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Fünfter Teil

 

I

Beim Abendessen mußte Evans der Tante Rosie nochmals auseinandersetzen, warum es seiner Mutter nicht möglich gewesen war, mitzukommen.

»Es sind geschäftliche Dinge, die sie gerade jetzt in Frankreich zurückhalten«, hatte er seine Mutter gleich zu Anfang entschuldigt. Und dabei blieb er jetzt.

»Mutter und ich haben uns immer gewünscht, Naomis kleine Tochter kennen zu lernen«, sprach Tante Rosie weiter. »Niemals hatten wir die Hoffnung aufgegeben, daß Naomi uns doch noch einmal mit ihr besuchen würde. Ganz verändert war dieses Haus, seit Naomi fortging. Ich erinnere mich noch ganz gut an die ersten Tage nach ihrem Abschied. Mutter wollte nicht aufhören zu weinen, so bange war ihr nach Naomi. Und der Vater saß draußen in der Küche und schien ihr nicht weniger nachzutrauern. ›Ich wollte, wir hätten sie doch nicht fortgehen lassen‹, so hörte ich ihn oft sprechen.«

»Als ich dieses Haus verließ, hat es nicht so viel Weinen und Trauer gegeben«, rief Grace, Onkel Willis Tochter, lachend.

»Auch nach dir war uns recht bange«, tröstete sie Tante Agnes, ihre Mutter, »es war wirklich sehr einsam ohne dich.«

»Naomi ging ja so weit fort«, murmelte Tante Rosie mehr zu sich selbst, »und sie hatte – so etwas Eigenes an sich … Ich glaube, du bist ihr sehr ähnlich«, meinte sie zu Evans. »Caleb! Caleb! Meinst du nicht auch, daß Evans sehr an Naomi erinnert?«

Der Großvater hatte für nichts anderes Sinn, als für sein Essen – gräßlich abstoßend, wie wichtig alten Leuten ihr Essen ist, dachte Evans. Dann erfaßte Caleb endlich, daß man ihn angesprochen hatte und fuhr ruhelos mit seiner Gabel durch die Luft.

»Was hast du gesagt?« fragte er. »Was war's?«

»Ob du nicht auch meinst,« Tante Rosie beugte sich vor und bemühte sich, ihre Stimme zu verstärken, »daß Evans Naomi sehr ähnlich sieht?«

»Naomi?« Messer und Gabel in seinen erhobenen Händen zuckten auf und nieder. »Naomi? Hab' ja schon ganz vergessen, wie sie aussah …« Das Weinen schien ihm nahe.

»Aber, aber, Caleb«, suchte Tante Agnes ihn zu beruhigen. »Du hast doch noch das Bild von ihr. – Laß ihn lieber«, flüsterte sie Rosie dann rasch zu.

»Ja, das Bild …« Der Alte begann sich zu erregen, es ging über seine Kräfte. »Das war ja aber vorher … das … das war …«

»Es ist zu schade,« meinte Tante Agnes, »aber wir haben nur dieses einzige Bild von Naomi – in unserem Album – und das stammt noch aus der Zeit, als sie ein kleines Mädchen war.«

Der Großvater hatte Messer und Gabel hingelegt. Er sah sehr alt und einsam unter den andern aus.

»Narzissa würde sich erinnern«, sprach er halblaut vor sich hin. »Wäre doch Narzissa gekommen!«

»Mutter war es selbst so leid«, murmelte Evans. »Später einmal will sie kommen, dann gewiß.« Obwohl er jetzt gut wußte, daß später zu spät sein würde.

Nach dem Essen war Evans mit Frank vor das Haus gegangen, und Onkel Willi kam ihnen nach.

»Caleb wird sich nicht eher beruhigen,« sagte er zu Evans, »ehe du ihm nicht seinen größten Wunsch erfüllst und mit ihm auf den Friedhof gehst.«

»Aber Evans denkt gar nicht daran«, rief Frank ganz empört. »Er war heute morgen schon mit in der Kirche, ich denke, für einen Tag ist das gerade genug!«

Doch Evans sagte, er wollte gern mitgehen, weil auch seine Mutter gewünscht hatte, er sollte das Grab der Großmutter besuchen.

»Aber vorher«, schlug Onkel Willi vor, »möchte ich Rosie und Ed und natürlich auch dir, Evans, denn es betrifft ja dich ebenso, jenes Stück Land zeigen, das wir zu verkaufen beabsichtigen.« So gingen sie alle den Bach entlang.

»Eigentlich ist es doch traurig,« meinte Rosie, »etwas verkaufen zu müssen, was einem so lange gehört hat.«

Die Narzissen standen in voller Blüte. Evans erinnerte sich, um was ihn seine Mutter gebeten hatte, als sie eigens noch einmal auf das Schiff zurückgekommen war. Nachmittags sollte er Großmutters Grab besuchen, darum pflückte er einige der Blumen.

