde ihn erreichen!« Und seit der Zeit schleppt er sich mit dieser Krücke auf der Erde herum, sich mit Hilfe derselben bis auf den heutigen Tag noch immer auf den Hinterbeinen haltend.

Sie werden es mir glauben, daß ich nicht in diesen Himmel will; ich habe in mir niemals ein solches Verlangen empfunden. Ich sagte dies bloß, um ein schönes Wort zu gebrauchen.

Indessen bin ich von meiner Geschichte wieder abgeschweift; na, das tut aber nichts. Wickelt man doch bloß im Roman die Knäuel der Geschehnisse regelrecht ab, unser Leben dagegen ist ein unregelmäßig verwickelter Knäuel. Dazu kommt noch, daß man für die Romane bezahlen muß, während ich Ihnen meine Geschichte umsonst erzähle.

Kurz, diese Lebensweise gefiel mir, sie gefiel mir um so mehr, als ich bald darauf die Mittel zu meinem Unterhalt entdeckte. Ich ging einst und sah in der Ferne ein Bauerngut im Glanze der Nachmittagssonne prangen. Mir entgegen bewegten sich zwischen dem ausgetrockneten Getreide drei wohlgestaltete Figuren, ein Herr und zwei Damen. Der Herr hatte schon einen graumelierten Bart, trug eine Brille und war sehr stattlich. Die Damen sahen abgemagert, aber ebenfalls wie Leute von besserem Stande aus. Ich machte das Gesicht eines Leidenden und bat, in das Bauernhaus eintreten zu dürfen, um dort zu übernachten. Sie erlaubten es und sahen sich gegenseitig bedeutungsvoll an. Ich verbeugte mich höflich, dankte und ging langsam von ihnen weg. Sie aber kehrten um, folgten mir und ließen sich mit mir in ein Gespräch ein: Wer? Woher? Wohin? Es waren Leute von humaner Gesinnung. Die Art ihrer Gesinnung war liberal und die Antworten legten sie mir gleichsam in den Mund. Als ich ins Haus kam, fand ich, daß ich ihnen ungeheuer viel vorgelogen hatte: als wenn ich das Volk studiere und belehre, und als wenn meine Seele von verschiedenen Ideen eingenommen wäre und dergleichen mehr . . . Ich könnte schwören, alles dies kam deshalb so, weil sie es so hören wollten. Ich habe sie durch meine Antworten bloß nicht gehindert, mich für den zu halten, für den sie mich halten wollten. Als ich mir aber vorstellte, wie schwer die Rolle zu spielen war, die ich ihnen gegenüber übernommen hatte, wurde mir gar nicht gut zumute. Aber nach dem Abendbrot sah ich ein, daß es in meinem Interesse lag, diese Rolle zu spielen, weil diese Leute außerordentlich gut aßen. Sie aßen mit Gefühl, sie aßen wie gebildete Leute. Hierauf wies man mir ein Zimmerchen an, der Herr schenkte mir Hosen und andere Gegenstände, überhaupt behandelte man mich sehr gut. Nun, ich habe dafür, um sie zu unterhalten, meiner Phantasie die Zügel schießen lassen.

O himmlische Königin, was habe ich da alles gelogen! Was ist mir gegenüber Chlestakoff? Ein Idiot ist Chlestakoff! Ich log niemals, ohne das Bewußtsein zu verlieren, daß ich lüge. Ich freute mich selbst darüber, wie schön ich lügen konnte. So log ich, ich sage Ihnen, daß selbst das Schwarze Meer rot würde, wenn es meine Lügen gehört hätte. Diese guten Leute hörten mich mit Vergnügen an, sie hörten, fütterten und pflegten mich wie ein eigenes Kind. Und ich habe dafür Geschichten für sie verfaßt. Da sehen Sie, wie mir die Büchelchen, die ich gelesen, und die Dispute, die ich mit den Pharisäern meiner Frau geführt hatte, zustatten kamen.

