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Vierter Teil

 

I

Evans Brigg trat in ein kleines Kaffeehaus beim Pariser Nordbahnhof, in dem er seine Mutter treffen sollte. Sie war noch nicht da, obwohl sie ihm so eingeschärft hatte pünktlich zu sein. Mutter hatte Gäste zum Tee und sie mußten mit dem Zug um drei Uhr nach Senlis zurück, weil Marie vielleicht doch nicht alles richtig besorgt hatte.

Der Kellner wischte über den Tisch und Evans legte das Buch vor sich hin, das er drüben, auf dem anderen Seineufer gekauft hatte: »Geständnisse« … Dieser Titel gefiel ihm, er klang ein wenig nach Detektivromanen, wenn auch das Buch scheinbar eher die Enthüllung von Dingen enthielt, über die jeder schon selbst nachgedacht haben mochte, als die von Verbrechen. Er schlug die erste Seite auf, voller Neugier, was für Geständnisse man über Amerika niederschreiben konnte. Für Amerika gebrauchte man doch meist das Wort ›seicht‹, und hier vor ihm lagen jetzt Geständnisse eines Jungen in seinem eigenen Alter, denn der Autor war erst zweiundzwanzig und Evans selbst wurde schon achtzehn. Er würde ja nun bald mit seiner Mutter nach diesem Amerika hinüberreisen, um Großvater Evans zu besuchen. Es lag ihm ja nicht gerade sehr viel daran, diesen uralten Mann kennenzulernen, den er noch nie gesehen hatte, aber es war doch eine Gelegenheit, nach Amerika zu kommen, und er wollte dann drüben bleiben und dort in ein College eintreten. Darum war er so neugierig, was andere Jungen seines Alters über Amerika zu schreiben hatten.

Warum wischte der Kellner noch immer über den Tisch? Ach ja, der Tisch war ja eigentlich dazu da, um Gläser darauf zu stellen, nicht für Bücher.

Grenadine? Süß und fad. Einen Likör? Wermut? Alle diese französischen Schnäpse widerten ihn schon ebensosehr an wie die überfüllten lärmenden Lokale, in denen sie verabreicht wurden! »Gingerale!« bestellte er entschlossen. Dann rief er den Kellner nochmals zurück; er wollte gleich auch für seine Mutter etwas bestellen, sie hatten ja noch eine Stunde Bahnfahrt, und sie war gewiß den ganzen Vormittag auf den Beinen gewesen. Ja, Mutter würde gern eine Erfrischung nehmen, sie gehörte nicht zu den Frauen, die sich leicht dazu entschließen, allein ein Kaffeehaus aufzusuchen. ›Ich bin eben mit einer Menge Vorurteile beladen,‹ pflegte sie lachend zu sagen, ›von den Missionären, von deiner englischen Großmutter, na, und aus meiner eigenen Jugend!‹ So bestellte Evans noch einen Wermut mit Seltz. »Bien, bien!« rief der Kellner im Forteilen. Ein französischer Kellner ist ja immer entzückt, wenn er vermutet, daß man eine Dame erwartet. Und wenn die Dame erst mal da wäre, würde er noch viel entzückter sein, dachte Evans. Kein Kellner konnte erraten, daß Narzissa tatsächlich Evans' Mutter war. In seinen Gedanken nannte er sie selbst viel öfter Narzissa als Mutter, denn er liebte diesen Namen. Narzissa – er freute sich an dem Klang dieses Wortes.

›Zögernd, wie die letzten Lichtstrahlen zögern, den gestürzten Baum zu verlassen …‹ Diese Worte fielen ihm in die Augen, während er die Seiten umblätterte.

Warum erinnerten sie ihn an seinen Vater? Noch keine zwei Jahre war es her – das Licht fiel auf jenes Bett, um das sie immer gesessen hatten, immer, so lange er nur denken konnte –, daß Vater ihn zu sich rief. »Fahr' mit deiner Mutter eine Stunde spazieren, Evans. Sie muß jetzt endlich einmal hier heraus und ins Freie kommen!« Das war an jenem Morgen, an dem die Mutter ein paar graue Haare an sich entdeckt und geweint hatte. Und als sie dann zurückkamen, lag kein Licht mehr über dem Bett und kein Leben war mehr darin. Und Evans fühlte gleich, was ihm später zur Gewißheit wurde, was seine Mutter nie erfahren durfte, niemals ahnen sollte … Nein, für sie war Captain Brigg nur an seiner langen Krankheit gestorben, an den Wunden, die er im Krieg erhalten hatte. Nichts hatten Mutters graue Haare mit seinem Tode zu tun, nichts. Es war nur ein Wunder, daß sie nicht ganz grau geworden waren, in all diesen neun Jahren, die sie ihn gepflegt hatte.

Wie wundervoll war Mutters braunes Haar mit seinem Schimmer von Gold, das so dicht, gewellt und doch eng am Kopfe lag! Entzückt verweilten seine Gedanken bei diesem schönen Bild, doch es war auch Abwehr in diesem Verweilen. Abwehr gegen den andern Gedanken, daß sie wegen der wenigen grauen Haare nicht hätte weinen müssen. Er blätterte und wehrte sich gegen das Grübeln über die quälende Frage, ob dieses schöne Haar wohl weiter ergraut wäre, wenn sich Vater nicht … Nein! Unsinn! Warum sollte die Mutter nicht jung aussehen? Jünger, jetzt jünger noch als damals? Vater war tot und die Mutter wurde jünger? Ja, warum eigentlich nicht? Er las die ›Geständnisse‹, während er seinem verwerflichen Gedanken Trotz bot und ihn ein für allemal abzuschütteln versuchte. Die Mutter hatte ihm damals gesagt, sie brauchte eine völlige Umkehr ihrer ganzen Lebensweise – fort von England, von diesen langen schweren Jahren, in ein neues Leben, in jenes kleine Häuschen in Senlis. Warum auch nicht? hatte er damals zu sich selbst gesagt und zu allen Verwandten seines Vaters. Gewiß war dieser Wechsel für sie notwendig. Er tat ihr auch gut. Manchmal, wenn er beobachtete, wie ihr Antlitz in Schönheit erstrahlte und wie leuchtend, wie zärtlich ihre Augen glänzten, erinnerte Evans sich wohl an ein anderes Antlitz, das er kaum anders als in den Kissen des Bettes gesehen hatte, das farblos und ohne erwartungsvoll glückliches Leuchten in den Augen gewesen war, und unter diesem Erinnern litt der Junge.

Dann war Colonel Fowler aus England gekommen, um sie zu besuchen. Vaters bester Freund. Während all der Jahre war er gut gegen sie gewesen. Was hätten sie ohne ihn angefangen? Würde die Mutter ihn heiraten? Warum nicht? Es schien das richtige zu sein. Die Erinnerung an den Vater würde dadurch nicht ausgelöscht werden, sie hatten ja als gute aufrichtige Freunde alles gemeinsam erlebt. Evans durchblätterte die ›Geständnisse‹ und gestand sich dabei manchen verborgenen Gedanken selbst ein. Man wußte doch vieles, wovon die Umwelt nichts ahnte. Was würde wohl geschehen, wenn plötzlich ein jeder das preisgeben würde, was er wirklich wußte und dachte, ohne daß die andern es von ihm vermuteten? Lag darin vielleicht der Ausgangspunkt aller ›Geständnisse‹? War das vielleicht der Weg, auf dem die Menschen einander begegnen konnten, ohne sich dessen bewußt zu sein?

Er blickte auf seine Uhr und zog die Stirne in mißbilligende Falten, denn er war gewohnt, Verabredungen genau einzuhalten. Dann hob er den Kopf und im Spiegel, der vor ihm hing, sah er seine Mutter durch die Türe eintreten. Ein paar Augenblicke betrachtete er sie, ehe er aufstand, um ihr zu winken.

