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Ich bin aufgewacht aus einem Traum, der sich hinter mir schloß wie ein vergoldetes Gittertor. Vertreibung aus dem Paradies: wenn man sich umdreht, erlischt die Erinnerung wie die Beleuchtung eines soeben zu Ende gespielten Dramas. Und plötzlich fällt man in die Falle der Welt, ertrinkt in der Wirklichkeit.

Die Stille der Nacht ist so groß, daß man die Maschinen des Sternenraums arbeiten hört. Der Dynamo des Mondes zumal vibriert mit einem ganz kleinen Defekt, eine Schraube muß gelockert sein. Die langsam sich drehenden Ringe des Saturn singen ein altes Windlied.

Paris ist eine verwunschene Stadt. Die Seine stagniert. Der Eiffelturm ist an vielen Punkten gelötet. Es hat seit vielen Jahren nicht mehr geschneit. Die starken Gefühle sind ausgestorben. Ein schlimmer Bazillus hat sich im Laub der Boulevardlinden und im Herzen der Menschen fest genagt.

In den ehrwürdigen Gärten des Luxembourg und in den Tuilerien sind die Tulpen aus Wachs, die Geranien in den Töpfen der letzten Greisinnen der Rue de l'abbe de l'Epée sind aus Stoff. Man hat aus Sparsamkeitsgründen die Jahreszeiten abgeschafft, nur die großen Schneider haben sie in ihren Prospekten noch beibehalten. Die süßen Dampfschiffe sind nur noch an die Ufermauern der Seine hingemalt: Man kann sie wegen ihrer Langsamkeit als Verkehrsmittel nicht mehr gebrauchen, aber der Gemeinderat behauptet, sie gehörten unbedingt ins Stadtbild.

Ich setze mich in meinem Bett aufrecht. Eine Glocke schlägt auf der Kassiopeia. Es wird in mir so klar, so klar, daß mir die Augen wehtun. Ich kann nicht mehr schlafen, die Augenlider sind mir weggeschnitten. Ich muß die Augen hart, steif, gerade auf die Wahrheit richten, genau wie die Toten, denen niemand sie schloß. Es gibt Sekunden in der Nacht, da halten wir das Leben in der Hand wie eine nackte, weiße Nuß, von der die härteste Schale gefallen ist. Da erkennen wir, wie uns der graue Tag betrogen hat. Ich sehe plötzlich Henry so nah wie bei einer Großaufnahme, so nah wie nie »im Leben«. Eine Falte da, drei Zentimeter links längs der Lippe, zeigt, wie er mich verachtet. Wie sollte er mich nicht verachten? Nun aber hat ein Wind den Nachtschnee weggeweht und das Glöcklein der Kassiopeia hat zum Angelus gerufen.

Oh, es ist furchtbar, aufzuwachen aus dem Schlummer der Taubheit, des Nichtwissens, seine Einsamkeit im Reiche von Millionen Welten zu erkennen, die Heimat sein könnten und es nicht sind. O Schlaf, traumlos gesicherter Schlaf der Übermüdeten, Schlaf der entrückten Dienstmädchen, die an eine Uniform glauben, Schlaf der satten, seligen, dicken Männer, die nur sich selber nicht im Wege stehen, Schlaf im rasenden Orient-Expreß, der die entsetzliche Langsamkeit der Erdumdrehung überfiebert, Schlaf der Mörder, denen das Blut zu Stein gerinnt, Schlaf der Massen, die sich von Parteirednern chloroformieren lassen, blonder Schlaf, Champagner der Wiesenbächlein für die harmlosen Lyriker, Schlaf der niemals zweifelnden Paläontologen, Schlaf der endlich vom Lächeln befreiten Straßenmädchen, Schlaf der Kronprinzen und der Briefmarkensammler, welche Gnade ist euer!

Aber der Tag kommt wie ein Schwamm, legt Nebel auf Schläfe und Geist, verstopft mit Watte mir Herz und Ohren. Das blaue Klingen hat aufgehört. Nun bekommt man einen Familiennamen, Briefe und ein Profil. In der schwebenden Nacht war ich eigenschaftslos vor der allmächtigen Welt. Nun schlüpfe ich in meine Haut und in mein Hemd.

Ich höre den berühmten Hahn krähen, den ersten Autobus die Steinbrüche der Dämmerung herunterkollern, ein Grammophon schon nach mir rufen.

 

Es schlägt sechs Uhr an allen Kirchen von Paris.

Um sechs Uhr früh schlittert die erste Arbeitertram durch die hohlklingenden Straßen. Ausgerüstet für den langen Achtstundenstag, das Essen und die Flasche Rotwein in einem von der Achsel herabhängenden Sack, läßt sich der Proletarier stumm der blassenden Aurora entgegenfahren. Die meisten lesen dabei ihr europäisches Morgengebet im »Petit Parisien« und erfahren vom sensationellen Raubmord im Marseiller Express.

Um sechs Uhr früh erklingt das silberne Glöcklein in den kalten, schwarzen Klöstern, die inmitten der Stadt hinter greisen Mauern geduckt sind; und stille, frierende Nonnen falten ihre Hände und ihr Herz und höhlen mit zierlichem Knie die harte Erde. In den Mietshäusern aber, die rings um die Klöster wuchsen, verwechselt der schnarchende Bürger Angelus mit Telefon, und legt sich schnaufend auf die andere Seite.

Um sechs Uhr früh werden die Zollbeamten an der Peripherie der Stadt abgelöst. Sie haben die ganze Nacht, trotz scharfer Aufsicht, dem Schmuggel von verbotener Liebe, von goldenem Mond und einer hohen Steuer unterworfenem Tränenschnaps nicht wehren können. Nun sind sie müde, legen die grüne Uniform ab und verwandeln sich in gütige Familienväter.

Um sechs Uhr früh löscht der Dichter seine Petroleumlampe aus und erwürgt mit zitternden Fingern die letzten Traumhetären, die hinter dem Nachtvorhang nicht verschwinden wollen. Denn sein Zimmer ist nicht sturmfrei.

Um sechs Uhr früh kochen die armen, alten Näherinnen auf bläulichem Gasherd den Rest Kaffee von gestern und wärmen sich dabei gleichzeitig die erfrorenen Hände.

Um sechs Uhr früh werfen sich die Verzweifelten, die die ganze Nacht nicht fanden, wo ihren leeren Kopf hinlegen, und denen kein Stern und kein Schutzmann die nötige Auskunft über ihre Traurigkeit zu geben vermochte, an der Station »Trinité« unter die Untergrundbahn und stören eine Viertelstunde lang mit ihrem Kadaver den ganzen Verkehr der Großstadt.

 

Und um sechs Uhr früh lag ich an diesem Morgen schon wach, vom unerträglichen Gedanken gequält, auf der Welt zu sein. Ich fand ihn so ungeheuerlich, daß ich ganz still und reglos in meinem Bett liegen blieb und so tat, als schliefe ich noch, wohl um meinen Dämon zu betrügen.

Seit vielen Tagen lag ich so, in meinem Zimmer, willen- und bewegungslos, als ob ich Fieber hätte. Ich wagte keinen Schritt mehr, meinem Schicksal entgegenzugehen. Große Müdigkeit lag über meine Seele gebreitet.

Ich lebte in einem kleinen Hotelzimmer, ohne mich kaum mehr zu erinnern, wie ich dahin gekommen war. Und wollte es nicht wissen. Vielleicht hatte ich etwas Schlimmes erlebt, das mein Organismus jetzt langsam ausstoßen mußte. Mir war, als arbeitete ein fremder, feindlicher Bazillus in meinem Blut.

Je mehr ich mich aber in mich selber verkroch, desto näher rückte die Außenwelt an mich heran, in mich hinein. Mitternachts war es der schwingende Kosmos im Traum. Sobald es hell wurde, waren es die Nachbarn. Aus allen Zimmern ringsum flossen die geheimen Gefühle der Insassen, die Sehnsuchten, die Hoffnungen, die Ängste, alle Leiden. Keine Existenz kann sich in Paris hermetisch gegen die Außenwelt abschließen. Die Wand neben meinem Bett mußte ich teilen mit einem Unbekannten, der sich daran anlehnte, der vielleicht davor kniete, um zu beten, vielleicht auch einmal sich daran aufhängen würde. Spät erst hatte ich seine Bekanntschaft gemacht und erfahren, daß er Henry d'Anglade hieß.

Sechs Uhr früh aber war die Stunde, zu der Henry d'Anglade gewöhnlich heimkam. Er haßte die Sonne. Er rühmte sich, sie ein paar Jahre lang schon nicht mehr direkt gesehen zu haben. Trotzdem war er keineswegs, was man einen Hypochonder nennen konnte. Die Nacht war Henrys Element, er hatte sein Leben in ihr häuslich eingerichtet. Er war ein bekannter Gast der Bar de l'Ennui. Dort, in orangener und violetter Beleuchtung, tötete er die Schatten, die ihn würgten. Mit scharfen Cocktails spülte er den schalen Geschmack herunter, den man von zu viel Denken in der Seele hat.

Ich aber war zu arm, um mir seine Laster leisten zu können.

Wir hatten uns vor kurzer Zeit kennengelernt, als wir beide gleichzeitig im Schlaf mit den Köpfen gegen dieselbe Stelle der Wand gestoßen und einander sehr erschreckt hatten. Da war ich zu ihm hinübergelaufen, weil ich ja doch schon am Ende meines Schlafes war und er noch nicht am Anfang.

Henry saß in schwarzem Pyjama in seinem Bett aufrecht, als ich eintrat und sagte:

»Es war immerhin eine seltsame Art, anzuklopfen, und sich kennenzulernen!«

»Sie waren mir immer sympathisch«, erwiderte er. »Sogar die Wände unserer süßen Pariser Hotels sind so gebaut, daß der Kontakt mit dem Nebenmenschen immer gewahrt wird. Von Ihnen kenne ich Kunstwerke von Träumen, die Sie gegen Ende der Nacht oft singen oder weinen. Ich verstand einmal das Wort Europa. Ist das eine Frau?«

»Eine alte Hure!« sagte ich lachend. »Ich streite mich oft mit ihr, weil sie unbedingt in mein Bett will und ich mich ihrer kaum erwehren kann. Schrie ich?«

»Nicht zu laut. Wer weiß, ob Sie nicht pervers sind. Europa trägt ja eine kunstvolle rote Roßhaarperücke. Junge Menschen wie Sie fallen noch darauf herein. Namentlich solche, die so gesund sind und die ganze Nacht schlafen.«

»Gesund? Ich schlafe aus Verzweiflung. Aber wehe mir, wenn ich aufwache wie diese Nacht und die ganze Qual der Welt verspüre! Ich bin jetzt schon seit acht Tagen nicht mehr aufgestanden, um zu vergessen, daß ich lebe. Aber vielleicht können Sie mir helfen. Geben Sie mir einen Rat: Was fange ich mit mir an? Mit meinen zwei Augen, mit meinen zwei Händen, mit meiner Leber, meinem Zwerchfell und meinem Herzen? Sie kommen aus der besserwissenden Nacht, die ich verschlief. Helfen Sie mir! Ich bin ein Europäer auf der Höhe der Kultur. Ich habe bereits die äußere Uniform meines Standes angelegt: Unterhemd, Hemd, Kragen, Krawatte. Ich habe auch die vierundfünfzig Knöpfe zugemacht, wegen welcher ein adliger Engländer sich das Leben nahm, nur um dieser alltäglichen und beschämenden Pflicht, der jeder Zivilisierte unterworfen ist, zu entrinnen. In zwanzig Minuten werde ich die Butterhörnchen der Kultur in braunen Kaffee tunken und mit goldenen Plomben zermalmen. Verstehen Sie, wie schrecklich erniedrigend das alles ist? Helfen Sie mir! Helfen Sie mir!«

Aber Henry d'Anglade schien sehr müde zu sein. Ich merkte, daß ihm das Denken schwer wurde. Wenn er frisch war, mußte er sehr überlegen sein. Schon immer, wenn wir uns im Korridor kreuzten, war er mir durch seine Haltung aufgefallen. Eine große innere Zucht war das Merkmal seiner Persönlichkeit. Zucht in höchster Potenz. Dieselbe Zucht in den Falten seiner Hose wie in denen seiner Stirn. Wenn etwas sich kräuselte, mußte das mit schweren Gewittern seiner Seele zusammenhängen. Er war adelig geboren. Aber er gehörte zu jener Jugend, die sich ihres Adels schämte, weil er ihr für diese Welt, in der sie leben mußte, zu schade war. Er tat alles, um sich unkenntlich zu machen.

»Sie gefallen mir«, sagte er langsam. »Ich könnte Ihnen helfen, aber erst, wenn Sie wirklich alle anderen Möglichkeiten des Heils erschöpft haben. Versuchen Sie es noch einen Tag, mit dieser Welt ins Reine zu kommen. Gehen Sie auf die Straße, unter die Menschen: Vielleicht rettet Sie die von allen so heilig gesprochene Arbeit, vielleicht finden Sie Gold, vielleicht erlöst Sie die Liebe. Ich bin müde. Außerdem kommt in wenigen Momenten die Sonne, die ich hasse und fürchte. Ich muß schlafen. Aber nehmen Sie für den Fall, daß eine zu große Verzweiflung bei Ihrem Passionsgang durch Paris über Sie kommen würde, dies Büchlein mit.« (Er hob einen dünnen zerlesenen und zerfetzten Band von seinem Nachttisch und reichte ihn mir.) »Sie sehen«, fuhr er fort, »das ist in diesem nackten Zimmer mein einziger Besitz. Es ist das einzige Buch, das ich lese, die einzige Nahrung meiner Seele. Ich leihe es Ihnen, während ich schlafe. Bringen Sie es mir heute Abend in die Bar de l'Ennui wieder, wo ich meine Nächte verbringe: Ich brauche es dort ebenso dringend wie Gin. Aber nehmen Sie sich vor dem Buch auch in acht. Öffnen Sie es erst im äußersten Augenblick des Ekels und der Gefahr. Es enthält tödliches Gift. Es ist aus allen Fäulnissen, allen Sümpfen, allen Lügen, allen Dummheiten des Menschendaseins gekeltert. Es schließt in sich die Mikroben sämtlicher Kulturkrankheiten. Ein Gift, das auch heilen kann, aber erst im letzten Stadium des Übels. Zu unrechter Zeit eingenommen, tötet es. Stecken Sie es in ihre Rocktasche, tragen Sie es mit sich, wie die Römer immer ein Gift in ihrem Siegelring bei sich trugen, für den Fall, daß sie in der Schlacht in Gefangenschaft gerieten. Nun muß ich schlafen. Auf heute abend in der Bar de l'Ennui!«

Henry d'Anglade reichte mir eine unglaublich schöne Hand: Sie hatte die Kühle eines Schwans und den Glanz des [Perlmuttes]. Ich wagte kaum, sie zu berühren und floh rasch aus dem Zimmer.

Im Korridor tastete ich sofort nach dem Büchlein, das ich in die Rocktasche gesteckt hatte. Die Versuchung war groß, aber ich beherrschte mich und enthielt mich sogar, den Titel zu lesen.

 

Eine halbe Stunde später befand ich mich auf der Straße und suchte das Erlebnis, suchte gegen mein heftiges Seelenweh eine Arznei. Ich betrat die Boulevards mit dem Gefühl der grausamsten Einsamkeit, die sich erdenken läßt: die unter Menschen. Ich hatte Mitleid mit mir selbst: und das ist wahrscheinlich das wärmste Gefühl, das es gibt, denn soviel Mitleid, als man mit sich selbst haben kann, bringen nicht hundert fremde Menschen zusammen auf. So kam es auch, daß ich mit meinem Zwiespalt heimlich ganz zufrieden war und ihn gegen keinen noch so großen Erfolg, Liebesbeweis oder Ruhm hätte einwechseln mögen. Ja, was hätte ich ohne meine permanente Traurigkeit und ohne das gewisse, zeitweise sich einstellende kosmische Leid angefangen, das ich zwischen den stummen Lippen wälzte wie Kautabak!

So stürzte ich mich in die Stadt, immer mit einer neuen Hoffnung, wartend auf das Wunderbare. Ich glich den Bettlern, die immer wieder hoffen, statt des Soustückes werde plötzlich ein Louis d'or aufspringen, oder wie jene Zigarrenstummelsammler, die immer nach einer verlorenen Perle am Boden spähen und noch im weißen Barte darauf warten. So tat ich es mit den Seelen. Ja, ich suchte Seelen, aber nicht zu kaufen, ich wollte sie geschenkt bekommen. Ich suchte die Schwesterseele oder die Bruderseele, bettelte jeden Passanten um seine Augen an: Ich sammelte die Augen, die aus Honig waren, aus Silber, aus Saphir, aus Petroleum, aus Mahagoni, aus Zink, aus Vergißmeinnicht. Sehr viele Menschen haben gar keine Augen. Sehr viele verstecken sie. Wo aber konnte ich die zwei wunderbaren Augen finden, die bei meinem Anblick weinen würden?

Die Masse rann wie Gallert schwarz über die Boulevards. Bar jeder Freude, jeder Phantasie. Auf den Kopf hatten zwei Millionen Männer den gleichen Filzhut gestülpt, nicht einmal in der Farbe variiert. Sie trugen Schirme gegen Sonnenstrahlen und Brillen gegen Menschenblicke. Sie gingen alle stier vorwärts. Sie wollten nichts sehen und nichts fühlen, nur weil sie keine Zeit hatten. Keine Zeit!! Sie bildeten sich ein, sie hätten eine Bestimmung. Sie mußten alle was tun. Sie spannten sich vor einen Karren und holten schmutzige Wäsche ab. Sie gaben die Annonce einer Geburt auf. Sie schlossen Kontrakte zwecks Lieferung von Baumrinde. Sie kauften die Zeitung. Sie exerzierten neue Artilleristen ein. Sie übersetzten Horaz. Sie sparten Spiritus. Sie aßen weiche Eier. Sie kauften, verkauften, kauften, verkauften. Schließlich kauften sie. Aber sie hatten keine Zeit. Obwohl man auch Zeit kaufen konnte, aber die war teuer.

Diese Menschen glaubten alles, was ihnen der Nachbar in der Tram sagte, aber sie glaubten nichts von dem, was Gott ihnen sagte, Sie glaubten, was auf den Häusern in feurigen Lettern geschrieben stand, nämlich daß Gilletteklingen die besten seien, aber sie glaubten nicht, daß ihr Heil davon abhing, zuzusehen, wie das gelbe Blättchen an der Linde langsam wächst und zur Hand eines Engels wird.

Illusion der purpurnen spanischen Weine. Illusionen des Silberpapiers um die Schokolade. Illusion der künstlerischen Sonnenaufgänge. Illusion der Nelkensträuße auf Bällen. Illusion der frisch und fröhlichen Kriege. Illusion der Jungfrauen. Illusion der Päpste. Illusion der gefährlichen Mörderphotographien. Sie glaubten, sie glaubten!

Sie glaubten und hatten keinen Glauben. Europa war ohne Gott, und deshalb war sein Schicksal so schwer. Es gab auf der ganzen Strecke der Boulevards keinen einzigen Stein, vor dem man knien konnte, und das, das war so unerträglich! Europa schmachtete trotz der zahllosen Waren, die es zu kaufen und zu verkaufen gab, denn es hatte nichts anzubeten! Es schrie nach einer neuen Demut, und niemand brachte sie ihm. Das war ein schlimmes Zeichen der Ungnade. Was galt noch der Mensch in seiner Stadt? Man vernahm seine Stimme nicht mehr, sie war übertönt vom Eisen, vom Asphalt, von den Hupen, von den Schallplatten, von den Turbinen. Nach einer einzigen Klagestimme, nach einem menschlichen Schrei sehnte ich mich.

