Johann Wolfgang Goethe
Die Geschwister
Johann Wolfgang Goethe

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Wilhelm (an einem Pult mit Handelsbüchern und Papieren). Diese Woche wieder zwei neue Kunden! Wenn man sich rührt, gibt's doch immer etwas; sollt' es auch nur wenig sein, am Ende summiert sich's doch, und wer klein Spiel spielt, hat immer Freude, auch am kleinen Gewinn, und der kleine Verlust ist zu verschmerzen. Was gibt's?

(Briefträger kommt.)

Briefträger. Einen beschwerten Brief, zwanzig Dukaten, franko halb.

Wilhelm. Gut! sehr gut! Notier Er mir's zum übrigen.

(Briefträger ab.)

Wilhelm (den Brief ansehend). Ich wollte mir heute den ganzen Tag nicht sagen, daß ich sie erwartete. Nun kann ich Fabricen gerade bezahlen und mißbrauche seine Gutheit nicht weiter. Gestern sagte er mir: Morgen komm' ich zu dir! Es war mir nicht recht. Ich wußte, daß er mich nicht mahnen würde, und so mahnt mich seine Gegenwart just doppelt. (Indem der die Schatulle aufmacht und zählt). In vorigen Zeiten, wo ich ein bißchen bunter wirtschaftete, konnt' ich die stillen Gläubiger am wenigsten leiden. Gegen einen, der mich überläuft, belagert, gegen den gilt Unverschämtheit und alles, was dran hängt; der andere, der schweigt, geht gerade ans Herz und fordert am dringendsten, da er mir sein Anliegen überläßt. (Er legt Geld zusammen auf den Tisch.) Lieber Gott, wie dank' ich dir, daß ich aus der Wirtschaft heraus und wieder geborgen bin! (Er hebt ein Buch auf.) Deinen Segen im kleinen! mir, der ich deine Gaben im großen verschleuderte. – Und so – Kann ich's ausdrücken? – – Doch du tust nichts für mich, wie ich nichts für mich tue. Wenn das holde liebe Geschöpf nicht wäre, säß' ich hier und verglich' Brüche? – O Marianne! wenn du wüßtest, daß der, den du für deinen Bruder hältst, daß der mit ganz anderm Herzen, ganz andern Hoffnungen für dich arbeitet! – Vielleicht! – ach! – es ist doch bitter – – Sie liebt mich – ja, als Bruder – Nein, pfui! das ist wieder Unglaube, und der hat nie was Gutes gestiftet. – Marianne! ich werde glücklich sein, du wirst's sein, Marianne!

(Marianne kommt.)

Marianne. Was willst du, Bruder? Du riefst mich.

Wilhelm. Ich nicht, Marianne.

Marianne. Stiert dich der Mutwille, daß du mich aus der Küche hereinvexierst?

Wilhelm. Du siehst Geister.

Marianne. Sonst wohl. Nur deine Stimme kenn' ich zu gut, Wilhelm!

Wilhelm. Nun, was machst du draußen?

Marianne. Ich habe nur ein paar Tauben gerupft, weil doch wohl Fabrice heut abend mitessen wird.

Wilhelm. Vielleicht.

Marianne. Sie sind bald fertig, du darfst es nachher nur sagen. Er muß mich auch sein neues Liedchen lehren.

Wilhelm. Du lernst wohl gern was von ihm?

Marianne. Liedchen kann er recht hübsch. Und wenn du hernach bei Tische sitzest und den Kopf hängst, da fang' ich gleich an. Denn ich weiß doch, daß du lachst, wenn ich ein Liedchen anfange, das dir lieb ist.

Wilhelm. Hast du mir's abgemerkt?

Marianne. Ja, wer euch Mannsleuten auch nichts abmerkte! – Wenn du sonst nichts hast, so geh' ich wieder; denn ich habe noch allerlei zu tun. Adieu. – Nun gib mir noch einen Kuß.

Wilhelm. Wenn die Tauben gut gebraten sind, sollst du einen zum Nachtisch haben.

Marianne. Es ist doch verwünscht, was die Brüder grob sind! Wenn Fabrice oder sonst ein guter Junge einen Kuß nehmen dürfte, die sprängen wändehoch, und der Herr da verschmäht einen, den ich geben will. – Jetzt verbrenn' ich die Tauben. (Ab.)

Wilhelm. Engel! lieber Engel! daß ich mich halte, daß ich ihr nicht um den Hals falle, ihr alles entdecke! – Siehst du denn auf uns herunter, heilige Frau, die du mir diesen Schatz aufzuheben gabst? – Ja, sie wissen von uns droben! sie wissen von uns! – Charlotte, du konntest meine Liebe zu dir nicht herrlicher, heiliger belohnen, als daß du mir scheidend deine Tochter anvertrautest! Du gabst mir alles, was ich bedurfte, knüpftest mich ans Leben! Ich liebte sie als dein Kind – und nun! – Noch ist mir's Täuschung. Ich glaube dich wiederzusehen, glaube, daß mir das Schicksal verjüngt dich wiedergegeben hat, daß ich nun mit dir vereinigt bleiben und wohnen kann, wie ich's in jenem ersten Traum des Lebens nicht konnte! nicht sollte! – Glücklich! glücklich! All deinen Segen, Vater im Himmel!