Ja, der Kellner würde entzückt sein! Niemals hatte Evans seine Mutter jünger aussehend gefunden. Sie war erhitzt, eine gewisse Erregung ließ sie nicht älter erscheinen als ihn selbst. Wie schick sie in diesem grauen Kostüm mit den zarten gelben und lila Karos aussah! Alle Damen kleideten sich ja jetzt wie Schulmädchen, aber gerade Mutter, die so schlank wie ein Mädchen war, hatte noch nie so ein Kleid getragen. Und dazu dieser turbanartige helle Stoffhut und der nachlässig umgelegte Schal! Mit schnellen Bewegungen blickte sie suchend umher, ihre Hände waren ein wenig erhoben, als hülfen sie ihr beim Suchen; überall war sie wie zu Hause und doch gerade richtig zurückhaltend – guter Schlag, Mutter!

»Hallo«, kam er ihr zu Hilfe. »Nimm rasch einen Schluck, und dann heißt's im Galopp zum Bahnhof.« Er holte schon das Kleingeld aus seiner Tasche.

»Liebster … wir müssen nochmals zurück!« Sie hatte sich niedergesetzt, ihr Gesicht war ihm zugewandt und ihre beiden Hände lagen um das Glas, dem sie im übrigen keine Beachtung schenkte.

»Zurück? – Wohin denn?«

»In die Rue de la Paix.«

»Sei doch nicht närrisch. Wir haben ja keine Zeit.«

»Wir müssen uns die Zeit nehmen, Evans … es ist unbedingt nötig.« Sie war erregt, sonderbar, unbegreiflich erregt.

»Ebenso nötig ist es, daß wir rechtzeitig nach Senlis kommen, wir erwarten doch die alte Frau Maxwell zum Tee.« Ja, das war sicher unbedingt nötig, handelte es sich doch um eine Engländerin, eine Freundin von Großmutter Brigg, und Großmutter war ohnehin mit ihrem Leben in Frankreich nicht einverstanden. Mutter durfte doch die Leute nicht so vor den Kopf stoßen!

»Hör' zu, Liebling. Ich habe dort etwas gesehen, das ich kaufen muß.« Tränen standen in ihren erregten Augen. Sehnsüchtige Begeisterung lag in ihrem Ausdruck – für jenen Gegenstand, den sie in der Rue de la Paix kaufen mußte.

»Du kannst ja morgen vormittag hereinfahren und es kaufen.«

»Nein, nein,« widersprach sie erschrocken, »es könnte schon weg sein! Tatsächlich kann es ja jetzt schon … jeden Augenblick …«

»Hör' doch, Mutter. Du selbst hast mir gesagt …«

»Ich weiß, ich weiß, doch das war vorher, bevor ich es gesehen hatte. Jetzt komm!« Und schon eilte sie hinaus und stieg in das Taxi, das sie hatte warten lassen. Ihm blieb nichts übrig, als ihr zu folgen.

»Ist es ein Kleid?« fragte er unfreundlich.

»Ja«, erwiderte sie sanft, »es ist ein Kleid.«

»Du hast doch gesagt, du wolltest nie wieder Kleider bei diesen Halsabschneidern kaufen. Du hast doch gesagt, daß du von einer kleinen Schneiderin …«

»Ich weiß. Das war aber alles vorher …«

»Was soll es kosten?«

»Viel!« sie runzelte die Stirn, »Zweitausend Francs.«

»Aber Mutter! Da müssen wir ja unsere Papiere belehnen!«

»Ja, darum bin ich dich holen gekommen. Du mußt gleich zur Bank gehen und Herrn Adams sagen … Ich werde dir's lieber aufschreiben.«

»Du verlierst wirklich den Verstand.«

»Warte, bis du es gesehen hast und bis ich dir – vielleicht – alles erkläre.« Eine Stockung im Verkehr benützte sie rasch, um ihre Zigarettendose hervorzuholen. »Rauchst du?«

»Nein«, lehnte Evans ab, um seine Verstimmung zu betonen.

»Aber ich«, sagte sie angriffslustig. Doch nach ein paar Zügen wechselte ihre Stimmung. »Was es doch für sonderbare Zufälle gibt … hier … in Paris … alles ist so ganz anders jetzt … so viele, viele Jahre liegen dazwischen …«

»Von alledem verstehe ich kein Wort«, brummte Evans.

»Natürlich nicht«, erwiderte seine Mutter träumerisch. »Auf der ganzen Welt gibt es niemanden außer mir, um das zu verstehen. – Halt!« rief sie und klopfte an die Scheibe.

In dem Schaufenster, vor dem sie stehen blieben, hing ein Kleid. Gelb konnte man es nennen, doch es war eigentlich mehr ein Leuchten als eine Farbe, vielleicht ähnelte es am ehesten perlendem Champagner. Es war ein sehr einfaches Kleid, mit Gold unterlegt, hie und da mit Goldfaden durchzogen, mit einer einzigen goldenen Rose als Aufputz. Da seine Mutter weder sprach noch sich rührte, wandte Evans den Kopf nach ihr. Sie blickte gebannt auf das Kleid – blickte durch Tränen. Er berührte ihren Arm.

»Nein, Mutter, wirklich …! Es ist ja wundervoll, sicher wundervoll – aber wenn du es für den Colonel kaufen willst … meinst du nicht, daß auch dieses silberne ihn ganz zufriedenstellen würde?«

»Ich nehme es nicht für den Colonel.«

»Dann vielleicht für – mich?« fragte Evans ironisch.

»Nein, Liebling«, sie schüttelte lächelnd den Kopf, »auch nicht für dich.«

»Für wen denn?« fragte er.

»Für meine Mutter«, erwiderte sie und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, wie er ihn noch nie an ihr gesehen hatte.

Doch wie sollte er daraus klug werden? Ihre Mutter war doch seit Jahren und Jahren tot.

 

II

Narzissa zündete links und rechts vom Spiegel die Kerzen an. Sie war in das neue Kleid geschlüpft, ohne auch nur einen einzigen Blick auf sich selbst zu tun. Sie hatte sogar im Geschäft abgelehnt, es zu probieren. »Ich weiß, daß es passen wird.« Sie wollte allein sein, wenn sie sich das erste Mal darin sah, um den ganzen Eindruck ungestört auf sich wirken zu lassen.

Auch jetzt blickte sie sich noch immer nicht an, sie machte sich in ihrem Zimmer zu schaffen, räumte die Kleider weg, die sie abgelegt hatte. Sie liebte ihr Zimmer in diesem Hause auf den alten Wällen von Senlis, besonders liebte sie es, wenn die Kerzen angezündet waren und ihr Schein auf das warme Rot der Tapeten fiel, auf ihren Schreibtisch, den sie in Avignon entdeckt hatte, auf diesen behaglichen Armstuhl, der so schön war und so würdevoll den entschwindenden Geschmack des alten Frankreich verkörperte. Marie hatte das Zimmer schon für die Nacht hergerichtet, die Lampe stand auf dem kleinen Tisch neben dem Bett, Hausschuhe und Schlafrock lagen bereit. Ehe Narzissa zu Bett ging, würde sie die schweren Vorhänge zurückschlagen, auf den Balkon hinaustreten und von ihrer hochgelegenen Aussichtswarte über das Land blicken, bis zu jenem dunklen Streifen hinüber, dem Wald von Chantilly. Und morgens würde die Sonne hereinscheinen, sie würde sich im Bett aufsetzen und während sie auf ihren Kaffee wartete, ihr Auge über die Felder gleiten lassen, über den jungen grünen Weizen neben dem satten Ton gepflügter Erde, über schwerfällige Wagen, pflügende Pferde, weiße Ochsen, auch große Maschinen und über die Bäume entlang dem schmalen Fluß.