Es war auf den Straßen, als schritte man über bombenbestandene Felder. Es platzten, es krachten bei jedem Schritt die Schicksale aus runden Frauenköpfen. Es zuckte, es sirrte vor seelischer Elektrizität. Masurische Gefilde der Liebe. Es geschahen Morde, und niemand wußte davon. Und nur eines schien noch lebenswert, den Tod zu zwingen. Einbrecher sein in fremde, wie Safes verschlossene Existenzen.

Ich war jung. Ich merkte es daran, daß die Erde unter mir federte, wenn ich ging. Ich merkte es daran, daß die Spiegelscheiben der Geschäfte heller wurden, wenn ich hineinsah. Und ich allein entdeckte eines Tages mitten auf dem Boulevard Poissonnière, an einem sehr alten Haus, über dem Gesims eines vergessenen und längst dem Untergang preisgegebenen Schirmgeschäfts, an der Öffnung der verbeulten, verstaubten und verrosteten Regenrinne, wie aus einer kunstvoll antiken Vase heraus – ein Veilchen. Die Stadt Paris hätte mich dafür zum Ehrenbürger ernennen müssen. War ich nicht jung?

Ich war frei!

Ich war so frei, daß ich keinen einzigen Menschen, nicht einen Freund hatte, dem ich Rechenschaft über meine Gedanken geben konnte. Ich hatte die Freiheit der Allerärmsten: die Vogelfreiheit der zum Tode Verurteilten, die Freiheit der Waisen, die nicht das kleinste Andenken an eine Mutter zu bewahren haben. Ich hatte keine Bildung, die Zinsen abwerfen muß, keinen Ehrgeiz, der diktatorisch alle Gefühle erdrosselt. Ich hatte die Freiheit der äußersten letzten Demut, die alles von sich abgeworfen hat.

So frei müssen sich die Märtyrer gefühlt haben.

Auf dem Boulevard des Capucines lachte ich plötzlich in den Spiegel eines Juweliers hinein. Meine Grimasse stellte mich im Nu zur Rede:

»Was ist das nun für ein übermütiges Lachen?«

Und hinter mir, von der Litfaßsäule herunter, stellte mir der melancholische Humorist Grock dieselbe Frage. Und ich antwortete:

»Weil ich die Demut kenne, darf ich übermütig sein. Doch trauet nicht meinem Gelächter. Es könnte ein Schluchzen sein. Mein Lachen ist gleichzeitig wie der Flügelschlag einer Schwalbe und wie der Knall einer Pistole.

Mein Lachen hat die Form eines Kindermundes und die Qual eines Ertrunkenen. Aber es ist ein Glück für die Welt, daß ich selten lache: So kann sie ruhig in ihrem Schlaf weiterleben. Ich drehe ihr den Rücken. Ich steige auf Wolkengebirgen den Spiralen der Adler nach. Von dorten probiere ich dann manchmal den Fallschirm einer Philosophie.«

Die Menschenflut riß mich weiter. Da drängte sich von einer Neubauwand der Boxer Dempsey vor und interviewte mich.

»Warum lügen Sie, Zeitgenosse?«

»Ich lüge, weil ich ehrlich bin. Ich lüge, weil es keine Wahrheit gibt. Trotzdem lüge ich nicht, weil ich gar kein Interesse habe, daß Sie meinen, ich bemühe mich Ihretwegen. Aber warum sollten wir die Wahrheit wollen? Hat je ein Löwe nach der Wahrheit gefragt? Und eine Birke? Und Löwe und Birke sind Gott ebenso wichtig wie wir!«

 

Indes: wird nicht an jedem Zeitungskiosk die Wahrheit verkündigt? Ist nicht in jedem Morgenblatt schon für die Ruhe deiner Seele gesorgt? Auch für diese gibt es Versicherungsgesellschaften und Prämien. Traum und Sehnsucht gedeihen auf diesem benzinenen Boulevard nicht weniger als dereinst unter hundertjährigen Ulmen in lieblichem Park.

Ist das nicht eine leibhaftige Nymphe, dort rosa, auf dem Titelblatt von »Le Sourire«? Gebannt stehen die vierzigjährigen Männer mit den verregneten Hüten und Bärten davor und halten ihre Illusion am Schöpfe. Da ist der leicht gebogene Arm, mit dem verwirrend rötlichen Achselhaar, für den sie Familie und Ehre hingeben werden. Diese eine, schlecht gezeichnete Linie auf dem Witzblatt ist schon fähig, Katastrophen in der Brust hochgeachteter Bürger zu verursachen, und wird sie daran hindern, zum Abendessen zurückzukehren und ihre Kinder vor Schlafengehen zu tätscheln. Dieser Arm, in dem sich samtene Winde wiegen!

O Träume von Paris, wenn ein Duft mit einem lyrischen Namen aus der Türe des Friseurladens weht! Die abgetretenen Wiesen unter dem Makadam erwachen. Die Liebe, die Liebe liegt wie ein rosaschwarzes Gewitter über den Dächern. Eine Epidemie von Sehnsucht und Unglück ergreift die Passanten.

Es ist die Stunde des großen Fiebers. Von südlichen Meeren fahren Armaden mit roten Segeln herbei. Ein hawaisches Banjo klagt nach verlorener Kindheit. Die grüne Seine bespült den ewigen Urwald der Menschen. Straßen, Plätze, Kirchen, Untergrundbahnhöfe sind bewachsen mit den Lianen der Frauenbeine, deren Rosa in fünfzig Schattierungen von den Strumpffabrikanten allen Fleischen der befruchteten Erde abgelauscht ist: dem Innern von Rosen, dem Flaum von Flamingos, Abenden über Sizilien, dem Schmuck der Ozeane: Lachs und Crevetten, der Seele der Bachforellen, Rosa, Rosa, Rosa der Frauen, Gebüsche von Heckenrosen, Buchten von carrarischem Marmor, Moscheen der Brüstekuppeln, gotische Türme der Hälse …

Blühender Wald der Frauen, mit Feuerhaaren, mit Wasserhaaren, mit Weizenhaaren und Haaren, in die wir die Hand halten wie in brennende Dornbüsche, wir neuen Fakire, wir Goldsucher, wir Todgeweihten. Dann tanzen wir über den Parfüms der Gärten von Jericho und von Grasse.

In kleinen, verborgenen Restaurants trinken wir mit ihnen Wasser von Lethe und Lourdes.

In altmodisch-bürgerlichen Hotels erleben wir zusammen die Frühlingsnächte von Tunis und Arkadien.

Wir: wir vierzigjährigen Familienväter mit Grind im Ohr, wir tuberkulösen Ladenkommis mit den Schmetterlingskrawatten und den gallenkranken Händen, wir republikanischen Professoren der Sorbonne, wir Generalagenten für den Vertrieb von Füllfederhaltern und Rasierklingen. Wir.

 

Und alles wird möglich. Die Welt ist naiv. Ich brauche mich nur Kaiser der Sahara zu nennen, wie Lebaudy, und sie glaubt es auch schon. Die Zeitungen proklamieren meine Majestät. Mein Lächeln erstrahlt auf der ersten Seite des »Excelsior«. Nur wollen. Ich will nicht.

Ich begegne der geretteten Tochter des Zaren. Sie lebt in den Dancings unter dem Decknamen Gräfin Radziwill. Sie tanzt auf hohen roten Absätzen auf der Place de la Madeleine auf und ab wie ein Rennpferd und macht mir Zeichen. Ich liebe dich, Diana, hast du daran gezweifelt? Ich liebe dich seit undenklichen Zeiten und folge dir gern in das kleine schummlige Venus-Hotel. Ich schlafe mit der Gräfin Radziwill, einer echten Romanoff, die ihr Glück und ihr Land verlassen hat, um mich zu finden, ausgerechnet mich. Das ist sicher, ich glaube alles. Seitdem ich nämlich keinen Glauben mehr habe, glaube ich alles.

Ihre kaiserlichen Beine haben den Schmelz mongolischer Winter. Ich glaube ihr ihre Kaiserlichkeit. Sie erzählt von ihrer Flucht zur ukrainischen Grenze, von groben Bärenmännern und von einem Papagei, der nur noch Trotzki! Trotzki! schreien wollte. Ich liebe sie, weil sie eine Schmerzfalte zwischen den Augenbrauen hat. Weil sie so leise lügen kann. Ich hätte ebenso die Tochter des Tramschaffners Yvonne Gargy geliebt, wenn sie fünf Minuten früher aus der Untergrundbahnkirche St. Placide gestiegen wäre. So ist mir die echte Zarentochter zum Schicksal geworden. Wir haben gemeinsame Bekannte. Von einem Bariton hat sie einen schwarzen Knaben, der im Wald von Saint-Cloud erzogen wird. Wir werden sehen, was aus den Sowjets wird, sagt sie, und küßt mich auf den Mund.

»Wir werden uns in dieser Welt nie wieder treffen«, erwidere ich traurig. »Aber du hast in meinem Kopf einen goldeneren Thron als in Petrograd.« Ihr Handtäschchen ist zerschlissen und so dünn, so dünn. Wer es wohl heute abend noch füllen wird?

Wir treten in die Straße und schauen zwischen den Häusern hinauf nach den Wolken. Orangenladungen aus dem Süden landen über der Stadt. Ein Kran wühlt wie ein Zahnstocher im eiternden Munde des Himmels herum. Vom Dach eines Neubaus herab hängt an einem Seil ein blauer Arbeiter wie eine Spinne und pinselt ein Riesenplakat für Cadumseife: Cadum ist das einzige Kind, das sich alle Pariser leisten. Es lächelt im Bade. Es liegt auf weißem Schaum. Es ist gesund, gesund. In der ganzen Stadt gibt es kein so kräftiges Kind mehr. Und man fragt sich, ob die Firma Cadum ihre Millionenreklame nicht von der Regierung bezahlt erhält, denn die Seife kauft niemand.

Neubauten, Neubauten überall. Immer wieder wird diese arme Erde aufgegraben. Eine Stadt ist eine Wunde. Hier waren einst Gärten, stille Wege, Ligusterfalter, ein Bach. Mit diesen Terrains verspekulierten sich schon die Heroen Balzacs. Und nun kommt Amerika und schaufelt alles um und erwürgt Paris. Mit Metall verklebt Amerika das arme Lächeln. Mit Gold schüttet es die offenen Herzen der kleinen Frauen zu. Vergraben wird alles. In Paris beginnt schon das Stadium der alten ägyptischen und römischen Kulturstädte. In zehntausend Jahren wird man nach echten, durchsichtigen, tränenbenetzten Gefühlen forschen. Die elektrischen Pumpen arbeiten. Das Herz von Frankreich wird leergepumpt und mit Zement plombiert.

Neubauten: nichts als eine riesenhohe Bretterwand, an der die Illusionen der Kultur aufgeschrieben sind: verhängnisvolle Menetekel. Aber welcher letzte Idealist Europas bezahlte dieses Plakat, das nach statistischen Forschungen das größte von Europa sein soll:

 

Wir wissen nicht

 

Sechzig Meter hoch. Jeder Buchstabe achtundzwanzig Meter groß. Der einzelne Strich drei Meter breit. Grellfeuerrot. Wir wissen nicht … Die Menge steht unten, staut sich, staunt. Was bedeutet: Wir wissen nicht? Kein Name, keine Ware, kein Theaterstück, weder eine Zigarette noch eine Schuhwichse ist damit gemeint. Wir wissen nicht, das gibt zu denken und zu träumen. Männer bleiben mitten im Wagentrubel stehen und lassen sich sinnend überfahren. Gelehrte ziehen ihr Notizbuch und berechnen etwas. Frauen, erschüttert von diesem Ursatz, werfen sich an die Brust unbekannter Männer, bitten sie um Schutz und küssen sie wild.

Wir wissen nicht, moderne Sokratesse, wer das weiß, der weiß von seinem Elend. Wir wissen nicht, ist die letzte Rettung aus dieser gottlosen Zeit, in der alles entdeckt und alles technisch ermöglicht wird, in der die letzten unbeschrittenen Flecken des Globus, Nordpol und Himalaja, erobert werden, die Zeit ohne Geheimnisse und Zweifel. Wir wissen nicht ist ein neuer Anfang nach dieser Kultur.

Wir wissen nicht ist das Ei des Kolumbus, die dreiunddreißigste Karte des Falschspielers, das Mirakel Christi. Es bringt die Menschen zur Reflexion, zu sich selber zurück, es zwingt sie, aus der Abendzeitung aufzublicken, die ihnen gerade weismachen wollte, daß sie alles, alles alles durch enghirnige Korrespondenten aus allen Metropolen wissen konnten.

Aber der Philanthrop, der diese Reklame drei Wochen lang über Paris leuchten ließ, ruinierte sich damit. Er verkauft jetzt den »Soir« am Brüsseler Bahnhof und kolportiert nun selbst die Unwahrheiten, gegen die er mit seinem Plakat kämpfen wollte.

 

Und was weiß ich von dir, Passant, der du mir eine Minute lang verbrüdert und verbunden bist, während ich in deine Augen schaue und deine untergründige Welt erkenne? Was weißt du von dir selber? Vielleicht bist du ein Selbstmörder, so wie du da stehst im bunten Bazar, mitten im Märchen des Alltags, zwischen Aluminiumtöpfen, Bürsten, Sieben, Teetassen und Rattengift! Heute morgen noch hast du deine Adresse im Telephonbuch und deine Photographie als Jäger in schwarzem Rahmen über dem Klavier im Salon, heute abend bist du ein steifes Paket von nassen Kleidern und Knochen am Quai unter der Notre-Dame-Brücke! Zwei Arbeitslose tragen dich wie eine Latte fort aus der Welt. Schon ist das Fleisch zwischen deinen Augen und Schläfen blauviolett und wird bald eitern, in der Morgue, unter den Eisblöcken. Ich stehe neben dir und tue nichts, dich deinem Schicksal zu entreißen. So schwach bin ich und feige!

Ich hätte dich doch am Mantel festhalten müssen und dir sagen, daß du irrst, daß du nicht weißt, wie rot und hoffnungsreich der Sonnenaufgang am 17. Juli sein wird, dort im Osten, und daß es sich lohnt, dafür zu leben. Wir gehen täglich an Sterbenden vorüber und grüßen sie nicht einmal. O tragische Ungerechtigkeit. Zwischen dem Ich und den andern so gar kein Kontakt! Ein bißchen Knochen, Muskeln, Fett, dünnes Blut, ein paar Fetzen aus Halbwolle oder Halbseide gewickelt: so sieht ein Mensch aus. Fällt er um, kommt erst eine alte Frau und beugt sich über ihn, ein Milchjunge ruft etwas, ein Herr im Raglanmantel überlegt, man müsse ihn aufheben, aber er möchte sich die Handschuhe nicht beschmutzen, schließlich stehen elf bis zwölf Personen um das Ereignis, drei zusammen heben den Unglücklichen aufs Trottoir, der Schutzmann schreibt, ein Junge trägt den zerbeulten Hut. Schon ist der Fall erledigt. Ein Mensch ist tot.

 

In der banalen Realität, im Dunkelmenschlichen liegt des Lebens größtes Geheimnis. Mit diesem zu arbeiten, mit Gottes reinem Material, bringt besten Gewinn. Es hat keinen Zweck, die natürlichen Maße zu übertreiben. Wir sind einen Meter achtzig groß, und kein Eiffelturm bringt den Sternen uns näher.

Eine graue Frau geht langsam in ihr graues Alter ein. Ein Hund sitzt geduldig neben seinem Schicksal. Orangen, duftend im Tal der kleinen Spezereien, Konfektionsgeschäfte mit den bunt gereihten Fahnen baumwollener Unterröcke: ihr bedeutet die einzige Wahrheit, ihr seid Kunst wie das Parthenon. Ihr rühret mich tiefer. Christus aus rosigem Zuckerzeug, an dich will ich glauben.

Rue Gît-le-Coeur, Rue Aubry-le-Boucher, ihr phantastischen Landschaften, hier will ich stranden, hier tiefer erstaunen als vor Cythera oder den Pyramiden. Paläste von Rost, von Grünspan, von Ruß, in denen mehr Märchen passieren als bei Andersen, Schmerz von Müttern, Hingabe von Witwen.

Ich will bei euch eingehen. Ich will die Demut tief erspüren und mich zu den Eurigen zählen. Ich will klein sein. Ich will arbeiten. Arbeiten, nicht aus Not des Hungers, sondern aus Not des Herzens. Ich will nicht mehr denken. Nicht mehr zweifeln. Den allgemeinen Geboten gehorchen, mitlügen und mitwundern und mitheiraten.

Arbeiten, mein kleines Geschäftche machen, mein kleines Glück. Die großen Worte vergessen, die so kalt und zugig sind wie die Triumphbögen. Wo viele zusammen unglücklich sind, da ist es warm. Tränen wärmen.

Ich sehe in die kleinen Läden hinein. In diesem Kurzwarengeschäft wartet eine dicke Frau mit blauer Brille seit dreißig Jahren, die Sonntagvormittage mitgerechnet, darauf, daß man ihr sechs Knöpfe oder einen halben Meter Spitze abkauft, und sie zweifelt nicht an sich, sie hat dreißig Jahre lang den gläsernen Briefbeschwerer vor sich auf dem Ladentisch vorsichtig rangiert und nicht ein einziges Mal umgeworfen. Wohlausgefülltes Leben. Die Ehrlichkeit der bürgerlichen Weltordnung.

Aber im selben Haus, da wohnten auch die Ungeduldigen: die liefen, die schrien, die schlugen um sich, riefen Allo und dann ihre Seelenqual in alle fünf Kontinente hinüber, in alle vier Winde hinein. Und sie wurden gehört. Ihre Angst und Demut wurde teils mit kornblumenblauen Schecks, teils mit gestempelten Prozeßakten quittiert. Seltsame Wesen, die fünfzig Jahre lang täglich dieselben Worte sprachen, ohne zu wissen, wie hinter ihren Rippen die Lungen und die Leber aussahen, mit denen sie sich anschrien und ärgerten.