Gut zu lügen, ist ein hoher Genuß, sage ich Ihnen. Wenn du lügst und siehst, man glaubt dir, so fühlst du dich erhaben über die Menschen. Und sich höher zu fühlen als die Menschen, ist ein seltsames Gefühl! Die menschliche Aufmerksamkeit zu beherrschen und bei sich zu denken: Dummköpfe! ist köstlich. Jemand zum besten zu haben, ist immer angenehm. Ja, auch ihm selbst, dem Menschen nämlich, ist es wohl sehr angenehm, eine Lüge zu hören, aber eine gute, die ihm seine Wolle streichelt; vielleicht ist auch jede Lüge gut, oder umgekehrt – alles Gute eine Lüge. Es gibt kaum in der Welt etwas, das mehr Aufmerksamkeit verdiente, als die verschiedenen menschlichen Einfälle, Schwärmereien und Träumereien und dergleichen mehr. Als Beispiel mag mal die Liebe genommen werden. Ich liebte immer an den Frauen genau das, was an ihnen niemals zu finden war, und dasjenige, womit ich sie ausstattete, war eben auch das Beste an ihnen. Du siehst z. B. ein frisches, fesches Weibchen, und sofort stellst du dir ungefähr folgendes vor: umarmen muß sie so, küssen wird sie so, ausgezogen wird sie so erscheinen, in Tränen macht sie diesen Eindruck, in Freuden sieht sie so aus. Und dann entsteht bei dir unmerklich die Überzeugung, daß dies alles bei ihr tatsächlich vorhanden ist, und zwar genau so, wie du es begehrst . . . Nun versteht es sich von selbst, daß, wenn du sie kennen lernst, wie sie wirklich ist – du feierlichst in der Patsche sitzest . . . Na, es ist dies indessen nicht so wichtig, kann man doch deshalb nicht ein Feind des Feuers sein, weil man sich zuweilen daran verbrennt, man muß nur bedenken, daß es immer wärmt, nicht wahr? . . . Nun denn! . . . Aus eben dem Grunde kann man aber die Lüge auch nicht schädlich nennen, sie immer tadeln, ihr die Wahrheit vorziehen . . . Weiß man doch noch gar nicht, was diese vielgepriesene Wahrheit eigentlich ist . . . hat doch niemand ihren Paß gesehen . . . Vielleicht erweist sie sich, wenn man ihre Dokumente genau besehen hat, als weiß der Teufel was . . .

Indessen, ich philosophiere wie ein Sokrates, anstatt mich lieber mit der Sache zu befassen . . .

Ich log diesen ehrlichen Leuten bis zur Erschöpfung meiner Phantasie vor, und als ich mich dann in Gefahr sah, ihnen langweilig zu werden – ging ich fort, nachdem ich bei ihnen drei Wochen verlebt hatte. Reich beschenkt für die Reise, ging ich von ihnen fort und schlug die Richtung nach der nächstliegenden Station ein, um von da nach Moskau zu wandern. Von Moskau fuhr ich nach Tula, aus Versehen des Schaffners unentgeltlich.

Nun befand ich mich in Tula vor dem dortigen Polizeimeister. Er sah mich scharf an und fragte:

»Womit wollen Sie sich hier beschäftigen?«

»Ich weiß nicht,« sagte ich.

»Weshalb« – fragte er – »entfernte man Sie aus Petersburg?«

»Auch das weiß ich nicht.«

»Augenscheinlich wegen irgendwelcher Dinge, die im Kriminalkodex nicht vorgesehen sind?« erkundigte er sich forschend. –

Ich blieb aber undurchdringlich.

»Ein unbequemer Kunde sind Sie,« sagte er.