Einfach war ihr Leben hier, doch so vollendet, so lückenlos in seiner Art, daß man das Gefühl haben konnte, verschwenderisch zu leben. Innerhalb ihrer Gartenmauer erging sie sich des Abends wie irgend eine Dame des mittelalterlichen Frankreich, und wie ein Segen überkam sie der sanfte Hauch entschwundenen Entzückens.

Jetzt saß sie in jenem Armstuhl, dessen Rundung sich zärtlich ihrem Rücken anschmiegte. Noch immer hatte sie sich nicht in dem Kleid betrachtet, das sie aus einem inneren Zwang hatte kaufen müssen. Doch ihre Hand strich darüber hin. Sie hob den langen Streifen, der von der Schulter niederfiel. Oh, wie wundervoll war der Stoff, so schimmernd, als wäre er nur aus Lichtstrahlen gewoben. Sie sah ihre Hand durchscheinen, und ihr war, als sähe sie eine andere Hand einen anderen Stoff betasten – Seidenmusselin hatte man ihn genannt und die Hand, die darüber gestrichen hatte, war rauh von schwerer Arbeit gewesen … ›Und zu deinem Haar und deinen Augen würde es sich besonders gut machen …‹

»Mutter!«

Narzissa fuhr auf. Ach, natürlich, es war ja Evans, der aus dem Stiegenhaus rief. Sie hatte eben eine andere Stimme im Ohr gehabt, so vertraut in ihrem Tonfall, als ob dieses Kleid sie wieder zum Leben erweckt hätte. Da sie nicht antwortete, kam er an die Tür.

»Heute ist ein Fest drüben in …« Sie war aufgestanden, er brach ab und starrte sie, mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt, so überrascht und überwältigt an, daß sie lachen mußte. »Donnerwetter noch einmal …« begann er, doch statt den Satz zu beenden, ließ er bloß ein langes leises Pfeifen hören. »Das ist ein Schlager!« gab er nach einer Weile zu. »Aber Mutter, du siehst ja wie dreiundzwanzig aus!« Lächelnd, errötend blickte sie in den Spiegel. Auch sie war überwältigt. »Du bist wirklich entzückend, Mutter«, rief ihr Junge begeistert. – ›Du bist entzückend, Liebling‹, hörte sie jene andere Stimme sprechen, jene Stimme, die vor einundzwanzig Jahren zum letzten Mal zu ihr gesprochen hatte …

Sie war jetzt wirklich noch schöner, als jenen Abend, an dem ihre Mutter sie für den Ball mit Tony angekleidet hatte. Daß sie nach allem, was dazwischen lag, noch so jung aussehen konnte! Mutter hatte recht gehabt, das Gold des Kleides warf goldene Reflexe in ihre Augen und hob den goldenen Schimmer ihres Haars. Nur ganz vereinzelte graue Haare waren zu bemerken. Sie hätte an jenem Morgen, an dem sie sie zum erstenmal entdeckte, Bert doch nicht ihr Weinen hören lassen sollen. Aber sie hatte ja nicht gewußt, daß sie weinen würde. Es war so plötzlich über sie gekommen, als wäre irgend etwas in ihr zusammengebrochen. Sie hatte nur sehr wenig geweint, fügte sie in ihren Gedanken schnell hinzu, sehr wenig, während all der neun Jahre.

»Doch wann willst du es tragen?« fragte Evans.

»Oh, vielleicht gleich morgen abend bei den Burtons in Paris.«

»Der Colonel ist auch dort?«

»Er ist auch dort.« Und als sie jetzt nochmals einen Blick in den Spiegel warf, mußte sie in sein Lachen einstimmen. Ihre Schultern und ihr Hals schwebten wie über einer goldenen Wolke. Wundervoll waren ihre Arme unter diesem gesponnenen Licht und blendend schön traten sie daraus hervor. Eines von den Kleidern, unter denen man recht wenig an hatte, ein so ganz dünnes Kleid – inmitten der würdigen, grauhaarigen Gesellschaft bei Burtons! Vielleicht aber gingen sie nachher zu Helene. Wer konnte wissen – das Kleid schien ihr ganz eigene Gedanken zu geben – was nachher noch alles geschehen mochte?

»Viel Vergnügen, Liebster«, verabschiedete sie Evans, der mit seinen Freunden zu dem Jahrmarkt nach Armenonville fahren wollte.

Nach einem Augenblick kam er nochmals zurückgelaufen und schwang einen Brief in der Hand, den der Postbote eben gebracht hatte.

»Aus Amerika«, rief er. »Aus Illinois.«

»Onkel Willis Handschrift. Es wird sich um Vater handeln«, sprach sie sinnend. Evans, den seine Freunde von draußen riefen, stürmte schon wieder davon.

Narzissa zauderte ein wenig ängstlich, den Brief zu öffnen. Sie hatte sich schon seit einiger Zeit mit der Absicht getragen, hinüberzufahren, um ihren Vater zu besuchen. Seit ihrem Gutenachtgruß, damals, als er zeitig am nächsten Morgen in die Berge fuhr, hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Der Krieg lag dazwischen und die lange Zeit, in der Bert krank gewesen war, und seither, nun, seither hatte sie zuviel zu tun gehabt, ihr Leben neu zu gestalten. Jetzt hatte sie hinüberfahren wollen, jetzt sehr bald. Ihr Vater war wieder nach Illinois zurückgekehrt, seit er zu alt geworden war, um allein in Colorado zu leben. Er wohnte in dem alten Haus der Kelloggs, von dem Mutter Naomi ein Erbteil besessen hatte, und Onkel Willi sorgte für ihn. ›Denn Vater hat uns aufgetragen,‹ so schrieb Onkel Willi damals an Narzissa, als er ihr von Calebs Rückkehr Mitteilung machte, ›wenn wir jemals etwas für Caleb tun könnten, dann müßten wir es tun, weil er unserer Familie einst einen großen, großen Dienst geleistet hat. Als Vater dies sagte, lag er im Sterben und ich konnte nicht mehr erfahren, was er damit meinte. Aber seine Worte sind mir im Gedächtnis geblieben und ich werde nach seinem letzten Wunsch handeln.‹

Nach einigem Zögern und nachdem sie noch vor dem Spiegel versucht hatte, wie es sie kleiden würde, wenn ihr Haar glatt zurückgestrichen wäre, drehte Narzissa ihrem Spiegelbild den Rücken und wandte sich dem Brief zu.

Dieser Onkel, den sie niemals gesehen hatte, schrieb:

Liebste Narzissa, Du hast unlängst davon geschrieben, daß Du nach Hause kommen willst, um Deinen Vater zu besuchen und Evans mitbringen. Ich glaube, es wäre besser, Du zögertest nicht zu lange damit, wenn Du ihn noch sehen willst. Du weißt ja, daß er schon über siebzig ist, und in den letzten Monaten ist er so verfallen, daß er einen noch viel älteren Eindruck macht. Das Stiegensteigen fiel ihm schon so schwer, daß wir ihm das untere Zimmer eingeräumt haben, das gleiche, in dem Naomi gewohnt hat. Er spricht viel von Euch. ›Narzissa wird mich besuchen kommen‹, sagt er, ›mit meinem Enkel. Mein Enkel heißt Evans …‹ Das erzählt er jedem. Es wäre doch zu traurig, wenn er in seinen langen Schlaf hinüber gehen müßte, ohne seinen einzigen Enkel, mit dem er sich so viel zu beschäftigen scheint, ein einziges Mal gesehen zu haben. Ich fürchte, er wird es nicht lange mehr machen, besonders geistig nicht; man fängt dann an kindisch zu werden, wie Du weißt.

