Johann Wolfgang Goethe
Die Geschwister
Johann Wolfgang Goethe

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Marianne. O nimmermehr! Wer sollte seine Wirtschaft führen? wer für ihn sorgen? – Mit einer Magd? – oder gar heiraten? – Nein, das geht nicht!

Fabrice. Könnte er nicht mit Ihnen ziehen? Könnte Ihr Mann nicht sein Freund sein? Könnten Sie drei nicht ebenso eine glückliche, eine glücklichere Wirtschaft führen? Könnte Ihr Bruder nicht dadurch in seinen sauern Geschäften erleichtert werden? – Was für ein Leben könnte das sein!

Marianne. Man sollt's denken. Wenn ich's überlege, ist's wohl wahr. Und hernach ist mir's wieder so, als wenn's nicht anginge.

Fabrice. Ich begreife Sie nicht.

Marianne. Es ist nun so. – Wenn ich aufwache, horch' ich, ob der Bruder schon auf ist; rührt sich nichts, hui bin ich aus dem Bette in der Küche, mache Feuer an, daß das Wasser über und über kocht, bis die Magd aufsteht und er seinen Kaffee hat, wie er die Augen auftut.

Fabrice. Hausmütterchen.

Marianne. Und dann setze ich mich hin und stricke Strümpfe für meinen Bruder, und hab' eine Wirtschaft, und messe sie ihm zehnmal an, ob sie auch lang genug sind, ob die Wade recht sitzt, ob der Fuß nicht zu kurz ist, daß er manchmal ungeduldig wird. Es ist mir auch nicht ums Messen, es ist mir nur, daß ich was um ihn zu tun habe, daß er mich einmal ansehen muß, wenn er ein paar Stunden geschrieben hat, und er mir nicht Hypochonder wird. Denn es tut ihm doch wohl, wenn er mich ansieht; ich seh's ihm an den Augen ab, wenn er mir's gleich sonst nicht will merken lassen. Ich lache manchmal heimlich, daß er tut, als wenn er ernst wäre oder böse. Er tut wohl; ich peinigte ihn sonst den ganzen Tag.

Fabrice. Er ist glücklich.

Marianne. Nein, ich bin's. Wenn ich ihn nicht hätte, wüßt' ich nicht, was ich in der Welt anfangen sollte. Ich tue doch auch alles für mich, und mir ist, als wenn ich alles für ihn täte, weil ich auch bei dem, was ich für mich tue, immer an ihn denke.

Fabrice. Und wenn Sie nun das alles für einen Gatten täten, wie ganz glücklich würde er sein! Wie dankbar würde er sein, und welch ein häuslich Leben würde das werden!

Marianne. Manchmal stell' ich mir's auch vor und kann mir ein langes Märchen erzählen, wenn ich so sitze und stricke oder nähe, wie alles gehen könnte und gehen möchte. Komm' ich aber hernach aufs Wahre zurück, so will's immer nicht werden.

Fabrice. Warum?

Marianne. Wo wollt' ich einen Gatten finden, der zufrieden wäre, wenn ich sagte: »Ich will Euch liebhaben«, und müßte gleich dazusetzen: »Lieber als meinen Bruder kann ich Euch nicht haben, für den muß ich alles tun dürfen, wie bisher.« – – – Ach, Sie sehen, daß das nicht geht!

Fabrice. Sie würden nachher einen Teil für den Mann tun, Sie würden die Liebe auf ihn übertragen. –

Marianne. Da sitzt der Knoten! Ja, wenn sich Liebe herüber und hinüber zahlen ließe wie Geld, oder den Herrn alle Quartal veränderte wie eine schlechte Dienstmagd. Bei einem Manne würde das alles erst werden müssen, was hier schon ist, was nie so wieder werden kann.

Fabrice. Es macht sich viel.

