Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erster Teil

Erzählungen, die als Fortsetzung dienen der »Abende auf dem Vorwerke bei Dikanjka«. Mirgorod ist eine kleine Stadt am Fluß Chorol. Sie besitzt eine Seilfabrik, eine Ziegelei, vier Wasser- und 45 Windmühlen. (Geographie von Sjablowsky.)

Wenn auch in Mirgorod die Brezeln aus schwarzem Mehl gebacken werden, sind sie dennoch ziemlich schmackhaft. (Aus den Aufzeichnungen eines Reisenden.)


Gutsbesitzer aus alter Zeit

Sehr liebe ich das bescheidene Leben jener einsamen Besitzer abgelegener Gutshöfe, die man in Kleinrußland gewöhnlich »altmodisch« nennt und deren baufällige malerische Häuschen schön sind gerade durch ihre Einfachheit und ihren ausgesprochenen Gegensatz zu einem neuen Gebäude, dessen Wände noch nicht der Regen durchwusch, dessen Dach noch nicht grünes Moos bedeckt und dessen Eingang noch nicht seinen Verputz verlor und seine roten Ziegel zeigt. Bisweilen liebe ich es, mich auf einen Augenblick in die Sphäre dieses ungewöhnlich einsamen Lebens zu verlieren, wo kein einziger Wunsch hinüberfliegt über den Zaun, der das kleine Höfchen umgibt, über die Hecke des Gartens, der ganz voll ist von Apfel- und Pflaumenbäumen, und über die Dorfhütten, die ihn umgeben und sich längst zur Seite neigten, beschattet von Weiden, Holunder und Birnbäumen. Das Leben dieser bescheidenen Gutsbesitzer ist so still, so still, daß man sich auf einen Augenblick vergißt und glaubt: die Leidenschaften, die Begierden und die unruhigen Ausgeburten des bösen Geistes, welche die Welt verwirren, seien überhaupt nicht vorhanden, und man habe sie nur erschaut in einem leuchtenden schimmernden Traumgesicht. Von dorther erblicke ich auch das niedrige Häuschen mit der Galerie aus kleinen, schwarz gewordenen hölzernen Säulchen, die das ganze Gebäude umgeben, damit man während eines Gewitters oder Hagels die Fensterläden schließen könne, ohne vom Regen naß zu werden. Hinter dem Häuschen steht duftender Faulbaum, und ganze Reihen niedriger Obstbäume ertrinken förmlich im Dunkelrot der Kirschen und im Bernsteinmeer der Pflaumen, die matt schimmern wie Blei. Da breitet ein Ahorn seine Äste aus, und in seinem Schatten ladet ein Teppich zum Ausruhen ein. Vor dem Hause ist ein geräumiger Hof mit niedrigem, frischem Gras. Ein ausgetretener Pfad führt von dem Speicher zur Küche und von dort zu den Gemächern der Herrschaften. Die langhalsige Gans schlürft Wasser mit ihren Jungen, die zarter Flaum bedeckt. Am Zaune hängen ganze Bündel getrockneter Birnen und Äpfel und auch Teppiche, die gelüftet werden. Neben dem Speicher steht eine Fuhre mit Melonen, und daneben liegt faul der ausgespannte Ochse. – Alles dies hat für mich einen unsagbaren Zauber, vielleicht deshalb, weil ich es nicht mehr sehe und uns alles das lieb ist, wovon wir getrennt sind. Wie dem aber auch sein mag, schon als mein Wägelchen sich diesem Häuschen näherte, überkam meine Seele eine wunderbar angenehme und ruhige Stimmung. Lustig und mit Schwung fuhren die Pferde bei dem Eingang vor. Seelenruhig stieg der Kutscher vom Bock und stopfte sich sein Pfeifchen, gleich als sei er bei seinem eigenen Hause angelangt. Sogar das Bellen der phlegmatischen Hunde und Hündchen war meinen Ohren angenehm. Am allerbesten gefielen mir aber die Besitzer dieser bescheidenen Winkel selber – alte Männchen und alte Weibchen, die mir geschäftig entgegeneilten. Ihre Gesichter erscheinen mir auch jetzt noch bisweilen im Lärmen und Drängen zwischen modischen Fräcken, und dann überkommt es mich plötzlich wie ein Träumen, und ich gedenke der Vergangenheit. Auf ihren Gesichtern malt sich stets eine solche Güte, eine solche Seelenfreude und Herzensreinheit, daß man unwillkürlich, wenn auch nur für kurze Zeit, allen frivolen Gedanken entsagt und unmerklich, mit allen Gefühlen, übergeht in die Tiefe dieses idyllischen Lebens.

Bis jetzt noch vermag ich nicht zwei alte Leutchen des vergangenen Jahrhunderts zu vergessen, die leider schon nicht mehr am Leben sind, meine Seele ist aber bis jetzt noch voll von Trauer um sie, und ich fühle mich in seltsamer Weise beklommen, wenn ich mir vorstelle, ich werde einmal wieder nach ihrem früheren, nunmehr verödeten Wohnort kommen und ein Häufchen verfallener Hütten vorfinden, einen versumpften Teich, einen überwachsenen Graben an der Stelle, wo das niedrige Häuschen stand – und weiter gar nichts. Wie traurig! Mir ist es im voraus trübe zumute! Aber beginnen wir mit unserer Erzählung.

Aphanasij Iwanowitsch Towstogub und seine Gattin Pulcheria Iwanowna Towstogubicha, wie sie die Bauern der Umgegend nannten, waren die alten Leutchen, von denen ich zu erzählen begann. Wenn ich ein Maler wäre und Philemon und Baucis darstellen wollte, hätte ich niemals ein anderes Modell erwählt. Aphanasij Iwanowitsch war damals fünfundsechzig Jahre alt, Pulcheria Iwanowna fünfundfünfzig. Aphanasij Iwanowitsch war hochgewachsen und trug immer einen Schafpelz, der mit Tuch überzogen war. Er saß stets vornübergebeugt da und lächelte fast immer, ob er selber erzählte oder einfach zuhörte. Pulcheria Iwanowna war ein wenig ernst und lachte fast niemals; in ihrem Gesicht und in ihren Augen lag aber so viel Güte, solches Bereitsein, uns mit allem Besten zu bewirten, was sie nur hatte, daß man wahrscheinlich ein Lächeln schon als allzu süß empfunden hätte für ihr gutes Antlitz. Über ihre Gesichter breiteten sich leichte Runzeln in einer solchen Harmonie aus, daß ein Künstler sie sicherlich gleich nachgebildet hätte. Aus diesen Runzeln konnte man, so schien es, ihr ganzes Leben lesen, das so klar und ruhig dahingegangen war – ein Leben, wie es die alten eingeborenen, herzenseinfachen und zugleich reichen Familien führten, die immer im Gegensatz standen zu jenen niedrigen Kleinrussen, die aus Teerhändlern und Kleinkrämern hervorgehen, wie Heuschrecken die Paläste und Ämter erfüllen, ihren eigenen Landsleuten die letzte Kopeke abnehmen, Petersburg mit Angebereien überschwemmen, sich schließlich ein Kapital erwerben und feierlich zu ihrem Namen, der auf »o« endigt, den Buchstaben »w« zufügen. Nein, diese alten Leutchen glichen jenen verachteten und erbärmlichen Geschöpfen so wenig wie alle anderen kleinrussischen alteingesessenen und eingeborenen Familien.

Nicht ohne Teilnahme konnte man auf ihre Liebe zueinander hinblicken. Sie redeten sich niemals mit »du« an, vielmehr immer mit »Sie«: »Sie, Aphanasij Iwanowitsch!« – »Sie, Pulcheria Iwanowna!« – »Haben Sie da den Stuhl eingedrückt, Aphanasij Iwanowitsch?« – »Das hat nichts zu bedeuten, seien Sie nicht böse, Pulcheria Iwanowna: das war ich.« – Sie hatten niemals Kinder gehabt, und deshalb konzentrierte sich ihre ganze Anhänglichkeit auf sie selber. Einstmals, in seiner Jugend, hatte Aphanasij Iwanowitsch im Heere gedient und hatte es zum »Sekundärmajor« gebracht. Das war aber schon sehr lange her. Fast niemals erinnerte er sich daran. Aphanasij Iwanowitsch war dreißig Jahre alt, als er heiratete, ein flotter Bursche, und trug damals einen gestickten Überrock; er hatte sogar ziemlich gewandt Pulcheria Iwanowna entführt – da ihre Eltern sie ihm nicht zur Frau hatten geben wollen; aber auch hieran entsann er sich schon sehr wenig, er sprach wenigstens niemals davon.