Sonst, liebste Narzissa, kann ich Dir nicht viel berichten was Dich interessieren würde, da Du doch so weit weg bist und wir uns nur brieflich kennen. Rosies Leuten geht es gut, nur hat ihre Tochter das jüngste Kind verloren. Unser altes Haus ist immer voll Leben. Frank, unser Junge, hat jetzt eine gute Anstellung in einer Garage und fährt in seinem eigenen Chevraulet. Die Stadt dehnt sich immer mehr nach unserer Seite aus, und vom Land wird bald nichts mehr zu sehen sein. Ich habe ein günstiges Angebot, einen Teil unseres Grundes zu verkaufen, und werde es vermutlich tun. Bin doch schon bald zu alt für einen Farmer, und weder meine eigenen Jungen, noch die von Rosie finden Gefallen an der Landwirtschaft. Motoren und Maschinen – dort ist jetzt das Geld zu holen, so meinen sie. Es würde sich um das Grundstück handeln, durch das der Bach geht, ich glaube, sie wollen den Bach als Betriebskraft ausbauen. Schade darum, doch was soll man machen, Fortschritt ist Fortschritt!

Ich war erkältet, aber es geht mir wieder besser. Entschuldige, wenn ich Schreibfehler gemacht habe, aber das Radio ist so schrecklich laut. Frank hat es selbst gebaut und wir hören gerade Chicago.

Dein Onkel Willi

Ja, sie durfte es nicht länger aufschieben! Sie hätte schon früher hinüber sollen, aber Evans' Schule und das und jenes … Wie alt mußte ihr Vater wohl jetzt aussehen, er, der auch früher nie einen jungen Eindruck gemacht hatte. Gleich morgen müßten sie sich in Paris nach den Dampfern erkundigen. Die Reise würde viel Geld kosten – nein, wie schrecklich, jetzt daran zu denken. Ihr Vater war doch immer so gut zu ihr gewesen, hatte ihr sogar Geld gesandt, nachdem sie von zu Hause weggegangen war, obwohl er selbst es doch so knapp hatte. Vielleicht hatte er sogar eine Hypothek aufnehmen müssen; sie hatte sich immer gefürchtet, danach zu fragen. Ja, er war immer gut zu ihr gewesen. Sie mußte ihm Evans bringen, ›bevor sein Geist zu sehr entrückt‹ wäre.

Die Verwandtschaft allerdings mußte wohl arg sein. Wie sich Evans wohl zu ihnen stellen wird, nach England und seinem bisherigen Leben, das so ganz anders war? Er würde schon den richtigen Ton finden, er fand ihn ja immer. Wie stolz würde sein Großvater auf ihn sein! Der Junge besaß Haltung und hatte das rechte Auftreten. Man behauptete, er gerate der Familie seines Vaters nach; sie aber wußte, daß er Naomis Augen hatte.

Noch heute abend wollte sie ihrem Vater schreiben, ja, und kabeln wollte sie ihm gleich morgen, um ihm die Freude der Erwartung zu verlängern. Und dann würden sie fahren. Dabei sollte es bleiben. Wenn es zu spät wäre – nein, niemals würde sie sich das verzeihen können. Lange mußten sie ja nicht drüben bleiben. Und bis sie dann zurückkämen … Ja, bis sie zurückkäme?

Ja, dann … schloß sie ihre Gedanken mit einer etwas müden Ungeduld, dann würde sie eben Colonel Fowler heiraten. Man erwartete es von ihr. Es schien das Richtige für sie. Er war zu Bert so gut gewesen, zu ihnen allen während dieser langen Jahre. Bert selbst würde ihr dazu raten, in dem Bewußtsein, daß sie geborgen wäre und daß sein alter Freund, sein Oberst, für seinen Jungen sorgen würde. O ja, nur allzu sehr würde er für ihn sorgen, dachte sie mit einer Grimasse. Sie und Evans hätten ihm seine Soldaten zu ersetzen. Mit seinem Hang zum Organisieren, mit seiner Freude am Kommandieren würde er ihre Spaziergänge regeln. ›Ihr geht drei Kilometer geradeaus auf dem Höhenweg, dann biegt ihr bei der ersten Kreuzung nach links. Das Mittagessen werdet ihr in dem Gasthof hinter dem Steinwall nehmen, zu dem Fleisch dort kann man kein Zutrauen haben, das dürft ihr nicht bestellen, aber eine Eierspeise könnt ihr euch geben lassen …‹ Und nachher hätten sie dann ihren Bericht zu erstatten, und er würde sich freuen und sie beloben, wenn alles so verlaufen wäre, wie er es vorausbestimmt hatte, und sie würden vermutlich, halb unbewußt, ihren Bericht fälschen und sich beinahe schuldig fühlen, wenn sie seinen Anordnungen nicht ganz entsprochen hätten.

Er war gar nicht damit einverstanden gewesen, als sie dieses Haus in Frankreich gemietet hatte. ›Gewiß werden Sie von Zeit zu Zeit mal nach Paris kommen wollen,‹ meinte er nachsichtig, denn er war ein vernünftiger, nachsichtiger Herr, ›aber Ihr Heim müßte in England sein.‹ – ›Warum müßte es?‹ fragte sie, aber nur ganz leise und sich selbst, denn in den vielen Jahren hatte sie es sich abgewöhnt, solche Fragen an ihn zu stellen. Wie gut war er trotzdem in der ganzen Zeit gewesen, erinnerte sie sich dann wieder mit herzlicheren Gefühlen gegen ihn. Und er würde weiter gut zu ihr sein, wirklich untadelig gut, würde sie leiten und ihr Leben gestalten.

Als er zum ersten Mal vom Heiraten zu sprechen begann, hatte sie ihn gebeten, diese Frage erst ein wenig später zu erörtern. Bert war damals nicht viel mehr als ein Jahr tot gewesen, und der Colonel hatte ihre Gefühle geachtet. Doch morgen würde er in Paris ankommen, und sie wußte, weshalb.

Sollte sie ihm vielleicht jetzt ihr Jawort geben und erst heiraten, sobald sie aus Amerika zurückkäme? Das würde einen kleinen Aufschub bedeuten. Doch warum wünschte sie einen Aufschub? Das war wirklich nicht recht von ihr, einem lieben alten Freund gegenüber. Hatte sie auf anderes zu hoffen? Was gab es denn zu planen, zu erwarten? Die jugendlichen Gefühle, die dieses Kleid ihr eingeflößt hatte, begannen sich zu verflüchtigen. Warum kam sie sich bei dem Gedanken, den Oberst zu heiraten, so viel älter, so alt vor? Man würde allgemein sagen, es wäre ein besonderes Glück für sie; und das war es ja eigentlich auch, gab sie sich freimütig zu. Wenn eine Frau, die in zwei Jahren vierzig wurde, einen Mann von fünfundvierzig heiratete, war sie keineswegs zu bemitleiden. Mit achtunddreißig ist die Jugend vorbei! Sie ließ ihre Finger durch ihr dichtes, kurzes Haar gleiten. Natürlich war die Jugend mit achtunddreißig vorbei, und sie wollte nicht eines jener dummen Weiber werden, die einsam im Leben stehen und nur die Sorge kennen, jünger auszusehen als sie sind. Wie Helene. Das war würdelos, und würdelos war sie nie gewesen. Sie hatte das Gefühl, sie wäre verpflichtet, Colonel Fowler zu heiraten, weil es würdelos von ihr wäre, es nicht zu tun. England war ihr natürlich quälend gewesen, da Bert krank war. Jetzt würde es anders sein. Ein schönes Heim, Geld genug, guten, wenn auch nüchternen Verkehr … Was sollte eine Frau sonst beginnen, die nicht reich war und einen Sohn hatte, für den sie sorgen mußte – was konnte sie sich besseres wünschen?