»Jeder hat nun einmal seine Spezialität, mein bester Herr!«

Er überlegte nun eine Weile und machte mir folgenden Vorschlag: »Da Sie sich doch selbst einen Wohnort gewählt haben,« – meinte er – »so können Sie ja auch, wenn es Ihnen bei uns nicht gefällt, weiterziehen. Es sind andere Städte da, z. B. Orel, Kursk, Smolensk. Es dürfte Ihnen doch ganz gleich sein, wo Sie wohnen. Sind Sie damit einverstanden, so will ich Ihnen ein anderes Durchgangszeugnis ausstellen. Es wird uns sehr angenehm sein, uns nicht um Ihre Gesundheit bekümmern zu müssen. Wir haben ohnehin eine Menge geschäftlicher Sorgen . . . und, Sie entschuldigen die Offenheit, Sie scheinen mir ein Mensch zu sein, der sehr dazu geeignet ist, die Sorgen der Polizei noch zu vermehren, Sie scheinen mir sogar extra zu diesem Zweck geschaffen.«

»So so. Aber mir gefällt's hier« . . .

»Wollen Sie von hier gehen, so bekommen Sie einen Dreirubelschein auf die Reise.«

»Allzu billig schätzen Sie, bester Herr, Ihre Anstrengungen. Es ist doch besser, Sie erlauben mir unter dem Schutze der Tulaer Gesetze zu bleiben.«

Aber er will mich durchaus nicht haben . . . Es war ein Mann von vernünftiger Überlegung! Nun, da nahm ich von ihm fünfzehn Rubel und ging nach Smolensk. – So sehen Sie, jede mißliche Lage eines Menschen trägt in sich die Möglichkeit einer besseren. Ich behaupte dies auf Grund einer soliden Erfahrung und kraft meiner tiefen Überzeugung von der Vielseitigkeit und Gewandtheit der menschlichen Vernunft . . . Vernunft, Vernunft ist eine ungeheure Macht! . . . Sie sind noch ein junger Mann, da sage ich Ihnen: Vertrauen Sie nur der Vernunft, so werden Sie niemals zugrunde gehen. Sie müssen wissen, daß jeder Mensch in seinem Innern einen Narren und einen Spitzbuben beherbergt. Der Narr – das ist sein Gefühl; der Spitzbube ist die Vernunft. Das Gefühl ist deshalb dumm, weil es schlecht und aufrichtig ist und sich nicht verstellen kann. Aber kann man denn leben, ohne sich zu verstellen? Es ist unbedingt nötig, sich zu verstellen; schon aus Mitleid zu den Menschen muß man es tun, weil sie doch immerhin mitleidswürdig sind und namentlich aber dann, wenn sie mit anderen Mitleid haben . . .

Also ich ging nach Smolensk mit dem Gefühl, daß der Boden unter meinen Füßen fest sei, und mit dem Bewußtsein, daß ich immer auf die Unterstützung humaner Leute einerseits und der Polizei andrerseits rechnen könnte. Den ersteren bin ich nötig, damit sie an mir ihre edlen Gefühle betätigen können, für letztere dagegen bin ich nicht weniger nötig, weshalb sowohl die einen als die anderen mir von ihrem Überfluß zu zahlen haben.

So ging es. –

Ich ging und lachte in mich hinein. Mein Aussehen war respektabel. Da kam mir ein Bäuerlein in den Wurf. Er sah sich um und fragte: »Sie werden wohl von den ›Auskundschaftern‹ sein?« Was mag ein »Auskundschafter« eigentlich sein? dachte ich mir, und antwortete ihm: »Jawohl, von den echten.« »Wird ein Weg von hier« – fragte er – »nach Trepowka gebaut werden?« »Nach Trepowka, jawohl!« »Wird man bald« – fragte er – »das Volk dazu verwenden?« »Bald, bald.« »Hast du gehört, ob man Pfänder nehmen wird?« »Man wird.« »Hast du nicht gehört, wieviel pro Person?« »Ja, von zwanzig Kopeken ab.« »So so,« sagte das Bäuerlein. Ich hatte mir schon gleich zurechtgelegt, was die Fragen bezweckten, und fragte ihn, woher er sei, wieviel Seelen es in seinem Dorfe gäbe, ob viele imstande seien, auf die Arbeit zu gehen, wieviel Fußgänger, wieviel Pferde. Nun, er verstand mich. »Nehmen Sie« – bat er – »die Leute aus unserem Dorf?« »Mir ist es egal, woher die Leute genommen werden,« sagte ich ihm. So nahm ich von ihm ein Fünfrubelstück für die Bevorzugung seines Dorfes vor den anderen. Außerdem zwanzig Kopeken von jedem Fußgänger und dreißig Kopeken von jedem Pferdebesitzer, und zwar als Leistung dafür, daß sie an einem bestimmten Tage zur Arbeit erscheinen dürften. Man händigte mir auf diese Weise eine Summe von hundert Rubel ein, ich stellte ihnen Zettelchen aus, sprach freundliche Worte zu ihnen und verabschiedete mich.