Marianne. Ich weiß nicht. Wenn er so bei Tische sitzt und den Kopf auf die Hand stemmt, niedersieht und still ist in Sorgen – ich kann halbe Stunden lang sitzen und ihn ansehen. Er ist nicht schön, sag' ich manchmal so zu mir selbst, und mir ist's so wohl, wenn ich ihn ansehe. – Freilich fühl' ich nun wohl, daß es mit für mich ist, wenn er sorgt; freilich sagt mir das der erste Blick, wenn er wieder aufsieht, und das tut ein Großes.

Fabrice. Alles, Marianne. Und ein Gatte, der für Sie sorgte! –

Marianne. Da ist noch eins; da sind eure Launen. Wilhelm hat auch seine Launen; von ihm drücken sie mich nicht, von jedem andern wären sie mir unerträglich. Er hat leise Launen, ich fühl' sie doch manchmal. Wenn er in unholden Augenblicken eine gute teilnehmende liebevolle Empfindung wegstößt – es trifft mich! freilich nur einen Augenblick; und wenn ich auch über ihn knurre, so ist's mehr, daß er meine Liebe nicht erkennt, als daß ich ihn weniger liebe.

Fabrice. Wenn sich nun aber einer fände, der es auf alles das hin wagen sollte, Ihnen seine Hand anzubieten?

Marianne. Er wird sich nicht finden! Und dann wäre die Frage, ob ich's mit ihm wagen dürfte.

Fabrice. Warum nicht?

Marianne. Er wird sich nicht finden!

Fabrice. Marianne, Sie haben ihn!

Marianne. Fabrice!

Fabrice. Sie sehen ihn vor sich. Soll ich eine lange Rede halten? Soll ich Ihnen hinschütten, was mein Herz so lange bewahrt? Ich liebe Sie, das wissen Sie lange; ich biete Ihnen meine Hand an, das vermuteten Sie nicht. Nie hab' ich ein Mädchen gesehen, das so wenig dachte, daß es Gefühle dem, der sie sieht, erregen muß, als dich. – Marianne, es ist nicht ein feuriger, unbedachter Liebhaber, der mit Ihnen spricht; ich kenne Sie, ich habe Sie erkoren, mein Haus ist eingerichtet; wollen Sie mein sein? – – – Ich habe in der Liebe mancherlei Schicksale gehabt, war mehr als einmal entschlossen, mein Leben als Hagestolz zu enden. Sie haben mich nun – Widerstehen Sie nicht! – Sie kennen mich; ich bin eins mit Ihrem Bruder; Sie können kein reineres Band denken. – Öffnen Sie Ihr Herz! – Ein Wort, Marianne!

Marianne. Lieber Fabrice, lassen Sie mir Zeit, ich bin Ihnen gut.

Fabrice. Sagen Sie, daß Sie mich lieben! Ich lasse Ihrem Bruder seinen Platz; ich will Bruder Ihres Bruders sein, wir wollen vereint für ihn sorgen. Mein Vermögen, zu dem seinen geschlagen, wird ihn mancher kummervollen Stunde überheben, er wird Mut kriegen, er wird – Marianne, ich möchte Sie nicht gern überreden. (Er faßte ihre Hand.)

Marianne. Fabrice, es ist mir nie eingefallen – In welche Verlegenheit setzen Sie mich! –

Fabrice. Nur ein Wort! Darf ich hoffen?

Marianne. Reden Sie mit meinem Bruder!

Fabrice (kniet). Engel! Allerliebste!

Marianne (einen Augenblick still). Gott! was hab' ich gesagt! (Ab.)

(Fabrice allein.)

Fabrice. Sie ist dein! – – – Ich kann dem lieben kleinen Narren wohl die Tändelei mit dem Bruder erlauben; das wird sich so nach und nach herüber begeben, wenn wir einander näher kennenlernen, und er soll nichts dabei verlieren. Es tut mir gar wohl, wieder so zu lieben und gelegentlich wieder so geliebt zu werden! Es ist doch eine Sache, woran man nie den Geschmack verliert. – Wir wollen zusammen wohnen. Ohne das hätt' ich des guten Menschen gewissenhafte Häuslichkeit zeither schon gern ein bißchen ausgeweitet; als Schwager wird's schon gehen. Er wird sonst ganz Hypochonder mit seinen ewigen Erinnerungen, Bedenklichkeiten, Nahrungssorgen und Geheimnissen. Es wird alles hübsch! Er soll freiere Luft atmen; das Mädchen soll einen Mann haben – das nicht wenig ist; und du kriegst noch mit Ehren eine Frau – das viel ist!