Alle diese ungewöhnlichen Begebenheiten lagen weit zurück, und an ihre Stelle war ein ruhiges und zurückgezogenes Leben getreten, mit jenen träumerischen und dabei so harmonischen Empfindungen, die uns überkommen, wenn wir auf dem Lande auf einem Balkon sitzen, der nach dem Garten hinausgeht, und ein schöner Regen prächtig daherrauscht, auf die Blätter niederprasselt, in strömenden Bächen abfließt und unsere Glieder in Schlaf singt. Währenddessen stiehlt sich aber der Regenbogen hinter den Bäumen hervor und leuchtet mit seinen sieben matten Farben wie ein halbeingefallenes Gewölbe am Himmel – oder wie wenn uns ein Wagen dahinwiegt, auf- und niedertauchend zwischen grünem Strauchwerk: die Wachtel ruft, und das duftende Gras, gemischt mit Getreideähren und Feldblumen, dringt in die offenen Türen des Wagens ein und fährt uns angenehm über Gesicht und Hände.

Aphanasij Iwanowitsch hörte immer mit freundlichem Lächeln seinen Gästen zu; bisweilen sprach er auch selbst, meist stellte er aber nur Fragen. Er gehörte nicht zu jenen Greisen, die bis zum Überdruß ewig die alte Zeit loben und über die neue schimpfen: ganz im Gegenteil, wenn er an uns Fragen stellte, so bewies er mehr Neugierde und Teilnahme für die Umstände unseres eigenen Lebens, für unseren Erfolg und Mißerfolg, wofür sich in der Regel gutherzige alte Leute interessieren. (Mag das auch ein wenig an die Neugierde eines Kindes erinnern, welches das Petschaft an unserer Uhrkette betrachtet, während es mit uns spricht.) Dann atmete sein Gesicht förmlich Güte.

Die Zimmer des Häuschens, in welchem unsere alten Leutchen lebten, waren klein und niedrig, wie gewöhnlich in der alten Zeit. In jedem stand ein gewaltiger Ofen, der fast den dritten Teil von ihm einnahm. Diese Stübchen waren furchtbar heiß. Aphanasij Iwanowitsch und Pulcheria Iwanowna liebten die Wärme sehr. Die Ofentüren gingen alle nach dem Hausflur, und die Öfen waren fast immer bis beinahe zur Decke hinauf mit Stroh angefüllt, womit man in Kleinrußland gewöhnlich heizt statt mit Holz. Das Knistern dieses brennenden Strohs und sein Leuchten machen den Hausflur zu einem außerordentlich angenehmen Aufenthalt an Winterabenden, wenn ein feuriger Jüngling, ganz erfroren beim Nachlaufen hinter einer schwarzhaarigen Schönen, die Hände aufeinanderschlagend, hineingestürmt kommt. Die Wände des Zimmers schmückten einige Bilder und Bilderchen in altertümlichen schmalen Rähmchen. Ich bin sicher, die Hausleute selber hatten längst vergessen, was sie vorstellten. Hätte man einige von ihnen entfernt, sie würden das wahrscheinlich gar nicht gemerkt haben. Zwei große Ölbilder hingen da: eines stellte einen Bischof vor, das andere – Peter den Dritten; aus schmalem Rähmchen blickte, beschmutzt von den Fliegen, die Herzogin Lavallière. Um die Fenster herum und über den Türen hing eine Menge kleiner Bildchen; man hatte sich so gewöhnt, sie für Flecken an der Wand anzusehen, daß man sie überhaupt nicht mehr betrachtete. Der Fußboden war fast in allen Zimmern aus Lehm, aber so rein geglättet und so sauber gehalten, wie sicherlich kein einziges Parkett in einem reichen Hause, über das ein verschlafener Kerl in Livree faul hinwegfegt.

Das Zimmer von Pulcheria Iwanowna war ganz verstellt mit Koffern und Kisten, mit Kistchen und Köfferchen. Bündel und Säcke mit Blumen-, Gemüse- und Wassermelonensamen hingen in Mengen an den Wänden. Ganze Haufen von Knäueln verschiedenfarbiger Wolle, von Resten alter Kleider, die vor einem halben Jahrhundert gemacht worden waren, lagen in den Ecken in kleinen Köfferchen und zwischen ihnen. Pulcheria Iwanowna war eine musterhafte Hausfrau und hob alles auf, wenn sie auch bisweilen selber nicht wußte, wozu man es später verwenden könnte.

Das Allermerkwürdigste aber in dieser Behausung waren die singenden Türen. Sobald nur eben der Morgen graute, erhob sich der Gesang im ganzen Hause. Ich vermag nicht zu sagen, weshalb sie eigentlich sangen: waren ihre verrosteten Angeln schuld daran oder hatte der Mechaniker, der sie verfertigte, irgendein Geheimnis in ihnen verborgen; es war aber eigenartig, daß jede Tür ihre ganz bestimmte Stimme hatte. Die Tür, die ins Schlafzimmer ging, sang im allerfeinsten Diskant; die Eßzimmertür brummte im Baß; diejenige aber, die in den Hausflur führte, gab einen gar seltsamen gebrochenen und zugleich stöhnenden Laut von sich, so daß, wenn man ihr zuhörte, man endlich ganz deutlich die Worte vernahm: »Väterchen, es friert mich!« Ich weiß, daß vielen dieser Laut gar sehr mißfällt; ich liebe ihn aber sehr. Und wenn es bisweilen vorkommt, daß ich hier eine kreischende Tür vernehme, so ist es mir plötzlich, als röche es nach dem Lande: ich erschaue dann ein niedriges Stübchen, das eine Kerze in altertümlichem Leuchter erhellt. Das Abendessen steht schon auf dem Tisch. Durch das geöffnete Fenster blickt die dunkle Mainacht aus dem Garten auf den gedeckten Tisch. Die Nachtigall überschüttet förmlich den Garten, das Haus und den fernen Fluß mit ihren Trillern. Unheimlich rauschen die Blätter … und mein Gott! Wie reiht sich da eine Erinnerung an die andere!

Die Stühle waren von Holz und von massiver Form wie gewöhnlich in früheren Zeiten. Sie hatten alle hohe geschnitzte Lehnen und ihre natürliche Farbe behalten; sie waren weder gestrichen noch lackiert. Sie waren sogar nicht einmal gepolstert und glichen ein wenig jenen Stühlen, auf welchen bis jetzt noch die Bischöfe zu sitzen pflegen. Dreieckige Tischchen standen in den Winkeln. Viereckige – vor dem Diwan und vor den Spiegeln. Auf den schmalen goldenen Rähmchen waren Blätter geschnitzt, schwarz getupft von den Fliegen. Vor dem Diwan lag ein Teppich. Darauf erschaute man Vögel, die Blumen glichen, und Blumen, die so aussahen wie Vögel; hierin bestand fast der ganze Schmuck des bescheidenen Häuschens, das meine alten Leutchen bewohnten.

Im Mädchenzimmer lebte eine Menge junger und älterer Weiber. Sie trugen gestreifte Röcke, und Pulcheria Iwanowna gab ihnen bisweilen irgendwelche Kleinigkeiten zum Nähen und ließ sie Beeren aussuchen. Meistenteils aber liefen sie in die Küche und schliefen dort. Pulcheria Iwanowna hielt es für dringend notwendig, sie im Hause zu halten und schaute streng auf ihr sittliches Verhalten. Zu ihrem außerordentlichen Staunen vergingen aber niemals mehrere Monate, ohne daß irgendeine von den Jungfrauen außergewöhnlich an Umfang zunahm. Dies schien um so erstaunlicher, als sich im Hause fast gar keine Mannspersonen befanden, mit Ausnahme höchstens des Zimmerjungen, der im grauen Halbfrack und mit bloßen Füßen ging und, wenn er nicht mit Essen beschäftigt war, sicherlich schlief. Pulcheria Iwanowna pflegte die Schuldigen zu schelten und streng zu bestrafen, damit solches hinfort nicht mehr vorkäme. An den Fensterscheiben summte eine furchtbare Menge von Fliegen. Aber alle übertönte der dicke Baß der Hummel, bisweilen begleitet von den durchdringenden Tönen der Wespe. Sobald man aber nur die Lichter anzündete, begab sich diese ganze Bande zur Nachtruhe und bedeckte mit schwarzer Wolke die ganze Decke.