»Hast du Blumen so gern?« fragte Tante Rosie. Onkel Ed, ihr Mann, lachte.

»Ich habe sie auch gern,« antwortete Evans, »aber diese hier pflücke ich, um sie auf das Grab meiner Großmutter zu legen.«

»Diese Blumen? Die zählen doch gar nichts«, meinte Onkel Willi verächtlich. »Deine Tante Agnes wird dir einen richtigen Strauß besorgen, wie es sich für ein Grab gehört – Rosen und andere schöne Gartenblumen. Du hast es nicht nötig, dieses Unkraut zu pflücken.«

»Mutter hat mir aber ausdrücklich aufgetragen, Narzissen vom Bach auf Großmutters Grab zu legen.« Er war rot geworden, als er dies sagte, doch tapfer hatte er's herausgebracht.

»Nein, was für ein schöner Gedanke!« rief Tante Rosie. »Merkwürdig, daß er keinem von uns bisher gekommen ist. Naomi liebte ja den Bach und die Narzissen.«

»Muß wohl seine besondere Geschichte gehabt haben,« stimmte ihr Bruder Willi zu, »da sie sogar ihr Kind nach diesen Narzissen genannt hat.«

»Vater und Mutter waren anfangs außer sich darüber«, erzählte Rosie mit stillem Lächeln. »Sie meinten, das wäre gar kein christlicher Name.«

»Damit hatten sie gar nicht so unrecht!« warf Onkel Willi ein.

Sie waren dem weiten Bogen gefolgt, den der Lauf des Baches hier bildete, und das Haus der Kelloggs war ihren Blicken entschwunden. Wie ein zärtlicher Arm umfaßte der Bach an dieser Stelle eine kleine Wiese, die sich aus den leichten Hügelwellen des Hinterlandes vorschob. Eine Eiche streckte ihre Äste weit über den Bach. Dieses stille Plätzchen gefiel Evans.

»Das war schon ein schöner Baum, als ich noch ein Junge war«, erzählte Onkel Willi, während er mit seiner Hand gegen den starken Stamm schlug. »Er wird wohl einer der ältesten in der ganzen Gegend sein.«

»Soll dies hier auch verkauft werden, Willi?« fragte Tante Rosie.

»Ja. Von hier ab, immer den Bach entlang bis zu dem Haus, das früher den Copelands gehört hat.«

»Sieh, Evans, dort ist eine besonders schöne Blüte,« rief Tante Rosie und bemühte sich, über den Bach hinweg nach der Blume zu langen; es gelang ihr nicht und sie lachte über ihre eigene Ungeschicklichkeit. »Früher einmal hätte ich sie wohl erreicht«, seufzte sie. »Erinnerst du dich, Willi, wie wir als Kinder kreuz und quer über diesen Bach gesprungen sind?«

Evans war mit einem Fuß auf einen Stein im Bach getreten, mit dem andern Fuß stand er auf dem jenseitigen Ufer. So pflückte er die Narzisse und blickte dann in das klare Wasser unter sich. Diese älteren Leute, die mit ihm waren, hatten als Kinder hier in dem Wasser gespielt! Seit undenklichen Zeiten folgte es, einsam, ungetrübt, seinem Lauf.

»Jenen Besitz haben Deutsche gekauft«, erzählte Tante Rosie Joes Enkel, nachdem sie alle auf einen Hügel gekommen waren, von wo sie ein stattliches Anwesen erblickten. »Dieses Haus wurde ganz neu gebaut, damals, als vor fünfzehn Jahren der große Brand das alte zerstört hatte. Ein altes Weib, Maria Copeland, hatte sich seit Jahren darin eingeschlossen. Sie soll nicht ganz bei Sinnen gewesen sein und niemand hatte sie in den letzten Jahren zu Gesicht bekommen. Selbst als schon das ganze Haus in Flammen stand, hat sie sich noch verzweifelt gewehrt und wollte sich nicht hinausschaffen lassen. Ihr wäre es lieber gewesen, mit dem Haus zu verbrennen, als sich von fremden Menschen ansehen zu lassen. Sie soll schon früher immer eigenartig gewesen sein. Ganz schlimm aber, so sagt man, wäre es erst mit ihr geworden, als ihr einziger Sohn durch einen Unfall ums Leben kam. Ich selbst war damals noch ein kleines Mädchen.« Evans hörte höflich ihrem Geplauder zu. »Schließlich hat man sie in eine Anstalt bringen müssen. Doch dort hat sie nicht mehr lange gelebt. – Wieviel Morgen sind es eigentlich, Willi, die nun verkauft werden sollen?«

 

II

Nachdem sie ein kurzes Stück durch die Hauptallee des Friedhofs gegangen waren, bog der Großvater in einen Seitengang ein, und auf dem Grabstein, vor dem er schließlich stehen blieb, las Evans: »Naomi Kellogg, das geliebte Eheweib von Caleb Evans. Geboren 1869, verschieden am 12. Juni 1915.« Und darunter stand in verschnörkelten Buchstaben: »Ruhe in Frieden.« Der Großvater ließ sich langatmig darüber aus, was für einen ganz andern Grabstein er eigentlich hatte haben wollen, aber daß man ihn damals nicht bekommen konnte.

