Johann Wolfgang von Goethe
Wilhelm Meisters Lehrjahre
Johann Wolfgang von Goethe

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Das Geheimnis der Alten war nicht zum besten bei ihm verwahrt. Er verriet sich, als er den schönen Felix wieder ansichtig ward. »O mein Kind!« rief er aus, »mein liebes Kind!« Er hub ihn auf und drückte ihn an sein Herz. »Vater! was hast du mir mitgebracht?« rief das Kind. Mignon sah beide an, als wenn sie warnen wollte, sich nicht zu verraten.

»Was ist das für eine neue Erscheinung?« sagte Madame Melina. Man suchte die Kinder beiseite zu bringen, und Wilhelm, der der Alten das strengste Geheimnis nicht schuldig zu sein glaubte, entdeckte seiner Freundin das ganze Verhältnis. Madame Melina sah ihn lächelnd an. »O über die leichtgläubigen Männer!« rief sie aus, »wenn nur etwas auf ihrem Wege ist, so kann man es ihnen sehr leicht aufbürden; aber dafür sehen sie sich auch ein andermal weder rechts noch links um und wissen nichts zu schätzen, als was sie vorher mit dem Stempel einer willkürlichen Leidenschaft bezeichnet haben.« Sie konnte einen Seufzer nicht unterdrücken, und wenn Wilhelm nicht ganz blind gewesen wäre, so hätte er eine nie ganz besiegte Neigung in ihrem Betragen erkennen müssen.

Er sprach nunmehr mit ihr von den Kindern, wie er Felix bei sich zu behalten und Mignon auf das Land zu tun gedächte. Frau Melina, ob sie sich gleich ungerne von beiden zugleich trennte, fand doch den Vorschlag gut, ja notwendig. Felix verwilderte bei ihr, und Mignon schien einer freien Luft und anderer Verhältnisse zu bedürfen; das gute Kind war kränklich und konnte sich nicht erholen.

»Lassen Sie sich nicht irren«, fuhr Madame Melina fort, »daß ich einige Zweifel, ob Ihnen der Knabe wirklich zugehöre, leichtsinnig geäußert habe. Der Alten ist freilich wenig zu trauen, doch wer Unwahrheit zu seinem Nutzen ersinnt, kann auch einmal wahr reden, wenn ihm die Wahrheiten nützlich scheinen. Aurelien hatte die Alte vorgespiegelt, Felix sei ein Sohn Lotharios, und die Eigenheit haben wir Weiber, daß wir die Kinder unserer Liebhaber recht herzlich lieben, wenn wir schon die Mutter nicht kennen oder sie von Herzen hassen.« Felix kam hereingesprungen, sie drückte ihn an sich, mit einer Lebhaftigkeit, die ihr sonst nicht gewöhnlich war.

Wilhelm eilte nach Hause und bestellte die Alte, die ihn, jedoch nicht eher als in der Dämmerung, zu besuchen versprach; er empfing sie verdrießlich und sagte zu ihr: »Es ist nichts Schändlichers in der Welt, als sich auf Lügen und Märchen einzurichten! Schon hast du viel Böses damit gestiftet, und jetzt, da dein Wort das Glück meines Lebens entscheiden könnte, jetzt steh ich zweifelhaft und wage nicht, das Kind in meine Arme zu schließen, dessen ungetrübter Besitz mich äußerst glücklich machen würde. Ich kann dich, schändliche Kreatur, nicht ohne Haß und Verachtung ansehen.«

»Euer Betragen kommt mir, wenn ich aufrichtig reden soll«, versetzte die Alte, »ganz unerträglich vor. Und wenn's nun Euer Sohn nicht wäre, so ist es das schönste, angenehmste Kind von der Welt, das man gern für jeden Preis kaufen möchte, um es nur immer um sich zu haben. Ist es nicht wert, daß Ihr Euch seiner annehmt? Verdiene ich für meine Sorgfalt, für meine Mühe mit ihm nicht einen kleinen Unterhalt für mein künftiges Leben? Oh! ihr Herren, denen nichts abgeht, ihr habt gut von Wahrheit und Geradheit reden; aber wie eine arme Kreatur, deren geringstem Bedürfnis nichts entgegenkommt, die in ihren Verlegenheiten keinen Freund, keinen Rat, keine Hülfe sieht, wie die sich durch die selbstischen Menschen durchdrücken und im stillen darben muß – davon würde manches zu sagen sein, wenn ihr hören wolltet und könntet. Haben Sie Marianens Briefe gelesen? Es sind dieselben, die sie zu jener unglücklichen Zeit schrieb. Vergebens suchte ich mich Ihnen zu nähern, vergebens Ihnen diese Blätter zuzustellen; Ihr grausamer Schwager hatte Sie so umlagert, daß alle List und Klugheit vergebens war, und zuletzt, als er mir und Marianen mit dem Gefängnis drohte, mußte ich wohl alle Hoffnung aufgeben. Trifft nicht alles mit dem überein, was ich erzählt habe? Und setzt nicht Norbergs Brief die ganze Geschichte außer allen Zweifel?«