Aphanasij Iwanowitsch beschäftigte sich sehr wenig mit der Wirtschaft, wenngleich er bisweilen zu den Mähern und Schnittern hinausfuhr und ziemlich aufmerksam ihrer Arbeit zuschaute. Die ganze Last der Verwaltung lag auf Pulcheria Iwanowna. Ihre Tätigkeit bestand in unaufhörlichem Auf- und Zuschließen der Vorratskammer, im Einsalzen, Trocknen und Einkochen einer zahllosen Menge von Früchten und Pflanzen. Ihr Haus glich durchaus einem chemischen Laboratorium. Unter dem Apfelbaum brannte ewig ein Feuer, und fast niemals ward von dem eisernen Dreifuß der Kessel oder die Kupferpfanne herabgenommen mit eingemachtem Gelee und Fruchtbrei, angesetzt mit Honig, Zucker und ich weiß nicht womit noch. Unter einem anderen Baume trieb immerzu der Kutscher in einem Kupfergefäß Branntwein über: auf Pfirsichblättern, Faulbaumblüten, Tausendgüldenkraut und Kirschkernen. Bei Beendigung dieses Prozesses pflegte er nicht mehr imstande zu sein, seine Zunge zu bewegen und sprach dann einen solchen Unsinn, daß Pulcheria Iwanowna gar nichts mehr verstehen konnte. Hierauf begab er sich in die Küche, um sich auszuschlafen. Von allem diesem Zeug ward eine solche Menge gekocht, eingesalzen und getrocknet, daß wahrscheinlich der ganze Hof schließlich darin ertrunken wäre (denn Pulcheria Iwanowna liebte stets außer dem zum Verbrauch Bestimmten auch noch Vorrat herzustellen), wenn nicht der größere Teil von dem allen von den Hofmädchen aufgegessen worden wäre: sie pflegten sich in die Vorratskammer einzuschleichen und sich dort so furchtbar vollzuessen, daß sie den ganzen Tag stöhnten und über Leibschmerzen klagten.

Pulcheria Iwanowna fand somit wenig Möglichkeit, sich um den Getreidebau und die übrigen wirtschaftlichen Angelegenheiten außerhalb des Hauses zu bekümmern. Der Verwalter und der Vogt bestahlen sie auf unbarmherzige Weise. Sie hatten den Brauch eingeführt, den Herrschaftswald für ihr Eigentum anzusehen. Sie ließen eine Menge Schlitten herstellen und verkauften sie auf dem nächsten Jahrmarkt. Außerdem verkauften sie alle starken Eichbäume den Kosaken der Umgebung zum Bau von Mühlen. Nur ein einziges Mal hatte Pulcheria Iwanowna ihre Wälder zu besuchen gewünscht. Dazu wurde der alte Wagen mit seinen gewaltigen Lederdecken angespannt. Und als der Kutscher nur eben die Zügel anzog und die Pferde, die noch im Heere gedient hatten, sich in Bewegung setzten, füllte sich die Luft mit seltsamen Lauten. Man vernahm plötzlich Flöte, Tamburin und Trommel. Jeder Nagel und jeder eiserne Griff schepperten derart, daß man sogar bei der Mühle hören konnte, die Herrschaften seien ausgefahren, obgleich sie nicht weniger als zwei Werst entfernt lag. Pulcheria Iwanowna mußte natürlich die furchtbare Verwüstung im Walde bemerken, und daß die Eichen verschwunden waren, die sie schon in ihrer Kindheit als hundertjährige gekannt hatte.

»Weshalb sind denn bei dir, Nitschipor, die Eichbäume so selten geworden?« fragte sie ihren Verwalter. »Schau zu, daß dir nicht auch die Haare auf dem Kopfe selten werden!«

»Weshalb sie selten wurden?« sprach der Verwalter. »Sie sind eingegangen, vollständig eingegangen: der Blitz hat sie getroffen, hat sie zerschmettert, die Würmer haben sie ausgehöhlt – sie sind entschwunden, Gnädige, sie sind entschwunden!«

Pulcheria Iwanowna gab sich mit dieser Antwort durchaus zufrieden. Als sie nach Hause gekommen war, befahl sie nur, die Wache im Garten zu verdoppeln bei den spanischen Kirschen und den großen Winterbirnen.

Diese würdigen Gutsvorsteher, der Verwalter und der Vogt, hielten es überhaupt für überflüssig, das ganze Mehl in die Speicher der Herrschaft abzuliefern. Die Hälfte sei mehr wie genug. Endlich lieferten sie auch diese Hälfte in einem solchen verschimmelten und durchnäßten Zustande ab, daß dieses Mehl auf dem Jahrmarkt nicht hatte verkauft werden können. Aber wieviel auch der Verwalter und der Vogt stahlen, wie furchtbar auch alle auf dem Hofe fraßen, von der Beschließerin bis zu den Schweinen, die eine schreckliche Menge Pflaumen und Äpfel vertilgten und teilweise sogar mit höchsteigenen Rüsseln die Obstbäume schüttelten, damit ein ganzer Früchteregen herabfalle, wieviel davon auch die Sperlinge und Raben aufpickten, wieviel zudem das ganze Hofgesinde an Gastgeschenken für seine Gevattern in andere Dörfer wegschleppte (und dabei sogar alte Leinwand, Rohwolle stahl), wieviel auch seinen Weg nahm zu der Allerweltsquelle, das heißt zum Wirtshaus, wieviel endlich die Gäste, die phlegmatischen Kutscher und die Lakaien beiseite schafften – die gesegnete Erde brachte alles in einem solchen Überfluß hervor, Aphanasij Iwanowitsch und Pulcheria Iwanowna hatten so wenig für sich selber nötig, daß man alle diese schrecklichen Räubereien in ihrer Wirtschaft gar nicht bemerkte.

Nach althergebrachtem Brauche der Gutsbesitzer in alter Zeit liebten beide alte Leutchen gar sehr zu essen. Sobald nur der Morgen graute (sie erhoben sich immer sehr früh) und sobald nur eben die Türen ihr vielstimmiges Konzert begannen, saßen sie schon am Kaffeetisch. Dann trat Aphanasij Iwanowitsch in den Hausflur, schwenkte sein Taschentuch und rief: »Kisch, kisch! Macht, daß ihr von der Treppe fortkommt, ihr Gänse!« Auf dem Hof begegnete ihm gewöhnlich der Verwalter. Er pflegte mit ihm ein Gespräch zu beginnen, ihn mit größter Ausführlichkeit über die Arbeiten auszufragen, ihm derartige Bemerkungen zu machen und ihm solche Befehle zu erteilen, daß man nur so staunen mußte über sein ungewöhnliches Verständnis für die Landwirtschaft und ein Neuling gar nicht gewagt hätte, auch nur den Gedanken aufkommen zu lassen, man könne einen so achtsamen Landwirt überhaupt bestehlen. Sein Verwalter war aber mit allen Hunden gehetzt: er wußte, wie man antworten, und noch mehr, wie man wirtschaften müsse.

Hierauf kehrte gewöhnlich Aphanasij Iwanowitsch in seine Gemächer zurück und sprach zu Pulcheria Iwanowna: »Wie denn, Pulcheria Iwanowna, ist es nicht vielleicht an der Zeit, etwas zuzubeißen?« – »Was wollen Sie denn jetzt zu sich nehmen, Aphanasij Iwanowitsch? Vielleicht Weißbrötchen mit Speck, oder Pastetchen mit Mohn, oder vielleicht Salzreizger?«

»Am Ende gar Reizger oder Pastetchen«, antwortete Aphanasij Iwanowitsch – und sogleich erschien auf dem Tisch ein Gedeck und Pastetchen und Reizger.

Eine Stunde vor dem Mittagessen pflegte Aphanasij Iwanowitsch wiederum irgend etwas zu essen, aus einem altertümlichen Silberbecher Schnaps zu trinken, Pilze und verschiedene getrocknete Fischchen und anderes zu verspeisen. Zum Mittagmahl setzte man sich um zwölf Uhr. Außer verschiedenen Gerichten und Soßen stand auf dem Tisch eine Menge von dichtverschlossenen Töpfchen, damit gar kein Erzeugnis der schmackhaften alten Küche seinen Duft verliere. Während des Mittagessens sprach man gewöhnlich nur über solche Dinge, die in allernächster Beziehung zu dem standen, was man gerade aß.