Hart neben dem Kurzwarengeschäft führte ein dunkler Torweg in einen Hof voller Benzinfässer, Tuchballen, Motorräder. Eine unglückliche, von Pilzen zerfressene Treppe torkelte hinauf, und jede Stufe weinte unter den Tritten der Menschen. An den Türen meldeten große Messing- oder Porzellanschilder, auf welche Weise der Insasse der Welt gerecht zu werden versuchte. Und es gab mehr Möglichkeiten, als die Phantasie des Erzählers von Tausend und eine Nacht je hätte erfinden können. Dies Haus beherbergte unzählige Büros der menschlichen Seele. Import und Export der Liebe. Steuerkassen der Frömmigkeit. Im ersten Stock links tagte die Generalversammlung der Causasian Oil Co. und beriet über die Herabsetzung der Dividende. Im zweiten Stock rechts hörte das zionistische Werbekomitee ein Referat über die Apfelsinenkultur im Tale Gideon an. Im dritten Stock rechts befand sich der Sitz des Vereins der Kabarettsängerinnen und Schauspielerwitwen: Die ganze Arbeit der Inhaberin bestand im Aufschreiben und Verschicken von Adressen. Für besonders einsame und traurige Damen hatte sie im Nebenzimmer eine Art Salon eingerichtet, wo diese bei Grammophon und Porto den Bürgern eine ärmliche Illusion verkauften. Im vierten Stock klopfte ich an die Tür. Ein Herr im Gehrock, mit persisch gelocktem Bart und silberbestickter Krawatte reichte mir eine väterliche Hand:

»Sie suchen Arbeit, mein Herr? Wissen Sie denn nicht, daß Arbeit das Seltenste ist, was es auf diesem Erdboden gibt? Lesen Sie nicht die Zeitungen? Arbeit! Heiligste Vokabel der modernen Kulturwelt. Alle, alle suchen und wollen Arbeit. Noch nie ist jemand hergekommen und hat mich um Glück, um ein gütiges Wort, um eine Zigarette gebeten. Es ist ein tolles Run nach Arbeit. Die Tauben stellen sich hellhörig, die Kranken verbergen ihre Schwäche, die Dummen reden wie Automaten, nur um arbeiten zu dürfen. Also Sie auch? Ja, sehen Sie, ich habe nichts mehr für Sie. Ich hatte sehr vieles auf Lager: eine Stellung als Tänzer in Pigalls Bar. Da kommt es ganz auf Ihr Geschick an: je blasser Sie geschminkt, je pariserischer Ihr Akzent, um so höher werden die Geschenke dicker, peruvianischer Familienmütter und einsamer Komtessen sein. Haben Sie dünnes Haar? Schmale Finger? Aber schade, heute früh habe ich die Stelle einem jungen Serben verschafft, der bisher Delegationssekretär am Völkerbund gewesen war. Er wird's noch weit bringen. – Dann hatte ich den »falschen Mannequin«: Ein falscher Mannequin ist ein echter Mensch. In solchem Circulus vitiosus treibt die Kultur. In seiner Sucht nach Neuem und Seltenem verfällt der Mensch zuletzt immer auf sich selbst. So macht er es mit allen seinen Göttern. Kurzum: Ein Herr in Zylinder, Monokel, Cut, gestreifter Hose, Lackschuhen spaziert im Auftrag des Konfektionshauses Buddha auf der Straße, so steif als wäre er aus Wachs; sein Auftrag ist, mit automatischer Geste, in ralentiertem Tempo immerzu den Kopf nach links zu drehen, plötzlich, wo er auch steht, selbst mitten in einem Wagentrubel, sich tief zu verbeugen und den Hut zu ziehen, dann wieder weiter zu gehen und nach jedem fünften Schritt dasselbe Manöver, unaufhaltsam, unverrückbar, zu wiederholen. Es ist die dümmste Arbeit, die je erfunden wurde. Ein Operntenor, der auf ein Engagement in Wiesbaden wartet, hat absichtlich diese stumme Rolle angenommen, um seine Stimme zu schonen. – Aber halt, hier ist etwas für Sie. Ein Stock alter Bibeln, Ausgaben aus dem Jahre 1903, mit Goldschnitt und Illustrationen von Rops. Ich habe sie im Hotel Drouot billig bekommen. Zehn Dutzend. Erstklassige Gelegenheit: ein neues Abonnement auf Jesus. Stück einen Franken statt zehn. Davon sind zwanzig Prozent jeweils für Sie. Wenn Sie sofort zupacken wollen? Sie finden im Hof einen Handwagen. Ich helfe Ihnen die Heilige Schrift aufladen. Sie stellen sich an der Ecke einer Straße auf, die gerade repariert wird. Augenblicklich ist der Faubourg Montmartre empfehlenswert. Am besten, ich begleite Sie selber dahin.«

Das heißt, er sah ein, daß ich keine Kaution hinterlegen würde.

Die Idee gefiel mir. Herr Kirsch, so hieß dieser gute Geschäftsmann, riet mir, einen rötlichen Spitzbart aufzukleben, der mir bei meiner natürlichen Blässe eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Heiland verleihen würde. In der Remise unten fanden wir die Bücher und luden sie auf. Unterwegs schickte mich Kirsch zu einem kleinen Barbier, den er sehr gut kannte und dem er wahrscheinlich täglich seine Chargenträger empfahl. Der gewünschte Bart lag bereit und mochte schon vielen Propheten gedient haben.

Die großen Boulevards entlang waren kleine Buden aufgestellt, die mitten in der amerikanischen Nacktheit der modernen Geschäfte armseliges Mittelalter künstlich vorzauberten. Hier wurden die Objekte kleinen, unbeholfenen Schwindels feilgeboten, die letzten Mysterien einer erbarmungslos klarsichtigen Welt: Horoskope, Lupen, Ratgeber für Brautleute, Negeramulette, Pseudochemie, Seifen gegen Tintenflecken und Pillen für die Liebe, allerlei Romantik zu fünfzig Centimes. O süße Illusionen wunderliche Poesie des Schwindels!

Und was konnte man nicht bei den Althändlern kaufen: die Auferstehung aller vergessenen Jahrhunderte, unsagbarer Zeitabläufe, pathetischer Menschenleben: seltene Kameen, mit Perlmutter verzierte Tabaksdosen, Karaffen mit eingemalten Blaublümchen, alte Gasöfen, die ganze Feldausrüstung eines Brigadegenerals unter Napoleon III., ein Fernrohr, mit dem jemand die Mondfinsternis des Jahres 1853 beobachtet hatte, Silberlöffel mit Wappen, eine Miniatur mit dem lieblichen Profil der Rachel, ausgestopfte Fasane, Medaillen vom Krimkrieg, eine Druckerpresse, Totenköpfe.

Mit viel Mühe leitete ich mein Wägelchen durch die Flut. Ich stellte mir vor, wie ich, wenn Henry mich jetzt von einem Autobus aus sähe, den Hut wie ein übermütiger Arbeiter in den Nacken schieben und ihm jovial zuzwinkern würde. Und er würde mich kaum wiedererkennen.

Nun verstand ich beinahe den Löwenmut der Tagesarbeiter.

Herr Kirsch zeigte mir eine Laterne. Wir stellten uns neben ihr auf. Der Bart brannte mich am Kinn, als hätte ich eine Flechte. Nun galt es, und es war nur eine Komödie, aber eine bitterernste, mir selber zu beweisen, daß ich ebensogut »arbeiten« konnte wie die andern, wenn ich nur wollte, und vielleicht besser:

»Pariser! Kulturmenschen! Männer des Muts und Frauen der Liebe! Europäer! Die Republik ist in Gefahr. Seht mich an« – und Kirsch reichte mir einen goldenen Zylinder, den ich aufsetzte, und eine Trompete, in die ich sehr falsch blies – »meine Konkurrenten verkaufen euch Seife, Messerschleifer, Fernrohre und Visitenkarten, ich verkaufe euch das Seelenheil. Eine einzigartige Gelegenheit. In schwarzem Leder gebunden und mit Goldschnitt ein Buch, das ihr in keiner Buchhandlung, in keinem Kiosk, bei keinem Bouquinisten mehr finden werdet, ein Buch, das an Phantasie und Aktualität sämtliche Romane in Fortsetzungen und die zehn Seiten eurer Abendzeitung übertrifft. Ich verlange ja nicht von euch, daß ihr an die Unsterblichkeit der Seele glaubet, noch an die Pflicht des Steuerzahlens. Ihr seid unglücklich über ein angebranntes Kotelett oder über die Untreue eurer Gattin. Vertiefet euch, leset den Abenteuerroman eines jungen Juden, leset die Bibel in vollständiger Ausgabe, auf holzfreiem Papier, Gewicht nur hundertsechzig Gramm, bequeme Taschenausgabe, hier habe ich die letzten hundert Exemplare, die noch in ganz Paris vorrätig sind, und würde sie euch als frommer Christ verschenken, wenn sie mir gehörten. Aber ich habe den Auftrag, den Segen auch auf die sündigen Boulevards zu streuen, und euch die Bibel, deren Ladenpreis mit zehn Franken verzeichnet ist, nicht für fünf, nicht für vier, nicht für drei, nicht für zwei, sondern für einen Franken fünfzig zu verkaufen. Wer will noch die vorletzte …«

Binnen einer halben Stunde hatte ich den ganzen Vorrat abgestoßen. Kommis, alte Rentner, ein Schutzmann und Prostituierte rissen sich um das Buch. Ich hatte Tränen in den Augen der Frauen gesehen. Ich hatte eine gute Tat getan, ich hatte zwanzig Franken verdient. Und ich kam mir bedeutend vor, weil einige Passanten ihren Lebensweg unterbrochen und sich dafür interessiert hatten, wie klug meine Rede war, wie behende meine weiße Hand vor ihren Augen balancierte. Und mein Ich hatte sich gespreizt wie ein Pfau.

Und nun konnte ich mich wieder in die Höhle meiner Einsamkeit zurückziehen, in mich selbst, in mein Leid. Der Erfolg war berauschend, aber morgen derselbe und übermorgen wieder ein ähnlicher, würde selbst meinen Ehrgeiz schnell ermüden.

Und ich wollte ja gar nicht gewinnen, ich wollte ja nur verlieren, mich verlieren!

 

Es schien mir zu einfach, meine Aufgabe als Mensch dadurch zu erfüllen, daß ich mich in der Gesellschaft behauptete und »mein Leben verdiente«. Mit unerhörtem Aufwand an Phantasie und Persönlichkeit hatte ich ein paar Menschen dazu gebracht, mich ein wenig Geld für Morgen- und Abendbrot verdienen zu lassen. Und das war der Inhalt der Tage der Millionen Menschen, der Krone der Schöpfung, die auf dem reichsten und interessantesten aller Planeten, mit dem göttlichen Intellekt ausgerüstet, ihr Schicksal erfüllten. Nein, dreimal nein, ich wollte keine solche Befriedigung. Ich wollte die klaffende Wunde in mir, die Erkenntnis meiner Kleinheit und Unzulänglichkeit, immer offen behalten und nie verheilen lassen: niemals vergessen! Denn das ist das Schlimme, daß der Mensch über den kleinen Sorgen des Leibes die große Schuld seiner Seele vergißt.

Ich wollte arm bleiben, ungeliebt, unerkannt: Ich wollte verlieren. Oder ich nannte so, was die religiösen Zeiten Verzicht, Kasteiung, Erwerbung der göttlichen Gnade nannten. Des Glaubens bar, konnte ich nur noch in der Niederlage Vollendung erreichen.

Ihr alle, die ihr Montaigne gelesen habt, ihr, die ihr das Strafrecht auslegt, ihr, die ihr die Haare eurer Mitmenschen waschet und schneidet, ihr, die ihr die Bohnen und Erbsen an schwachen Stauden festbindet, ihr, die ihr einen gültigen Paß besitzt: Hier liege ich am Boden: Ihr könnt mich küssen oder mich treten, ich liebe nicht mehr und hasse nicht mehr. Es ist alles umsonst. Sinnlos ist eure abgenützte Sprache. Zwecklos eure Betriebsamkeit. Denn es fehlt euch der Glaube.

Fliehen? In welche Fremdheit fliehen, in welche neue Ordnung hinein, da uns ja nur die Unordnung noch retten kann? Oft träumte ich davon, im Gegensatz zu Rimbaud, nicht die Welt zu erobern, dies Häuflein Schutt, sondern aus der Welt heraus, aus dem Glanz des Eroberertums, aus den Irrtümern des Ruhmes heraus in die völlige Verneinung zu versinken, etwa: ein aussichtslos armer und verkommener Bettler in den unteren Straßen Neapels zu werden, unendlich zufrieden, wenn ich durch mühseligen Verkauf einiger Wassermelonen das nötige Stück Brot und die paar Zwiebeln für einen Lebenstag ergatterte: Welche Freiheit wäre das dann, besitzlos und doch gesättigt am Hafen im Schatten einer Tonne zu schlafen. Mich zogen nicht Gipfel an, die nirgendhin führten und am wenigsten zu einer neuen Mystik, sondern die Schluchten und die Dunkelheiten des Lebens. Aber zu einer solchen Flucht, meinte ich, war immer noch Zeit. Ich war kaum reif dazu. Ich mußte noch mehr gesteinigt und abgebrüht werden. Es durfte nur der letzte, wenn auch geheim ersehnte Ausweg sein. Ich spürte, wie mich mein Schwergewicht dahinunter zog. Und ich zitterte bei dem Gedanken daran wie vor einem lasterhaften Bild. O süße, moderne Sünde, nicht nur Gott aufzugeben, sondern das Ich und den Willen zum Ja.

 

Ich fuhr oft auf einige Tage nach Toulon, um mich in den verfuselten kleinen Straßen herumzutreiben, mit Matrosen zu saufen, die irgendwo in Siam eine schwarze Göttin gesehen hatten und nun den Mut fanden, dies rostige Europa einzustampfen, indem sie damit anfingen, ihr eigenes Kriegsschiff in die Luft zu sprengen. Ich ging zu den alten Huren, die man eigentlich zuerst gar nicht als solche erkennt, weil sie wie Hausfrauen schmutzig und aufgeplustert vor ihren kleinen Kammertüren stehen, und man glaubt, sie werden über das Steigen der Zuckerpreise klagen, da plötzlich flötet ein Wort wie »Engel« aus ihrem ungeschminkten Mund, man tritt hinein und das Tabernakel der Liebe ist da: eine Pritsche mit einem grauen Bahrtuch, an der Wand, zu Häupten des Bettes, lächelt ein gläserner, schwindsüchtiger Christus, frischen Buchs zu Füßen. Ist das Verdammnis oder Gnade? Wer sagt, wieviel Seele und Schmerz und wieviel Reinheit in den gelästerten Vierteln von Algier, von Stambul, von Amsterdam schwelt? Andauernder, latenter Untergang, der sich am sichersten von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Kontinent zu Kontinent vererbt, ich liebe den Untergang an sich, die selbstmörderische Demut, die unglaubliche Naivität des Schmutzes, der Armut, des Verbrechens und alles Bösen. Räuber, Zuhälter, Huren, letztes kindlich harmloses Geschlecht! Die Feinde Gottes sind anderswo zu suchen.

Viel eher sind hier die letzten Freunde Gottes zu treffen. In den Ruinenhäusern der Rue des Rosiers, diesem Rosenhag voll sinternder Fäulnis, birgt Paris sein anachronistisches Getto. Neben den Bäckereien mit dem seltsamen Mohngebäck, den Spezereien mit den gefüllten Märchenfischen, den besten Heringen Frankreichs und den süßen Palästinaweinen legen noch adelige, gottesfürchtige Greise die Tefilims an und scheuen sich nicht, gleichzeitig dem Passanten einen preiswerten Konfektionsanzug feilzubieten. Im Laden sitzt Rebekka, die Mandelaugen mit Kohol vergrößert, und blasse Jünglinge, soeben aus Witebsk eingewandert, tragen schon elegante Pumps zu seidenen Socken. Gestern kamen die Familien an der Gare de l'Est an, mit zerbosselten Kinderwagen, roten Matratzen und Plumeaus, nachdem sie wochenlang in europäischen Dorfbahnhöfen geschlafen. In zehn Jahren besitzen sie ein Hotel am Bois de Boulogne. Aber heute singen sie noch Psalmen Davids und feiern im Schatten bröckliger Bethäuser die Feste des Frühlings und des Herbstes, die abwechselnden Zeiten der fetten Gänselebern und des bitteren Fastens. Und also gefestigt in altgoldener Vergangenheit und neugoldener Zukunft, was kümmert sie das Heute, was kümmert sie's, daß im ersten Stockwerk ihres frommen Hauses orangene Jalousien gespannt sind, und kleine rote Ampeln künden, daß hier Mädchen aus Japan oder nur aus Montrouge die billigste Liebe von Europa verkaufen.

Und wenn die Nacht ganz ins Phantastische hinüberdämmert, weilst du schon fern von Paris, fern dieser Zeit, und ersteigst den Hügel der Monjole. Das ist nicht Mittelalter, nicht Europa, das ist nur noch Allegorie. Einst vielleicht eine Zyklopenfestung. Die meterdicken Mauern verpilzt, verseucht von Regen, von Tränen und Urin aufgeweicht. Der Viertelmond legt grünliche Tücher über kleine Hütten. Türen, Türen, Türen. In diesen Türen sitzen die ewigen Gestalten des Schreckens, Lemuren, Sphinxe, Parzen, alte, alte Weiber, dicke, sechzigjährige, schwammige, halb erblindete, mit Aussatz geschlagene Weiber. Ein geflicktes Kattungewand, aus dem eine herunterkollernde Brust, ein rotangelaufenes Bein herausfällt. Nicht Mund, nicht Wangen, nicht Augen. Die Galerie des dösenden Fleisches.

Sie hocken wie schwarze Felsen am Weg.

Zuweilen zeigt sich unten ein Trupp von Männern. Sie wagen sich nicht allein herauf. Aber da ist ein Hügel: vielleicht könnte da oben Flieder blühen? Die Sehnsucht ist so groß unter dem warmen Himmel!

Die Weiber bewegen sich nicht vom Stuhl. Sie sind viel zu hoffnungslos. Eine Tür ist da, und das Weib darin, umstrahlt von Petroleumschein. Ein Bett. Ein plattes Bett. Eine Planke mit einer Decke darüber. Ein Mensch kann ohne Tisch leben, ohne Spiegelschrank, ohne Cézanne, aber ein Bett muß er haben. Zum Schlafen wie die Tiere? Schlafen ist Luxus. Zur Liebe muß so eine sechzigjährige Venusdienerin ihr Bett besitzen. An der Wand klebt ein großes Plakat: Ein rosa Radfahrer schwenkt über Anemonenwiesen seine Mütze in den goldenen Sonnenhimmel. Es ist ein Plakat, das eine findige Fahrräderfirma an sämtliche Insassinnen dieses Hügels hat verteilen lassen. Welch ein Trost für viel Verzweiflung.

Die Männer steigen langsam hinauf. Dort oben soll Flieder blühn. Hügel und Wolken. Ein sinnloses Lied schwebt leise und hoffnungslos von Tür zu Tür: Auch das Lied ist diesen Lippen Gewohnheit geworden, wie die Liebe den Schenkeln.

Erdergebene Weiber, sie raffen sich nicht mehr auf, sie suchen nicht mehr zu wirken. Sie sind da, und Gott gab ihnen zwei Schenkel, um sie auf- und zuzumachen, wie die Nachtfalter ihre Flügel. Elend des Elends, nicht einmal Laster, nicht einmal vergrößernder Tod. Fleisch, billiger als Pferdefleisch.

Liegt der Hügel in Madagaskar, in Alexandria, in Port-Said, in Djibouti oder in East Ham? Ich kenne die Häfen der menschlichen Verdammnis. Die diamantenen Dreadnoughts fahren übermütig vorbei. Aber hart am Boulevard de la Villette steht dieser Olymp der Kultur, und gegenüber winkt, nicht einen Kilometer entfernt, das Pantheon Europas, in dem die Genies der Wahrheit und der Freiheit ruhen.

Hier mußt du dich bequemen, Europa mein, als letzte Fermate des Mittelalters zu gelten, als hoffnungsloses Ende der christlichen Symphonie. Deine Atmosphäre ist die der Ruinen, Gesinter und Gestank, deine Melodie ein Totenmarsch.

Womit sonst locktest du die amerikanischen Touristen, als mit zerschossenen, zerfallenen Dörfern, abgebröckelten Kunstwerken, verlotterten und »gefährlichen« Vorstädten? Die sieben Sehenswürdigkeiten des zwanzigsten Jahrhunderts sind: das Schlachtfeld von Verdun, der Moulin de la Galette in Montmartre, East Ham in London, Rothenburg an der Tauber, der jüdische Friedhof von Prag, die Quellen von Lourdes und der Rote Platz in Moskau.