»Hier haben sie einen Baum fallen müssen und die Wurzeln ausgraben,« erzählte er dann ganz stolz, während er auf die leere Grabstätte wies, die neben Naomis Hügel zu warten schien, »um für mich Platz zu schaffen.« Der Gedanke an seinen eigenen Tod schien ihn aber gar nicht zu bedrücken, denn während er ohne jede Scheu über den Boden hinschritt, in den man einst seinen eigenen Sarg versenken würde, klagte er über den neuen Totengräber, der den Friedhof lange nicht so gut instand hielte wie der alte. Aber der alte lag jetzt auch schon in einem Grab. Einigemal war Caleb im Gespräch mit Evans um die beiden Grabstätten herumgegangen, dann fing er an in Erregung zu kommen und leise wimmerte er vor sich hin: »Ja, Naomi … Naomi liegt hier begraben. Nie hätte ich es zugegeben, daß sie dort drüben, in Colorado, blieb. Dort war sie nicht gerne. Nie hat sie sich dort wohlgefühlt. Wie lang – warte mal – ja, siebenundzwanzig Jahre war sie dort. Und hier? Wie lang meinst du, liegt sie jetzt hier?«

»Zwölf Jahre«, antwortete Evans. Und es fuhr ihm durch den Sinn, daß sie länger hier bleiben würde als sie in Colorado, länger als sie irgendwo gewesen war. Die Blumen, die er mitgebracht hatte, kamen ihm jetzt selbst ein wenig lächerlich vor, doch er hielt an dem Versprechen fest, das er seiner Mutter gegeben hatte, und legte sie behutsam auf das Kopfende des Grabes. »Sie sollen ein Gruß von meiner Mutter sein«, erklärte er dem Großvater, war aber gar nicht sicher, daß er ihn auch verstand. »Sie hat ausdrücklich gewünscht, daß es Narzissen vom Bach sein sollten.«

»Ja, ja, Narzissen vom Bach …« Es schien den Großvater aufzuregen. »Weiß schon! Vom Bach … Ja, das ist recht!« Seine Stimme zitterte ganz hoch. »Ich … ich …« Er umklammerte Evans Arm. »Keinem Menschen habe ich es jemals verraten! Niemandem! Keiner lebenden Seele.« Unheimlich war es, wie er sonderbar verschlagen blinzelnd Evans dies zuflüsterte. Der Junge hatte keine Ahnung, was diese Worte bedeuten sollten – wahrscheinlich gar nichts, meinte er. »Darum wird sie es vielleicht zulassen, daß ich einmal hier neben ihr liege. Ja, Naomi?« Er beugte sich über das Grab, er kicherte. »Wirst du es zulassen, Naomi?« Jetzt begann er wieder zu wimmern. Evans faßte ihn am Arm.

»Ich glaube, wir sollten jetzt gehen«, sprach er ihm zu.

Der Großvater blieb ein paar Schritte weiter vor einem anderen Grabmal stehen und Evans benutzte die Gelegenheit, um rasch noch für einen Augenblick allein zu dem Grabhügel zurückzukehren, unter dem Naomi Kellogg ruhte. Was konnte er wohl seiner Mutter berichten? Ein Grab war wie das andere. Einen schönen weiten Ausblick hatte man von hier über das Land, aber war es wohl von Bedeutung, was man von einem Grabe aus sehen konnte? Ja, irgendwie war es doch von Bedeutung. Obwohl man nicht sagen konnte, warum. Er blickte nochmals umher, jetzt gewissenhaft, als wollte er das Bild für jemand in sich aufnehmen, der es nie wieder sehen würde. Dieses Stück Erde war wundervoll und viele, die es geliebt hatten, waren nun darunter begraben. Wenn man die Augen auftut, richtig auftut, kann man dann nicht auch für alle jene sehen, die nie mehr aufblicken konnten?

Sein Großvater winkte ihm von drüben, wo er noch immer vor dem Grabmal stand. Evans aber hatte schon genug von Gräbern. »Wir müssen jetzt nach Hause«, sagte er, doch der Großvater wies mit fahrigen Gesten nach dem Grabmal: »Copeland!« Wo hatte Evans nur diesen Namen schon gehört? Ja – heute nachmittag! Das alte irrsinnige Weib, das sein brennendes Haus nicht hatte verlassen wollen! Der Großvater deutete auf den Namen, der an dem Grabstein zu lesen war, während er ruhelos von einem Fuß auf den andern trat.