Sie ging an den Ankleidetisch, um ihr Haar wieder in Ordnung zu bringen, das bei der Frage, was sie sich besseres wünschen konnte, die sie nicht bloß einmal, sondern wieder und wieder an sich gestellt hatte, in Verwirrung geraten war. Wie ein Gassenbub sah sie aus, lustig war das; sie schüttelte ihren Kopf, warf die Haare nach vor und hinten, benahm sich wie ein kleines Mädchen. Sich selbst zulachend, war es ihr plötzlich, als träfe sie der Blick jener stahlblauen Augen, der fröhlichen, bezwingenden Augen jenes ›tollen Isländers‹, wie sie ihn bei Helene nannten. Erik Helge, der verrückte Mathematiker! Warum mußte sie gerade an ihn denken? Vielleicht, weil es auch seine Gewohnheit war, so mit den Händen durch sein dichtes rotes Haar zu fahren und den Kopf zurückzuwerfen, wenn er Grundsätze der Mathematik so lebendig erklärte, daß sie selbst für ganz Unwissende, wie Narzissa, irgend eine Melodie bekamen? Was für ein stürmischer, gleichsam elektrisierter Mensch! Lava aus dem Norden. Natürlich hatte man ihn aus der Schule entlassen, einen so gefährlichen Lehrer! Voll jugendlicher Spannkraft, obgleich er tatsächlich, nach allem zu urteilen, was er schon erlebt hatte, auch schon an die vierzig sein mußte. Doch er gehörte zu jenen Männern, denen man es nicht ansah. Neulich nachts, als er gegen Helenes Freund von der Sorbonne disputierte, besser gesagt, als er ihn einfach niederdonnerte, schienen seine Augen wahrhaft Funken zu sprühen! Ihren Kopf zurückwerfend und ihr Haar nochmals durcheinanderwirbelnd, überließ sie sich mit geschlossenen Augen dem Traum, mit ihm zu tanzen. Ohne daß sie dafür einen Grund hätte angeben können, dachte sie plötzlich an ihre Mutter.

Grauen Kattun hatte sie getragen, zwischen Küche und Zimmer eines armseligen einsamen Hauses waren ihre Tage verronnen. ›Dies ist für dich, Liebling,‹ – zärtlich war die Stimme gewesen, doch immer ängstlich. Einsamkeit, Stunden und Stunden der Einsamkeit. Noch vor dem Spiegel, mit wirren Haaren, noch errötet von dem Traum, mit dem faszinierenden Nordländer zu tanzen, erfüllt noch von allem, was die Erinnerung an ihn in ihr aufgewühlt hatte, überkam Narzissa plötzlich das Bewußtsein, daß sie jetzt gerade so alt war, wie ihre Mutter, als sie damals von ihr Abschied genommen hatte. Diese Frau, die ihr da im Spiegel entgegenblickte, in dem Kleid, das ihre Mutter für sie gewünscht hatte, dieses strahlende Weib, erglühend bei dem Gedanken, mit einem Mann das ganze Leben zu tanzen, war jetzt ebenso alt wie jene Mutter, die damals vor dem Hause stand und sehnsüchtige Arme nach dem Kind streckte, das sie für immer verlor!

›Ich muß an Vater schreiben‹, dachte Narzissa, denn sie hatte nicht die Kraft, ihre Gedanken noch weiter bei der Mutter weilen zu lassen. Was hätte sie auch jetzt noch für sie tun können, für diese einsame Gestalt in weiter Vergangenheit?

Sie ging an ihren Schreibtisch. ›Liebster Vater‹, begann sie, doch nach einer Weile ertappte sie sich dabei, daß sie bloß sinnlose Figuren auf das Papier zeichnete. Sie zerknüllte es und nahm ein anderes. ›L-i-e-b-s-t-e …‹ begann sie zu malen, dann hielt sie ein. ›… Mutter‹, ergänzte eine Stimme in ihr, die immer stärker wurde, sie ganz erfüllte, ›Mutter!‹ –

 

III

Acht Jahre hatte ihre Mutter noch gelebt, nachdem Narzissa sie auf der ›Steppe‹ allein zurückgelassen hatte. »Du mußt deiner Mutter schreiben,« hatte ihr Vater gemahnt, »vielleicht kann sie das aufrichten.« Sie pflegte dann in Briefen zu berichten, was sie tat. Von ihrer Mutter kam keine Antwort. »Wie wenn sie nicht schreiben könnte,« meldete ihr der Vater, »wie in einer Betäubung geht sie herum. Damals nachts als ich zurückkam und ihr alles sagte, rannte sie aus dem Haus. Ich konnte sie nirgends finden. Erst morgens kam sie zurück. Seit jenem Tag geht sie wie in einer Betäubung herum.«

»Vielleicht würde die Mutter gern in ihre Heimat zurückkehren«, schrieb sie ihrem Vater, nachdem sie geheiratet hatte und ein wenig Geld besaß. »Nein,« antwortete er, »sie will nicht nach Hause zurück.«

In England war es dann, zur Zeit, als Bert an der französischen Front stand und Narzissa mit Evans bei seiner Mutter wohnte, daß sie die letzte Nachricht über ihre Mutter erhielt; ihr Vater schrieb:

Liebste Narzissa. Traurige Neuigkeiten habe ich Dir heute zu berichten. Gestern morgen wachte ich auf und sagte zu Deiner Mutter: ›Es wird Zeit zum Aufstehen‹. Seit Deinem Fortgehen schlafen wir nämlich beide wieder in dem alten Zimmer. ( Eigentümlich, daß er dies gerade damals erwähnte.) Sie antwortete nichts darauf. Sie schläft noch, dachte ich, ich werde sie nicht wecken. Doch als ich angezogen war, fühlte ich, daß etwas nicht in Ordnung sei. Sie war tot.

Sie scheint jetzt viel mehr sich selbst zu gleichen, als in den letzten Jahren. Ich nehme sie in ihre alte Heimat, damit sie dort von ihren Leuten begraben wird, in der Nähe ihres, nun, ihrer alten Freunde, kann man sagen. Dies scheint mir das Richtigste zu sein, was ich tun kann, obwohl sie selbst niemals über die Berge hinüberkam. Ich wünsche, Du wärest hier. Eine lange Zeit haben wir zusammen gelebt … ( Der Satz brach ab.) Ich bin einsam, wie verloren, ohne Naomi.

Dein Vater

Sie hatte gedacht, ihre Heirat würde die Mutter freuen, und hatte ihr damals einen langen Brief geschrieben. »Ich glaube, Deine Mutter ist recht froh über Dein Glück,« hatte der Vater geantwortet, »doch sie ist in diesen Tagen sehr still.« Und dann über Evans: »Gern würde ich meinen Enkel sehen«, schrieb wieder er. »Vielleicht ist es mir eines Tages vergönnt, vielleicht uns beiden. Vermutlich weißt Du, wie Deine Mutter sich über Dein Baby freut, aber sie ist in diesen Tagen nicht imstande zu schreiben.«

Worüber mochte sie wohl diese acht Jahre gegrübelt haben – ›wie in einer Betäubung‹? Was war der Grund dieser Betäubung; Schwermut aus Einsamkeit oder ein gebrochenes Herz?

Gebrochenes Herz, ja, das war es. »Ich habe ihr Herz gebrochen«, sprach Narzissa tonlos vor sich hin, während sie ganz reglos vor ihrem Schreibtisch saß. Sie vertiefte sich in diesen Gedanken, wie sie es noch nie getan hatte, jetzt wollte sie endlich Klarheit schaffen, nicht um sich Vorwürfe zu machen oder sich zu rechtfertigen. Sie wollte begreifen können, wollte den Weg von ihr zu ihrer Mutter säubern und deshalb suchte sie, forschte sie.