Plötzlich, nach Jahren der Verzweiflung, kommt eine letzte Anwandlung von Romantik über die Menschheit, eine Art Traumzustand, die notwendige Narkose für den harten, chirurgischen Eingriff des amerikanischen Weltsystems. Aber zu müde und zu unbegabt, um eine große, letzte Liebe zur Natur aufzubringen, findet sie leichteren Trost in der rosablau geschminkten Dämmerung von Ruinen, in den Armen von geschickten Huren.

Eine Insel schläft wie ein spitzer Aprikosenkern zwischen den Schalen der Seine, verloren im saftigen Paris. Versteinerte Weltgeschichte, bereits so definitiv wie Pompeji. Wer wandelt noch durch die heilige Rue des Chantres, in der Abelard und Heloise sich liebten? Im letzten Haus der Insel, das seine Fenster mit Wolken wäscht, lächelte Madame Roland. Rue des Vieilles-Etuves wurde Molière geboren, zweihundert Schritt weiter ist er gestorben: Später streitete man sich, um zu wissen, ob die Gedenktafel nicht auf einem falschen Hause angebracht war. Ich überschreite die Brücken: Überall leben die Toten. Rue des Tournelles 28 regierte Ninon de Lenclos. Rue de l'Ecole de Médecine 20 erstach Charlotte Corday Marat im Bade. Rue du Fouarre zündete Dante die ersten Feuer seiner Hölle an. Daneben ist Robespierre aus den Armen der Freunde gerissen worden. Nackte Namen, beredteste Dichtung. Herr Jean Racine, Madame Adrienne Lecouvreur, 21 Rue Visconti, Paris. Madame Laetitia Bonaparte, Hotel de Brienne, Rue Saint-Dominique. Café Procope, das erste Literatencafé, sah Lafontaine, Voltaire, Verlaine. Ich schweife tagelang durch diese sterbenden Straßen, erschütterter als der Wanderer in tosender Bergschlucht. Jeder Stein hat geistigen Gehalt, von Passionen ebenso gemeißelt wie der Marmorblock, aus dem der Bildhauer Göttinnen schält. Gewiß, auch ich bin tot und gehöre in diesen Staub. Aber ich hasse Amerika, das diese krummen, kranken Wege gerade und gesund biegen will, für Eisenbeton ist am Gestade von Florida mehr Platz vorhanden. Lasset mich in Frieden sterben.

Lasset mich siechen und faulen, mich letzten träumerischen Europäer, auf einer morschen Bank des Palais Royal. Niemand wird mich hier finden. Die geduldigen Bürger, die den Spatzen Brotkrumen vom Mittagessen mitbrachten, die stillen Witwen, die ängstlich ihre Söhne mit Märchen vor dem Leben schützen, sie werden es nicht merken. Ich bin so alt wie der hinfällige, schon wieder zur Erde niederkniende Baum im Rasenrondell, ich bin so verlassen wie der nackte Viktor Hugo von Rodin, der solch eine Langeweile nicht verdient hat. Ich bin so gefühlsleer wie die Schauspielerin Madeleine Roch, die drüben in der Comédie Française die kalten Verse einer Römerin herleiernd sich mit schweren Fäusten auf die dicken, schwammigen Brüste schlägt. Durch die dunklen Galerien tanzt eine Sarabande von Aspasien und Incroyables, Napoleons Heroen und Balzacs Notare huschen in ihre Klubs. Und von dem vermoosten Baum, über meiner Bank, löst sich ein Blättchen, hellgrün und leuchtend, dasselbe, das Camille Desmoulins an den Hut der Freiheit steckte. Heute wirbelt's zu meinen Füßen hin und läßt sich zertreten …

 

Zerrissen bin ich, in zwei Hälften geteilt, ein Clown ohne jedes Verantwortlichkeitsgefühl, links schwarz, rechts weiß, der linke Arm und das rechte Bein schwarz, der rechte Arm und das linke Bein weiß. Oder vielmehr der linke Arm weiß und das rechte … nein umgekehrt. Ich verwechsle meine Glieder, ich verwechsle die Himmelsrichtungen, ich verwechsle Ja und Nein. Ich predige die Menschengüte, und kann die Ironie nicht verwinden. Was ich auch besinge, leugne ich mit einem Lachen wieder ab. Und wer meinen Mund lächeln sieht, der ließe sich nicht träumen, daß meine Kehle vor Schluchzen erstickt.

Es ist schwer, mit mir zu verkehren. Die einen meinen, ich sei der geriebenste Abenteurer, die andern, ein gütiger Mönch. Ich tue nichts gegen die Verwirrung, im Gegenteil, ich trachte, sie nur zu vergrößern, und wahre dadurch mein Inkognito.

Es kommt mir auch nicht darauf an, recht zu haben, ich gebe immer den anderen recht. Nichts ist mir so wichtig, daß ich dessen Daseinsberechtigung durch eine Diskussion bestätigen möchte. Ich schließe die Augen über dem Kram, und die andern meinen, ich bete. Ich drücke mir oft in Gesellschaft die Ohren mit den Zeigefingern zu, um mir die Komik und die Sinnlosigkeit ihrer wertlosen Gesten zu vergegenwärtigen.

Die Frauen erscheinen mir unzulänglich. Sie dauern nicht länger in meiner Hand als Orangen. Der Schale entledigt, sind alle rund und feucht. Später bleiben die Kerne, und da ich auch diese aufbeiße, um immer den Extrakt des Menschen zu kosten, ins unerdringliche Innerste zu dringen, brennt mir bitter die Zunge. Es gibt auch edelgezüchtete Frauen ohne Kerne, aber was tun, wenn sie aufgegessen sind?

Was tun die andern mit ihren Frauen? Sie legen sie in Zucker oder Senf, wie die Italiener.

Und doch, was ist ein Tag ohne Frau? Eine Stunde ohne Erzittern, ohne die Funken an Haarspitzen und Fingerspitzen? Da gehen sie vorbei und tragen jede ein seltsames Schicksal. In jeder Frau liegt die Möglichkeit, mich aus der Welt zu befreien. Jede ist unsichtbar mit ihren goldenen Haaren wie mit Wurzeln im Himmel verknüpft. Jede saugt mit ihren rosa Füßen Urkräfte aus der bebenden Erde.

Frauen: auf der Straße wandeln sie aufrecht wie Bäume im Wind. In der Untergrundbahn streift man einer Hindin wilde Hüfte und raubt ein Gefühl, das der Gatte zehn Jahre lang nicht löste. Zwei helle Kniescheiben beim Tanz blinken poliert wie die Bestandteile einer Präzisionsmaschine.

An der Straßenkurve fallen mir zwei Aprikosenbrüste in die Hände – und wildfremd stürzen wir wieder auseinander. Durch Seide, durch Pelz hindurch bluten Fleische. Das ist der Urwald Paris. Zwischen schweigenden Tieren wickeln sich urferne Dramen ab. Ja Tiere, seien wir wenigstens Tiere und bewußtlos erdgebunden!

Aber wir sind alle einsam, unendlich und unrettbar einsam. Nieder die Gesetze, nieder die Kleider. Es ist ja alles so gleichgültig. Wir wollen uns nichts mehr vormachen. Wir wollen uns gegenseitig bestehlen, Ehemänner. Wir dürfen die heiligen Sternennächte nicht so im Familienzimmer verlieren. Wir wollen tanzen wie die Neger, mit Beinen, Brüsten und Bauch. Herunter die gestärkte Hemdbrust der Ehre. Es ist ja doch alles verloren. Denn wir wissen nicht, wie er heißt, der Gott, der uns bestrafte. Wir müßten ihn uns erst in der Auslage der Warenhäuser auswählen, ob Kreuz oder Tau. Aber der Aufbau? Demokratie? Expressionismus? Völkerbund?

O Frau, die du deine zwei zitternden Brüste mir entgegenträgst, sag du, was aus Europa werde!

Bin ich gesund oder bin ich krank? Bin ich ein Anfang oder ein Ende? Bin ich die Natur oder ihr Mörder? Ich lese das Hohelied und das Abendblatt. Ich bin nicht Vater und nicht Sohn, nicht Bettler und nicht König, und hoffe immer noch!

Nach allem habe ich Sehnsucht: nach dem Wasserreis des Buddhisten, nach dem süßsauren Karpfen jüdischer Freitagabende, nach der schalen Oblate aus der ungewaschenen Hand des Pfarrers, nach einer Ente in der »Tour d'Argent«, nach wilden Feigen von Delos.

Ich schreie nach dem Gott, der mich bedroht und mir wieder aus der Hand zu fressen gibt. Nieder mit der Freiheit. Ich schreie nach dem Diktator, der mir sagt, wer ich bin. Nach der Frau, die mich tötet, weil sie mich liebt. Nach der Sonne, da sie bald untergeht. Nach der Nacht, weil sie den Tag ankündigt!

Mein Gott, ich bin ja nur ein Kohlestäubchen, und warum vermesse ich mich, dich anzurufen! Mein Leid ist das Leid aller Europäer. Ich sehe immerfort auf die Uhr, verjage die Zeit, langweile mich und fürchte mich doch zu sterben. Ich verachte mich und kann mich nicht hassen. Ich bin eine Nesselstaude und verlange nach Ruhm!

O, nicht mehr denken!

Aber weil ich denke, bin ich verloren, bin ich unfähig, ein Konfektionsgeschäft aufzumachen, unfähig, Kammerreden zu halten, unfähig, mich monatelang mit den historischen Ursachen der Französischen Revolution zu beschäftigen. Mich beschäftigen: das wäre, mich vergessen.

Ich bin ein armer, alter, blasser, schlaffer Europäer, zu nichts mehr nutz. Meinen griechischen Göttern fehlt das Feuer und meinem Feuer fehlen die Götter.

Ich stöbere in der Vergangenheit des Kontinents herum wie ein Lumpensammler. Man stolpert überall über Leichensteine. Überall werden rostige Münzen, verweste Bücher, die Nägel von Christi Kreuz, Waffen der Urmenschen wie Heiligtümer aufbewahrt. Und in uns die alte Moral. Es ist schon ein halber Erstickungstod unter eingestürzten dorischen und kubistischen Kunstwerken.

Gräber, Gräber suchen wir auf. Die moosigen Tafeln im harten Gras eines jüdischen Friedhofs. Die zerbrochenen Blechflügel pfingstlicher Engel auf armen Kreuzen. Ungeschorener Schlehdorn vermischt mit den ungeschorenen Bärten der Toten. Walderdbeeren in ovalen Schädeln, Disteln in der Mulde des Herzens, während Raubvögel den wie Vanilleeis zerfließenden Granit zerhacken.

 

Die Begräbnisse in Paris haben noch einen Rhythmus, der den alten Gassen ziemt. Die Toten, die haben noch Zeit. Langsam wandern sie, ohne Eile, den Boulevard der Ewigkeit entlang, und das abergläubische Leben hält still. Die schwarzbemäntelten Pferde nicken und danken, denn auch sie, wie die Totengräber und der Zeremonienmeister und die Witwe, die das weiße Taschentuch unter den Schleiern wie eine Rose hält, und die Geladenen alle, sie haben Gefühl für Theater.

Vor einer stillen Kirche hält der Zug. Die duftenden Kränze werden hineingetragen, und je nach den roten Rosen oder den bunten Astern erfährt der Passant, ob es Frühling oder Herbst ist. Hier ist die einzige Gelegenheit, es zu erfahren, denn im übrigen hat Paris seine eigene Atmosphäre und Jahreszeit und braucht die des Kalenders nicht.

Und während in der großen kalten Kirche Priester mit Köpfen von Cranach ihr langweiliges Gewerbe verrichtend der Familie Tränen entlocken, und die Chorknaben mit schlechtgebügelten Überwürfen und grobem Schuhwerk die mechanischen Kniefälle nur noch skizzieren, gehen die Totengräber draußen schnell ins Wirtshaus und trinken einen Weißen. Bei reichen Begräbnissen erster bis dritter Klasse haben sie sogar Zeit, einen Poker zu spielen.

Aber viel häufiger sind die Toten arm, und man weiß in Paris (und darum fürchtet sich jeder so zu sterben), daß heutzutage nichts so teuer ist wie der Tod. Viel häufiger ist der Totenwagen mager und kahl, und das Schwänzlein von Menschen dahinter ist dünn.

Ein einziger Begleiter oft: der Stadtbeamte. O einsamer Toter, wieviel lauter ist deine Stummheit als der steilen Lebenden Geschrei! Bist du ein Ertrunkener? Ein Gefangener? Oder vielleicht jener Greis, der vor zwölf Tagen in seiner Mansarde an Hunger starb, und gestern von dem Steuerbeamten entdeckt wurde, der auf dem leeren Tisch dein letztes kupfernes Zehn-Centimes-Stück fand?

In jedem Viertel von Paris gibt es andere Tode. Auf dem Boulevard Gambetta sah ich den Trauerzug eines Ofenfabrikanten, bei dem die Geladenen wie auf einem Ausflug hinterherbummelten, die unbekannten Stadtgegenden bestaunten und sich Firmennamen ins Notizbuch einschrieben, die sie in der nächsten Woche geschäftshalber aufsuchen würden. Die dicken Männer wischten sich den Schweiß vom Hals. Die Blumen der Kränze welkten im Atem des Benzins.

Ich sah das Begräbnis der Sarah Bernhardt, das für drei Tage die Straßen von Paris parfümierte. Ich sah das von Anatole France, dessen grüner Kadaver von alten Ministern geküßt und von aufrührerischen Dichtern geohrfeigt wurde. Ich sah die Überführung des Arbeiterhelden Jean Jaurès ins Pantheon, bei dem das republikanische Frankreich seine verstaubten Zylinder hervorgeholt hatte. Zum Symbol waren siebzig alte Bergleute aus Albi mit neuen Äxten und Blaukitteln bestellt worden, die den geschmacklos blauweißroten Katafalk durch die Nebel des Novembers ziehen mußten. Es war sehr traurig, den einst so brennenden Heros in die kalten Kavernen des Menschenruhms einziehen zu sehen. Armselig sind die Geschenke, die Europa seinen Toten zu machen weiß, und man denkt mit Neid an die pompösen Totenfeste von Java und Bali. Nur der Kommunist verstand es, seinem Jaurès einige rote Rufe, einige rote Schüsse zu schenken.

Aber das letzte Begräbnis, das ich sah, war weiß: weißer Wagen, weiße Pferde, weiße Trauernde. Auch die Tote war weiß, eine berühmte Nonne, die einstmals eine gefeierte Tänzerin gewesen. Den Boulevard de Clichy führte ihr letzter Gang, am Moulin Rouge vorbei, das wie ein Nachtschmetterling seine Flügel putzte, und ein Spalier war gebildet von allen kleinen Kokotten von Montmatre. Sie standen da, um zwei Uhr nachmittags, manche noch ungekämmt, einen Milchtopf in der Hand, und vielleicht nackt unter dem echten Chinchillamantel, manche aber auch schon wie zu wichtiger Zeremonie hochgeschminkt. Der Schnee dieser Trauer und die Kerzen der Waisenkinder blendeten den ganzen Boulevard, über den sich plötzlich ein großes Schweigen legte wie Watte. Alle Wagen hielten. Die Telefone in den Häusern verstummten. Die Kellner in den Cafés, die Taxi-Chauffeure hätten gerne geweint. Die Lichtreklamen loschen aus. Und sämtliche kleinen, mageren, frierenden, hektischen Kokotten fielen am Trottoirrand in die Knie.

Als der Zug vorbei war, fragte mich eine von diesen, Suzy, die Süßeste von allen, ob sie einen Kaffee trinken dürfte. Sie durfte. Es ist niemand auf der Welt, der sie nicht eingeladen hätte, denn sie war eine Liebesinvalide, sie hatte nur ein Bein und eine zierliche vergoldete Krücke. Ein einziges Bein, mit dem sie aber alle ihre Konkurrentinnen ausstach, denn die zarte Fessel war aus Meißner Porzellan und fiel den Männern mehr auf als all die übrigen Fesselpaare der Stadt. Sie hatte ein elegantes erdbeerfarbenes Seidenkleid an und darunter nur ein silbernes Gürtelchen, mit einem einzigen Strumpfhalter. Sie hieß mich ein Geldstück in den Grammophonautomaten werfen und tanzte eine Art Charleston mit dem linken silbernen Bein und der goldenen Krücke.

Darauf setzte sie sich zu mir und erzählte mir ihr ganzes Leben. Sie hatte gemerkt, daß ich zu den Sentimentalen gehöre, die auch bei den Einbeinigen die Seele suchen und aus der Liebe eher eine Philosophie als ein Kind machen.

»Ich will dir nicht meine Geschichte allein erzählen«, sagte sie, »sondern die der fünftausend Suzys von Montmatre. Sie hat fünf Etappen. Kennst du die fünf Untergrundbahnstationen dieses Boulevards? Sie heißen Clichy, Blanche, Pigalle, Anvers, Barbès. Bei Clichy fängt es immer an. Da ist Suzy fünfzehn. Sie ist am Sonntag nachmittag in der altmodischen klapprigen Elektrischen aus irgendeinem Vorort hereingefahren und vor dem »größten Kino der Welt«, dem Gaumont-Palace, ausgestiegen. Zum erstenmal in ihrem Leben sieht sie New York, das Lächeln des Douglas und wie der Zucker gewonnen wird. Zum erstenmal in ihrem Leben sitzt neben ihr ein junger Herr mit einer orangenen Krawatte und einer graugestreiften Hose und bietet ihr in der Pause ein Zitronenbonbon an. Zum erstenmal in ihrem Leben trinkt sie nachher mit ihm im Wepler einen bitter beizenden Cinzano, bei dem sich ihr ganzes Gesichtchen verzieht. Zum erstenmal in ihrem Leben darf sie Agneau vert pré und Rahmerdbeeren bestellen. Zum erstenmal in ihrem Leben sieht sie im »Européen« den Chansonnier Georgius, der einen wunderbaren Frack anhat, und drei Japaner, die sich lachend Säbel in die Gedärme stoßen. Zum erstenmal in ihrem Leben tritt sie ins Paradis-Hotel, wo von der Türe ab ein weicher roter Teppich läuft. Zum erstenmal in ihrem Leben erfährt sie, wie Mahagoni aussieht, aus dem der hohe Schrank und das königliche Bett gezimmert sind. Und für ihr ganzes Leben lang wird sie verdammt sein, in diesem Paradies zu wohnen. Denn um vier Uhr früh fahren keine Elektrischen mehr nach Hause. Um vier Uhr früh würde sie der verständnislose, böse Vater prügeln. Um vier Uhr früh entscheiden sich die Schicksale aller Suzys. Sie bleibt in diesem göttlichen Hotel, in diesem kupferverbrämten Mahagonibett. Sie bleibt. Marcel zahlt die Miete für acht Tage voraus. Sie bleibt aber nicht eine Woche da, sondern ein Jahr, und es ist immer dasselbe: Acht Tage werden vorausbezahlt, aber nicht immer von Marcel, sondern auch von Gaston, von Andre, von José und von Paul.