»Wie lang ist der jetzt tot? Wie lang ist der jetzt tot?« Wie Hohn klang es aus seinen Worten. Was für ein schrecklicher alter Mann, dachte Evans unwillkürlich.

»Neununddreißig Jahre sind es jetzt«, gab er dem Großvater zur Antwort, nachdem er die Inschrift gelesen hatte: ›Josef Copeland. Geboren 1867. Gestorben am 12. Juli 1888.‹

»Ja, neununddreißig Jahre ist der jetzt tot und ich lebe noch immer! All die Jahre, die er schon im Grab verwest, bin ich noch am Leben!«

»Aber, Großvater!«

Doch der Greis trat immer noch von einem Fuß auf den andern, wie einer, der einen Siegestanz auf dem Grabe eines Feindes tanzt. Evans war froh, daß seine Mutter nicht mit war. Nie wollte er ihr berichten, wie gräßlich dies gewesen war.

»Glaubst du nicht auch, daß die Würmer nicht viel von ihm übrig gelassen haben werden? O nein, gar nicht viel!« Sein Hohngelächter schlug in ein Wimmern um. Evans war nicht bloß angewidert, er fühlte sich neugierig gefesselt. Da stand sein Großvater, ein seniler alter Mann, tanzte vor dem Grab eines längst Verstorbenen und brüstete sich höhnend, daß er selbst noch am Leben sei, während der andere … Es war abscheulich, aber es erregte ihn seltsam.

»Wie mag er wohl jetzt aussehen?« keuchte der Großvater. Evans nahm seinen Arm und sprach entschieden: »Jetzt gehen wir aber endgültig!« Doch als er ihn wegführen wollte, riß sich der alte Mann von ihm los, kehrte nochmals um und spie in der Richtung des Grabmals aus. Nicht bloß einmal, immer wieder. Es kostete Evans große Überwindung, den alten Mann nach diesem Ausbruch nochmals anzurühren, aber er war dazu gezwungen, denn der Großvater war jetzt so schwach, daß er nicht ohne Hilfe gehen konnte. ›Hoffentlich‹, dachte der Junge, ›sterbe ich jung genug, um nicht auch so zu werden.‹

Zu Hause hatten sie es schwer mit dem Alten. Nur Frank war da, die übrigen waren zu Besuch bei einem Nachbar. Großvater bekam einen Schüttelfrost und die drei blieben in der Küche, wo Frank ihm einen Glühwein bereitete. Die Küche war der schönste Raum im Haus, dachte Evans. Ein großes sonniges Zimmer, mit mächtigen alten Pfosten gedielt. ›In dieser Küche hat schon meine Mutter gekocht‹, hatte ihm Onkel Willi erzählt.

Der Großvater saß fröstelnd vor dem Feuer.

»Jetzt wird er einen seiner Anfälle bekommen«, meinte Frank.

»Was für Anfälle?«

»Trübsinn. Er hört nichts und spricht nichts. Ich glaube, es ist hauptsächlich Eigensinn dabei. – Weißt du was,« schrie er dem alten Mann ins Ohr, »ich will sehen, ob ich das Radio einschalten kann.« Das schien den Großvater aufzurütteln. »Er ist der größte Radionarr im ganzen Land«, erklärte Frank lachend. »Vorigen Monat, als er krank war, haben wir's in seinem Zimmer montiert, aber er hat es verdorben. Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, es wieder in Ordnung zu bringen, aber jetzt will ich's versuchen.«

Nachdem Frank die Küche verlassen hatte, begann der Großvater, wie auf verbotenen Wegen, nach dem Eßzimmer zu schleichen.

»Brauchst du etwas?« fragte Evans. »Ich will es dir holen.«

Aber der Großvater legte einen Finger an die Lippen, machte ein listiges geheimnisvolles Gesicht und schleppte sich durch das Eßzimmer bis ins Wohnzimmer. Frank hatte gesagt, der Alte müßte ganz still sitzen bleiben – sollte Evans Frank zu Hilfe rufen? »Sag' doch nur, was du willst, ich hole es«, sprach Evans noch einmal ärgerlich. Die einzige Antwort war die gleiche sonderbare Geste, als ob der alte Mann und Evans Verschwörer wären.