Ich erschien in Smolensk, und da es bereits kalt war, so entschloß ich mich, hier zu überwintern. Schnell fand ich gute Leute und paßte mich ihnen an. Es ging, ich habe den Winter nicht langweilig verlebt. Da kam aber der Frühling, und glauben Sie mir, es lockte mich hinaus aus der Stadt. Ich bekam Lust zum Landstreichen. – Wer konnte mich hindern? So ging ich von neuem und trieb mich den ganzen Sommer herum. Zum Winter geriet ich nach Jelisawetgrad. Ich geriet in diese Stadt, konnte mich da aber nirgends zurechtfinden. Ich quälte mich nach verschiedenen Richtungen hin, und endlich fand ich doch meinen Weg. Ich bewarb mich nämlich um die Stelle eines Reporters bei der Ortszeitung. Eine unbedeutende Beschäftigung, man hat aber dabei seine Freiheit und findet einigermaßen sein Futter. Hierauf machte ich Bekanntschaft mit Junkern – in dieser Stadt gibt es nämlich eine Kavalleriejunkerschule – und benutzte diese Bekanntschaft, um Kartenspiele ins Werk zu setzen. Es wurde tüchtig gespielt, und das Resultat war für mich glänzend, ich heimste tausend Rubel ein. Und von neuem kam der Frühling, diesmal erwischte er mich mit Geld und dem Ansehen eines Gentlemans.

Wohin gehen? Nach Slawjansk zur Wasserkur, dort spielte ich mit Erfolg bis zum August. In diesem Monat aber mußte ich wegfahren. Ich überwinterte in Schitomir mit einem Weibchen. Eine richtige Canaille war es, aber ein Weib von unvergleichlicher Schönheit!

Ich verlebte auf solche Weise die Jahre meiner Ausweisung aus Petersburg und fuhr dann wieder dorthin zurück. Weiß der Teufel, warum diese Stadt mich immer lockte. Ich kam dorthin als Gentleman, mit Mitteln ausgestattet. Ich suchte Bekannte auf, und was stellte sich heraus? Die Art und Weise, wie ich im Moskauer Gouvernement unter liberalen Leuten gelebt hatte, war ihnen bekannt. Alle wußten, wie ich auf dem Bauerngute drei Wochen verlebt und die hungrigen Seelen mit den Früchten meiner Phantasie gespeist hatte. Sie wußten auch alle anderen Geschichten. Nun, was war denn dabei? Wahrscheinlich mußte es doch so sein. Wenn sieben Türen dir verschlossen sind, so suche andere aufzuschließen. Aber es glückte mir doch nicht! Ich bemühte mich sehr darum, mir eine feste Stellung in der Gesellschaft zu verschaffen, konnte es aber nicht! Mag es daran gelegen haben, daß ich im Laufe der drei Jahre die Geschicklichkeit verloren hatte, mich den Menschen wieder anzupassen, oder waren die Menschen inzwischen größere Käuze geworden. Nun, und siehe da, als mir so besonders schwül zumute war, trieb mich der Teufel, meine Dienste der Geheimpolizei anzubieten. Ich bot mich als Agent an, der die Aufsicht über Spielhäuser führen möchte. Ich wurde angenommen. Die Bedingungen waren gut. Zu dieser Geheimprofession fügte ich noch eine offene, und zwar fing ich an, mich mit Reportage für eine Zeitung zu beschäftigen. Ich pflegte ihr die Straßenchronik zu liefern und verfaßte dann und wann Feuilletons für sie. Und dann spielte ich. Ich ließ mich dermaßen vom Spiel verlocken, daß ich ganz vergessen hatte, der Obrigkeit darüber Mitteilung zu machen. Ich vergaß ganz und gar, daß dies meine Pflicht und Schuldigkeit war. Als ich verspielte, stieg in mir die Erinnerung auf, du mußt doch der Polizei Bericht erstatten. Aber nein, – dachte ich mir, – du mußt zuerst dein Geld zurückgewinnen und dann der Obrigkeit Vortrag halten. Auf diese Weise schob ich die Erfüllung dieser Pflicht sehr lange hinaus, bis ich einmal am Orte des Verbrechens, am Kartentisch, von der Polizei überrumpelt wurde. Natürlich beschimpften mich die Polizeibeamten öffentlich, als sie in mir einen der Ihrigen erkannten. Auf den folgenden Tag wurde ich vorgeladen, wo es sich hingehört. Man erteilte mir eine scharfe Rüge, sagte mir, daß ich gar kein Gewissen habe und wies mich aus der Hauptstadt aus. Wiederum ausgewiesen! Ohne das Recht, innerhalb zehn Jahren zurückkommen zu dürfen.