Clichy. Die zweite Station heißt Blanche. Blanche heißt auch ein Mädchen, das ist wild wie ein Kreisel und tanzt den Can-Can im Moulin Rouge, um sechs und um elf. Sie trägt Unterröckchen voll weißschäumender Spitzen, und mit den zwei in der Luft pendelnden rotgefärbten Beinen sieht sie aus wie eine Fuchsienblüte. Blanche, ganz weiß mit goldenem Haar, Blanche hat sie lieb. Lieb hat sie Blanche. Sie hat Blanche lieb. Sie lernt den Can-Can tanzen im Hinterzimmer eines stillen Cafés in der Rue Lepic, der Kellner am Vormittag spielt ihnen dazu Klavier. Und nun treten sie beide auf und tanzen, nur um zu tanzen, die Beine in die Luft zu werfen, zu schweben und sich zuzulachen, und um zu schäumen mit ihren Spitzenröckchen, zu schäumen wie der billige Sekt auf den Tischen der dicken, rauchenden Männer. Blanche hat sie lieb. Lieb hat sie Blanche. Sie hat Blanche lieb auf der silbernen, mondenen Place Blanche. Sie mieten zusammen ein sonnig bürgerliches Zimmerchen und zahlen jetzt monatlich, und lassen sich Spiegeleier und Ananaskompott von Madame Komtesse zubereiten.

Blanche. Aber Pigalle liegt gar nicht weit. Nicht weit genug. Auf der Place Pigalle da stehen die seidenhäutigen, braungebrannten, eleganten Argentinier und warten alle auf Suzy. Sie wollen alle mit ihr den traurigsten der Tangos tanzen. Sie fangen sie ein, sie kaufen ihr ein rauschend schwarzes Edelkleid, in dem sie aussieht wie eine Marquise. Der Besitzer des Rat Mort zahlt ihr schon viel mehr, als man beim French Can-Can verdient. Schon funkelt ein Diamant zwischen ihren zwei hügeligen Brüsten. Suzy macht Karriere. Ihre Finger werden blaß und schmal. Ihre Sprache übt sich an Baudelaire. Und Pigalle blendet so, ist selbst ein Juwel am Finger von Paris, mandarinenfarben schillernd von den Reklamen für Seife, Liköre und Gott. Die Place Pigalle ist ein glitzernd Karussell, auf dem sich die Frauen mit roten und blauen Perücken drehen, statt der früheren Pferde. Und ein anderes Karussell ist da, ein kleines Rondell mit jungem Gras und Gänseblümchen drin; in der Mitte plätschert leise ein unschuldiger Springbrunnen, und auf seiner Spitze tanzt der Mond wie in den Schießbuden die Kugel auf dem Wasserstrahl.« Suzy träumte einen Augenblick von dieser Landschaft, und fuhr dann weiter: »Bald darauf stürzte ich auf dem Tanzparkett, weil mein Argentinier untreu war. Ich wurde von Mitleidigen in ein fremdes Hotel getragen. Der gerufene Arzt indes verstand sich nur auf Gonorrhoe. Er ließ mein zierliches Tanzbein faulen. Und so wurde ich interessant. Nach vielen Monaten Spital humpelte ich auf einer Krücke in ein neues Leben. Im Hotel-Dieu, so hieß das Spital, hatte ich mit dem Leid auch die Liebe kennen gelernt. Der Assistent, der mich behandelt hatte, mietete mir, als ich entlassen wurde, eine Garçonniere in der Nähe der Place d'Anvers.

Anvers: Schon mischt der ahnungslose Bürger sich hier mit den Überlebenden der Fête Pigalle. Die wahre Pariser Liebe ist bürgerlich, mit einer grauen Katze in den Kissen des Diwans und viel Eifersucht in den Umarmungen der Hausfrau. Das dauerte zwei Jahre, und ich wurde so geliebt, als hätte ich zwölf so schöne Beine wie dies hier. Zu meinem Geburtstag schenkte mir Max die goldene Krücke. Aber kurze Zeit darauf schenkte er der Tochter eines Altwarenhändlers einen goldenen Ring und heiratete sie. Ich war verloren. Die Station Anvers, die vierte auf unserem roten Passionsweg, empfängt bereits die Enttäuschten und die Zweifelnden. Hierhin werden vom Nordwind langsam verschlagen, die bereits eine Falte am Hals und eine Narbe am Herzen zu verbergen haben. Sie lassen sich lieber in den Gummibüschen des kleinen staubigen Squares ansprechen, wo natürliche Frische durch Poesie und Sentimentalität ersetzt wird. Ihnen sind die Ehemänner hold, die wenig Zeit haben.

Aber einmal winkt allen Suzys, winkt auch mir, der ich nicht die Chance hatte, Bürgerin zu werden und zu bleiben, das Hinterland von Barbès, das verfluchte Reich der nackten Asphaltstraße, auf der man friert und alles einrostet, die Glieder, das Herz und der Stolz. Bis dahin ist man alt geworden und geduldig, und ergeben und demütig küßt man die Aussätzigen im Schatten der Hochbahnpfeiler, küßt den heimatlosen Algerier, der keine Arbeit fand, küßt den entlaufenen Deserteur, der seine Freiheit gab für diese Nacht und diesen nicht mehr roten Mund, küßt den geilen Schutzmann, damit er morgen ein Auge zudrücke, küßt alle Lahmen, alle Säufer, alle Verfallenen, selbst schon ein hutzliges Weiblein, ein schauerlicher Schatten im schattenhaften Paris …«

Das alles erzählte mir Suzy mit dem silbernen Bein und der goldenen Krücke, und ehe ich antworten konnte, war sie schon aufgesprungen und tanzte wieder Charleston. Doch als sie fertig war, vergaß sie, wo sie gesessen hatte, und nahm am Tisch eines neuen Gastes gegenüber Platz.

So erlebte ich täglich mit Intensität die Stadt der Menschen, Tod und Selbstmord und Liebe und Arbeit und Elend. Es war drei Uhr. Da stieg die Frage des frühen Morgens wieder in mir auf, mit der ich ans Lager Henrys gestürzt war: Was fang ich an mit mir, mit meinen Augen, die zuviel wissen, mit meinem Herzen, das nicht mehr glaubt?

Mechanisch griff ich in die linke Rocktasche und fühlte das Büchlein an, das mir der Freund mit auf den Weg gegeben. Gerade wollte ich es herausziehen und mich vergewissern, ob wirklich schon ein Mensch vor mir die Bitternis der unentrinnbaren Einsamkeit so durchkostet haben konnte – da wurde ich, es war an der Ecke der Avenue de l'Opéra, von einer alten Frau sehr unsanft angestoßen, die gewaltig gestikulierend und laut aufheulend aus einer Seitenstraße hervorstürzte. War sie verrückt? Betrunken? Krank? Sie schrie, sie schrie und fuchtelte krampfhaft mit etwas Weißem durch die Luft. Es war aber nichts anderes als das erste Abendblatt, für das sie absolut zehn Centimes haben wollte, weil sie dann zweieinhalb daran verdiente. Und um die dickhäutige, taube Menge aufmerksam zu machen, kündigte sie mit ihrer blechernen Stimme die letzte, welterschütternde Sensation an:

Der Mord im Marseiller Express:
Zwei Banditen gefangen

Die Kunde von diesem Mord war schon den ganzen Vormittag durch Paris gesickert. Ich kaufte das Blatt. Ich las: Drei junge Menschen, von denen der eine meinen Namen trug, hatten vergangene Nacht im Marseiller Expreß, kurz vor der Einfahrt in Paris, ein Attentat auf den Erster-Klasse-Wagen begangen. Zwei von ihnen hätten sich an den Zugängen aufgestellt, um dem Dritten, mir, zu ermöglichen, in die verschiedenen Abteile mit gezücktem Browning einzudringen und seelenruhig die Hand- und Westentaschen der schlafenden Passagiere zu leeren. Indes, ein alter Offizier hatte das Pech, ausgerechnet in diesem Augenblick die Augen zu öffnen und an die irdische Gerechtigkeit zu glauben, weshalb ein winziges, unscheinbares Kügelchen seine linke Herzkammer aufbrach. Der Bandit ich hatte absolut das Gefühl, einen ungewohnten, aber sehr notwendigen Eingriff in ein sogenanntes Menschenschicksal zu vollbringen. Es entstand im Wagen eine tolle Aufregung. Aber die drei Verbrecher konnten bei einer Brücke, in deren Nähe das Gleis gerade repariert wurde, was den Expreß zum Verringern der Fahrtgeschwindigkeit zwang, kurzerhand in ein rotblondes Roggenfeld abspringen, weckten dabei eine schlafende Lerche auf und zertraten den wunderschönsten Mohn. Sie verschwanden bald in einem Wäldchen, das nach Waldmeister roch. Die Lerche erhob sich hoch in die Lüfte und teilte die Kunde von dem Attentat der ganzen Welt drahtlos mit. Bevor aber die altmodischen Gendarmen Frankreichs ihren Zweispitz überm Bett finden konnten, hatten die drei Banditen bereits ein Militärauto auf der Landstraße angehalten, den Führer heruntergeworfen und eiligst die Pariser Vororte, noch vor dem Expreß, erreicht. Dort trennten sie sich, im Torbogen einer niedlichen Dorfkirche.

Die letzte Spur des Hauptbanditen, der ich war, fand man in einem kleinen Café, desselben Örtchens, wo er ein Omelett von sechs Eiern und einen Liter Roten bestellt und mit einem Tausenderschein bezahlt hatte. Dann verlor sich die Spur im Dschungel: vielleicht in einer Elektrischen, vielleicht in einem Schwimmbad.

Das Blatt gab genaue Beschreibung des Haupttäters:

»Stürmisches Künstlerhaar. Sinnlicher Mund. Von Nachtwachen und Sternenbrand gerötete Augen. Schiefgebundene Krawatte. Gefährliche Allüren, wie sie jeder Europäer auf seinem Paßphoto aufweist. Zitronengelbe Handschuhe.«

Ich sah im Spiegel eines Schuhgeschäfts an mir herunter: Es stimmte alles! Ich erkannte mich wieder. Ich war der Mörder. Zum erstenmal seit dem Morgen empfand ich ein beglückendes Gefühl. Ich lebte. Ich war Mittelpunkt eines großen Geschehens.

Und da, was stand in den »Letzten Nachrichten«? Zwei Verbrecher waren in einem Spargelfeld bereits gefangen worden. Nur der Haupttäter, Ich, war unauffindbar.

Zitronengelbe Handschuhe. Ich fühlte, wie meine Hände dicker und schwerer wurden, anschwollen wie die Gliedmaßen gewisser Figuren von Picasso. Ich mußte die Handschuhe schleunigst ausziehen. Aber sie klebten wie eine Haut an meinen Fingern. Ich fand weder die Kraft noch den Mut, auf offener Straße daran zu nesteln. Sämtliche Passanten fixierten sie. Sie jetzt ausziehen, das wäre das Geständnis meiner Schuld gewesen. Die Leute, die in den Autobussen vorüberfuhren, hatten die Augen alle auf meine Hände geheftet. Meine Handschuhe zogen wie Magnete die Blicke der ganzen Avenue an: die einen betrachteten sie staunend, andere entrüstet, einige mitleidig, aber die meisten mit Bewunderung.

Was denn ging vor sich? In wenigen Minuten mußte ich arretiert werden. Und ruhig wanderte ich die Avenue herunter? Und hatte keine Angst? Bei einer Straßenkreuzung hob der Polizist plötzlich den weißen Stab: Für mich hielt er einen himbeerfarbenen Fiatwagen an, damit ich gefahrlos über den Damm gehen konnte. Er besah sich aufmerksam meine zitronengelben Handschuhe und sagte nichts. Eine reiche Kubanerin, wahrscheinlich vom Ritz, legte ihre großen, grünen Augen zuerst auf meine Handschuhe, dann auf meinen sinnlichen Mund, ahnte Verbrecherisches in mir und machte mir mit dem Kopf ein Zeichen, ihr in die gegenüberliegende Konditorei zu folgen. Ein alter Herr, die Zeitung groß vor sich entfaltet, sah mich im Vorübergehen plötzlich lächelnd an, sah in die Zeitung, sah auf meine zitronengelben Handschuhe, nickte, schüttelte den Kopf – und niemand zeigte mich an? War ich immun? Und warum?

Aber nun verbrannten mir die Handschuhe die Finger, als wären sie aus Schwefel. Ich mußte sie herunterreißen. Meine Hände würden ganz blutig sein. Immerhin, immerhin, sie mußten herunter. Ich trat in ein Café und hoffte, sie unbemerkt in der Türe ausziehen zu können. Es war eine Drehtüre. Um mir Zeit zu lassen, beschloß ich, mehrere Male im Kreis in der Drehtüre herumzugehen, aber jemand gab ihr gerade einen Stoß, und ich mußte sie im Laufschritt durchlaufen. Dabei gelang es mir nicht einmal, einen einzigen Knopf der Handschuhe zu lockern. So trat ich denn ins Lokal, die blendenden Beweisstücke vor aller Augen vor mir tragend. Mit gesteigertem Interesse musterten mich die Gäste an den Tischen. Die Frauen atmeten stärker bei meinem Anblick und überhörten alle Schmeicheleien oder Eifersuchtsszenen, die ihnen ihre Begleiter gerade ins Ohr raunten. Denn unter meinem Filzhut waren soeben die steckbrieflich denunzierten stürmischen Künstlerhaare hervorgequollen. Viele lasen gerade die Zeitung, verkündeten halblaut: »Zitronengelbe … sinnlicher Mund … schiefgebundene Krawatte …«

Schließlich erreichte ich, fast wankend, und mit einer Anstrengung, als hätte ich mich stundenlang durch Gebüsch schleichen müssen, einen kleinen weißen Marmortisch, neben einer Säule, und ließ mich dort nieder. Der majestätische Kellner, ein früher bekannter Sanskritforscher, sah auf meine Hände, tat aber so, als bemerke er sie nicht. Kaum hatte er den Rücken gedreht, wollte ich mich anschicken, endlich, endlich die schmerzlicher als das Nessushemd brennenden zitronengelben Handschuhe herunterzuzerren – da schob hinter der Säule ein kleiner, zittriger Greis seinen Bart und seine Goldbrille vor und lächelte mir zu. Er zwinkerte mit dem linken Auge, streckte eine lange, dürre Hand vor und griff nach einer der meinen, die ich eben unter der Marmorplatte versteckt hatte. Ich erschrak bis in die Eingeweide. Darauf nahm er aus der Westentasche eins jener zusammenklappbaren Mikroskope, deren sich die Tuchreisenden bedienen, legte es auf meinen Handschuh, beobachtete diesen genau, schob ihn dann etwas hoch und untersuchte auch meinen Handballen. Ich ließ alles wie im Traum mit mir geschehen und wagte weder die Hand zurückzuziehen noch eine Silbe hervorzubringen. Aber plötzlich ließ der Alte meine Hand los, sprang auf und schrie mit überkippender Stimme:

»Ich habe ihn! Den Eurokokkus!«

Niemand drehte sich um, niemand staunt heute mehr in einem Café, wenn ein Gast Irrsinn simuliert. Er beruhigte sich auch sofort, setzte sich jetzt an meinen Tisch und begann heftig zu weinen. Als er dann wieder zu sich gekommen war, erklärte er mir:

»Mein lieber, sehr geehrter Herr! Sie sind wahrscheinlich der unglücklichste Mensch in Paris! Aber Sie werden vielleicht dafür als der berühmteste Mann des zwanzigsten Jahrhunderts gelten. Sie gehören in die Galerie der Ersten. Genau wie Koch als erster den Tuberkelbazillus entdeckt, Peary als erster den Nordpol überflogen, Lindbergh als erster den Atlantik überquert und Marinetti als erster die moderne Dichtung proklamiert hat, sind Sie der erste Europäer, auf dem die Eurokokke sich in sichtbarem Zustand entwickelt hat.

Sie wissen nicht, was die Eurokokke ist? Es ist der Bazillus, der die europäische Kultur zerfrißt. Derjenige, der einmal den Tod dieses Kontinents hervorrufen wird. Ich bin Professor der Chemie an der Universität von Philadelphia, wohne aber schon seit zehn Jahren in Europa, um den Bazillus zu suchen, an dem Sie gerade kranken.

Ich fand zuerst die Eurokokke auf den Türmen von Notre-Dame. Da entdeckte ich eine Krankheit des Steins, die bisher noch an keinem Gebäude der Welt bemerkt worden war, weder an den Pyramiden noch am Straßburger Münster, noch an den ältesten Gräbern von Prag. Äußerlich merkt man gar nichts, der Stein splittert nicht ab, es sind weder Risse noch Höhlungen zu verzeichnen. Aber nach innen wird der Stein bis ins Herz, bis ins Mark hinein schwarz, verliert Gehalt und Gewicht, und gleicht einem Schwamm, der allen Rauch und alle Tränen der Stadt in sich gesogen hätte. Notre-Dame, lieber Herr, existiert schon heute nur noch in unserer Vorstellung, ist nur noch ein eingebildetes Gebäude, das der Realität nicht mehr dient, denn weder der Glaube noch Gott wohnen mehr in ihm: die Eurokokke hat diese zerfressen.

Einige Jahre später beobachtete ich dieselbe Eurokokke an einem Buch aus dem fünfzehnten Jahrhundert, das ich bei einem Bouquinisten auf den Quais erstanden hatte. Das Papier war ganz vergilbt und wies vorerst nur die bekannten braunen Altersflecken auf. Die Parasiten jeglichen Ruhms, Läuse und Würmer, hatten unter dem Einband kunstvolle Kanalanlagen und schattige Alleen gebaut. Aber nach langen, geduldigen Beobachtungen konstatierte ich auch das Vorhandensein der Eurokokke. Das Buch, das die Werke eines unserer größten Klassiker enthalten hatte, war seines geistigen Gehaltes vollkommen entleert. Die verschnörkelten Lettern hatten ihre Bedeutung verloren, die Sätze waren hohl, der Geist war verraucht. Dieser dicke, in Schweinsleder gebundene, mit roter Etikette und goldenem Aufdruck geschmückte Band wog nur noch neunundzwanzig Gramm und büßte jährlich zwölf Prozent seines Gehaltes ein. Ich stellte fest, daß die Eurokokke den Geist der Dinge zerfrißt.