»Was für ein Brief?« fragte Wilhelm.

»Haben Sie ihn nicht in der Brieftasche gefunden?« versetzte die Alte.

»Ich habe noch nicht alles durchlesen.«

»Geben Sie nur die Brieftasche her; auf dieses Dokument kommt alles an. Norbergs unglückliches Billett hat die traurige Verwirrung gemacht, ein anderes von seiner Hand mag auch den Knoten lösen, insofern am Faden noch etwas gelegen ist.« Sie nahm ein Blatt aus der Brieftasche, Wilhelm erkannte jene verhaßte Hand, er nahm sich zusammen und las:

»Sag mir nur, Mädchen, wie vermagst du das über mich? Hätt ich doch nicht geglaubt, daß eine Göttin selbst mich zum seufzenden Liebhaber umschaffen könnte. Anstatt mir mit offenen Armen entgegenzueilen, ziehst du dich zurück; man hätte es wahrhaftig für Abscheu nehmen können, wie du dich betrugst. Ist's erlaubt, daß ich die Nacht mit der alten Barbara auf einem Koffer in einer Kammer zubringen mußte? Und mein geliebtes Mädchen war nur zwei Türen davon. Es ist zu toll, sag ich dir! Ich habe versprochen, dir einige Bedenkzeit zu lassen, nicht gleich in dich zu dringen, und ich möchte rasend werden über jede verlorne Viertelstunde. Habe ich dir nicht geschenkt, was ich wußte und konnte? Zweifelst du noch an meiner Liebe? Was willst du haben? sag es mir! Es soll dir an nichts fehlen. Ich wollte, der Pfaffe müßte verstummen und verblinden, der dir solches Zeug in den Kopf gesetzt hat. Mußtest du auch gerade an so einen kommen! Es gibt so viele, die jungen Leuten etwas nachzusehen wissen. Genug, ich sage dir, es muß anders werden, in ein paar Tagen muß ich Antwort wissen, denn ich gehe bald wieder weg, und wenn du nicht wieder freundlich und gefällig bist, so sollst du mich nicht wiedersehen...«

In dieser Art ging der Brief noch lange fort, drehte sich zu Wilhelms schmerzlicher Zufriedenheit immer um denselben Punkt herum und zeugte für die Wahrheit der Geschichte, die er von Barbara vernommen hatte. Ein zweites Blatt bewies deutlich, daß Mariane auch in der Folge nicht nachgegeben hatte, und Wilhelm vernahm aus diesen und mehreren Papieren nicht ohne tiefen Schmerz die Geschichte des unglücklichen Mädchens bis zur Stunde ihres Todes.

Die Alte hatte den rohen Menschen nach und nach zahm gemacht, indem sie ihm den Tod Marianens meldete und ihm den Glauben ließ, als wenn Felix sein Sohn sei; er hatte ihr einigemal Geld geschickt, das sie aber für sich behielt, da sie Aurelien die Sorge für des Kindes Erziehung aufgeschwatzt hatte. Aber leider dauerte dieser heimliche Erwerb nicht lange. Norberg hatte durch ein wildes Leben den größten Teil seines Vermögens verzehrt und wiederholte Liebesgeschichten sein Herz gegen seinen ersten, eingebildeten Sohn verhärtet.

So wahrscheinlich das alles lautete und so schön es zusammentraf, traute Wilhelm doch noch nicht, sich der Freude zu überlassen; er schien sich vor einem Geschenke zu fürchten, das ihm ein böser Genius darreichte.