Nur das Album vom Wohnzimmertisch hatte er holen wollen. Seine Hände zitterten aber so sehr, daß er es nicht aufheben konnte. Evans nahm es, und mit den gleichen scheuen Bewegungen schlich der Alte in die Küche zurück. Hier begann er aufgeregt in den Seiten zu blättern. Evans stand neben seinem Stuhl und blickte ihm über die Schulter. Sonderbare alte Bilder. Fremdartig gekleidete Menschen. Männer, Frauen, Kinder. Mitten im Leben hatten sie gestanden, als diese Bilder aufgenommen wurden, und jetzt waren sie schon lange ausgelöscht. Ganz anders sahen sie aus als die Menschen, die jetzt lebten – waren sie wohl wirklich anders gewesen? Der Ausdruck mancher Gesichter wirkte altvertraut, gütig, oft auch heiter. Die meisten aber sahen aus, als würden sie sich selbst recht albern fühlen, in ihrem Sonntagsstaat, den sie für den Photographen angelegt hatten. Andere wieder blickten strenge drein, manche müde.

Dem Großvater fiel es schwer, das eine Bild zu finden, das er suchte. Aber schließlich seufzte er tief und bedeutete Evans erregt, geheimnisvoll, näher hinzusehen.

Es war das Bild eines Mädchens. Es steckte in einem altmodischen plissierten Kleid, die Haare bildeten einen tiefen Knoten, die Gestalt war zierlich, ein wenig geneigt – wie eine Blume. Es schien ein Reiz über diesem Kind zu liegen, daß man es lieb haben mußte. Etwas lag in den Augen des Mädchens, um seinen Mund, als gäbe es manches, wovon es träumte, was es ahnte …

»Naomi!« flüsterte der Großvater.

Das also war seine Großmutter! Wie hatte nur ein solches Mädchen diesen Mann heiraten können? Denn man sah es, Naomi war von ganz anderer Art, als alle die Menschen um sie. Das Bild war alt und vergilbt, aber der Ausdruck dieser Augen, die zu Evans emporsahen … nein, diesem Blick hatte die Zeit nichts anhaben können! Für Evans wurde er ganz lebendig, der Blick eines Menschen, der den Dingen nachgrübelt, sie fühlt. Und sie selbst wurde ihm lebendig, als stünde sie neben ihm, und alle andern versanken. Er fühlte sich ganz beglückt. Sonderbar, daß die Mutter so viel von ihrem Vater und so wenig von dieser Mutter gesprochen hatte.

Das Schmettern einer Jazzkapelle klang herüber. »Chicago!« rief der Großvater aufspringend und hätte das Album zu Boden fallen lassen, wenn Evans es nicht aufgefangen hätte.

Jetzt saß Evans allein in der sonnigen Küche und betrachtete das Bild des jungen Mädchens, Naomis, seiner Großmutter Bild. Sonnenstrahlen und Schatten glitten darüber hin. Er wünschte, die Sonne könnte in die entschwundenen Jahre zurückleuchten. Er hätte so gerne gewußt, was es mit Naomi für eine Bewandtnis gehabt hatte. Nie würde er es erfahren; Jahre, wie undurchdringliche Schatten, lagen dazwischen. Doch dieser Ausdruck in ihren Augen, der Zug um ihren Mund … Während er an sie dachte, blickte er aus dem Fenster durch die Zweige der Bäume nach dem Bach. Doch zu hören war jetzt nichts von ihm, denn das Radio übertönte das Murmeln des Wassers.

»Na, jetzt ist er glücklich«, lachte Frank, der hereintrat. »Tanzmusik! Alle Schlager, die er liebt! Du sollst hineinkommen und zuhören.«

Evans sehnte sich nach einem tüchtigen Marsch im Freien, aber nachdem er das Album zurückgetragen hatte, warf er doch noch einen Blick in Großvaters Zimmer.

Der abgezehrte alte Mann saß vor einem riesenhaften Trichter und seine Hände, sein Kopf, sein ganzer Körper begleiteten mit groteskem Wiegen die Klänge der Musik. Das Zimmer war reizend; niedrig und doch freundlich. Aufrecht vor dem Fenster stehend, sah man gerade auf den Bach. Nur die neue Garage, die vorgebaut war, störte, und auch das weiße Eisenbett paßte nicht herein. Die ehrbaren alten Dielen schienen eher dazu bestimmt, vier massige Füße eines schweren Holzbettes zu tragen. Manche Stücke der wuchtigen Walnußeinrichtung von einst waren noch vorhanden. Der Schreibtisch schien schon seit Jahr und Tag an dem gleichen Platz zu stehen, denn der Boden davor war ganz abgetreten. Auch das Fensterbrett schien von Händen abgewetzt, die sich darauf gestützt hatten. Vielleicht waren es die Hände von jemandem gewesen, der nach dem Bach hinausgeblickt hatte? Das Lärmen des Radios störte Evans: allzu laut drangen immer neue Tonwellen aus dem riesigen Trichter, und die alten Wände des Raumes schienen sie verächtlich von sich abzustoßen, als verletzten sie den Frieden dieses Zimmers.