Aber es dauerte wieder lange Jahre, bis ich den Bazillus auf einem lebenden Wesen rekognoszieren konnte. Und raten Sie mal, welches Tier mir geholfen hat, eine der wichtigsten Wahrheiten für die abendländische Kultur zu finden: ein kleines, räudiges Eselchen! Es gehörte einem der zahllosen Kehrichtsucher, die allnächtlich, zwischen zwei und sieben, in der ganzen Stadt die im Abfall und Auswurf enthaltenen tieferen Geheimnisse der Menschen untersuchen und für eine höhere Bestimmung verwerten. Die Kehrichtsucher sind die Leichenschänder der Träume, der Liebe und der Morde. Sie wissen viel, sehr viel, mehr als die Polizei, mehr als die Beichtväter. Aber sie schweigen, sie können nicht reden, sie sind vielleicht keine wirklichen Menschen, sondern nur Bündel von Staub und Lumpen. Die Maske des Elends macht ihr Menschliches unkenntlich. Sie nehmen die Schutzfarbe des Schmutzes an. Es sind Frauen darunter, auch junge Frauen, schöne vielleicht, die eine Quelle von Leidenschaften in ihrem Blut bergen, aber eine Schicht von Unterröcken, eine Kruste von Dreck sondert sie vom menschlichen Geschlecht ab. Sie sind die modernen Stadthexen. Knaben sind da, mit zarten rosa Fingerchen, und alte Männer, deren magere Arme zum Stochern gerade besonders geeignet sind. Das alles raschelt, keucht und rumort, zerrt, schleppt und schüttelt die Eimer in den tiefen Schluchten der Straße, als wären Ratten und Wölfe bei der Arbeit. Oft wachen die erschrockenen Schläfer oben davon auf, aber selten: denn kein Pariser läßt sein Fenster nachts offen. Einträgliches Geschäft übrigens: Jeder Kehrichtsucher hat seine Spezialität und seine besonderen Lieferanten: Die einen sind Abnehmer der Restaurants, die anderen der Warenhäuser, wieder andere beehren nur die Eimer der Privatbürger. Halbgenagte Koteletten und geschmorte Kuchen sind in Knopffabriken hochbewertet. Da sind müde Blumensträuße, die frühmorgens an einer Straßenecke einem armen Verliebten noch für wenige Sous weiterverkauft werden können. Und das Restaurant La Pérouse ist heute noch bei diesen Nebeltauchern berühmt, weil einmal einer vor vielen Jahren eine Perle in einer Austernschale fand und ein Prozeß entstand, um zu wissen, wem die Perle eigentlich gehörte: dem bretonischen Fischer, oder dem Spediteur in Cancale, oder dem Grossisten Prunier in Paris, oder dem Restaurateur, oder dem Gast Herrn Loucheur, oder dem Kellner, oder dem Hausknecht, der sie in den Abfall warf, oder dem Kehrichtsucher. Der Prozeß dauert schon dreizehn Jahre, und vier von den Beteiligten sind bereits verstorben; aber deren Erben haben sich versechsfacht. Doch um auf die Kehrichtsucher zurückzukommen, die Fahrzeuge sollten Sie sehen, die da zwischen zwei und sieben vor den großen Warenhäusern warten: Handkarren, Kinderwägelchen, mit vier Spielzeugrädern versehene Kisten, die von einem Hund gezogen werden, aber auch richtige große Wagen sind dabei und sogar zwei alte Automobile, die alle zum Transport der Tuch-, Papier- und Seelenabfälle dienen. Und manchmal sieht man gegen Morgen einen geheimnisvollen, völlig verschlossenen, mit vergitterten Fenstern versehenen Wagen, der einem Kloster gehört. Er hält an den Hintertüren aller Cafés. Zwei Schwestern mit fliegenden Hauben huschen heraus und sammeln in großen Töpfen den ganzen Kaffeesatz des Vortags, aus dem dann in den Waisen- und Altersheimen das abendliche Souper gebraut wird. Nichts geht in Paris verloren. Aber alles geht langsam in den Tod über. Nun, und unter allen obengenannten Fahrzeugen gab es auch ein Wägelchen, das von einem Eselchen, einem guten, alten Eselchen gezogen wurde, das schon gar nicht mehr echt war, keine Lungen und keine Gedärme mehr zu haben schien, nur noch aus Leder bestand, mit spärlichem Haar auf dem zerriebenen Fell, verregnet, verlaust, verlassen, verbittert, ein Eselchen aus Jammes' himmlischer Familie, das die guten und die schlechten Türen besser kannte als sein Herr. Es hatte lange, lange, lange Nächte Geduld gehabt. Vor einem gewissen Haus, einer Bäckerei, begann es am Morgen immer zu schreien, das klang herzzerreißend wie das Schofar der Juden, unmelodisch wie das Hobeln eines Brettes. Aber in der letzten Zeit wurde es oft von so wilder Sehnsucht befallen, daß es den Kopf mit den bewölkten Augen schüttelte und ein Schluchzen sich seiner einsamen Seele entrang, ein langes Weinen, das so unsäglich traurig war wie das Rufen aus fernen Frauengefängnissen.

Doch eines Morgens brach es einfach zusammen, wie ein leichtes Gerüst aus Holz, schlug mit den Hüfchen nicht mehr aus, legte sich inbrünstig auf die Erde. Aber es war nicht tot, seine Augen schwelten weiter. Und zum erstenmal in seinem Leben durfte es in demselben Wagen fahren, den es in soviel Regen- und Mond- und Winternächten immer hatte ziehen müssen. Man brachte es zu meinem Freund, einem Veterinär vom Quai Bourbon, der von meinen Entdeckungen auf Notre-Dame und dem alten Klassiker wußte. Er entdeckte auf dem Tier dieselbe Eurokokke, die nicht tötet, aber die Kraft und den Geist der Dinge und Individuen aufsaugt. So war das Eselchen nur noch ein Gerüst aus Knochen und einem Fell, das an den Ohren, auf dem Rücken und am Schwanz wie gegerbtes Leder aussah. Aber innen in seinem Leib waren Lunge, Herz und Leber längst zerstört und verschwunden, von den Eurokokken, der Krankheit des Jahrhunderts, ausgeleert und zerfressen.

Und nun blieb mir nichts mehr übrig, werter Herr, als die Eurokokke endlich auch auf einem menschlichen Wesen zu finden. Seit drei Jahren fahndete ich danach. Ich lebte nur noch auf der Straße, in Cafés und überall, wo Menschen sich ansammeln und drängen, in Fabriken, Untergrundbahnen und Theatern. Ich untersuchte vergeblich die hingerichteten Schwerverbrecher, die Kranken in den Gefängnissen von Saint-Lazare und der Santé, die jungen Bauern vor ihrer Musterung und die in den Ministerien von Paris vertrocknenden Beamten: vergeblich. Sollte ich den betrüblichen Schluß ziehen, daß die Europäer immun waren und ewig in ihrer Staub- und Latrinenkultur weiterleben würden? Da endlich finde ich Sie! Großer Mann, Sie sind der Heiland des Untergangs, der Prototyp, das Genie der Verderbnis. Halleluja! Sie leisten der Wissenschaft einen unermeßlichen Dienst. Ich grüße und segne Sie!«

Das Männchen stand auf, rückte seinen Stuhl zurück und kniete plötzlich zu Boden, um mir die Füße zu küssen. Sein Stuhl aber rempelte einen anderen an, der gegen den Nachbartisch schlug und dort ein Schokoladeeis sowie eine Schale Braun umwarf, die beide auf das weißseidende Kleid einer hübschen Dame flossen. Es entstand Geschrei und Ärger. Dem hinzutretenden Kellner erklärte ich, daß der Professor sein Taschenmesser unter dem Tisch suchte. In der Aufregung hatte ich schließlich ganz mechanisch meine zitronengelben Handschuhe ausgezogen und sie wie einen welken Strauß Dotterblumen auf die Tischplatte geworfen. Und doch, trotz der außergewöhnlichen Situation bemerkte sie niemand. Schließlich beruhigte man sich, und der Gelehrte setzte sich wieder mir gegenüber, als sei nichts passiert. Er dozierte sofort weiter:

»Es ist höchstwahrscheinlich anzunehmen, daß auch Sie nach dem Beispiel der Steine, der alten Bücher und der Esel innerlich vollkommen ausgeleert sind. Sicher haben auch Sie keine Leber, kein Herz, keine Seele mehr. Das heißt, auf Ihr Menschentum übertragen: Sie haben keinen Ehrgeiz, keinen Glauben und keine Liebe mehr. Gehören Sie zu jener neuen Jugend, die auf den Mangel dieser göttlichen Ingredienzien so stolz ist? Ich dachte es mir, ich wußte, daß ich nur in diesem dekadenten Café meine Beute finden würde. Nicht wahr, Sie haben auch kein Pflichtgefühl mehr, keine Ehrfurcht vor Eltern und Gott, keinen Respekt, keine Vernunft, keine Zucht und kein Ziel? Sie haben die Krankheit der Leere, auch Langeweile genannt, Sie haben die Eurokokke. Sie sind zu allem fähig, intelligenter weiser junger Mann, zum Selbstmord wie zum Mord. Sehen Sie, ein Mensch wie Sie könnte ganz gut der Bandit vom Marseiller Expreß sein …«

Und dabei nahm der Alte spielend einen der welken, zitronengelben Handschuhe und legte wieder seine Lupe an das Leder. Da verlor ich alle Beherrschung, riß plötzlich meinen Hut vom Ständer und lief zum Ausgang. Die Handschuhe ließ ich zurück: Mochten sie nun als Beweismaterial dienen, sei es für ein irdisches Verbrechen, dessen Schuld mich wenig bedrückte, sei es für meine menschlichen und göttlichen Versäumnisse, die mir auf jeden Fall ein Todesurteil einbringen mußten. Ich hatte die Eurokokke: Wie wahr mußte es sein. Flucht! Flucht vor mir selber: Das war das einzig Wichtige noch! So grausam und gemein würde keine Polizei und kein Schwurgericht mit mir sein wie ich selber. Ich floh durch das Lokal, ich flog im Kreise in der diesmal viel schwerer beweglichen Drehtür herum, wie ein Gefangener in seiner Zelle, wie ein Mühlenpferd, das Kilometer um sich selber macht und nicht versteht, warum es nie weiterkommt.

Ha! Die Eurokokke! Wie sollte es auch anders sein! Niemand hatte so wie ich den Atem und die Qualen der Stadt und dieser Zeit in sich eingesogen! Niemand war so verpestet mit Zweifel und Langeweile und Egoismus. Ich torkelte bewußtlos die Avenue wieder hinunter. Wie nebensächlich war jetzt die Geschichte mit dem Marseiller Expreß! Wieviel schlimmer die Anklage meines Bluts!

Nun erst verstand ich die Leere in mir! Daß ich meine Glieder nicht mehr spürte und längst nicht mehr bewußt war, wie ich das Knie kunstvoll beugte, um vorwärtszugehen, wie ich den präzisesten Organismus, den feinsten Mechanismus, die Uhr des Herzens, die Spannung der Nerven, die geölten Knochengelenke mißbrauchte, um eine wertlose Geste wie das Anzünden einer Zigarette zu machen.

Nun wußte ich, woher die Müdigkeit im Hirn: warum ich nur die gröbsten Dinge aufnahm und für Millionen von Fluiden, von Gefühlen und Spannungen verschlossen war wie eine Holzsäule. Und diese ewige Langeweile im Herzen, obwohl es soviele Südfrüchte, Frauenlippen, Abendwolken, Dichtungen und Meerfahrten gab wie sonst immer. Ich hatte Eurokokken! Ich war ausgesaugt, ausgelaugt, ausgeraucht. Ich hatte die europäische Krankheit.

Nur mit alten Straßen, alten Büchern, alten Steinen, alten Menschen lebte ich noch, äußerlich noch da und in Wahrheit längst erledigt. Auch ich war tot. Ich biß mich in einen Finger und spürte nichts. Eisenautomobile, Gebirge von Tonnen und tönenden Röhren schüttelten an mir vorbei, und meine Ohren vertrugen es. Millionen violetter Volt rissen die Wand der Nacht auf: und meine Augen wurden nicht blind. Wir reagierten nicht mehr auf Hochfrequenz.

Ganz Europa war mit Kokken vollgesogen, da roch es nach Kokken, da regnete es Kokken. Sie hatten sich in die Haut und in die Augen der Menschen eingefressen. Das letzte Zeichen war eingetreten, das letzte Stadium der Zivilisation war angebrochen: die Seele, das Gewissen, der Instinkt und das Bild Gottes waren gemeinsam schadhaft geworden. Dagegen halfen auch die gespenstischen Kirchen nichts mehr, in denen noch Abbes mit verdrehten Augen über knienden Weiblein das Weihrauchfaß schwangen. Nein, der Bazillus hatte sich in die Sehnen, Nerven und feinsten Gehirnspalten dieser Menschheit inkrustiert. Kontore des Geizes, Büros der Niedertracht, Kabinetts der Verleumdung, Agenturen des Mords, Vertriebsstellen des Lasters waren hier ins Handelsregister eingetragen. Auf breiten Kupferschildern las man an den Haustüren die Namen alteingesessener Geschäftsfirmen: Société mutuelle d'aide aux filles-mères. – Comptoir général des hôtels pour l'adultère. – Crédit Idéal. – Association des veuves des condamnés à mort. – Société des anciennes pensionnaires de Saint-Lazare. – Vente et cession d'anciennes amours. – Accidents de travail et d'amour. – Assurance contre les maladies vénériennes.

In jedem Stockwerk dieser Häuser, in jeder Wohnung, in jedem Zimmer, in jedem Schrank, in jedem Kontobuch waren die Eurokokken eingenistet. Es schien nur ein einziges Mittel, wenn auch nur zur Betäubung, nicht zur Heilung der Krankheit zu geben. Die Bestrahlung mit Gold. Gold wirkte besänftigend wie Aspirin. Die Menschen konnten die Verheerung der seelischen Krankheit mit Goldpuder verdecken. Die Frauen schminkten sich Lippen und Haare mit Goldstaub, die Männer ließen sich die angefressenen Glieder durch goldene ersetzen. Aber der Kenner durchschaute den Schwindel. Er sah die aufgeklebten Lächeln auf den Gesichtern blutjunger Greise, die falschen Schnurrbärte und die geheuchelte Weltsicherheit.

Ein Aussätziger war ich in dieser verwesenden, entwesenden Stadt. Was halfen türkische Bäder, schwedische Gymnastik, indische Upanishaden! Ich war ein Sieb, in dem kein Tropfen mehr hielt, ich war ein Glasmensch, ohne Blut, ohne Seele, durch den die Sonne glatt hindurchschien wie durch nichts. Ich trug in mir die ganze Schuld dieser Armen: Ich war ein Verbrecher unter Verbrechern, ein Blinder unter Blinden. Eigentlich waren sie alle harmlose Kinder, diese Volksmenschen, die in ihren Fuselgassen mit blinkenden Puppen des Fortschritts, mit silberweißen Maschinen voll pfeifender Elektrizität spielten, sie streichelten und auf sie stolz waren, ohne von ihnen Näheres zu wissen.

Mitten in zerfallendem Gehäus ein Kino mit einer grellen rosa Bogenlampe, mit Bildern von satanischen Detektiven, von Naturkatastrophen oder lachenden Löwen. Ein frecher, übermütiger Name: Globus- oder Napoleon- oder Gottes-Cinéma. Die größten Worte wurden verbraucht für Zigaretten- oder Klosettpapier. Alle Genies und alle Götter ihres absoluten Wertes beraubt: Die Eurokokke zerfraß alles.

Ich schlenderte durch die Rue de la Truanderie im Hallenviertel. In der Auslage eines Antiquars war eine Seite in einem alten Schmöker aufgeschlagen. Ich las: »Hier in der Truanderie wimmelte im dreizehnten Jahrhundert Geschmeiß der Menschen im Mist, herrschten die Hungersnot, die schwarze Pest, das gelbe Fieber und der Sankt-Veitstanz …« War es heute viel besser?

Und eine Angst, eine sinnlose Angst vor mir selber trieb mich im Regen durch diese Hölle. Denn die Eurokokke übertrug sich nicht durch Berührung, sondern auf die Ferne hin durch Worte und durch bloße Blicke. Was nützt es noch, ihr armen Leute, vor kahlen Polikliniken Schlange zu stehen, wo Assistenten ohne Ehrgeiz ihre Kenntnisse von Krebs- und Syphilisbehandlung erproben! Geduldiger, geduldiger Pöbel. Euer Heiland Pasteur kann euch diesmal nicht retten. Die Zahnärzte plombieren vergebens. Die Psychoanalytiker geilen sich umsonst an eurer Psyche an. Ihr werdet nicht mehr gerettet werden. Ihr habt die Eurokokke, ihr Träger der Kultur, was ihr auch tut!

Kaufet! Verkaufet! Kaufet Salat. Verkaufet Perlen. Kaufet Sommermäntel. Verkaufet Hustenbonbons. Kaufet Utrillos. Verkaufet Streichhölzer. Werdet Feuerwehrmänner. Übersetzet Shakespearesonette. Haltet politische Reden. Heilet Nasenkrankheiten. Macht Radfahrwettrennen mit. Fertig.

Kölner Dom. Weiße Woche. Warschauer Sportklub. Völkerbund. Die Eurokokke! Die Eurokokke!

 

Nach toller Wanderung durch den Traum der Wirklichkeit gelangte ich, ich weiß nicht wie, exakt um fünf Uhr, zur Bar de l'Ennui. Sie war bekannt, entgegen den übrigen Lokalen dieser Art, als eine moralische Anstalt. Ein Armenier, Dr. Syrianx, leitete sie. Von Haus aus Spiritist, Fakir und Perlenhändler, hatte es Dr. Syrianx für nötig befunden, diese Bar aufzumachen, als bestes Reklamemittel für seine Hauptberufe: Er wollte gewissermaßen einen horizontalen Trust en miniature ins Leben rufen, indem er den Gästen der Bar zu den Drinks auch die nötigen Träume verabreichte. Außerdem erhielt der horizontale Trust noch eine weit größere Bedeutung dadurch, daß Dr. Syrianx der stolze Vater dreier Töchter war, denen er mit der Bar eine vorläufige Lebensstellung sicherte. Diese drei Töchter hießen Li, La und Lu: sie waren respektive blond, schwarz und rothaarig, einundzwanzig, siebzehn und vierzehn Jahre alt und stammten von drei verschiedenen Müttern ab: Li von einer schwedischen Malerin, La von einer rumänischen Königin, und Lu war eine authentische Tochter der Goulue von Toulouse-Lautrec und von der Assistance Publique aufgezogen worden, bis Dr. Syrianx sich plötzlich ihrer erinnert hatte. Li trug ihre Frisur à la Garçonne, La den griechischen Knoten à la Sappho, Lu den Scheitel eines Tennismeisters.

Li hatte eine künstlerische Ader, La eine mütterliche Seele, Lu war nur Jungfrau.

Als ich eintrat, empfing mich Dr. Syrianx in einem purpurnen Talar und entschuldigte seine Töchter, die im Augenblick aus einer Vorlesung in der Sorbonne zurückkehren würden. Inzwischen zeigte er mir ihre Photographien in verschiedenen Stellungen und Gewändern und bat mich, eine Wahl zu treffen.

»Wenn Sie den Sport lieben, dann Li, werter Herr. Sie hat das Dreihundert-Meter-Rennen gewonnen. Sie ist artig, und wenn Sie ein Dichter wären, würden Sie ihre Schenkel mit denen der Antilope vergleichen. La hingegen ist warm wie die Mittelmeerküste. Sie kümmert sich um Ihre Seele. Sie bindet Ihren Schlips besser. Sie gibt Ihnen nur einen mütterlichen Kuß auf die Stirn. Und sie schreibt Kritiken in der Nouvelle Revue Française. Aber Lu, na! Die Lilie im Wappen Frankreichs, die Jeanne d'Arc ohne Rüstung. Echte Sommersprossen auf den Schläfen. Und das Alter wissen Sie!«

»Ich bin ein Freund d'Anglades, der mich hierher bestellt hat«, gelang es mir endlich, mich vorzustellen.

»Dann nehmen Sie bitte Platz, La und einen Sherry!«

Und Dr. Syrianx verschwand hinter der Bar. Er kam aber im Nu wieder:

»Ich habe es sofort gemerkt. La ist die Frau, die Sie brauchen! Nein! Keine Widerrede. Diese Bar ist ein humanes Institut, in welchem Frankreichs genialstes Erbe wieder zur Blüte getrieben werden soll: Ich will Liebe mit Geist vermählen. Sagen Sie mir, wo es das in Europa noch gibt!«

Ich antwortete ihm, daß er da in der Tat ein herrliches ideales Unternehmen leite, und fragte ihn, ob seine Töchter mit seinen Prinzipien einverstanden seien. Dr. Syrianx gab traurig zu, daß er auf die Gestaltung ihrer Charaktere wenig Einfluß haben könne, daß er aber für ihre Erziehung im Hinblick auf Geist und Liebe alles Nötige getan habe: sie seien zuerst in einem Klosterpensionat erzogen worden, dann bei Dalcroze. La habe studiert und eine Doktorarbeit über die Pompadour geschrieben, Lu habe den ersten Preis im Schnellmaschinenschreiben.