»Mir scheint es,« sprach gewöhnlich Aphanasij Iwanowitsch, »als sei diese Grütze ein wenig angebrannt. Scheint es Ihnen nicht so, Pulcheria Iwanowna?«

»Nein, Aphanasij Iwanowitsch; legen Sie ein wenig mehr Butter hinzu, dann wird es Ihnen nicht mehr so scheinen. Oder nehmen Sie hier diese Pilzsoße und gießen Sie sie auf!«

»Wollen wir es versuchen,« sprach Aphanasij Iwanowitsch, und er reichte seinen Teller hin, »wie das sein wird!«

Nach dem Mittagessen begab sich Aphanasij Iwanowitsch für ein Stündchen zur Ruhe, worauf ihm Pulcheria Iwanowna eine aufgeschnittene Wassermelone zu bringen und zu sprechen pflegte: »Da, versuchen Sie einmal, Aphanasij Iwanowitsch, was das für eine schöne Wassermelone ist!«

»Glauben Sie das nur nicht deshalb, Pulcheria Iwanowna, weil sie in der Mitte rot ist«, sprach Aphanasij Iwanowitsch, indem er ein beträchtliches Stück davon nahm. »Bisweilen ist sie trotzdem nicht gut!«

Die Wassermelone verschwand dann sofort. Hierauf pflegte Aphanasij Iwanowitsch noch einige Birnen zu genießen und mit Pulcheria Iwanowna im Garten spazieren zu gehen. Sie kehrten dann nach Hause zurück, Pulcheria Iwanowna machte sich an ihre Geschäfte, er aber setzte sich unter das nach dem Hof gelegene Schirmdach und sah zu, wie die Vorratskammer unaufhörlich ihr Inneres zeigte und wieder verbarg und die Mädchen einander stoßend einen Haufen von allerlei Zeug bald hinein-, bald hinaustrugen, in hölzernen Kisten, Sieben, Schwingen und sonstigen Fruchtbehältern. Ein wenig später schickte er zu Pulcheria Iwanowna oder begab sich selber zu ihr und sprach: »Was sollte ich denn jetzt wohl essen, Pulcheria Iwanowna?«

»Ja, was denn eigentlich?« sprach Pulcheria Iwanowna. »Ich will gleich gehen und ansagen, daß man Ihnen Topfnudeln mit Beeren bringt, die ich absichtlich für Sie aufzubewahren befahl.«

»Das wäre nicht so übel!« antwortete Aphanasij Iwanowitsch.

»Oder wollen Sie vielleicht Fruchtbrei essen?«

»Auch das ist gut!« sprach Aphanasij Iwanowitsch, worauf augenblicklich alles dies gebracht und, wie es sich gehört, verspeist ward.

Vor dem Abendessen pflegte Aphanasij Iwanowitsch noch irgendeine kleine Mahlzeit zu halten. Um halb zehn setzte man sich zum Abendbrot. Hierauf begaben sie sich sogleich zur Ruhe, und dann trat allgemeine Stille ein in diesem tätigen und dabei doch so ruhigen Kleinwinkel.

Das Schlafzimmer von Aphanasij Iwanowitsch und Pulcheria Iwanowna war derartig geheizt, daß selten jemand imstande gewesen wäre, auch nur einige Stunden dort zu verweilen; Aphanasij Iwanowitsch schlief aber zudem noch, damit es noch wärmer wäre, auf der Ofenbank, wenn ihn auch die gewaltige Hitze zwang, mehrmals in der Nacht aufzustehen und im Zimmer auf und ab zu gehen. Dabei pflegte Aphanasij Iwanowitsch bisweilen zu stöhnen.

Dann sprach wohl Pulcheria Iwanowna: »Weshalb stöhnen Sie denn, Aphanasij Iwanowitsch?«

»Gott weiß warum, Pulcheria Iwanowna, es ist mir so, als hätte ich Leibschmerzen!« sprach Aphanasij Iwanowitsch.

»Wäre es nicht besser, wenn Sie irgend etwas essen würden, Aphanasij Iwanowitsch?«

»Ich weiß nicht, ob das gut sein wird, Pulcheria Iwanowna! Was könnte man übrigens essen?«

»Sauermilch oder einen dünnen Tee von getrockneten Birnen.«

»Gut, wollen wir es einmal probieren!« sprach Aphanasij Iwanowitsch.

Ein verschlafenes Mädchen begann in den Schränken herumzukramen, und Aphanasij Iwanowitsch aß ein Tellerchen leer. Hierauf pflegte er gewöhnlich zu sagen: »Es ist mir so, als wäre es mir leichter.«

Bisweilen, wenn es klares Wetter und in den Stuben warm genug war, ward Aphanasij Iwanowitsch munter und liebte es dann, sich ein wenig über Pulcheria Iwanowna lustigzumachen und irgendeinen Unsinn zu schwätzen.

»Wie denn, Pulcheria Iwanowna,« sprach er, »wenn jetzt plötzlich unser Haus abbrennen würde – wohin würden wir dann gehen?«

»Gott möge uns davor bewahren!« antwortete Pulcheria Iwanowna und bekreuzte sich.

»Nun, nehmen wir einmal an, unser Haus sei abgebrannt, wohin werden wir dann übersiedeln?«

»Gott weiß, was Sie da schwätzen, Aphanasij Iwanowitsch! Wie wäre es denn möglich, daß unser Haus abbrennen kann? Gott wird das gar nicht zulassen!«

»Nun, wenn es aber doch abbrennen würde?«

»Nun, dann würden wir in die Küche übersiedeln. Wir würden dann für eine Zeitlang das Stübchen benützen, das jetzt die Beschließerin innehat.«

»Wenn aber auch die Küche abbrennen würde?«

»Auch das noch! Gott wird es gar nicht zulassen, daß plötzlich das Haus und die Küche abbrennen! Nun, dann würden wir in der Vorratskammer wohnen, bis das neue Haus gebaut wäre!«

»Wenn aber auch die Vorratskammer abbrennen würde?«

»Gott weiß, was Sie da schwätzen! Ich will Ihnen gar nicht mehr zuhören! Es ist sündhaft, so etwas auszusprechen, Gott wird Sie strafen für solche Redensarten!«

Aphanasij Iwanowitsch saß auf seinem Stuhl und lächelte nur sehr zufrieden, daß er sich über Pulcheria Iwanowna lustiggemacht habe.

Am allerinteressantesten schienen mir aber die alten Leutchen dann, wenn bei ihnen Gäste waren. Dann schaute alles in ihrem Hause anders aus. Man kann sagen, diese guten Leute lebten für ihre Gäste. Das Allerbeste, was sie hatten, boten sie ihnen dar. Unaufhörlich bemühten sie sich, sie mit allem zu bewirten, was ihre Wirtschaft hervorbrachte. Am wohltuendsten war dabei, daß ihrer Dienstwilligkeit keine Spur von Unnatürlichkeit anhaftete. Diese Seelenfreude und Bereitschaft malte sich so mild in ihren Gesichtern und stand ihnen so gut, daß man unwillkürlich ihren Bitten willfahrte: sie kamen ja aus der reinen, klaren Einfachheit ihrer guten, harmlosen Seele. Das ist durchaus nicht die Zuvorkommenheit, mit der uns ein Beamter bewirtet, der seine Stelle uns verdankt, uns seinen Wohltäter nennt und vor uns kriecht. Kein Gast wird jemals am gleichen Tage nach Hause fahren gelassen: er muß unbedingt übernachten.

»Wie kann man sich nur zu so später Stunde auf einen so weiten Weg machen!« pflegte stets Pulcheria Iwanowna zu sagen. (Der Gast wohnte gewöhnlich nur drei oder vier Werst von ihnen entfernt.)

»Natürlich,« sprach Aphanasij Iwanowitsch, »es kann vorkommen, Räuber fallen über einen her oder ein anderer böser Mensch.«

»Gott möge uns vor Räubern bewahren«, sprach Pulcheria Iwanowna. »Wozu spricht man hiervon überhaupt zur Nachtzeit? Ob Räuber oder keine Räuber, es ist nun einmal dunkel, und es taugt überhaupt nicht, zu fahren. Ja, und Ihr Kutscher … ich kenne Ihren Kutscher, das ist ein Schwächling, ja, und dabei noch so klein; jedes Pferdchen wird ihn niederschlagen; ja, und zudem hat er sich sicherlich schon angetrunken und schläft irgendwo!« Der Gast, der gleichfalls sehr selten seinen Hof zu verlassen pflegte, nahm eine gewichtige Haltung an und begann mit geheimnisvollem Gesichtsausdruck seine Mären vorzubringen: der Franzose habe sich heimlich mit den Engländern ins Einvernehmen gesetzt, um wiederum Bonaparte auf Rußland loszulassen, oder der Gast erzählte ganz einfach von einem bevorstehenden Kriege, und dann sprach häufig Aphanasij Iwanowitsch, wobei er so machte, als schaue er gar nicht auf Pulcheria Iwanowna:

»Ich denke selber in den Krieg zu ziehen; weshalb sollte ich denn nicht in den Krieg ziehen können?«