Evans ertrug den Lärm nicht länger. Benommen, gequält ging er nach der Türe. Frank begegnete ihm draußen und reichte ihm einen eben gekommenen Brief. Er trug die Handschrift seiner Mutter. Evans trat durch die Hintertür in den Hof, ging um die Scheune herum, den Bäumen und dem Bach zu. Er folgte dem Lauf des Wassers bis zu jenem stillen Platz, der ihn so entzückt hatte, bis zu jener Wiese voll Blumen, die das Wasser wie ein liebender Arm umschloß, die so geborgen und versteckt zwischen den Hügeln lag. Er streckte sich unter der Eiche hin und seine Hände lagen auf dem kühlen Moos. Ja, Mutters Brief! Doch eine Zeitlang lag er noch reglos, lauschte dem Murmeln des Wassers und dem Rauschen der alten Bäume. Wie verzaubert war dieses Plätzchen. Wer mochte wohl schon hier geruht haben?

 

III

»Geliebter Junge«, schrieb seine Mutter. »Ich habe Dir etwas mitzuteilen. Darin wirst Du zugleich die Erklärung dafür finden, warum ich nicht mit Dir nach Amerika reiste. Wird es Dir aber auch eine Erklärung sein? Wirst Du es begreifen können?

»Verzeih' mir, geliebtes Kind, die Schroffheit, mit der ich Dir eine Mitteilung mache, für die mir ein anderer Weg lieber gewesen wäre.

»Ich bin verheiratet, mein Liebling. So, jetzt weißt Du's. Du wirst nicht böse sein, nicht wahr, Liebling? Laß Dir alles erzählen.

»Du hast ihn eines Abends für eine Weile gesehen. Ich glaube, daß er Dir gefallen hat. Es ist Erik Helge aus Island. Dem Colonel hat er nicht gefallen, aber Dir, glaube ich, ja. Bestimmt würde er Dir gefallen, wird er Dir gefallen, wenn Du ihn näher kennst …«

Evans vermochte nicht weiterzulesen. Er konnte es nicht glauben, was da geschrieben stand! Er hatte ja nicht einmal geahnt, daß seine Mutter diesen Mann näher kannte! Er wußte doch kaum, daß es einen solchen Mann gab! Nie hatte sie von ihm gesprochen. Wo hatte sie ihn bloß kennengelernt? Zu Hause nicht. Da war er doch nur einmal gewesen.

Mutter verheiratet! Und mit einem Fremden, mit jenem sonderbaren Fremden. Evans versuchte sich daran zu erinnern, wie er ausgesehen, was er gesprochen hatte. Ja, er hatte ihn interessiert, das war richtig. Aber nie wäre er auf den Gedanken verfallen, daß man sich mit so einem Menschen verheiraten könnte! Daß Mutter sich mit ihm verheiraten könnte! Nein, auch der Colonel war nicht damit einverstanden, auch der kannte ihn nicht. Wer kannte ihn denn überhaupt? Wer war dieser Mann?

Er las weiter:

»Ich habe Dir früher nichts davon sagen können, weil ich es selbst nicht wußte – bis zum letzten Augenblick. Ich gestehe, daß ich Erik erst seit ganz kurzer Zeit kenne.

»Das wird Dich stutzig machen, wird Dir sonderbar vorkommen. Mir kommt es nicht so vor, weil ich weiß, daß es nicht anders sein konnte. Ich liebe ihn. Ich bin glücklich …«

Evans verdeckte den Brief mit seiner Hand. Sie liebte ihn, sie war glücklich … Dann war also Vater … Er schien wieder den Blick seines Vaters auf sich zu fühlen, wie damals, jenes letzte Mal, als er in seine Augen gesehen hatte. ›Führe deine Mutter aus, Evans …‹ Jener Blick, von dem er erst später wissen sollte, wieviel Mut und wieviel Leid er ausgedrückt hatte … später, als er zurück nach Hause kam … Der Junge krümmte sich auf dem Boden, preßte seinen Kopf in das Moos und versuchte, sich zu beherrschen, versuchte, es zu ertragen – nicht aufzubrüllen, nicht zu weinen, es still zu ertragen. Einen Arm hatte er unter seinem Kopfe, den andern hatte er von sich weggestreckt und seine Finger gruben sich in den Boden.

Vater? Dafür also war alles gewesen, Leiden und Aufopferung? Der Mut, sich auszulöschen, die Mutter zu erlösen? Alles nur für – für diesen Fremden. ›Ich liebe ihn. Ich bin glücklich …‹ Und Vater lag in einem jener Gräber – vergessen.