Warum hatte es zwischen ihr und der Mutter niemals Ungezwungenheit gegeben? Von allem Beginn an, soweit sie nur zurückdenken konnte, hatte sie gewußt, daß es hier eine Liebe gab, die alles auf der Welt für sie tun würde: Rechtes und Unrechtes, sterben, leiden. Frühzeitig schon gewann sie die Erkenntnis, daß ihre Mutter nicht um ihrer selbst willen lebte, nur um Narzissas willen. Warum mußte das, gerade das so aufreizend auf sie wirken? Warum fiel es ihr gar so schwer, dieses Übermaß der mütterlichen Liebe selbst liebend zu erwidern? Warum mußte sie jede Art von Gefühlsäußerung gezwungen, verlegen und schließlich abweisend machen?

In den ersten Jahren, als ihr die Mutter bloß der eine Mensch war, der für sie sorgte, kam dies noch nicht so sehr zum Ausdruck. Damals als Narzissa noch ein Kind war, gab es noch Kameradschaftlichkeit zwischen ihnen, wenn sie allein zusammen waren. Ja, damals mußte sie wohl glücklich gewesen sein, dachte Narzissa jetzt, da sie die Mutter nicht mehr glücklich machen konnte. Gespielt hatten sie damals zusammen, allein auf der einsamen Steppe.

Sie hatte die Liebe ihrer Mutter immer als Bedrängung gefühlt. Machte sie das so verschlossen? War es vielleicht das Bewußtsein, daß ihre Mutter nur sie allein, ausschließlich sie liebte, wogegen sie sich gewehrt hatte, wie gegen eine aufgedrängte Verantwortung, gegen den Zwang, in ein Gefühl gestellt zu werden, das außerhalb von ihr entstanden war? Oder hatte sie sich von der Gewalt dieser übermenschlichen Liebe zu sehr erdrückt gefühlt, so daß sie den leichteren Umgang mit dem Vater und anderen Menschen vorzog? Darüber wollte sie sich Klarheit schaffen. Sich selbst einfach zu verdammen, war zu leicht. Jeder würde sie verdammen, der nur die Oberfläche betrachtete. Doch in der Tiefe darunter mußte es etwas anderes geben, und dorthin wollte sie sich in jener Nacht ihren Weg graben. Sie war doch nicht gefühlloser, nicht egoistischer als die meisten anderen Leute. Sie war kein Unmensch. Wohl hatte sie selbst oft ihre Kälte verabscheut und sich in manchem, was sie getan hatte, nicht glücklich gefühlt – doch das war keine Antwort. Weshalb nur, weshalb hatte es niemals befreiende Liebe zwischen ihr und jener einsamen Frau gegeben, die gern alles auf der Welt erduldet hätte, nur um das Los ihres Kindes besser zu gestalten?

Ein- oder zweimal, in den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft mit Tony, hatte sie es fast mit Geständnissen zu ihrer Mutter getrieben und sie war darüber glücklich gewesen. Und dann war wieder diese Scheu über sie gekommen, diese törichte Verlegenheit und schließlich abweisende Verschlossenheit. Es gab damals etwas, was sie von ihrer Mutter nicht berührt sehen, nicht mit ihr teilen wollte, als hätte eine Ahnung von Dingen in ihr geschlummert, von denen sie doch noch gar nichts wußte. Nein, das waren ja lächerliche Phantasiegebilde, und doch, vielleicht hatte Mutters Erlebnis, jene Tragödie in entschwundenen Tagen, ihre lange, bittere Einsamkeit, die nie erstorbene Liebe – vielleicht hatte dies alles Mutter zu einem fremdartigen Wesen gewandelt, vor dem Narzissa unbewußte Scheu empfand. Und schließlich hätte die Mutter ihre eigene Geschichte nicht so wie sie es tat und nicht gerade damals erzählen dürfen!

Wenn jemand zum ersten Male liebt, besonders ein Mädchen, das viel allein gewesen ist, dann bedeutet Liebe etwas ganz Besonderes, und man erträgt nicht, daß irgend jemand anderer daran rührt. Sie wollte ihre Liebe mit niemandem teilen, besonders mit ihrer Mutter nicht, nachdem sie alles erfahren hatte. Ihr wundervolles einziges Gefühl sollte nichts anderes sein, als was ihre Mutter einst gefühlt hatte? Dagegen wehrte sich alles in ihr, beleidigt, erschreckt, stolz, eigensinnig, überheblich. Aus unerfaßlichen Gründen hatte sie ihre Mutter strafen, ihr eine Niederlage bereiten wollen, wenn es auch den Tod ihrer eigenen Liebe bedeutete. Seltsam war das gewesen und schmerzlich, und seltsam war es, jetzt darüber nachzudenken. Und kein Nachdenken half ihr zu begreifen.

In jenen letzten Tagen hatte sie sich wohl gegen den Verdacht gewehrt, daß ihre Mutter wußte, sie käme mit Tony zusammen, sie hatte kaum gewagt, sich selbst diesen Verdacht einzugestehen. Wie grausam hatte sie die Partei ihres Vaters ergriffen, und alles, was ihre Mutter von Liebe sprach, hatte in ihr nur Gefühle der Abwehr erregt. Es gab keinen Ausweg für sie, wenn sie sich an die Mutter anschloß! So hatte sie die Mutter einfach beiseite gelassen und bloß alles von ihr genommen, was sie haben konnte. »Eine kleine Heuchlerin, nichts anderes war ich damals«, so sprach die Frau, die in dieser Nacht alles überdachte, zu sich selbst. »Eine rechthaberische, herzlose Törin.« Doch auch dadurch, daß sie sich mit solcher Kritik bedachte, auch wenn sie diese Kritik ernstlich meinte, kam sie zu keinem erleuchtenden Verständnis. Zu tadeln war nicht genug, davon wurde der Weg zu ihrer Mutter nicht frei …

Sie hatte nicht so sein wollen, wie sie war. Jene letzten Tage waren fast unerträglich gewesen. Was hielt sie bloß davon ab, das zu tun, was sie viel glücklicher gemacht hätte, ihrer Mutter einfach zu sagen: »Ich liebe Tony und ich werde ihn heiraten, selbst gegen den Willen des Vaters.« Warum bloß mußte sie ihrer Mutter, die doch so wenig Freuden besaß, selbst das Glück dieses Vertrauens versagen, sie der Seligkeit berauben, die letzten Vorbereitungen zu ihrer Flucht gemeinsam und offen zu treffen, und warum mußte sie sie zu einsamer Fremdheit zwingen? Wie selig wäre sie gewesen, hätte sie über Narzissas künftiges Leben sprechen dürfen! Wie tapfer hätte sie alles ertragen. Ja, wie tapfer war sie auch in ihrer Einsamkeit gewesen, wie selbstlos und aufopfernd liebend!

Jetzt füllten sich Narzissas Augen mit Tränen, die den Blick trübten – und sie manches klarer sehen ließen.

Auch damals hatte es Tränen gegeben, doch nur wenige, als sie der Mutter den Abschiedskuß gab. Jetzt wurde Narzissa bei der Erinnerung daran glücklich. Obwohl diese spärlichen Tränen nur dürftige Gefühle ausgedrückt hatten. Wie hatte die Mutter nur alles das zu tun vermocht, sie, die mit solcher Liebe an ihr gehangen hatte? Überwältigend war das, sagte Narzissa jetzt, in verspätetem Begreifen. Wie jene einsame Gestalt damals vor dem Hause stand und die Arme ausstreckte, als wollte sie noch einmal versuchen, dieses Kind zu erreichen, dem sie niemals hatte nahekommen können. Jetzt war es Narzissa, die sehnsüchtig ihre Arme ausstreckte; doch sie ließ sie bald wieder sinken, bedeckte mit den Händen ihr Gesicht und versuchte das Bild jener tapferen einsamen Mutter, die sie nie wieder gesehen hatte, abzuwehren. Damals, als Tony ihr alles gebeichtet hatte – wie dumm war das von ihm! – waren alle ihre Gefühle wie eine Springflut gegen die Mutter gebrandet. Selbst ihre Liebe zu Tony war von dieser Welle der Empörung und Scham weggespült worden, und nur ein Gedanke hatte sie beherrscht, dieser Mutter, von der sie sich hintergangen und in eine Falle gelockt fühlte, das Spiel zu verderben.