»Ihre Zweifelsucht«, sagte die Alte, die seine Gemütsstimmung erriet, »kann nur die Zeit heilen. Sehen Sie das Kind als ein fremdes an, und geben Sie desto genauer auf ihn acht, bemerken Sie seine Gaben, seine Natur, seine Fähigkeiten, und wenn Sie nicht nach und nach sich selbst wiedererkennen, so müssen Sie schlechte Augen haben. Denn das versichre ich Sie, wenn ich ein Mann wäre, mir sollte niemand ein Kind unterschieben; aber es ist ein Glück für die Weiber, daß die Männer in diesen Fällen nicht so scharfsichtig sind.«

Nach allem diesen setzte sich Wilhelm mit der Alten auseinander; er wollte den Felix mit sich nehmen, sie sollte Mignon zu Theresen bringen und hernach eine kleine Pension, die er ihr versprach, wo sie wollte, verzehren.

Er ließ Mignon rufen, um sie auf diese Veränderung vorzubereiten. »Meister!« sagte sie, »behalte mich bei dir, es wird mir wohltun und weh.«

Er stellte ihr vor, daß sie nun herangewachsen sei und daß doch etwas für ihre weitere Bildung getan werden müsse. »Ich bin gebildet genug«, versetzte sie, »um zu lieben und zu trauern.«

Er machte sie auf ihre Gesundheit aufmerksam, daß sie eine anhaltende Sorgfalt und die Leitung eines geschickten Arztes bedürfe. »Warum soll man für mich sorgen«, sagte sie, »da so viel zu sorgen ist?«

Nachdem er sich viele Mühe gegeben, sie zu überzeugen, daß er sie jetzt nicht mit sich nehmen könne, daß er sie zu Personen bringen wolle, wo er sie öfters sehen werde, schien sie von alledem nichts gehört zu haben. »Du willst mich nicht bei dir?« sagte sie. »Vielleicht ist es besser, schicke mich zum alten Harfenspieler, der arme Mann ist so allein.«

Wilhelm suchte ihr begreiflich zu machen, daß der Alte gut aufgehoben sei. »Ich sehne mich jede Stunde nach ihm«, versetzte das Kind.

»Ich habe aber nicht bemerkt«, sagte Wilhelm, »daß du ihm so geneigt seist, als er noch mit uns lebte.«

»Ich fürchtete mich vor ihm, wenn er wachte; ich konnte nur seine Augen nicht sehen, aber wenn er schlief, setzte ich mich gern zu ihm, ich wehrte ihm die Fliegen und konnte mich nicht satt an ihm sehen. Oh! er hat mir in schrecklichen Augenblicken beigestanden, es weiß niemand, was ich ihm schuldig bin. Hätt ich nur den Weg gewußt, ich wäre schon zu ihm gelaufen.«

Wilhelm stellte ihr die Umstände weitläufig vor und sagte: sie sei so ein vernünftiges Kind, sie möchte doch auch diesmal seinen Wünschen folgen. »Die Vernunft ist grausam«, versetzte sie, »das Herz ist besser. Ich will hingehen, wohin du willst, aber laß mir deinen Felix!«

Nach vielem Hin- und Widerreden war sie immer auf ihrem Sinne geblieben, und Wilhelm mußte sich zuletzt entschließen, die beiden Kinder der Alten zu übergeben und sie zusammen an Fräulein Therese zu schicken. Es ward ihm das um so leichter, als er sich noch immer fürchtete, den schönen Felix sich als seinen Sohn zuzueignen. Er nahm ihn auf den Arm und trug ihn herum; das Kind mochte gern vor den Spiegel gehoben sein, und ohne sich es zu gestehen, trug Wilhelm ihn gern vor den Spiegel und suchte dort Ähnlichkeiten zwischen sich und dem Kinde auszuspähen. Ward es ihm dann einen Augenblick recht wahrscheinlich, so drückte er den Knaben an seine Brust, aber auf einmal, erschreckt durch den Gedanken, daß er sich betriegen könne, setzte er das Kind nieder und ließ es hinlaufen. »Oh!« rief er aus, »wenn ich mir dieses unschätzbare Gut zueignen könnte und es würde mir dann entrissen, so wäre ich der unglücklichste aller Menschen!«

Die Kinder waren weggefahren, und Wilhelm wollte nun seinen förmlichen Abschied vom Theater nehmen, als er fühlte, daß er schon abgeschieden sei und nur zu gehen brauchte. Mariane war nicht mehr, seine zwei Schutzgeister hatten sich entfernt, und seine Gedanken eilten ihnen nach. Der schöne Knabe schwebte wie eine reizende ungewisse Erscheinung vor seiner Einbildungskraft, er sah ihn an Theresens Hand durch Felder und Wälder laufen, in der freien Luft und neben einer freien und heitern Begleiterin sich bilden; Therese war ihm noch viel werter geworden, seitdem er das Kind in ihrer Gesellschaft dachte. Selbst als Zuschauer im Theater erinnerte er sich ihrer mit Lächeln; beinahe war er in ihrem Falle, die Vorstellungen machten ihm keine Illusion mehr.