Er konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Schluchzend vergrub er sein Gesicht in das weiche Moos. Was für gräßliche Dinge hatte der alte Mann gesagt … ›Wie mag er wohl jetzt aussehen?‹ – »O Gott!« schrie Evans auf. »Verdammt …!«

Er sprang auf und rannte den Bach entlang, rannte ein weites Stück, ehe seine Schritte wieder langsamer wurden.

So hatte die Mutter also alle fallen lassen – den Vater, ihren eigenen Vater, den Colonel, ihn selbst … So hatte sie sich von der ganzen Vergangenheit losgelöst und war ganz allein weitergegangen – zu dem Fremden.

›Führe deine Mutter aus, Evans …‹ Geweint hatte sie, weil einzelne Haare grau geworden waren. Aber die anderen waren gar nicht grau geworden, dachte Evans voll Bitterkeit. Ihr Weinen wäre nicht nötig gewesen. Was hatte Vater gelitten, Jahre hindurch! Wie wundervoll hatte er dann gehandelt, ohne einen Menschen ins Vertrauen zu ziehen, so schnell und so rücksichtsvoll, daß niemand etwas ahnen sollte, niemand sich Vorwürfe machen konnte … Nur Evans wußte die Wahrheit, nur er allein wußte, daß von den schweren Schlafpulvern, die sein Vater zu nehmen pflegte, sechs gefehlt hatten, als er mit der Mutter nach Hause zurückgekommen war. – ›Ich liebe ihn. Ich bin glücklich.‹

Und ihn hatte die Mutter da herausgeschickt; was hatte er mit ihren Verwandten zu tun, mit diesen dummen, ungebildeten – gemeinen Leuten! Er wollte, er hätte sie niemals gesehen, brauchte nicht zu wissen, daß er mit ihnen verwandt sei. Dieser widerliche alte Mann – sein Großvater? Morgen wollte er fort! Nichts hatte er hier zu suchen! Zu seiner Großmutter Brigg wollte er zurück, in England leben, seinem Vater gleichwerden – oder vor die Hunde gehen. Warum nicht? Was hinderte ihn? Wer hatte jetzt noch das Recht, ihm irgendwelche Vorschriften zu machen? Und wem fiel es überhaupt ein? Wer scherte sich noch um ihn?

Langsam ging er durch die Felder zurück, müde, mit dem Bewußtsein, allein zu gehen, zum erstenmal wirklich allein zu sein.

Er hörte den Bach, noch ehe er ihn sehen konnte. Er war froh, ihn zu hören, und ging den kleinen Hügel hinab auf das Wasser zu. Er schlenderte dahin, ohne zu denken, und ließ sich vom Wasser Gesellschaft leisten. Ein Rotkehlchen flog von seinem Bade auf. »Keine Sorge,« rief Evans ihm nach, »hättest ruhig bleiben können.« Nun, immerhin konnte er wieder zu einem Vogel sprechen. Das Wasser war so klar und rauschte so unberührt durch die Einsamkeit.

Dann folgte Evans der Krümmung des Baches und als er an jenen Platz kam, von dem er so entzückt gewesen war, hatte er das Gefühl, an einer Stelle zu stehen, die ihm seit langem vertraut war. Er ließ sich wieder unter der Eiche auf das Moos sinken, schloß die Augen und lauschte dem Bach. Bald hatte er das Gefühl, als wäre er nicht mehr ganz so einsam, als müßte er dies alles nicht mehr allein durchkämpfen, beweinen, ertragen; der Bach wurde ihm zum Freund und sein lispelndes Plätschern beruhigender Zuspruch. Flüsterte er Geständnisse? Geständnisse? So hatte doch der Gedichtband geheißen, den er in Paris gekauft hatte, an jenem Tag, als die Mutter dieses Kleid … Geständnisse. Von wem? Worüber?

Ganz ruhig – durch den Bach beruhigt, als hätte der eine geheime Macht besessen, ihn zu heilen – nahm Evans wieder den Brief seiner Mutter vor.

»Wir gehen nach China.« China! Evans lachte. Das war ja verrückt! Dann überflog er einige Zeilen – mathematische Arbeiten, Probleme, Entdeckung, Genie – und las schließlich weiter:

»Mein liebster, liebster Sohn, wir haben lange schwere Zeiten miteinander durchlebt. Sie haben Dich reifer werden lassen, als es Deinem Alter entsprechen würde. Darum meine ich, daß Du mich – wenn auch nicht sofort – begreifen wirst. Einige Jahre sollen mir noch geschenkt werden – nicht allzu viele. Ich kann auf sie nicht verzichten. Ich gestehe es freimütig, ich brauche sie. Selbst kämpfen würde ich für sie. Aber nicht mit Dir, Liebling, ich hoffe, dies wird nicht nötig sein. Ich glaube, auch Dein Vater würde mein Glück wollen …« Evans legte die Stirn in seine Hände und schüttelte den Kopf, als müßte er etwas von sich abschütteln. Der Vater war jetzt in einem jener Gräber …

War er das wirklich? Seine Gedanken lösten sich von ihm, wie Schmerzen sich barmherzig lösen, die einen bis zur Erschöpfung gemartert haben. Gegen den Stamm gelehnt, der ihn stützte, lauschte er dem Flüstern des Baches und wußte kaum noch, daß er es hörte. Geständnisse … Geständnisse, die das Wasser ihm zuraunte, die der schwere Duft der Narzissen ihm zutrug … Geständnisse, die keine Worte wurden.