Sechs Jahre also reise ich nun, und es geht an. Ich beklage mich nicht über mein Schicksal. Von dieser Zeit will ich Ihnen lieber nicht erzählen, weil es entweder allzu einförmig oder allzu verschiedenartig ist. Im allgemeinen aber ist es ein heiteres Vogelleben. Nur fehlt es manches Mal an Körnern. Aber man darf auch nicht allzu große Ansprüche stellen, wenn man bedenkt, daß selbst Personen, die auf Thronen sitzen, nicht lauter Vergnügen empfinden. In einem Leben, wie ich es führe, gibt es keine Pflichten, das ist das erste Gute, und auch keine Gesetze außer dem Naturgesetz, das ist das zweite. Allerdings beunruhigen mich die Herren Schutzleute manches Mal, aber es gibt doch auch in den besten Gasthäusern Flöhe! Dafür aber können Sie nach rechts und links, vorwärts, rückwärts, überall wohin Sie nur wollen, gehen. Und zieht es dich nirgendhin, so versieh dich mit Brot von einem Bauern – der ist gut und gibt immer –, versieh dich also mit Brot und liege, bis du Lust bekommst, weiter zu wandern.

Wo war ich denn nicht schon überall? Ich war in den Tolstoischen Kolonien, in den Küchen der Moskauer Kaufmannschaft ließ ich mich verpflegen. Ich lebte im Kloster zu Kiew und in Neu-Athen. Ich war in Czenstochau und in Murom. Zuweilen scheint es mir, daß ich mit meinen Tritten jeden Fußsteig im russischen Reiche zum zweiten Male beschreite. Sobald sich mir eine Gelegenheit bieten sollte, mein Äußeres zu renovieren, so gehe ich ins Ausland! Nach Rumänien ziehe ich, und von dort sind mir alle Wege geöffnet. In Rußland ist es mir schon langweilig. In diesem Lande habe ich ja alles vollbracht, was ich konnte.

Ich denke, daß ich in der Tat während dieser sechs Jahre viel vollbracht habe. Wieviel wunderliche Worte sprach ich, wieviel Wunder habe ich erzählt! Du kommst in ein Dorf, bittest um ein Nachtquartier, und wenn man dich sattgefüttert hat, so stimmst du auf der Harfe deiner Phantasie etwas an! Vielleicht habe ich auch neue Sekten gegründet, weil ich viel, sehr viel von der »Schrift« zu sprechen pflegte. Und der Bauer, wissen Sie, ist in bezug auf die Schrift mit einem Spürsinn ausgestattet, so daß er auf zwei Worte hin eine solche neue Glaubenslehre begründen kann, daß, – o du! . . . Und wieviel Gesetze wegen Aufteilung und Abgrenzung des Bodens habe ich nicht verfaßt! Ja, ich habe viel Phantasie in das Leben hineingegossen!