»Da hat er sich schon wieder losgelassen!« unterbrach ihn Pulcheria Iwanowna. »Glauben Sie ihm nur nicht«, sprach sie zum Gaste. »Wie sollte denn so ein alter Knabe wie er in den Krieg ziehen. Der erste Soldat wird ihn erschießen! Bei Gott, er wird ihn erschießen! Er wird nur so auf ihn anlegen und ihn erschießen!«

»Wie denn,« sprach Aphanasij Iwanowitsch, »auch ich werde ihn erschießen.«

»So hören Sie doch nur, was er da spricht,« mischte sich Pulcheria Iwanowna ein, »wie sollte er in den Krieg ziehen! Auch seine Pistolen sind längst schon in der Rumpelkammer verrostet. Sie sollten sie nur einmal sehen, noch bevor man sie abschießt, wird das Pulver sie in Stücke reißen. Die Hände wird es ihm abreißen und sein Gesicht verstümmeln, und er wird für immer unglücklich bleiben!«

»Wie denn,« sprach Aphanasij Iwanowitsch, »ich werde mir eine neue Ausrüstung anschaffen; ich werde zum Säbel greifen oder zur Kosakenlanze!«

»Das alles sind nur Redensarten. Das fällt ihm da so ein, und dann beginnt er zu schwätzen!« mischte sich wiederum Pulcheria Iwanowna verdrießlich ein. »Ich weiß sehr wohl, daß er scherzt, aber gleichwohl höre ich es ungern. Immer spricht er solches Zeug. Bisweilen hört man ihm zu, und dann wird es einem ganz unheimlich!«

Aphanasij Iwanowitsch saß ruhig lächelnd vornübergebeugt in seinem Stuhl und war zufrieden, daß er Pulcheria Iwanowna ein wenig erschreckt hatte. Pulcheria Iwanowna gefiel mir aber am allerbesten, wenn sie den Gast zum Frühstück führte. »Dies hier«, pflegte sie zu sagen, indem sie eine Flasche öffnete, »ist ein Aufguß auf Schafgarbe und Salbei. Wenn die Schulter weh tut oder das Kreuz, so hilft das vortrefflich. Dies hier – ist ein Aufguß auf Tausendgüldenkraut: wenn jemandem die Ohren sausen und er Flechten im Gesicht, hat, so hilft das gar sehr. Aber dies hier ist mit Aprikosenkernen angesetzt, nehmen Sie doch ein Gläschen, was für ein feiner Duft! Stößt man sich irgendwie beim Aufstehen an einer Schrankecke oder an einem Tisch und erhält man am Kopfe eine Beule, so braucht man nur ein Gläschen davon vor dem Mittagessen zu sich zu nehmen – und alles ist wie mit der Hand weggenommen: im gleichen Augenblick wird alles vorüber sein, als wäre es überhaupt nicht gewesen.« So fuhr sie fort zu erzählen, auch bei den anderen Schnäpsen, die fast alle irgendeine Heilkraft besaßen. Nachdem sie den Gast mit dieser ganzen »Apotheke« schwer geladen hatte, führte sie ihn zu einer ganzen Reihe von Tellern. »Dies hier sind Pilze mit Thymian! Dies hier – mit Nelken und Walnüssen. Sie einzusalzen lehrte mich eine Türkin zu der Zeit, als es noch Gefangene bei uns gab. Das war eine so gute Person, man merkte überhaupt nicht, daß sie sich zu dem türkischen Glauben bekannte. Sie kleidete sich fast so wie wir; nur Schweinefleisch aß sie nicht: sie sagte, dies sei bei ihnen im Gesetz verboten! Dies hier sind Pilze mit Johannisbeerblättern und Muskatnuß! Und dies hier sind große Pfifferlinge. Ich habe sie zum erstenmal in Essig abgekocht: ich weiß nicht, wie sie schmecken. Ich erfuhr das Rezept vom Vater Iwan. In einem kleinen Faß muß man zuerst Eichenblätter ausbreiten und dann Pfeffer und Salpeter streuen und etwas hinzutun von der Blüte von Nagelkraut; man muß sie aber mit den Spitzen nach oben legen. Und dies hier sind Pastetchen! Diese hier mit Käse, diese da mit Topfen! Und das hier sind diejenigen, die Aphanasij Iwanowitsch besonders liebt. Mit Kohl und Buchweizengrütze!«

»Ja,« fügte Aphanasij Iwanowitsch hinzu, »ich liebe sie wohl sehr: sie sind weich und ein wenig säuerlich!«

Überhaupt war Pulcheria Iwanowna außerordentlich aufgeräumt, wenn Gäste bei ihnen waren. Die gute Alte! Sie gehörte ganz ihren Gästen. Ich weilte sehr gerne bei ihnen, wenngleich ich mich jedesmal furchtbar überaß, wie übrigens auch alle, die bei ihnen zu Gaste waren – und dies mir sehr schädlich ist. Trotzdem freute ich mich stets, sie zu besuchen. Es kommt mir übrigens so vor, als sei schon in der Luft in Kleinrußland etwas, was ganz besonders die Verdauung fördert, denn würde hier jemand daran denken, sich derart vollzustopfen, so würde er sich zweifellos statt im Bett auf der Bahre liegend wiederfinden.

Die guten alten Leutchen! Nunmehr nähert sich aber meine Erzählung einem äußerst traurigen Vorfall, der für immer das Leben dieses friedlichen Winkels verändern sollte. Dieses Begebnis wird um so erstaunlicher erscheinen, als es aus dem allernichtigsten Anlaß hervorging. Es ist aber nun einmal so seltsam auf dieser Welt eingerichtet, daß große Ereignisse stets aus nichtigen Gründen hervorgehen, und umgekehrt gewaltige Unternehmungen zu nichtigen Ergebnissen führen. Irgendein Eroberer sammelt alle Kräfte seines Reiches, führt einige Jahre lang Krieg, seine Heerführer bedecken sich mit Ruhm, und schließlich endet das alles mit dem Erwerb eines Fetzens Land, auf dem man nicht einmal Kartoffeln setzen kann; bisweilen aber raufen sich zwei x-beliebige Metzger aus zwei verschiedenen Städten wegen irgendeiner Dummheit, und ihr Streit umfaßt schließlich diese Städte, sodann die Dörfer und Flecken und bald das ganze Reich. Aber lassen wir diese Erörterungen: sie gehören nicht hierher. Zudem liebe ich nicht, Überlegungen anzustellen, wenn sie nur Überlegungen bleiben.

Pulcheria Iwanowna hatte ein graues Kätzchen, welches fast immer zusammengerollt zu ihren Füßen lag. Sie streichelte es ab und zu und kitzelte es mit dem Finger an seinem Hals, den dann das verwöhnte Kätzchen möglichst weit hervorstreckte. Man kann gerade nicht sagen, Pulcheria Iwanowna habe es allzusehr geliebt; sie hatte sich vielmehr einfach an es gewöhnt, da sie es immer vor Augen hatte. Gleichwohl liebte Aphanasij Iwanowitsch über diese Anhänglichkeit häufig zu spotten.

»Ich weiß gar nicht, Pulcheria Iwanowna, was Sie nur an der Katze finden: wozu ist sie nutze? Wäre das ein Hund, so läge die Sache anders: einen Hund kann man auf die Jagd mitnehmen, wozu aber taugt eine Katze?«

»Schweigen Sie lieber, Aphanasij Iwanowitsch«, sprach Pulcheria Iwanowna. »Sie lieben nur Worte zu machen und weiter nichts. Ein Hund ist nicht sauber, ein Hund verunreinigt alles und schlägt alles zusammen; die Katze dagegen ist ein sanftes Geschöpf, sie tut niemand etwas zuleide.«

Übrigens war es Aphanasij Iwanowitsch durchaus einerlei, ob Hund oder Katze; er sprach nur deswegen so, um sich ein klein wenig über Pulcheria Iwanowna lustigzumachen.