Darum war sie mit der Missionärin gegangen, denn das hatte sie bestimmt gewußt, nichts konnte ihre Mutter schmerzlicher treffen als dieser Schritt.

›… wie in einer Betäubung geht sie herum …‹

 

IV

Im zweiten Jahr wurde Sylvia nach Smyrna versetzt. Hier begegnete Narzissa Bert Brigg. Narzissa war keine besoldete Missionärin, nur freiwillige Hilfskraft, Studentin. Deshalb mußte sie ihren Unterhalt selbst verdienen, indem sie nachmittags die Kinder einer englischen Familie unterrichtete. Dort sah sie eines Tages den jungen Offizier. »Wer ist dieses reizende Mädchen?« hörte sie ihn Frau Dwight fragen, als sie durch die Halle kam. Am nächsten Tage wurden sie bekannt, und er begleitete sie auf dem Heimweg. Bald sahen alle, daß der Leutnant die kleine Missionärin liebte. Sylvia erhob keine Einwendung. Bert war keiner von den Menschen, denen Sylvia mißtraute. »Natürlich entsprechen seine Ansichten nicht den unseren«, sagte sie, »seine Gedanken hängen an weltlichen Dingen, aber er ist ein Christ und ein Gentleman. Ich halte ihn für einen guten Menschen.« Narzissa nahm seine Werbung an, und sie wurden in der Missionskapelle getraut.

Kurz darauf kam Bert nach Konstantinopel. Dort war das Leben ganz anders, fröhlich und in der Tat ganz von weltlichen Vergnügungen erfüllt. Manchmal, wenn sie sich abends etwa für einen Ball bei der Botschaft ankleidete, fühlte sich Narzissa von dem raschen Wechsel in ihrem Leben ganz betäubt. In Konstantinopel lernte sie Helene kennen, die umschwärmte junge Frau Verpont, deren freies Wesen sie höchst anstößig und doch noch viel mehr faszinierend fand. »Oh, unser weißes Lämmchen!« pflegte Helene zu spotten, wenn Narzissa bei frivolen Scherzen errötete. Doch Helene war liebevoll zu ihr gewesen, überlegte Narzissa in dieser Nacht, in der sie ihr ganzes Leben überdachte.

Sie und Bert hatten nicht ganz zu Helenes übermütiger Schar gehört. Sylvia hatte ihn richtig beurteilt. Wenn er auch den Missionären nicht glich, stand er doch auch abseits jenes tollen Trubels, der in Konstantinopel herrschte und wünschte auch niemals, daß Narzissa darin aufging. »Ich wollte, ich wäre so strahlend wie Helene,« hatte sie einmal gesagt. Da hatte er ihr das Haar aus der Stirne gestrichen, ihr Gesicht mit seinen beiden Händen umschlossen und geflüstert: »Wie liebe ich dich gerade darum, weil du Helene nicht gleichst!« – »Du bist so gut, Liebste,« hatte er zu sagen gepflegt, und dann einmal gelacht, während er seinen Gedanken zu Ende sprach: »… so gut, als wärest du gar nicht schön!« Sie hatte Bert geliebt, doch mit einer Liebe, die weder verzehrende Leidenschaft noch übermütige Fröhlichkeit kannte. Sie hätten beide beträchtlich älter sein können, als sie wirklich waren …

Kurz nachdem Evans zur Welt gekommen war, brach der Krieg aus. Es folgten Monate, Jahre des Wartens in England. Und dann, knapp vor dem Waffenstillstand, wurde Bert schwer verwundet. Es begannen die Jahre seiner Krankheit. Das Leben war nicht ganz so fröhlich für sie gewesen, wie manche Augenblicke es versprochen hatten. Nicht allzu viel in ihr war anders geworden seit jenen fernen Tagen der Narzissa Evans in Collorado. Noch immer schien es viel zu geben, was sie nicht kannte und erst eines Tages kennen würde. Immer noch schien etwas auf sie zu warten.

»Mutter!« – Evans war zurück! Und sie hatte den ganzen Abend hier gesessen und vergangene Tage betrachtet, ohne das zu erkennen, wonach sie geforscht hatte; ohne mehr als ganz wenig davon zu erkennen. War Vergangenes nicht wieder gutzumachen? Wenn es ihr nicht gelang, der Vergangenheit ihre Geheimnisse abzuringen, dann war wirklich nichts mehr gutzumachen …

»Komm herein, Liebling.« Er wollte ihr seine Erlebnisse berichten, doch sie legte ihre Hände auf seine Schultern und forschte in seinem Gesicht.

»Was soll denn das?« fragte er.

»Ich möchte wissen, wem du ähnlich siehst.«

»Als ob du mich heute zum erstenmal sähest!« rief er lachend.

»In den wesentlichen Zügen gleichst du der Familie deines Vaters. Doch da, rings um die Augen, in ihrem Ausdruck, ihrer Form, manchesmal auch in der Mundstellung, ja, darin ähnelst du ihr. Und deine Stimme! Oft glaube ich ihre Stimme wiederzuhören!«

»Vielleicht könntest du mir gelegentlich einmal sagen, wovon du eigentlich sprichst, Mutter.«

»War es lustig bei dem Fest?«

»Hat mich dreißig Francs gekostet, aber dafür hab' ich das da beim Schießen gewonnen.« Er holte eine Zigarrenspitze und einen Pfefferstreuer aus der Tasche. Als er ihr noch mehr vom Scheibenschießen erzählen wollte, unterbrach sie ihn:

»Wir müssen gleich nach Amerika reisen. Wenn mein Vater sterben würde, ohne daß ich ihn nochmals gesehen hätte … Oh, ich habe ohnehin genug zu bereuen!«

»Ich kann mir nicht denken, daß es für dich so viel zu bereuen gibt.«

»Oh ja, mein Liebling, sehr viel.«

»Doch nicht … was Vater betrifft?« Er hatte sich von ihr abgewendet.

»Vaters wegen vielleicht nicht.« Ja, zu Bert war sie gut gewesen. Jahre hindurch hatten ihre Tage nur ihm gehört. Zu beschämend wäre auch das Bewußtsein, in allen menschlichen Beziehungen versagt zu haben; darum war sie glücklich in der Erinnerung, wie oft ihr Bert, dankbar und traurig, bestätigt hatte, daß sie gut zu ihm gewesen war. – »Aber wegen meiner grauen Haare hätte ich doch nicht weinen dürfen!« Sie sprach es zu ihrem Jungen und fühlte sich dabei ein wenig beschämt, daß sie von ihm Ermunterung und Trost erwartete. Er stand abgewandt vor ihrem Ankleidetisch und spielte gedankenlos mit einem Glasfläschchen. »Wäre es nicht schon an der Zeit, mit dem Nachgrübeln darüber Schluß zu machen? Deine Tränen … hatten doch gar nichts zu bedeuten. Du weißt es.« Er hatte ganz ruhig gesprochen, vielleicht ein wenig vorwurfsvoll. Doch im Spiegel betrachtete sie das Profil seines herabgebeugten Gesichtes. Er sah müde aus, bleich, ganz unkindlich in diesem Augenblick. Sollten ihm Karussell und Schaukel auf dem Jahrmarkt schlecht bekommen sein?