(Wilhelm kommt.)

Fabrice. Ist dein Spaziergang zu Ende?

Wilhelm. Ich ging auf den Markt und die Pfarrgasse hinauf und an der Börse zurück. Mir ist's eine wunderliche Empfindung, nachts durch die Stadt zu gehen. Wie von der Arbeit des Tages alles teils zur Ruh' ist, teils darnach eilt, und man nur noch die Emsigkeit des kleinen Gewerbes in Bewegung sieht! Ich hatte meine Freude an einer alten Käsefrau, die, mit der Brille auf der Nase, beim Stümpfchen Licht ein Stück nach dem andern auf die Waage legte und ab- und zuschnitt, bis die Käuferin ihr Gewicht hatte.

Fabrice. Jeder bemerkt in seiner Art. Ich glaub', es sind viele die Straße gegangen, die nicht nach den Käsemüttern und ihren Brillen geguckt haben.

Wilhelm. Was man treibt, kriegt man lieb, und der Erwerb im kleinen ist mir ehrwürdig, seit ich weiß, wie sauer ein Taler wird, wenn man ihn groschenweise verdienen soll. (Steht einige Augenblicke in sich gekehrt.) Mir ist ganz wunderbar geworden auf dem Wege. Es sind mir so viel Sachen auf einmal und durcheinander eingefallen – und das, was mich im Tiefsten meiner Seele beschäftigt – (Er wird nachdenkend).

Fabrice (für sich). Es geht mir närrisch; sobald er gegenwärtig ist, untersteh' ich mich nicht recht, zu bekennen, daß ich Mariannen liebe. – Ich muß ihm doch erzählen, was vorgegangen ist. – (Laut.) Wilhelm! sag mir! du wolltest hier ausziehen? Du hast wenig Gelaß und sitzest teuer. Weißt du ein ander Quartier?

Wilhelm (zerstreut). Nein.

Fabrice. Ich dächte, wir könnten uns beide erleichtern. Ich habe da mein väterliches Haus und bewohne nur den obern Stock, und den untern könntest du einnehmen; du verheiratest dich doch so bald nicht. – Du hast den Hof und eine kleine Niederlage für deine Spedition und gibst mir einen leidlichen Hauszins, so ist uns beiden geholfen.

Wilhelm. Du bist gar gut. Es ist mir wahrlich auch manchmal eingefallen, wenn ich zu dir kam und so viel leer stehen sah, und ich muß mich so ängstlich behelfen. – Dann sind wieder andere Sachen – – – Man muß es eben sein lassen, es geht doch nicht.

Fabrice. Warum nicht?

Wilhelm. Wenn ich nun heirate?

Fabrice. Dem wäre zu helfen. Ledig hättest du mit deiner Schwester Platz, und mit einer Frau ging's ebensowohl.

Wilhelm (lächelnd). Und meine Schwester?

Fabrice. Die nähm' ich allenfalls zu mir. (Wilhelm ist still.) Und auch ohne das. Laß uns ein klug Wort reden. – Ich liebe Mariannen; gib mir sie zur Frau!

Wilhelm. Wie?

Fabrice. Warum nicht? Gib dein Wort! Höre mich, Bruder! Ich liebe Mariannen! Ich hab's lang überlegt: sie allein, du allein, ihr könnt mich so glücklich machen, als ich auf der Welt noch sein kann. Gib mir sie! Gib mir sie!

Wilhelm (verworren). Du weißt nicht, was du willst.