Hinter ihrem Garten befand sich ein großer Wald, den der unternehmungslustige Verwalter bis jetzt völlig geschont hatte, vielleicht deshalb, weil der Klang der Axt bis zu den Ohren von Pulcheria Iwanowna gedrungen wäre. Dieser Wald war dicht, ungepflegt; dichtes Haselnußstrauchwerk verdeckte alte Baumstämme, und sie glichen dann befiederten Taubenfüßen. In diesem Walde hausten wilde Katzen. Diese wilden Waldkater darf man nicht verwechseln mit jenen kühnen Strolchen, die über die Dächer der Häuser hinlaufen; ungeachtet ihres bösen Charakters sind sie, da sie in Städten hausen, bei weitem zivilisierter als die Waldbewohner. Das ist dagegen größtenteils ein finsteres und wildes Volk. Sie gehen immer abgezehrt und mager daher und miauen mit einer rohen unausgebildeten Stimme. Bisweilen graben sie sich unter der Erde bis an die Vorratskammern heran und stehlen Speck. Sie erscheinen sogar in der Küche, indem sie plötzlich durch das geöffnete Fenster springen, wenn sie bemerken, daß der Koch ins Unkraut ging. Überhaupt kennen sie keinerlei edle Gefühle. Sie leben vom Raub und erwürgen junge Spatzen noch in den Nestern. Diese Kater hatten sich schon lange durch ein Loch in der Vorratskammer mit dem sanften Kätzchen der Pulcheria Iwanowna berochen und es schließlich herangelockt, so, wie eine Abteilung Soldaten eine dumme Bäuerin herbeiwinkt. Pulcheria Iwanowna hatte bemerkt, daß die Katze verschwunden war, und ließ sie suchen. Die Katze fand sich aber nicht. So vergingen drei Tage. Pulcheria Iwanowna tat es leid, endlich hatte sie sie aber völlig vergessen. Als sie eines schönen Tages ihren Gemüsegarten besuchte und mit selbstgepflückten frischen grünen Gurken für Aphanasij Iwanowitsch zurückkehrte, drang kläglichstes Miauen an ihr Ohr. Wie instinktiv rief sie »kis, kis«, und plötzlich sprang die graue Katze aus dem Unkraut heraus, hager und abgezehrt. Es war zu sehen, daß sie schon einige Tage nicht gefressen hatte. Trotzdem Pulcheria Iwanowna fortfuhr, sie zu rufen, stand die Katze vor ihr, miaute und wagte nicht, nahe heranzukommen. Offenbar war sie in dieser Zeit sehr scheu geworden. Pulcheria Iwanowna ging voraus, wobei sie fortfuhr, die Katze zu rufen, und sie folgte ihr furchtsam, bis ganz zum Gartenzaun. Als sie endlich die früheren gewohnten Orte erschaute, ging sie auch mit ins Zimmer. Pulcheria Iwanowna befahl, ihr sogleich Milch und Fleisch zu geben, setzte sich zu ihr und ergötzte sich über die Gier, mit der ihr armer Liebling ein Stück nach dem anderen verschluckte und die Milch leckte. Der graue Flüchtling nahm fast vor ihren Augen zu, und er aß bald schon nicht mehr so gierig. Pulcheria Iwanowna streckte die Hand aus, um die Katze zu streicheln, die Undankbare hatte sich aber schon offenbar allzusehr an die räuberischen Kater gewöhnt oder die romantische Anschauung angenommen, daß Armut bei Liebe besser sei als Paläste ohne sie, die Kater waren aber arm wie Kirchenmäuse. Wie dem auch gewesen sein mag, sie sprang zum Fenster hinaus, und keiner von dem Hofgesinde vermochte sie zu fangen. Die Alte ward nachdenklich. »Da ist mein Tod gekommen, mich abzuholen!« sprach sie zu sich selber, und nichts konnte sie davon abbringen. Den ganzen Tag über war sie traurig. Vergeblich scherzte Aphanasij Iwanowitsch und wünschte zu erfahren, weshalb sie plötzlich so vergrämt sei: Pulcheria Iwanowna gab keine Antwort oder entgegnete durchaus nicht so, daß es Aphanasij Iwanowitsch hätte befriedigen können. Am anderen Tag hatte sie merklich abgenommen.

»Was fehlt Ihnen denn, Pulcheria Iwanowna? Sind Sie etwa krank?«

»Nein, ich bin nicht krank, Aphanasij Iwanowitsch! Ich wünsche Ihnen eine besondere Mitteilung zu machen: Ich weiß, daß ich diesen Sommer sterben werde: mein Tod ist nach mir gekommen!«

Aphanasij Iwanowitsch verzog ganz krampfhaft seinen Mund. Gleichwohl wollte er den in seiner Seele aufsteigenden Gram überwinden, und er sagte lächelnd: »Weiß Gott, was Sie da reden, Pulcheria Iwanowna. Sie haben sicherlich statt des Aufgusses, den Sie häufig trinken, einen Aprikosenschnaps genommen.«

»Nein, Aphanasij Iwanowitsch, ich habe keineswegs davon getrunken«, sprach Pulcheria Iwanowna, und es ward Aphanasij Iwanowitsch leid, daß er sich über sie lustiggemacht hatte. Er schaute sie an, und Tränen hingen ihm an den Wimpern.

»Ich bitte Sie, Aphanasij Iwanowitsch, meinen Willen zu erfüllen«, sprach Pulcheria Iwanowna. »Wenn ich sterbe, so begraben Sie mich neben der Kirchenmauer. Ziehen Sie mir das graue Kleid an mit den kleinen Blümchen auf braunem Grund. Das Atlaskleid mit himbeerfarbenen Streifen ziehen Sie mir nicht an. Wozu braucht eine Tote ein Kleid – was soll sie damit anfangen? Sie aber werden dies Kleid brauchen können: lassen Sie sich einen guten Schlafrock aus ihm machen, damit, wenn Gäste kommen, Sie anständig gekleidet herauskommen und sie aufnehmen können.«

»Gott weiß, was Sie da reden, Pulcheria Iwanowna«, sprach Aphanasij Iwanowitsch. »Der Tod wird noch lange auf sich warten lassen, und Sie erschrecken mich jetzt schon mit solchen Worten.«

»Nein, Aphanasij Iwanowitsch, ich weiß schon, wann mein Tod kommt, gleichwohl trauern Sie nicht um mich: ich bin schon alt und habe genug gelebt. Ja, und auch Sie sind schon alt. Wir werden uns bald wiedersehen, in jener Welt.«

Aphanasij Iwanowitsch schluchzte aber wie ein Kind.

»Eine Sünde ist es, zu weinen, Aphanasij Iwanowitsch! Sündigen Sie nicht und erzürnen Sie nicht Gott durch Ihren Kummer! Es ist mir durchaus nicht leid, daß ich sterbe; nur um eins ist es mir leid (und dabei unterbrach ein schwerer Seufzer auf einen Augenblick ihre Rede), daß ich nicht weiß, wem ich Sie hinterlassen soll, wer auf Sie achtgeben wird, wenn ich sterbe. Sie – sind wie ein kleines Kind. Es ist notwendig, daß Sie der liebt, der für Sie sorgt.« Hierbei malte sich ein so tiefes, so erschütterndes Herzeleid auf ihrem Gesichte, daß ich nicht weiß, ob irgendwer zu der Zeit ohne Anteilnahme auf sie hätte schauen können.

»Schau zu, Jawdocha,« sprach sie zur Beschließerin, die sie absichtlich hatte rufen lassen, »wenn ich tot bin, daß du dann auf den Herrn achtgibst, daß du ihn dann hütest wie deinen Augapfel, wie dein leibliches Kind. Schau zu, daß in der Küche das zubereitet wird, was er liebt; daß du ihm stets Wäsche und Kleider sauber hältst; daß, wenn Gäste kommen, du ihn anständig ausstaffierst; sonst wird er am Ende gar noch einmal im alten Schlafrock herauskommen. Denn jetzt schon vergißt er häufig, wann es Feiertag ist und wann Werktag. Wende nicht deine Augen von ihm ab, Jawdocha; ich werde für dich auch in jener Welt beten, und Gott wird dich belohnen. Vergiß aber nicht, Jawdocha, du bist schon alt; du hast nicht mehr lang zu leben – lade keine Sünde auf deine Seele. Wirst du aber nicht auf ihn achtgeben, so wirst du kein Glück haben auf der Welt; ich selber werde Gott bitten, er möge dir kein glückliches Ende geben. Selber wirst du unglücklich sein, und auch deine Kinder und dein ganzes Geschlecht wird in nichts Gottes Segen haben.«

Arme Alte! Sie dachte in diesem Augenblick weder an die große Minute, die sie erwartete, noch an ihre Seele, noch an ihr zukünftiges Leben; sie dachte nur an ihren armen Gefährten, mit dem sie ihr Leben zugebracht hatte und den sie als Waise und heimatlos zurückließ. Mit außerordentlicher Geschicklichkeit hatte sie alles so angeordnet, daß nach ihrem Tode Aphanasij Iwanowitsch ihre Abwesenheit nicht bemerken sollte. Die Gewißheit ihres nahen Endes war so groß in ihr und ihr Seelenzustand derart dem angepaßt, daß sie sich tatsächlich nach einigen Tagen zu Bett legte und schon keine Speise mehr zu sich nehmen mochte. Aphanasij Iwanowitsch war nur noch Aufmerksamkeit und wich nicht von ihrem Bett. »Vielleicht würden Sie etwas essen, Pulcheria Iwanowna«, fragte er immer wieder und schaute ihr voll Unruhe in die Augen. Pulcheria Iwanowna sprach aber gar nichts. Endlich, nach langem Schweigen, war es so, als wollte sie irgend etwas sagen. Sie bewegte die Lippen – und der Atem entflog ihr.