(Fabrice kommt.)

Fabrice. Guten Abend.

Wilhelm. Lieber Fabrice, ich bin gar glücklich; es ist alles Gute über mich gekommen diesen Abend. Nun, nichts von Geschäften! Da liegen deine dreihundert Taler! Frisch in die Tasche! Meinen Schein gibst du mir gelegentlich wieder. Und laß uns eins plaudern!

Fabrice. Wenn du sie weiter brauchst –

Wilhelm. Wenn ich sie wieder brauche, gut! Ich bin dir immer dankbar, nur jetzt nimm sie zu dir. – Höre, Charlottens Andenken ist diesen Abend wieder unendlich neu und lebendig vor mir geworden.

Fabrice. Das tut's wohl öfters.

Wilhelm. Du hättest sie kennen sollen! Ich sage dir, es war eins der herrlichsten Geschöpfe.

Fabrice. Sie war Witwe, wie du sie kennenlerntest?

Wilhelm. So rein und groß! Da las ich gestern noch einen ihrer Briefe. Du bist der einzige Mensch, der je was davon gesehen hat. (Er geht nach der Schatulle.)

Fabrice (für sich). Wenn er mich nur jetzt verschonte! Ich habe die Geschichte schon so oft gehört! Ich höre ihm sonst auch gern zu, denn es geht ihm immer vom Herzen; nur heute hab' ich ganz andere Sachen im Kopf, und just möcht' ich ihn in guter Laune erhalten.

Wilhelm. Es war in den ersten Tagen unserer Bekanntschaft. »Die Welt wird mir wieder lieb«, schreibt sie, »ich hatte mich so los von ihr gemacht, wieder lieb durch Sie. Mein Herz macht mir Vorwürfe; ich fühle, daß ich Ihnen und mir Qualen zubereite. Vor einem halben Jahre war ich so bereit, zu sterben, und bin's nicht mehr.«

Fabrice. Eine schöne Seele!

Wilhelm. Die Erde war sie nicht wert. Fabrice, ich hab' dir schon oft gesagt, wie ich durch sie ein ganz anderer Mensch wurde. Beschreiben kann ich die Schmerzen nicht, wenn ich dann zurück und mein väterliches Vermögen von mir verschwendet sah! Ich durfte ihr meine Hand nicht anbieten, konnte ihren Zustand nicht erträglicher machen. Ich fühlte zum erstenmal den Trieb, mir einen nötigen schicklichen Unterhalt zu erwerben; aus der Verdrossenheit, in der ich einen Tag nach dem andern kümmerlich hingelebt hatte, mich herauszureißen. Ich arbeitete – aber was war das? – Ich hielt an, brachte so ein mühseliges Jahr durch; endlich kam mir ein Schein von Hoffnung; mein Weniges vermehrte sich zusehends – und sie starb – Ich konnte nicht bleiben. Du ahnest nicht, was ich litt. Ich konnte die Gegend nicht mehr sehen, wo ich mit ihr gelebt hatte, und den Boden nicht verlassen, wo sie ruhte. Sie schrieb mir kurz vor ihrem Ende – (Er nimmt einen Brief aus der Schatulle.)

Fabrice. Es ist ein herrlicher Brief, du hast ihn mir neulich gelesen. – Höre, Wilhelm –

Wilhelm. Ich kann ihn auswendig und les' ihn immer. Wenn ich ihre Schrift sehe, das Blatt, wo ihre Hand geruht hat, mein' ich wieder, sie sei noch da – Sie ist auch noch da! – (Man hört ein Kind schreien.) Daß doch Marianne nicht ruhen kann! Da hat sie wieder den Jungen unseres Nachbars; mit dem treibt sie sich täglich herum und stört mich zur unrechten Zeit. (An der Tür). Marianne, sei still mit dem Jungen, oder schick ihn fort, wenn er unartig ist. Wir haben zu reden. (Er steht in sich gekehrt.)

Fabrice. Du solltest diese Erinnerungen nicht so oft reizen.

Wilhelm. Diese Zeilen sind's! diese letzten! der Abschiedshauch des scheidenden Engels. (Er legt den Brief wieder zusammen.) Du hast recht, es ist sündlich. Wie selten sind wir wert, die vergangenen selig-elenden Augenblicke unseres Lebens wieder zu fühlen!

Fabrice. Dein Schicksal geht mir immer zu Herzen. Sie hinterließ eine Tochter, erzähltest du mir, die ihrer Mutter leider bald folgte. Wenn die nur leben geblieben wäre, du hättest wenigstens etwas von ihr übrig gehabt, etwas gehabt, woran sich deine Sorgen und dein Schmerz geheftet hätten.