Fabrice. Ach, wie weiß ich's! Soll ich dir alles erzählen, was mir fehlt und was ich haben werde, wenn sie meine Frau und du mein Schwager werden wirst?

Wilhelm (aus Gedanken auffahrend, hastig). Nimmermehr! nimmermehr!

Fabrice. Was hast du? – Mir tut's weh! – Den Abscheu! – Wenn du einen Schwager haben sollst, wie sich's doch früh oder spät macht, warum mich nicht? den du so kennst, den du liebst! Wenigstens glaubt' ich –

Wilhelm. Laß mich! – – ich hab' keinen Verstand.

Fabrice. Ich muß alles sagen. Von dir allein hängt mein Schicksal ab. Ihr Herz ist mir geneigt, das mußt du gemerkt haben. Sie liebt dich mehr, als sie mich liebt; ich bin's zufrieden. Den Mann wird sie mehr als den Bruder lieben; ich werde in deine Rechte treten, du in meine, und wir werden alle vergnügt sein. Ich habe noch keinen Knoten gesehen, der sich so menschlich schön knüpfte. (Wilhelm stumm.) Und was alles fest macht – Bester, gib du nur dein Wort, deine Einwilligung! sag ihr, daß dich's freut, daß dich's glücklich macht! – Ich hab' ihr Wort.

Wilhelm. Ihr Wort?

Fabrice. Sie warf's hin, wie einen scheidenden Blick, der mehr sagte, als alles Bleiben gesagt hätte. Ihre Verlegenheit und ihre Liebe, ihr Wollen und Zittern, es war so schön!

Wilhelm. Nein! nein!

Fabrice. Ich versteh' dich nicht. Ich fühle, du hast keinen Widerwillen gegen mich, und bist mir so entgegen? Sei's nicht! Sei ihrem Glücke, sei meinem nicht hinderlich! – Und ich denke immer, du sollst mit uns glücklich sein! – Versag meinen Wünschen dein Wort nicht! dein freundlich Wort! (Wilhelm stumm in streitenden Qualen.) Ich begreife dich nicht –

Wilhelm. Sie? – du willst sie haben?

Fabrice. Was ist das?

Wilhelm. Und sie dich?

Fabrice. Sie antwortete, wie's einem Mädchen ziemt.

Wilhelm. Geh! geh! – Marianne! – – Ich ahnt' es! ich fühlt' es!

Fabrice. Sag mir nur –

Wilhelm. Was sagen! – Das war's, was mir auf der Seele lag diesen Abend, wie eine Wetterwolke. Es zuckt, es schlägt! – – Nimm sie! – Nimm sie! – Mein Einziges – mein Alles! (Fabrice ihn stumm ansehend.) Nimm sie! – Und daß du weißt, was du mir nimmst – (Pause. Er rafft sich zusammen.) Von Charlotten erzählt' ich dir, dem Engel, der meinen Händen entwich und mir sein Ebenbild, eine Tochter, hinterließ – – und diese Tochter – ich habe dich belogen – sie ist nicht tot; diese Tochter ist Marianne! – Marianne ist nicht meine Schwester.

Fabrice. Darauf war ich nicht vorbereitet.

Wilhelm. Und von dir hätt' ich das fürchten sollen! – Warum folgt' ich meinem Herzen nicht und verschloß dir mein Haus wie jedem in den ersten Tagen, da ich herkam? Dir allein vergönnt' ich einen Zutritt in dies Heiligtum, und du wußtest mich durch Güte, Freundschaft, Unterstützung, scheinbare Kälte gegen die Weiber einzuschläfern. Wie ich dem Schein nach ihr Bruder war, hielt ich dein Gefühl für sie für das wahre brüderliche, und wenn mir ja auch manchmal ein Argwohn kommen wollte, warf ich ihn weg als unedel, schrieb ihre Gutheit für dich auf Rechnung des Engelherzens, das eben alle Welt mit einem liebevollen Blick ansieht. – Und du! – Und sie! –


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