Aphanasij Iwanowitsch war ganz niedergeschmettert. Dies schien ihm so furchtbar, daß er sogar nicht einmal weinte; mit trüben Augen blickte er auf sie hin, als begreife er gar nicht, daß sie tot sei. Man legte die Verstorbene auf den Tisch und zog ihr das Kleid an, das sie selber bestimmt hatte. Man kreuzte ihr die Arme über der Brust und gab ihr eine Wachskerze in die Hand – er schaute teilnahmlos auf das alles hin. Eine Menge Volks jeglichen Standes erfüllte den Hof. Viele Gäste kamen zur Beerdigung; lange Tische wurden im Hof aufgestellt; Reisspeise, Schnäpse und Pasteten bedeckten sie in Haufen. Die Gäste schwätzten, weinten, schauten die Tote an, sprachen über ihre Eigenschaften und sahen auf ihn. Er selber aber sah auf dies alles mit seltsamem Blick. Man trug die Tote hinaus, das Volk drängte hinterher, und auch er folgte nach. Die Geistlichen waren in vollem Ornat, die Sonne leuchtete, Brustkinder weinten auf den Armen ihrer Mütter, Lerchen sangen, und Kinder, bloß im Hemdchen, liefen und spielten auf dem Wege. Endlich stellte man den Sarg neben das Grab, man sagte ihm, er solle zur Toten herantreten und sie zum letzten Male küssen. Er tat das; in seinen Augen zeigten sich Tränen, aber teilnahmlose Tränen. Man ließ den Sarg hinunter, der Geistliche nahm die Schaufel und warf als erster eine Handvoll Erde hinein; der Diakon und zwei Küster sangen in dumpfen, gezogenen Tönen das ewige Gedächtnis unter dem reinen wolkenlosen Himmel; die Arbeiter nahmen ihre Spaten, und rasch bedeckte die Erde das Grab und machte es dem Boden gleich. Zu dieser Zeit drängte er sich vor; alle wichen zur Seite und machten ihm Platz, da sie zu wissen wünschten, was er wollte. Er hob seinen Blick, schaute trübe drein und sagte nur: »So habt ihr sie denn schon begraben? Warum?! …« Er hielt inne und beendigte nicht seine Rede.

Als er aber nach Hause kam und sah, daß das Zimmer leer war und man sogar den Stuhl herausgebracht hatte, auf dem Pulcheria Iwanowna zu sitzen pflegte – brach er in Weinen aus. Er schluchzte laut und trostlos, und die Tränen strömten nur so aus seinen trüben Augen.

Fünf Jahre waren seitdem vergangen. Welchen Kummer heilt nicht die Zeit? Welches Leiden behauptet sich im ungleichen Kampfe mit ihr? Ich kannte einen Menschen in der Blüte der Jugendkraft, der von wirklicher Vornehmheit und Würde erfüllt war. Ich wußte, daß er liebte, zärtlich, leidenschaftlich, rasend, wild und zugleich anspruchslos. Und fast vor meinen Augen ward der Gegenstand seiner Leidenschaft – zärtlich und schön wie ein Engel – von dem unersättlichen Tod dahingerafft. Niemals sah ich noch so furchtbare Ausbrüche seelischen Leidens, eine so rasende, sengende Sehnsucht, eine so verzehrende Verzweiflung, wie sie den unglücklichen Liebenden ergriffen hatte. Ich glaubte niemals, daß ein Mensch sich selber eine solche Hölle bereiten könne, in der auch nicht mehr ein Schatten, nicht mehr ein Gleichnis und überhaupt gar nichts mehr war, was irgendwie an Hoffnung erinnerte … Man bemühte sich, ihn nicht aus den Augen zu lassen; man verbarg alle Waffen vor ihm, mit denen er sich hätte töten können. Zwei Wochen später war er seiner Verzweiflung Herr: er begann zu lachen und zu scherzen; man gab ihm die Freiheit wieder, und das erste, wozu er sie benutzte, war – eine Pistole zu kaufen. Eines Tages erschreckte der Knall eines plötzlichen Schusses furchtbar seine Angehörigen; sie liefen in das Zimmer und erblickten ihn auf dem Boden ausgestreckt mit zerschmettertem Schädel. Zufällig befand sich ein Arzt im Hause, dessen Kunst in der ganzen Stadt berühmt war. Er stellte bei dem Schwerverletzten noch Lebenszeichen fest, fand die Wunde nicht durchaus tödlich, und der Selbstmörder wurde zum allgemeinen Staunen ausgeheilt. Man gab nunmehr noch mehr acht auf ihn. Sogar bei Tisch legte man kein Messer zu seinem Gedeck und bemühte sich überhaupt, ihm alles fernzuhalten, womit er sich hätte ein Leid antun können. Er fand aber sehr bald eine neue Gelegenheit und warf sich unter die Räder eines vorbeifahrenden Wagens. Er erlitt einen Arm- und einen Beinbruch, ward aber wiederum ausgeheilt. Ein Jahr später sah ich ihn in einem überfüllten Saale: er saß an einem Tisch, sprach fröhlich: »Petite ouverte!«, nachdem er eine Karte bedeckt hatte, und hinter ihm stand, auf die Lehne seines Stuhles gestützt, – seine junge Frau und zählte sein Geld.

Nach Ablauf der erwähnten fünf Jahre nach dem Tode von Pulcheria Iwanowna befand ich mich zufällig in dieser Gegend und fuhr auch in den Hof von Aphanasij Iwanowitsch, um meinen alten Nachbar zu besuchen, bei dem ich einstmals so angenehm die Zeit verbracht und mich immer übergessen hatte mit den besten Erzeugnissen der freundlichen Hausfrau. Als ich in den Hof einfuhr, erschien mir das Haus doppelt so alt. Die Bauernhütten lagen vollständig auf der Seite und zweifellos ganz ebenso auch ihre Besitzer. Der Zaun und die Hecke im Hofe waren zerstört, und ich sah selber, wie die Köchin aus ihm Latten herauszog, um den Ofen zu heizen, während sie doch nur zwei Schritte weiter zu gehen gebraucht hätte, um dort aufgehäuftes Reisig zu nehmen. Traurig fuhr ich beim Eingang vor. Ganz dieselben Hunde und Hündchen, nur schon blind geworden oder mit gebrochenen Beinen, bellten und erhoben ihre welligen, mit Kletten behangenen Schwänze. Der Greis kam mir entgegen. Das war er! Ich erkannte ihn sogleich; er ging doppelt so gebeugt wie früher. Er erkannte mich und begrüßte mich mit ganz demselben mir bekannten Lächeln. Ich trat mit ihm ins Innere des Hauses. Es schien, alles war dort ebenso wie früher. Indes bemerkte ich überall eine ganz seltsame Unordnung: es fehlte irgend etwas – und das wirkte peinlich. Mit einem Worte, mich erfaßten jene seltsamen Gefühle, die uns überkommen, wenn wir zum erstenmal die Wohnung eines Witwers betreten, den wir vordem unzertrennlich von seiner Freundin gekannt haben, die ihn sein ganzes Leben hindurch begleitet hat. So empfinden wir beim Anblick eines Menschen, der seine Beine verlor, wenn wir ihn bisher immer mit ganzen Gliedern gesehen haben. In allem war die Abwesenheit der besorgten Pulcheria Iwanowna zu bemerken: bei Tisch gab man ein Messer ohne Griff; die Speisen waren schon nicht mehr mit solcher Kunst zubereitet. Nach der Wirtschaft wollte ich mich gar nicht erkundigen. Ich fürchtete sogar, auf die Wirtschaftsgebäude hinzublicken.