Dr. Syrianx sah oft nach der Tür. Sie kamen nicht. Da brachte er neue Photographien: die Galerie ihrer Geliebten. Er wies insbesondere auf die Bilder von Bela Kun, Oskar Kokoschka und Clémenceau. Endlich erschien La, in wunderbarer Pracht. Sie gab ihrem Vater Hut und Kollegheft, und mir einen bebenden Kuß auf die Lippen. Ich verstand, daß ich die Situation nur durch Übertrumpfung beherrschen könnte, und erzählte La, ich sei soeben im Flugzeug aus London herübergekommen, nur um die Form ihrer berühmten Brüste zu inspektieren. Darauf erzählte ich, ich sei in Saloniki gewesen, wo der Schatten der Bäume purpurn ist. In Leningrad, wo die Menschen plötzlich auf den Straßen stehen bleiben, voreinander in die Knie fallen und weinen. In Berlin, wo die achtzehnjährigen Jünglinge bereits hochrote Glatzen tragen. Zuletzt verriet ich ihr, daß ich einer der siebenundzwanzig unehelichen Söhne von Anatole France sei: daher mein Talent!

Aber La blieb im Spiel nicht zurück: Sofort verglich sie mich mit dem Seraph des Romans »La Révolte des Anges« und fuhr mir mit der Hand durch die Locken. Wie ich aber dieselbe ergreifen und an die Lippen führen wollte, zog La sie schnell zurück und lachte:

»Ich mag den Großpapa France gar nicht, und seine Enkel werden darunter leiden müssen. Sie haben sich einen schlimmen Paten gewählt. All ihr Jungen von heute, die ihr sozusagen öffentlich seinen Kadaver beschmutzen wolltet, seid seine erblich belasteten Nachfahren. Eure heutige Ungeduld, eure Skepsis, euer Nihilismus unterscheiden sich in nichts von seiner alten sterilen Ironie. France und Dada sind von einer Familie: er vor, ihr nach dem Krieg. So zum Beispiel d'Anglade …«

Diese Rede mißfiel mir nicht. Die Hetären sind heute Hüterinnen der Kunst, ohne den Beigeschmack der Précieuses Ridicules. Die Poesie ist in ihren Händen besser aufgehoben als bei den Bürgerinnen. Aber nährt sich da nicht die Kunst auf Kosten der Liebe? Geist ist ein starkes Narkotikum für das Herz. Umsonst versuchte ich, ihre Fingerspitzen zu haschen. Sie hatte zu viel kluge Gedanken über den zeitgenössischen Roman. Sie sträubte sich so lange, bis ich mich wirklich verliebte. Je länger wir uns unterhielten, desto feierlicher wurde ihre Stimme, desto reiner erschien ihr Körper. Bald wagte ich selbst nicht mehr, auch nur ihr Kleid zu streifen. Und ein herrliches Gefühl verbrannte mir die Kehle.

»Was Liebe ist?« dozierte sie plötzlich auf eine Frage von mir. »Liebe ist, wenn mein Freund, der Maler Giacomo mit seiner jungen Frau und einem dreijährigen Töchterchen jahrelang durch Europa einer polnischen Schauspielerin nachreist, die ihm nicht die geringste Beachtung schenkt. Er hat wenig Geld, steigt in den kleinsten Hotels ab, kocht die Mahlzeiten für drei Personen selber und verkauft hier und da eine fremdartige Landschaft. Er und seine Frau und sein Töchterchen reisen hinter der Truppe her nach Barcelona, nach Dieppe, nach Southampton, nach Oslo, nach Smolensk, und immer findet sich ein kleines billiges Gasthaus gegenüber dem Theater, in dem die Geliebte auftritt. Giacomos kleine Frau spioniert und kundschaftet die Schauspielerin aus und meldet, wie ein flammender Brief aufgenommen worden ist, wie der Applaus war, wann weitergereist wird. Mit ihrem liebeszerfressenen Giacomo stellt sie sich an regnerischen Abenden ans Fenster und wartet auf den Ausgang der Künstler, bis sie vorbeikommt. Eines Tages ereignet es sich um elf Uhr früh, daß die dreifältige Familie träumerisch am Hotelfenster lehnt, das Töchterchen, vom Vater gehalten, spielt mit dem rankenden Herbstlaub, das das Haus umrahmt. Da, plötzlich, unerwartetermaßen, kommt sie die Straße herunter: mit ihrem edlen Antilopengang, mit ihrem gewitternden Haar und der Pelzjacke vor Schreck läßt Giacomo sein Kind vom zweiten Stock auf die Straße fallen. Aus dem Köpfchen sickert Blut. Es ist tot. Aber Giacomo schreit nicht, er läuft nicht die Treppe hinunter, seine Augen, gebannt, bewundern nur die Bewegung, mit der sich die Geliebte jetzt andächtig über die Kindesleiche beugt, und er zittert, weil er sie jetzt zum erstenmal wird ansprechen dürfen …«

Ich aber, kann ich lieben? Habe ich je im Leben das Gefühl gehabt, dreimal so groß, dreimal so schön, dreimal so stark als alle anderen Männer auf der Welt zu sein, weil ich zwei goldene Frauenaugen bei mir trug, die meinen übermenschlichen Wert ausmachten? Nun weiß ich, warum ich arm gewesen bin bis heute: weil ich niemand hatte, dem ich mein Ich, dem ich die Welt schenken konnte!

La will ich lieben! Ich liebe La!

Ihr Haar illuminiert Paris wie ein unerwartetes Abendrot. Ihre samtene Altstimme übertönt die Klagen des Eisens, der Armut und der Kranken. Was sie sagt, ist die lautere Wahrheit, die tiefste Wahrheit. Ja, bevor ich La kannte, wie konnte ich glauben, daß ich lebte! La ist eine neue Zeitrechnung: sie wirft den ganzen gregorianischen Kalender um. La widerlegt alle von den bisherigen Astrologen aufgestellten Himmelskarten: La, das wichtigste aller Sternbilder, hat noch keiner entdeckt! La diktiert ein neues Bürgerliches Gesetzbuch.

Was bin ich ohne La! Was Frankreich ohne La! Zu Ehren Las ist der blaue Monat April erfunden, zu Ehren Las schmückt sich der Eiffelturm mit roten Tulpen, zu Ehren Las werden die Osterzicklein geopfert.

La hat einen Hals aus Perlmutter, blonden Flaum über den karminroten Lippen, ihre Augenlider sind aufgespannt wie Sonnenschirme. Sie lächelt und fragt mich, ob ich noch einen Porto trinke. Ja, liebe La, ich trinke noch einen Porto. La schreitet langsam und königlich durch den Raum. Sie ist ein vollkommenes Kunststück. Sicher und geölt sind ihre Bewegungen wie die eines Rolls-Royce, rapid und fehlerlos. Eine solche Vollendung ist beinah furchterregend, wie die einer ägyptischen Statue. Fehlt ihr die Menschlichkeit? Immerhin, diese Frau zu lieben macht mich stark, vielleicht allmächtig. Nie blickten die Frauen noch so nach mir. Ich fiel ihnen nie auf. Aber jetzt, wo ich reich und schön bin, weil ich liebe, werden mich aller Augen suchen. Die Frauen, die in das Lokal treten, drehen sich instinktiv nach mir um, wie die Blumen nach dem Licht. Nur dem Reichen fallen die Kapitalien zu. Nur wer Glück hat, auf den vertraut die Welt. Die Liebe ist ein Heiligenschein um unseren Hut, von dem wir selbst nichts ahnen, der aber unsere wahre Gewalt bedeutet.

 

In diesem Augenblick fühlte ich in mir den unerklärlichen Drang zu knien. Es zog meine Glieder, mein ganzes Ich nieder und erdwärts. Ich wollte nichts mehr bemängeln auf dieser Welt, zu allem wieder Ja sagen, wieder mich wundern und alles bewundern, lieben, lieben, lieben.

Da trat unvermittelt Henry d'Anglade in die Türe und lähmte mich mit seinem Blick. Das kaum gelöste Gefühl floß in mein Innerstes und Verschlossenstes zurück. La nippte an ihrem Glas, zupfte an ihrem Haar. d'Anglade nahm sich die Zeit nicht, seinen Hut aufzuhängen, La's Hand zu küssen: tödlich traurig war seine Stimme, mit der er neben mich trat:

»Nun? Das Ergebnis? Ist es ein Anfang? Ist es das Ende?«

Er meinte damit die Tragödie Europas. Ich und La verstanden ihn sofort. Ein Schweigen entstand, als ob von mir das Schicksal des ganzen menschlichen Geschlechts abhinge. Ich hatte die Pflicht, demjenigen einen genauen Rapport zu erteilen, der mir am Morgen den Weg zu einer neuen Betrachtung der Welt gezeigt hatte. Ich erzählte haarklein jeden Schritt und jeden Gedanken des verflossenen Tages. Ich erstattete Bericht über die Entdeckung der Eurokokke. La schmiegte sich warm an mich. d'Anglade nickte freundlich. Als ich geendet hatte, sagte er:

»Ich bin mit Ihnen zufrieden. Sie gehören zu den Unseren. Einige Jünglinge, die wie Sie die Erkenntnisse des großen Sterbens in sich tragen, bilden eine geheime und geschlossene Sekte, in die nur die ganz Auserwählten aufgenommen werden. Wir sind gegen alles, weil alles zwecklos geworden ist: wir verleugnen die Arbeit, jedes Tun und jedes Gefühl, den Fortschritt, die Schönheit und die Liebe. Wir sind fertige, erledigte, leere Erben. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu streiken. So wie neuerdings in den Gefängnissen die Verurteilten hungern, so machen wir den Streik der Liebe, des Denkens und der Moral. Das europäische Zeitalter ist im Verlöschen. Es hat keinen Sinn mehr, etwas retten zu wollen. Auch der Zerfall ist eine Wollust, genau wie das Werden. Der Herbst ist ebenso sinnlich wie der Frühling. Im Sterben ist ebensoviel Größe wie im Zeugen.«

d'Anglades Gesicht war eine furchtbare Maske der Verzweiflung. La fuhr mit der silbernen Hand über sein Haar. War die Bar so klein? Lauerte draußen im Himmel ein Gewitter? Ich hatte plötzlich die Empfindung, nicht mehr atmen zu können, zu ersticken. Jetzt, zum erstenmal in dieser Atmosphäre, schien sich etwas in mir, eine letzte Regung der Jugend, gegen das Unabänderliche zu sträuben. Und ich selber, der ich vorher meinen eigenen Zerfall und die hochwichtige Existenz der Eurokokke verkündet hatte, ich begann mich gegen diese Wahrheiten zu wehren und zu opponieren.

Ein neuer Gedanke leuchtete in mir auf:

»Gewiß,« sagte ich, »die Eurokokke zerfrißt uns. Es ist eine Krankheit. Gibt es nicht gegen alle Krankheiten Abwehrmittel? Könnte ein solches jedenfalls nicht morgen oder übermorgen gefunden werden? Warum so ganz verzweifeln? Und Amerika? Die Hygiene? Das Radio? Das Tennis? Das Petroleum? Der Flug zum Mond? … Ich hab's! Könnte gegen die Eurokokke nicht das Amerikoon angewendet werden? Kommt es nicht zum großen wissenschaftlichen Kampf?«

»Nein, nein, nein!« ereiferte sich d'Anglade böse. »Das Amerikoon kennen wir längst. Es ist ein Quacksalbermittel. Es ist ein buntes aufgeklebtes Plakat auf die zerfallenden Klostermauern von Paris. Eine aus Corned Beef und Watermantinte fabrizierte Amerikoonpille ist ein nutzloses Medikament gegen unseren Kopfschmerz und geht uns auf die Dauer aufs Herz. Das stört nur unseren Blutkreislauf und tilgt die Eurokokke nicht mehr aus. Wir wollen unsern eigenen Tod sterben, nicht den der andern. Das ist der Heroismus Europas. Es kämpft mit seinem Geist, dessen Schwächen es bereit erkannt, allein, isoliert, unverstanden, aber bis auf den Tod, gegen den transatlantischen Ungeist, gegen den metallenen Koloß, gegen die neuen Ägypter. Es kämpft durch Streik, durch Absage, mit dem Spott und dem Lächeln. Es kämpft durch die Verwesung. Es kämpft gerade mittels der Eurokokke. Es hat keinen Sinn, den neuen, stierhaften, urstarken Ungeistigen, den Amerikanern ihre Arbeit zu erleichtern. Sie wollen Europa kolonisieren? Der Geist verflüchtige sich, dessen sie unwürdig sind. Sie sollen erst tiefe Sümpfe austrocknen, wie alle die anfangen.«

d'Anglade sprach mit solcher Überzeugung und Inbrunst, daß ich mich bereits schämte, ihm widersprochen zu haben. Er hatte recht.

Hatte ich nicht den ganzen Tag über selbst nur Argumente für seine eigene These gesammelt? Wozu widersetzte ich mich jetzt? Vielleicht nur deshalb, weil gerade, wie er hereintrat, die Offenbarung der Liebe über mich kommen sollte? Und weil ich jetzt bedauerte, zu sterben und zu verzichten, genau wie ein Selbstmörder im kalten Fluß plötzlich wieder zu schwimmen beginnt?

Ich stöhnte gequält, leise, fast unhörbar: »Aber ich liebe La!«

Da entriß mir La die weiche, die warme, die silberne Hand, die ich ergriffen hatte, und lachte mich schallend aus.

»Sie sind albern, süßer Jüngling! Sie wissen nicht, was die Liebe ist! Ein Kuß ist das Verlangen nach der Himmelspforte und das Finden eines kleinen, schnell ermüdeten Mundes. Langeweile, nichts als Langeweile alles!«

»Was ist denn nicht Langeweile?« fragte ich naiv.

»Alles ist Langeweile«, erklärte d'Anglade rasch, um einem neuen, ihm peinlichen Liebesausbruch von mir zuvorzukommen. »Langeweile ist die andere Epidemie, die Europa für den Untergang reif macht. Langeweile ist das Endergebnis jeder Zivilisation. Sie ist die Arteriosklerose der großen, denkenden Völker. Immer kommt ein Moment, wo selbst Gott, heiße er Zeus, Zebaoth oder Zoroaster, sich nach Erschaffung seines Universums, fragt: ›Eigentlich, wozu das alles?‹ Er gähnt und schmeißt alles zusammen. Das Gleiche tut der Mensch mit seiner Zivilisation. Langeweile ist der Zustand einer Rasse, die nicht mehr glaubt und der es trotzdem gut geht. Langeweile ist, wenn alle Uhren des Kontinents unweigerlich richtig gehen. Wenn im Monat März wieder dieselben naiven Blumen blühen. Wenn täglich der Tod guter Familienväter angezeigt wird. Wenn im Balkan ein Krieg ausbricht. Wenn in einem Gedicht von Sternen die Rede ist. Langeweile ist ein Symptom des Alterns. Langeweile ist die Diagnose der langsamen Entwertung aller Tugenden und Talente durch Verbrauch. Langeweile ist die lebenslängliche Verdammnis zu einer Daseinsform, die an sich erschöpft ist.«

Diese Worte drangen in mich ein, wie schleichendes Leuchtgas in die geöffneten Lungen eines Schläfers.

Henry sprach weiter:

»Aus Trotz habe ich zum Beispiel den schwersten Beruf gewählt, den es gibt: nichts zu tun! Ich tue nichts aus Prinzip, ja aus Askese. Nichtstun ist die schwerste Folter, der sich der Mensch unterziehen kann. Denn immer ist er seinem Ich gegenübergestellt, das Rechenschaft fordert für die Sonne, die er nutzlos verbraucht, für die Energiequellen in seinem Organismus, für das Weisheitsgold im Bergwerk seines Hirns. Die Masse arbeitet, schuftet, vergißt. Sie trinkt den Alkohol ihres Schweißes. Arbeit ist Flucht vor der Verantwortung und vor Gott. Seitdem der mystische Glaube aus Europa verbannt wurde, errichtete man der Ratio Ruhmessäulen, um irgend etwas an die Stelle des Kreuzes zu setzen: Die französische Revolution nannte ihre Göttin Vernunft, die russische ihren Moloch Arbeit. Aber die Maschine Europa arbeitet leer: Sie füllt Mägen mit gefälschtem Brot, sie baut künstlerische Häuser aus Eisenpapier, die Ware ist schlecht, der Lohn gering, und am Ende der sechs heiligen Arbeitstage steht der unheilige Sonntag, den man verschläft, aus Angst vor der großen Langeweile, die Europa infiziert. Der Sonntag, der Tag des Nichtstuns, ist heute eine Strafe für die Christenheit, die Städte zerfallen zu seellosen Ruinen, die Natur ist Kulisse für staubigen Sport. Nichtstun aus Prinzip, mein Lieber, das ist heute die schärfste Revolte!«

Da senkte ich den Kopf. Hatte ich nicht dasselbe empfunden, den ganzen Tag bei meinem Rennen durch Paris? Die Menschen gemustert in ihrem Tun, und alles lächerlich gefunden? Gearbeitet, und war die Arbeit nicht zur Quelle maßlosen Ekels geworden?

»Es lebe die Eurokokke!« rief ich und trank meinen Porto aus. Nun wehrte ich mich nicht mehr in bäurisch-gesundem Optimismus, ich tötete die heuchlerische Illusion von Jugend in mir: Ich fühlte, wie krank ich war, schwerkrank, und wollte es nicht mehr verbergen.

Da war sie, die Eurokokke, lieber Professor! Hier unter meiner Haut, hier, hinter den schönen Wimpern Las, hier neben dem furchtbaren Lächeln Henrys: Sie hatte uns bereits die Seele zerfressen, und wir Lederpuppen lebten nur noch aus bloßer Gewohnheit. Da war sie, die Eurokokke, in unserem Herzen, das einsam stand wie ein ausgeplündertes Schloß, die Türen eingestoßen, und jeder Passant legte sich für eine Nacht hinein und ging, von Ungeziefer zerbissen, von dannen.

Es gab keine Liebe mehr. La hatte recht. Und was ich ihr vorhin schwor, waren alte Reminiszenzen.

Eine schwüle Langeweile chloroformierte uns.

»Wir wissen nicht!« hatte ein humaner Wohltäter in gigantischen Lettern über den Boulevards anschlagen lassen.

»Was sollen wir tun?« fragte ich tonlos über den Tisch.

»Wir brauchen uns absolut nicht zu beklagen,« erklärte Henry. »Es geht uns ganz gut. Wir müssen nur mit uns konsequent sein. Wir müssen als unser Ideal aufstellen, kein Ideal zu haben. Die Ideallosigkeit aber bringt uns das höchste Gut auf Erden, zu dessen Erlangung eigentlich sämtliche Ideale der Menschheitsgeschichte aufgestellt worden sind. Nämlich: die Freiheit, die absolute Freiheit … Aber diese Theorie möchte ich Ihnen in einem geeigneteren Milieu vortragen. Kommen Sie heute abend in die ›Bar de la Mort‹.« Henry hatte wahrscheinlich bemerkt, wie sich meine Züge verzerrt hatten. Ich focht innerlich den letzten Kampf mit allen alten Geistern, die mich noch bevölkerten, aus: mit den Augen meiner Mutter, mit den Engeln heiliger Bilder, mit den revolutionären Phrasen von der Menschengüte, mit den Paragraphen der Gesetzbücher. Und es drängte mich, noch eine letzte Rettung vor der gräßlichen Krankheit der Leere zu versuchen: mich zu stürzen auf die reine Natur, an die Naivität gottergebenen Wachstums zu glauben, wo nicht gedacht, gedeutet und gelächelt wird, sondern der Sonne und der Winde Lauf Gottes ewigen Willen bekunden.