Lag denn der Vater in seinem Grab? Evans glaubte wieder seine helle Stimme zu hören: »Nun, alter Junge, wenn ich es ertrage, kannst du es doch wohl auch? Zeig', daß du ein Mann bist. Nimm dich zusammen! Wer hat lange schwere Zeiten durchlebt? Deine Mutter vor allem!« Und wieder glaubte er den Blick seines Vaters auf sich zu fühlen, den Blick jener wundervollen tapferen Augen.

Nochmals nahm er den Brief seiner Mutter zur Hand. Jetzt schrieb sie über ihn selbst. Ob er wohl in Amerika bleiben und seine Studien fortsetzen wolle? »Man sagt, Amerika sei das Land der Zukunft. Und es ist Dein Heimatland, wenn Du willst. Dein Heimatland ebensosehr wie England. Dein eigenes Vermögen reicht aus, um alle Deine Wünsche zu erfüllen. Oder willst Du in England bleiben, bis ich selbst ein wenig mehr mein eigenes Leben übersehen kann und dann vielleicht zu uns nach China kommen? Warum nicht? Ein Abenteuer? Das ganze Leben ist ein Abenteuer, Liebling. Und darum konnte ich den Colonel nicht heiraten.«

Ja, den Colonel. Das hätte doch eine Verbindung mit dem alten Leben bedeutet. Hätte den Vater nicht so ausgeschaltet. – ›Nun, alter Junge, wenn ich es ertragen kann …‹ Sonderbar, daß Worte, die sein Vater nie zu ihm gesprochen hatte, jetzt aus all den Geständnissen, die ihm diese Umgebung zuwehte, laut wurden. Waren es Geständnisse, die ihn aus einer andern Welt erreichten? Gehörten sie auch zu jenen Dingen, um die wir wissen, ohne es jemals zuzugeben, zu jenen Dingen, die nicht ausgesprochen werden, trotzdem gerade sie es sind, durch die Menschen einander manchmal nahekommen?

Er begann daran zu glauben, daß es Unvergängliches, Überdauerndes gab.

Abenteuer. Auch in der Vergangenheit hatte es Abenteuer gegeben. Alles Leben ist Abenteuer. Der Vater hatte daraus fort müssen. Es war nicht sein Wunsch gewesen, daß auch die Mutter dieses Abenteuer ihres Lebens abbrach. Ein ganz großes Abenteuer hatte der Vater gehabt. Größer als der Krieg. Größer als sein ganzes übriges Leben. Es war sein Mut, mit keinem einzigen Wort Abschied zu nehmen. Nicht mit der Wimper zu zucken. Sollte dieser Mut vergeblich gewesen sein? Die Mutter wußte nichts davon, aber er, Evans, wußte es. Das war etwas, was ihn mit dem Vater verband. Der Vater hatte für sie gesorgt. Darum mußte jetzt er für sie sorgen. Ja, so war es. So sollte es sein. Er wollte zur Mutter halten!

Manches verloren – manches gewonnen … Er lehnte sich wieder zurück und ließ seinen Kopf in das weiche Moos sinken. Durch die Zweige der Eiche sah er den ersten Stern. Er atmete den Duft der Narzissen. Der Bach, die Bäume … In diesem reinen hellen Klang des Wassers und dem dumpferen Rauschen der Zweige, darin lagen Geständnisse. Gräber. Doch jene Augen, die aus dem alten Album zu ihm emporgeblickt hatten? Was sprachen die Augen seiner Großmutter Naomi? Er wußte es nicht. Er wußte es nicht genau. Aber er wollte zu seiner Mutter halten. Liebe …? Noch wußte er nichts von ihr. Doch eines Tages … Ja, vielleicht. Eng verbunden fühlte er sich all denen, die in ihren Gräbern lagen. Er schloß seine Augen und lauschte. Ein leichter Wind strich über sein Gesicht. Die Erinnerung an diese Stunde mit ihren süßen Schauern, mit den geheimnisvollen Geständnissen, die ihm aus dem Duft der Narzissen zuströmten, wollte er für alle Zukunft in sich bewahren.

Ende

 


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