Als wir uns zu Tische setzten, band ein Mädchen Aphanasij Iwanowitsch ein Mundtuch um – und sie tat sehr gut daran. Denn sonst hätte er seinen Rock mit Soße befleckt. Ich bemühte mich, ihn irgendwie zu unterhalten, und erzählte ihm verschiedene Neuigkeiten. Er hörte mir mit ganz dem gleichen Lächeln zu. Nur daß zeitweilig sein Blick völlig teilnahmlos war und die Gedanken in ihm nicht widerstrahlten, vielmehr spurlos an ihm vorübergingen. Häufig erhob er seinen Löffel mit Grütze und führte ihn zur Nase statt zum Munde. Statt seine Gabel in ein Stückchen Hühnerbraten zu stecken, fuhr er mit ihr in die Flasche, und dann faßte das Mädchen ihn bei der Hand und führte sie zu seinem Teller. Bisweilen warteten wir mehrere Minuten auf die folgende Speise. Aphanasij Iwanowitsch bemerkte das schon selber und sagte dann: »Was bringt man denn da so lange nicht das Essen?« Ich sah aber durch eine Spalte in der Tür, daß der Knabe, der uns die Speisen gebracht hatte, gar nicht daran dachte und ruhig schlief, den Kopf zur Bank geneigt.

»Diese Speise hier,« sprach Aphanasij Iwanowitsch, als man uns Topfnudeln mit Sauerrahm gab, »das ist die Speise,« fuhr er fort, und ich bemerkte, daß seine Stimme zu zittern begann und seine trüben Augen sich sogleich mit Tränen füllen würden, er nahm aber alle Kräfte zusammen, da er sich zu beherrschen wünschte, »das ist die Speise, welche die … die … die … Verstorbene …!« und plötzlich brach er in Weinen aus, seine Hand fiel auf den Teller, der Teller fiel um, flog vom Tisch hinunter und zerbrach. Die Soße übergoß ihn völlig. Er saß teilnahmlos da, teilnahmlos hielt er den Löffel, und die Tränen ergossen sich wie eine Quelle, wie eine lautlos springende Fontäne. Sie liefen in Strömen auf seine ausgebreitete Serviette.

»Mein Gott!« dachte ich, indem ich auf ihn schaute. »Fünf Jahre der alles zerstörenden Zeit sind dahingegangen – ein Greis ist doch schon teilnahmlos, und dieser Greis hier, dessen Leben, so schien es, niemals auch nur eine einzige starke Seelenerregung erschüttert hatte, dessen ganzes Leben, so schien es, nur darin bestand, daß er auf einem hohen Stuhl saß, getrocknete Fische und Birnen aß und gutmütige Gespräche führte, – und ein so langandauernder, ein so heißer Kummer! Was hat denn eigentlich mehr Macht über uns: die Leidenschaft oder die Gewohnheit? Oder sind alle unsere heftigen Ausbrüche, der ganze Wirbel unserer Begierden und kochenden Leidenschaften wirklich nur die Folge unseres jugendlichen Alters, und scheinen sie uns nur einzig und allein deshalb so tief und erschütternd?« Wie dem aber auch sein mag, damals schienen mir alle unsere Leidenschaften kindisch im Vergleich mit dieser lange dauernden, allmählich fast gefühllosen Gewohnheit. Mehrere Male bemühte er sich, den Namen der Verstorbenen auszusprechen, aber mitten im Worte verzog sich sein gewöhnlicher ruhiger Gesichtsausdruck, und sein Schluchzen, wie das eines Kindes, erschütterte mich im tiefsten Herzen. Nein, das waren nicht jene Tränen, mit denen gewöhnlich alte Leutchen so verschwenderisch sind, wenn sie uns ihre jammervolle Lage und ihr Unglück erzählen; das waren auch nicht solche Tränen, die sie bei einem Glase Punsch vergießen. Nein! Das waren Tränen, die, ohne nach etwas zu fragen, ganz von selber flossen, entsprungen dem scharfen Grame eines schon kaltgewordenen Herzens.

Er lebte dann nicht mehr lange. Unlängst erfuhr ich von seinem Tode. Immerhin ist es seltsam, daß die näheren Umstände eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Tode von Pulcheria Iwanowna hatten. Aphanasij Iwanowitsch hatte sich eines Tages entschlossen, ein wenig im Garten spazieren zu gehen. Als er langsam dahinschritt, mit seiner gewöhnlichen Unbekümmertheit, ohne an irgend etwas zu denken, begegnete ihm etwas Seltsames. Er hörte plötzlich, daß hinter ihm irgendwer mit ziemlich deutlicher Stimme rief: »Aphanasij Iwanowitsch!« Er drehte sich um. Es war aber niemand da; er schaute nach allen Seiten, er blickte ins Gebüsch – nirgends eine Seele. Der Tag war still, und die Sonne leuchtete. Er sann einen Augenblick nach. Es war, als belebe sich sein Gesicht, und endlich sprach er: »Da ruft mich Pulcheria Iwanowna!« Zweifellos ist es Ihnen irgendwann begegnet, eine Stimme zu hören, die Sie bei Namen nennt. Und einfache Leute erklären das so, daß eine Seele sich nach einem Menschen sehnt und ihn ruft, und daß man dann unbedingt sterben müsse. Ich gestehe ein, mir war ein solcher geheimnisvoller Ruf stets unheimlich. Ich entsinne mich, daß ich ihn in meiner Jugend häufig vernahm. Bisweilen rief plötzlich irgend jemand hinter mir ganz deutlich meinen Namen. Das geschah gewöhnlich bei allerheiterstem und sonnigstem Wetter; kein einziges Blättchen bewegte sich im Garten; es herrschte Totenstille. Sogar die Grille hatte dann aufgehört zu zirpen; keine Seele im Garten. Ich gebe aber zu, daß, wenn mich die allerfurchtbarste und stürmischste Nacht mit der ganzen Hölle der Elementargewalten inmitten eines undurchdringlichen Waldes als einsam Wandelnden überrascht hätte, ich mich nicht so erschreckt hätte als vor dieser furchtbaren Stille inmitten eines wolkenlosen Tages. Gewöhnlich lief ich in der größten Furcht und mit angehaltenem Atem aus dem Garten und pflegte mich erst dann zu beruhigen, wenn mir irgendein Mensch begegnete, dessen Anblick diese furchtbare Herzensöde verscheuchte.

Aphanasij Iwanowitsch fügte sich völlig seiner seelischen Überzeugung: Pulcheria Iwanowna rufe ihn. Er fügte sich mit dem Willen eines gehorsamen Kindes, er schwand dahin, hustete, schmolz wie ein Licht und erlosch endlich wie ein solches, als schon nichts mehr geblieben war, das seine arme Flamme aufrechterhalten konnte. »Legt mich neben Pulcheria Iwanowna!« Das war alles, was er vor seinem Tode sprach.

Sein Wunsch ward erfüllt. Man begrub ihn neben der Kirche, nahe beim Grabe von Pulcheria Iwanowna. Bei seiner Beerdigung waren nur wenige Gäste erschienen. Wohl aber eine gleiche Menge von einfachem Volk und Bettlern. Das Herrenhäuschen war schon völlig leer. Der unternehmende Verwalter und der Vogt hatten alles in ihre Hütten geschleppt, was übriggeblieben war von alten Möbeln und altem Kram, soweit das nicht schon die Beschließerin auf die Seite zu bringen vermocht hatte. Bald kam, unbekannt woher, irgendein entfernter Verwandter an, der das Gut geerbt hatte und früher Leutnant gewesen war, ich weiß nicht in welchem Regiment – ein schrecklicher Reformator. Er erblickte sogleich die furchtbarste Unordnung und Verwahrlosung in den wirtschaftlichen Angelegenheiten. Das alles beschloß er unbedingt auszurotten und Ordnung einzuführen. Er kaufte sechs schöne englische Sicheln, befestigte an jeder Hütte eine besondere Nummer und traf schließlich so gute Verordnungen, daß nach sechs Monaten das Gut unter Zwangsverwaltung genommen ward. Die weise Vormundschaft (aus einem früheren Gerichtsbeisitzer und einem Stabskapitän in abgetragener Uniform bestehend) vertilgte in ganz kurzer Zeit alle Hühner und alle Eier. Die Hütten, die so schon fast auf der Erde gelegen hatten, fielen völlig in Trümmer. Die Bauern begannen zu trinken und größtenteils davonzulaufen. Der wirkliche Besitzer selber aber, der übrigens ziemlich friedlich mit seiner Vormundschaft lebte und mit ihr zusammen Punsch zu trinken pflegte, kam sehr selten in sein Dorf und verweilte dort niemals lange. Bis jetzt noch fährt er auf allen Jahrmärkten in Kleinrußland umher und erkundigt sich eingehend nach den Preisen für verschiedene Produkte, die »en gros« verkauft werden, wie Mehl, Hanf, Honig usw. Selber aber kauft er nur unbedeutende Kleinigkeiten, wie Feuersteine, Nägel zum Reinigen der Pfeife und überhaupt lauter solche Dinge, deren Gesamtpreis einen Rubel nicht übersteigt.


 << zurück weiter >>