Nun, so lebe ich auch, lebe und bin überzeugt, wenn ich Seßhaftigkeit wünschen sollte, erreiche ich es auch, denn ich habe Vernunft, und die Weiber schätzen mich. Ich werde nach Nikolajew gehen, nach der Vorstadt, wo die Tochter eines alten Soldaten aus der Nikolauszeit wohnt. Es ist eine Witfrau, hübsch und vermögend. Zu ihr werde ich sagen: »Kappchen, mache ein Bad zurecht, wasche mich ab und ziehe mich an. Ich bleibe dann bei dir von Mond zu Mond.« Alles wird sie tun, und wenn sie außer mir noch einen Liebhaber hat, jagt sie ihn weg. Ich bringe bei ihr einen Monat und mehr zu, solange ich will. Ich lebte bei ihr im dritten Jahre der Wanderung zwei Wintermonate, im vorigen Jahre sogar drei Monate. Ich würde bei ihr den ganzen Winter bleiben, wenn sie vernünftiger gewesen wäre. So aber war es mir zu langweilig bei ihr. Außer ihrem Gemüsegarten, der ihr zweitausend Rubel jährlich einbrachte, wollte sie von nichts wissen.

Oder ich gehe sonst nach Kuban ins Lager der Labinen. Dort gibt es einen Kosaken, Peter den Schwarzen, der mich als einen heiligen Mann betrachtet. – Viele betrachten mich als einen Mann gerechten Lebens. Viele einfache und gläubige Leute sprechen zu mir: »Nimm, Väterchen, dies und stelle dem Heiligen ein Licht hin, wenn du bei ihm sein wirst.« Ich nehme es an . . . Ich schätze die gläubigen Leute und will sie nicht durch die schändliche Wahrheit verletzen, daß ich für ihr aufrichtig gespendetes Scherflein nicht ein Licht für einen Heiligen, sondern Tabak für mich kaufen werde.

Es liegt doch viel Reiz in dem Bewußtsein, der Menschheit entfremdet zu sein, in dem klaren Begreifen der Höhe und Dauerhaftigkeit jener Mauerwand der Versündigungen gegen dieselbe, die du selbst fein aufgerichtet hast. Auch ist viel Süßes und Pikantes in dem beständigen Risiko, entlarvt zu werden. Das Leben ist ein Spiel. Ich setze auf meine Karte alles, das heißt eine Null, und gewinne daher immer, ohne Gefahr, was anderes zu verlieren außer meinen Rippen. Aber ich bin überzeugt, daß, wenn man mich einmal verhauen sollte, man mich nicht verwunden wird, sondern totschlagen. Das kann niemand beleidigen, und es wäre töricht, davor Angst zu haben.

Nun, junger Mann, habe ich Ihnen meine Lebensgeschichte erzählt. Und auch mit Umschweifen erzählt. Denn in meiner Geschichte war auch Philosophie, und wissen Sie, mir gefällt das, was ich erzählt habe, mir scheint, daß ich ordentlich erzählt habe. Ich gehe weiter, völlig überzeugt, daß ich hier viel verfaßt habe, und ich schwöre, wenn ich etwas gelogen hatte, so log ich's an der Hand von Tatsachen. Sehen Sie nicht auf diese, sondern auf die Art meiner Darstellung. Diese ist, ich versichere es Ihnen, mit dem Original meiner Seele übereinstimmend. Ich gab Ihnen einen Braten aus Phantasie, mit der Sauce der reinsten Wahrheit.

Aber übrigens, wozu habe ich das Ihnen gesagt? Daher, mein Lieber, weil ich fühle, wie wenig Sie mir glauben. Ich freue mich über Sie. So! Glauben Sie dem Menschen nicht! Weil er immer, wenn er von sich erzählt, lügt! Er lügt im Unglück, um für sich mehr Mitleid zu erwecken; er lügt im Glück, damit man ihn noch mehr beneide; er lügt bei allen möglichen Gelegenheiten, um eine größere Aufmerksamkeit zu erzielen.

 


 


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