Es war der Monat Mai. Und der süßliche Porto floß bald als Abendrot westlich über den Himmel, den ich schon so lange nicht mehr geschaut. Oh, den Mai verspüren wie die kupfernen Käfer, die blanken Hechte, die rosa Bäumchen. Mai war es in den Spargelfeldern von Lorry, Mai auf den Narzissenhügeln von Vevey, Mai in den Akazienalleen von Odessa, Mai des Wacholders, Mai der Wiesel, Mai der Lerchen, Mai in der ganzen Abendwelt!

Ich verließ Henry und La mit zitterndem Mund. Ein Taxi brachte mich zur Gare St. Lazare. Ich durcheilte die schwerflüssige Menge der Reisenden wie ein Verzweifelter, den ein Telegramm zum Totenbett der fernen Braut gerufen.

Zum Totenbett des bräutlichen Waldes von Saint-Cloud nahm ich mein Billett. Zwischen ahnungslose Bankbeamte und Kulturträger geklemmt, die gierig in der Zeitung Einzelheiten über den Mord im Marseiller Expreß und meine Flucht lasen, erreichte ich endlich den Ausgang zur Natur. Hier wollte ich noch einmal den Tod in Gegenwart von großen Zeugen zur Rede stellen.

Natur: Vielleicht warst du noch dieses eine Mal der Notausgang aus der Katastrophe der Menschheit! Natur, kleine Demut und Schauplatz frenetischer Dramen, Welt der urhaften Passionen, voll alter Liebe und Eifersucht und Haß und Angst und Ehrfurcht, voll dessen, was uns Ausgesaugten, Ausgehöhlten fremd ward. Welt der Gräser, der Leberblümchen, des Löwenzahns, des Rittersporns und Sauerampfers, die mit ihren Kelchen und Staubgefäßen und Samenkolben Erschütterung und Verzweiflung kennen, Welt der Hirschkäfer, der Molche, der silbernen Fischlein im Bach, der samtenen Marder, der feurigen Eichhörnchen, der betrunkenen Ligusterfalter, alle Wunder der Jahreszeiten und der Zoologie! Zu dir, zu dir wollt' ich mich retten, an dich in letzter Hingabe mich werfen!

Und ich eilte hinauf, den Hügeln entgegen, über Chausseen, die noch das Echo königlicher Karossen bargen. Der Abend sank, und die Sonne, hinter den bereits schattenhaften Bäumen, hing wie ein abgeschossener Fasan mit wildstiebenden Goldfedern im Gezweig. Da plötzlich merkte ich es, ein Schrecken verwandelte meine Augen in Glas: Ich warf keinen Schatten mehr! Ein neuer Peter Schlemihl, hatte ich meinen Schatten verloren! Ich trat auf die Seite, wie einer, der glaubt, er stehe jemandem im Weg oder er trete auf seinen zu langen Mantel: aber nein, es war kein Schatten da. Ich war wesenlos, nicht mehr verbunden mit Raum und Erde, unecht, unwahr. Aber noch erschreckender war dies: Auch die Bäume, die Statuen und die Laternen warfen keinen Schatten, obwohl das Gold der Sonne aus dem Tiegel des Himmels rann, locker und flüssig!

Die Erlen, Buchen und Eichen hatten nicht mehr die Stütze des Schattens und glichen verkohlten Überresten eines großen Feuerwerks, das am Abend vorher stattgefunden hätte. Das Feuerwerk des untergehenden Europas! Nichts vermählte die Dinge mehr mit der Erde. Die Sonnenstrahlen schienen durch die löchrigen, durchsichtigen Baumstämme hindurch wie auf den Bühnen.

War auch die gesamte Natur nur noch Staffage, Kulisse, Täuschung? Das Musée Grévin einer vermoderten Welt?

Die schwarzen Schwäne im poetischen Teich spiegelten sich ebenfalls nicht mehr, aber sie sangen, ihre Stimmen waren die letzten weit und breit und tönten schmerzhaft wie die Klagen in Spitälern. Im Hintergrund der Landschaft galoppierten einige Amazonen auf Mahagonipferdchen: Waren sie lebende Gestalten oder Visionen? Man hörte das Getrappel der Hufe nicht auf dem Steinweg und auch kein helles Auflachen der Frauen: Und selbstverständlich warfen auch sie keinen Schatten.

Zwei Rehe sahen mir ruhig aus dem Brombeergebüsch zu, wie ich verzweifelt in der Hauptallee gestikulierte, aber sie liefen nicht weg und schnupperten weiter, als existierte ich nicht …

Ja existierte ich noch? Ich fuhr mir über Stirn und Glieder und spürte mich nicht. Eine wahnsinnige Angst befiel mich.

Ich lief zurück, ich lief über Böschungen, über Bänke hinweg, über kunstvolle Blumenbeete und Wasseranlagen, ich lief an radelnden Parkwächtern vorbei, die vergeblich versuchten, mich anzuhalten, warf einen Kinderwagen um, zerriß mir den Ärmel an einem Zaun, lief und lief bis zum Bahnhof, in einen bereits fahrenden Zug hinein. Und einem Reisenden im Abteil konnte ich Atemloser auf seine neugierige Frage nur das eine Wort zuraunen:

»Die Eurokokke!«

 

Dies sonderbare Benehmen mußte großen Argwohn erweckt haben. Sicher hatten der Parkwächter, der mich mit so schlechtem Gewissen durch den Abendwald hatte rennen sehen, und der Bahnbeamte, den ich, ohne ein Billett vorzuweisen, zur Seite gedrückt hatte, sofort nach Paris telefoniert und meine Personalien angegeben: »Schiefgebundene Krawatte … von Lesen und Weinen gerötete Augen …« Gottseidank hatte ich die zitronengelben Handschuhe nicht mehr. Am Pariser Bahnhof merkte ich auch sofort, daß mir mein Coupénachbar auf den Fersen folgte: Sein Blick packte mich am Mantelkragen stärker als eine Faust.

Uns entgegen prallte die hastende Menschenmasse, die nur ein einziger kollektiver Gedanke zu beschäftigen schien, denn ausnahmslos lasen alle in diesem Augenblick den dicken schwarzen Titel der neuesten Abendausgabe:

 

Auf der Spur des dritten Banditen

 

Da hatten wir's! Es war telefoniert worden! Ich mußte jetzt dran glauben! Ich freute mich fast, ich empfand meine bevorstehende Verhaftung wie eine Gnade. Denn nun würde ich für meine Seelenqual nicht mehr selbst verantwortlich sein. Die Gefängniszelle winkte mir wie der einzige Ort der Erlösung, an dem mein loses Schicksal endlich gebändigt werden würde … Wie aber geschah es, daß ich plötzlich unbemerkt, und ohne auch nur nach der fehlenden Fahrkarte gefragt worden zu sein, am Ausgang vorbeigeschlüpft war und mich wieder frei in der brodelnden Menschenflut bewegte?

Frei war ich: Was sollte ich mit mir anfangen? Trostlos, trostlos und blind schlenderte ich weiter. Wohin? Wohin?

Zurück zu den einzigen Menschen, die schon gelernt hatten, ohne Schatten zu leben, ohne Liebe, ohne Angst, ohne Illusion! Ich fuhr in die »Bar de la Mort«. An der Türe stand in roten Emailbuchstaben geschrieben:

 

Das Wort Herz ist bei Todesstrafe verboten!

 

Die Bar war nicht größer und nicht heller erleuchtet als eine Taucherglocke, die man in den Abgrund des Pariser Ozeans versenkt hätte. Die Insassen atmeten wohl etwas anderes als Sauerstoff und Stickstoff: das Opium des modernen Weltschmerzes. Sie machten sehr müde, sehr lässige, sehr melancholische Bewegungen, behaupteten aber dabei, sich einer Orgie hinzugeben. In einer Ecke hockte ein Hawaier und bauchredete mit seinem Banjo.

Hoch oben auf dem Klavier saß beinebaumelnd der berühmteste Dichter von Paris, die Stirn von schwarzen Engeln umflattert. Er imitierte die Pose eines griechischen Hirtenknaben und lockte aus einer Okarina androgyne Töne, halb wie Frauenklagen, halb wie Clownsgelächter. Delos-New-York.

Am Tisch davor saß ein Knabe, die Wangen aus Milch, die Augen eines Mädchens und das Herz eines bronzenen Ritters. Er tat so, als ließe er sich von der Flöte betören. In Wirklichkeit ritt er schon auf einem Adler zu Zeus, der längst erkorene Ganymed.

Ein Maler war da, zum Kreuzfahrer geboren, der seine Kulturdekadenz wie einen Furunkel züchtete. Ein Musiker, breit und behäbig wie ein gutsituierter Notar, zupfte an seinen Nerven wie an den Saiten einer Mandoline. Und wieviel Jünglinge, laß und gelassen, von deren Lippen die Worte wie reife Früchte fielen. Sie wurden zu Greisen dort in einem Vierteljahr, während noch frühe Schüchternheit auf ihren Wimpern lag.

Sie hatten alle Geist, das Primat des Geistes über die Welt, und doch, wie langweilten sie sich! Sie hatten den altererbten Geist in der Stirn und ihren Paß. Sie hatten Voltaire in der Mundfalte, Renan auf der Schläfe, Rabelais am Wolfsherzen. Aber sie hatten an die Eingangstüre schreiben lassen: » Das Wort Herz ist verboten!« Das Wort »Herz« war unzeitgemäß. Wenn ein Uneingeweihter es aussprach, schwieg die ganze Bar empört, geärgert, beleidigt, wie eine englische Tischgesellschaft, wenn das Wort »Magen« ausgesprochen wird.

Und da saß Henry neben La, die sich über das Wort Liebe so gewundert hatte. Er riß mich schnell an seinen Tisch, bestellte einen Chrysanthemen-Cocktail und knüpfte ohne weiteres an das am Nachmittag unterbrochene Gespräch wieder an:

»Wie sagte ich noch … ganz recht … unsere Ideallosigkeit verschafft uns das höchste Gut, nach dem die Menschen immer trachten: die Freiheit! Absolute Freiheit ist unser erstes und letztes Gesetz. Die Freiheit des Ich kommt vor der Moral, vor der Freundschaft, vor Gott. Wir haben ja nichts mehr zu verlieren. Wir sind vogelfrei, und die einzige Strafe, die uns droht, wie einst den Geächteten im Mittelalter, ist der Tod. So besitzen wir die Freiheit der Allerärmsten, derer, die keine Mutter mehr haben, die man verehren muß, kein Vaterland, für das man sterben möchte, keinen Ehrgeiz mehr (denn sämtliche Reporter der nord- und südamerikanischen Presse haben uns schon interviewt und Photographien), wir haben nicht einmal mehr Bewunderung für die Kunst, da wir sie selber produzieren. Wir haben nichts mehr zu befürchten, wir haben unsere Geschichte hinter uns. Und wir leben nur noch auf Grund eines Moratoriums. Wir kämpfen, eine geringe Schar, ›die Bewußten‹, mit den schärfsten Waffen der Zivilisation gegen die dunkle Armee der Masse, deren Führer der Hunger und die Dummheit sind. Diese Waffen sind das Lächeln und die Lüge.

Wir sind die Propheten des Selbstmords, aber in größtem Maßstab: Wir führen die okzidentale Kultur ad absurdum. Wir haben ihren Bankrott erklärt. Wir verlachen die Wunder der Technik, die Erfindungen der Ärzte, die Erfolge der Sklavenarbeiter und die Pflanzenphysiologie.

Wir leben, wir leben wie die Urmenschen und die Indianer ins Blaue hinein, und jede Frage beantworten wir mit Wozu? Wir leben hochher in Lächeln und Lüge, denn es gibt keinen Gott und keinen Diktator, der uns Lächeln und Lüge verbieten könnte.

Das Lächeln ist der schönste Schmuck der Zivilisation. Es bedeutet den Willen und die Pflicht, das Zusammenleben der Menschen so leise und so angenehm wie möglich zu gestalten, immer freundlich zu erscheinen. Denn auf die Erscheinung kommt hier alles an. Das Lächeln ist das Diplom der Kultur: Es ist das Abzeichen der Diplomaten. Ich habe mich gewöhnt, mein Gesicht in kleine Fältchen zu legen, die wie runde Wellen um meine Augen und Lippen rinnen. Mein Gesicht ist so sensibel wie ein Seespiegel: Naht ein Mensch und wirft seinen Blick wie einen Stein hinein, sofort reagiere ich: Ich lächle. Ich verschleiere mich. Man sieht nicht mehr in meinen Grund. Niemand erkennt mich mehr, niemand weiß, was ich denke. Wie wenig Europäer verstehen zu lächeln: ein paar alte französische Minister, ein paar alte italienische Finanzmänner, drei englische Lords. Jemand behauptete neulich, er habe noch nie einen Deutschen lächeln sehen. Es gibt Häute, die sich nicht dazu eignen. Aber das Volk der Chinesen mit seiner viertausendjährigen Kultur hat eine wunderbare Schulung im Lächeln. Denn es ist nichts weiter und nichts weniger als eine Disziplin. Das Lächeln ist eine Zucht wie der Parademarsch. Warum immer ein ernstes oder böses oder trauriges oder enttäuschtes Gesicht machen? Warum in der Öffentlichkeit seine Seele bloßlegen? Aber ein Volk, das lächelt, beweist keineswegs, daß es glücklich ist, im Gegenteil. Die meisten, die lächeln, können schlecht lachen. Denn sie wissen! Sie erschweren sich, aber sie erleichtern ihren Mitmenschen das Leben. Das Lächeln sollte die erste Forderung der Kultur sein.

Aber dies äußere Lächeln hat eine Stiefschwester: die Lüge! Auf das Lächeln bin ich stolz, wie auf eine schwere, durch Jahre hindurch geübte Kunst. Ich bin nur stolz darauf. Aber die Lüge liebe ich zärtlich. Sie ist wie eine schöne Schwester, der sich zu nähern Inzest bedeutet. Ich fürchte sie. Der Gedanke an sie ist schon strafbar. Aber der Reiz um so stärker.

Auch die Lüge gehört zur Kultur. Der Neger lügt aus Veranlagung. Die Frau aus geschlechtlichem Bedürfnis. Aber der bewußte Mann lügt aus Überlegenheit. Die Lüge ist keine Sünde, denn noch nie hat ein Gesetzgeber oder ein Philosoph feststellen können, was die Wahrheit ist. Ich lüge, weil ich weder mich noch das Leben ernst nehme. Ich lüge aus Sport. Ich lüge aus Angst vor dem Ernst des Lebens. Ich lüge aus Langweile. Wie soll einer, der noch mehr Phantasie besitzt als die katholische Abendzeitung, ohne Lüge auskommen? Ich lüge in Permanenz, wie der Papst in Permanenz segnet. Ich lüge, weil die Frauen, die ich verführe, angelogen werden wollen. Ich lüge, weil der Schutzmann auf der Straße mich mit dem Knüppel zur Lüge zwingt. Kurzum, ich lüge, weil ich ehrlich bin. Ich lüge dich an. Und am meisten belüge ich mich selbst …«

Henry trank seinen Chrysanthemen-Cocktail in einem Zuge aus.

Auf seinem Klavier hockte noch immer der berühmteste Dichter von Paris, mit seinem hohen, unregelmäßigen Kopf wie von Lehmbruck gemeißelt und sah verachtungsvoll in die Welt hinein. An den Tischen saß die Blüte der europäischen Zivilisation und tat absichtlich das Gegenteil von dem, was drei Jahrhunderte Stil, Esprit und Artigkeit ihr eingeimpft hatten. Diese zarten Jünglinge beschimpften einander mit den schmutzigsten Flüchen. Sie behandelten die Frauen mit Roheit und Zynismus. Sie redeten absichtlich nur banales Zeug. Sie töteten alles, was sie verehren sollten. Sie entleibten sich vor lauter Genie: Sie rissen sich gegenseitig und langsam die Zehen, die Schenkel, die Haare und das Herz heraus. Es war ein allgemeiner, großartiger Selbstmord.

Sie wollten nicht mehr denken, nicht mehr wissen. Sie lebten und redeten und bewegten sich in der verrauchten »Bar de la Mort« lässig, wie mit der Zeitlupe; das Lokal sah aus wie ein Korb voll lebender Krebse, die ohne Bewußtsein durcheinanderkrochen, denen aber das Strömen des Ozeans abhanden gekommen war!

Sie waren alle blaß und leer: Das aber kam, ich wußte es, von der europäischen Krankheit. Die Eurokokke grassierte hier in schlimmerem Maße als in den alten Büchern, in den Steinen der gotischen Kathedralen und im Gerippe des armen Eselchens, das morgens um fünf Uhr die Exkremente von Paris fortschleppen mußte. Und wer weiß, ob nicht von dieser Elite der Bazillus eingeschleppt worden war!

Die Langeweile gesunder Jünglinge war das Resultat der Eurokokkenepidemie.

Die Frauen, von der Eurokokke zerfressen, hatten keine Liebe mehr zu verschenken.

Diese Menschen hatten es sogar aufgegeben zu denken. Sie hatten Furcht über sich nachzudenken.

Die Frauen, von der Eurokokke zerfressen, hatten keine Liebe mehr zu verschenken.

Diese Menschen hatten es sogar aufgegeben zu denken. Sie hatten Furcht über sich nachzudenken.

 

Hoch über dieser dunklen Gruft wölbte sich eine silberne helle Sternennacht, und der salzige Wind sang wie immer kosmischen Gesang. Aber unweit, eine Straße links, befand sich ein schimmliges Nachtasyl, von einer furchtbaren sozialen Phantasie erfunden: Da durften greise Bettler noch für zehn Centimes sich an einem dicken Seil anklammern und so, stehend, unter dem Auge der schnarchenden Republik, einschlafen. Hier floß der Gin in Bächen und daneben die Träne. Und es war alles eins. Die unheilbare Krankheit verzehrte die Menschen. Sie verzehrte die Gebäude, die Tiere und das Werk der Natur. Vor dieser furchtbaren Vision bäumte sich mein Verstand. Gab es keine Flucht? Ich wußte, dieselben Jünglinge, dieselben Bettler gab es in Genua, in Liverpool und in Charlottenburg. Ich wußte, kein Arzt würde mehr Heilung bringen: nicht Freud, nicht Voronoff, nicht Zinowiew.

La hatte sich ausgezogen und tanzte auf dem Klavier.

Da traten einige Polizisten in die Türe und deuteten auf mich.

Sofort sprang ich mitten ins Lokal, schrie die drei verbotenen Worte dieser Zeit: »Mein Herz! Mein Gott! Ich liebe!« in den Trubel der Bar und freute mich, daß man mir den Mut und die Willenskraft eines Mörders zutraute – da plötzlich winkte der Kommissar den beiden andern, sie sollten mich loslassen, und er entschuldigte sich beim Besitzer der Bar: Es läge nur ein Irrtum vor!

 


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