Serlo und Melina waren äußerst höflich gegen ihn, sobald sie merkten, daß er an seinen vorigen Platz keinen weitern Anspruch machte. Ein Teil des Publikums wünschte ihn nochmals auftreten zu sehen; es wäre ihm unmöglich gewesen, und bei der Gesellschaft wünschte es niemand als allenfalls Frau Melina.

Er nahm nun wirklich Abschied von dieser Freundin, er war gerührt und sagte: »Wenn doch der Mensch sich nicht vermessen wollte, irgend etwas für die Zukunft zu versprechen! Das Geringste vermag er nicht zu halten, geschweige wenn sein Vorsatz von Bedeutung ist. Wie schäme ich mich, wenn ich denke, was ich Ihnen allen zusammen in jener unglücklichen Nacht versprach, da wir beraubt, krank, verletzt und verwundet in eine elende Schenke zusammengedrängt waren. Wie erhöhte damals das Unglück meinen Mut, und welchen Schatz glaubte ich in meinem guten Willen zu finden; nun ist aus allem dem nichts, gar nichts geworden! Ich verlasse Sie als Ihr Schuldner, und mein Glück ist, daß man mein Versprechen nicht mehr achtete, als es wert war, und daß niemand mich jemals deshalb gemahnt hat.«

»Sein Sie nicht ungerecht gegen sich selbst«, versetzte Frau Melina; »wenn niemand erkennt, was Sie für uns getan hatten, so werde ich es nicht verkennen: denn unser ganzer Zustand wäre völlig anders, wenn wir Sie nicht besessen hätten. Geht es doch unsern Vorsätzen wie unsern Wünschen. Sie sehen sich gar nicht mehr ähnlich, wenn sie ausgeführt, wenn sie erfüllt sind, und wir glauben nichts getan, nichts erlangt zu haben.«

»Sie werden«, versetzte Wilhelm, »durch Ihre freundschaftliche Auslegung mein Gewissen nicht beruhigen, und ich werde mir immer als Ihr Schuldner vorkommen.«

»Es ist auch wohl möglich, daß Sie es sind«, versetzte Madame Melina, »nur nicht auf die Art, wie Sie es denken. Wir rechnen uns zur Schande, ein Versprechen nicht zu erfüllen, das wir mit dem Munde getan haben. Oh, mein Freund, ein guter Mensch verspricht durch seine Gegenwart nur immer zuviel! Das Vertrauen, das er hervorlockt, die Neigung, die er einflößt, die Hoffnungen, die er erregt, sind unendlich; er wird und bleibt ein Schuldner, ohne es zu wissen. Leben Sie wohl! Wenn unsere äußeren Umstände sich unter Ihrer Leitung recht glücklich hergestellt haben, so entsteht in meinem Innern durch Ihren Abschied eine Lücke, die sich so leicht nicht wieder ausfüllen wird.«

Wilhelm schrieb vor seiner Abreise aus der Stadt noch einen weitläufigen Brief an Wernern. Sie hatten zwar einige Briefe gewechselt, aber weil sie nicht einig werden konnten, hörten sie zuletzt auf zu schreiben. Nun hatte sich Wilhelm wieder genähert, er war im Begriff, dasjenige zu tun, was jener so sehr wünschte, er konnte sagen: »Ich verlasse das Theater und verbinde mich mit Männern, deren Umgang mich in jedem Sinne zu einer reinen und sichern Tätigkeit führen muß.« Er erkundigte sich nach seinem Vermögen, und es schien ihm nunmehr sonderbar, daß er so lange sich nicht darum bekümmert hatte. Er wußte nicht, daß es die Art aller der Menschen sei, denen an ihrer innern Bildung viel gelegen ist, daß sie die äußeren Verhältnisse ganz und gar vernachlässigen. Wilhelm hatte sich in diesem Falle befunden; er schien nunmehr zum erstenmal zu merken, daß er äußerer Hülfsmittel bedürfe, um nachhaltig zu wirken. Er reiste fort mit einem ganz andern Sinn als das erstemal; die Aussichten, die sich ihm zeigten, waren reizend, und er hoffte auf seinem Wege etwas Frohes zu erleben.


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