Wilhelm (sich lebhaft nach ihm wendend). Ihre Tochter? Es war ein holdes Blütchen. Sie übergab mir's – Es ist zu viel, was das Schicksal für mich getan hat! – Fabrice, wenn ich dir alles sagen könnte –

Fabrice. Wenn dir's einmal ums Herz ist.

Wilhelm. Warum sollt' ich nicht –

(Marianne mit einem Knaben.)

Marianne. Er will noch Gutenacht sagen, Bruder. Du mußt ihm kein finster Gesicht machen, und mir auch nicht. Du sagst immer, du wolltest heiraten und möchtest gerne viel Kinder haben. Die hat man nicht immer so am Schnürchen, daß sie nur schreien, wenn's dich nicht stört.

Wilhelm. Wenn's meine Kinder sind.

Marianne. Das mag wohl auch ein Unterschied sein.

Fabrice. Meinen Sie, Marianne?

Marianne. Das muß gar zu glücklich sein! (Sie kauert sich zum Knaben und küßt ihn.) Ich habe Christeln so lieb! Wenn er erst mein wäre! – Er kann schon buchstabieren; er lernt's bei mir.

Wilhelm. Und da meinst du, deiner könnte schon lesen?

Marianne. Jawohl! Denn da tät' ich mich den ganzen Tag mit nichts abgeben, als ihn aus- und anziehen, und lehren, und zu essen geben, und putzen, und allerlei sonst.

Fabrice. Und der Mann?

Marianne. Der täte mitspielen: der würd' ihn ja wohl so liebhaben wie ich. Christel muß nach Haus und empfiehlt sich. (Sie führt ihn zu Wilhelmen.) Hier, gib eine schöne Hand, eine rechte Patschhand!

Fabrice. (für sich). Sie ist gar zu lieb; ich muß mich erklären.

Marianne. (das Kind zu Fabricen führend). Hier dem Herrn auch.

Wilhelm (für sich). Sie wird dein sein! Du wirst – Es ist zu viel, ich verdien's nicht. – (Laut). Marianne, schaff das Kind weg; unterhalt Herrn Fabricen bis zum Nachtessen; ich will nur ein paar Gassen auf und ab laufen; ich habe den ganzen Tag gesessen. (Marianne ab.) Unter dem Sternhimmel nur einen freien Atemzug! – Mein Herz ist so voll. – Ich bin gleich wieder da! (Ab.)

(Fabrice allein.)

Fabrice. Mach der Sache ein Ende, Fabrice. Wenn du's nun immer länger und länger trägst, wird's doch nicht reifer. Du hast's beschlossen. Es ist gut, es ist trefflich! Du hilfst ihrem Bruder weiter, und sie – sie liebt mich nicht, wie ich sie liebe. Aber sie kann auch nicht heftig lieben, sie soll nicht heftig lieben! – Liebes Mädchen! – Sie vermutet wohl keine andere als freundschaftliche Gesinnungen in mir! – Es wird uns wohlgehen, Marianne! – Ganz erwünscht und wie bestellt, die Gelegenheit! Ich muß mich ihr entdecken – und wenn mich ihr Herz nicht verschmäht – von dem Herzen des Bruders bin ich sicher.

(Marianne kommt.)

Fabrice. Haben Sie den Kleinen weggeschafft?

Marianne. Ich hätt' ihn gern dabehalten; ich weiß nur, der Bruder hat's nicht gern, und da unterlass' ich's. Manchmal erbettelt sich der kleine Dieb selbst die Erlaubnis von ihm, mein Schlafkamerad zu sein.

Fabrice. Ist er Ihnen denn nicht lästig?

Marianne. Ach, gar nicht. Er ist so wild den ganzen Tag, und wenn ich zu ihm ins Bette komm', ist er so gut wie ein Lämmchen! Ein Schmeichelkätzchen! und herzt mich, was er kann; manchmal kann ich ihn gar nicht zum Schlafen bringen.

Fabrice (halb für sich). Die liebe Natur.

Marianne. Er hat mich auch lieber als seine Mutter.

Fabrice. Sie sind ihm auch Mutter. (Marianne steht in Gedanken, Fabrice sieht sie eine Zeitlang an.) Macht Sie der Name Mutter traurig?

Marianne. Nicht traurig, ich denke nur so.

Fabrice. Was, süße Marianne?

Marianne. Ich denke – ich denke auch nichts. Es ist mir nur manchmal so wunderbar.

Fabrice. Sollten Sie nie gewünscht haben – ?

Marianne. Was tun Sie für Fragen?

Fabrice. Fabrice wird's doch dürfen?

Marianne. Gewünscht nie, Fabrice. Und wenn mir auch einmal so ein Gedanke durch den Kopf fuhr, war er gleich wieder weg. Meinen Bruder zu verlassen, wäre mir unerträglich – unmöglich –, alle übrige Aussicht möchte auch noch so reizend sein.

Fabrice. Das ist doch wunderbar! Wenn Sie in einer Stadt beieinander wohnten, hieße das ihn verlassen?


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