»Die Fahrt nach Amerika wird dir gut tun,« meinte sie. »Wir werden keins von den Expreßschiffen nehmen, sie sind zu teuer. Dafür werden wir den Ozean umso länger genießen.«

»Und was wird aus dem Colonel?«

»Aus dem Colonel?«

»Kommt er denn nicht morgen?«

»Ja …«

»Um uns zu besuchen?«

»Auch das. Doch es wird ja noch eine Woche vergehen, bevor wir uns einschiffen.«

»Vielleicht wird er mit uns reisen wollen.« Evans lachte.

»Oh nein.«

»Wirst du ihn heiraten, Mutter?«

Ihr Herz begann schneller zu schlagen, da sie von ihrem Sohn diese Frage hörte; sie fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg.

»Nun, was wäre denn deine Ansicht darüber?« Sie lachte.

»Meine Ansicht? Was hätte ich dreinzureden?«

»Doch mancherlei,« erwiderte sie. Was mochten wohl seine Gefühle sein? Bedauern, Schmerz, wegen seines Vaters? Seine Miene schien manches davon auszudrücken, während er mit der geschmacklosen Zigarrenspitze spielte, die er wieder hervorgeholt hatte. Doch er sagte:

»Ich glaube, Vater würde sich damit freuen.«

»Ja,« gab sie zu und hatte mit einem Male das Gefühl, als wäre eine Entscheidung gefallen, und eine Stimmung überkam sie, wie man sie manchmal in den Abendstunden kennt, wenn im Westen eben die letzten Farben erlöschen.

»Natürlich nur, wenn du es selbst wünschst,« sprach Evans, wie verwirrt durch einen Widerstreit seiner Gefühle. »Was weiß denn ich davon?« Er gähnte. »Ich bin so schläfrig.« Und er verabschiedete sich rascher als es sonst abends der Fall war.

Als sie jetzt, im Begriffe sich zu entkleiden, vor den Spiegel trat, fand sie dieses Kleid ganz unmöglich; es war ja viel zu jugendlich für sie! Und wo hatte sie Gelegenheit, ein derartiges Kleid zu tragen?

Das Fenster stand offen, sie lag da und blickte verträumt durch die Zweige der Bäume. Zu Hause war es der ›Big Chief‹ gewesen, in dessen Richtung ihre Augen vom Bett aus gewandert waren. Eine Ehe, allerlei Vergnügungen der Welt, ein paar Stunden des Glücks, ein Kind, Jahre der Sorge und Gräber lagen dazwischen, und trotz alledem fühlte sie sich nicht viel älter, nicht viel anders, als jenes Mädchen, das einst über das breite Tal hinweg nach den Bergen geblickt hatte, die den Weg nach Osten sperrten. Sie sah sich wieder auf dem Heimweg von der Schule, als ob sie ihn gestern gegangen wäre und morgen wieder gehen könnte. Manchmal geschah es ihr, daß die Erinnerungen in ihr so lebendig wurden, manchmal wieder schienen jene Jahre zu einem andern Leben, einer andern Welt zu gehören. Viel Liebe hatte sie erfahren; von Mutter, vom Vater, von ihrem Mann, ihrem Sohn. Auch die Liebe von Männern – von Tony, Bert und jetzt von Colonel Andrew … Was aber hatte wohl ihre Mutter gemeint? Was hatte sie bloß mit jenen Dingen gemeint, die sie damals über die Liebe sagte? Gab es da noch irgend etwas, das Narzissa nicht kannte? War es ihr versagt, dies kennen zu lernen? Nichts fand sich in ihrem eigenen Leben, was zwanzig öde Jahre überdauert hätte! Und Mutter hatte bloß ein paar Monate der Liebe gekannt, dann Schmerz, Schande und lange trostlose Einsamkeit. Und doch war ihr Leben von einem Licht durchstrahlt gewesen, das niemals verlöschte. »In düsterer Schönheit brannte es, bis – bis ich selbst alles Leuchtende aus ihrem Leben fortnahm,« dachte Narzissa. Und sie war das Kind jener Liebe … Da lagen Geheimnisse, die sie nicht kannte. Höhere Mathematik. Anders als eines der langweiligen Bücher, über denen sie im Seminar von Santa Clara gegrübelt hatten. Unerforschtes Land und doch wie eine vertraute Melodie. Geheimnisse, die tönten. Island. Lange einsame Dämmerung im Norden. Dann düstere Wintertage. Ja, Winter, düsterer Winter. Und Tod – Dunkel, Einsamkeit. Doch ein langes seltsames Dämmerlicht. ›Du bist wirklich entzückend, Liebling!‹ hatte ihre Mutter gesagt. War das erst heute abend gewesen? Nein, Evans hatte es heute gesagt … Das Leben war verwirrend, oder – vielleicht nicht einmal, wenn man es verstand. Sie würde also Colonel Andrew Fowler heiraten. Es war entschieden. War es wirklich entschieden? Ein Strahl aus blauen Augen verwirrte ihre Gedanken …

 

V

Ein junger französischer Komponist spielte bei Helene seine ›moderne‹ Musik. »Ich freue mich so, daß auch Sie hier sind, Colonel Fowler,« sprach die Hausfrau zur Begrüßung, als Narzissa und der Colonel mit den Burtons und einigen anderen Freunden, mit denen sie gemeinsam soupiert hatten, bei ihr eintraten. »Bei dieser Musik werden selbst Sie Ihren Verstand einbüßen,« fuhr sie in ihrer lebhaften Art fort, »und ich freue mich schon darauf, wie lustig es sein wird, das zu beobachten.« Der Colonel lächelte überlegen. Jeder, der zu beobachten erwartete, wie die Kompositionen irgend eines Jünglings an seinem Verstand rütteln würden, konnte ihm nur leid tun – dies schien sein Lächeln zu sagen. »Besonders Engländern ist solche Musik sehr zuträglich,« fügte Helene noch hinzu. »Und ich bin sicher, es gibt keine Musik, die einem Engländer das geringste anhaben könnte,« gab der Colonel zurück. »Aber Liebste,« rief die Hausfrau dann mit einem Male, während sie Narzissa von oben bis unten betrachtete und sie herumwirbelte, »wenn du so aussehen kannst, warum hast du uns das bisher vorenthalten?«

Das Spiel des Komponisten fand Narzissa unterhaltend und erregend. Ja, das ließ sich aus Noten machen. Warum auch nicht?

»Gefällt es Ihnen?« fragte sie den Colonel.

»Nein,« antwortete er. »Ich bin zu musikalisch.« Und sie hörte, wie er Frau Burton auseinandersetzte, daß man natürlich auch das machen könne, wenn man unbedingt wolle – jeder könne es sogar –, ebenso wie man schließlich auch Shakespeare derart lesen könnte, daß man die einzelnen Worte ohne jede Rücksicht auf Sinn und Zusammenhang zwischen Pausen dehnte oder überhastete, manche herausschrie oder lachend brüllte, andere wieder lispelte und stöhnte. Aber was wäre eigentlich der Vorteil davon, fragte er. »Ja, man muß das eben so betrachten, wie etwa das Russische,« meinte Frau Burton unsicher. Der Colonel sagte, es wäre schon arg genug, daß es überhaupt eine solche Sprache gäbe, und man müßte sich nicht noch den Kopf zerbrechen, um etwas zu finden, was ihr ähnlich wäre.

»Musik soll gesittet sein,« warf Narzissa nicht ohne Ironie ein.

»Ganz recht,« sagte er überzeugt.

Das nächste Stück war sogar noch ungesitteter, wenn es nicht irgend eine neue Sittlichkeit war, die es ausdrücken wollte. Es fesselte Narzissa in sonderbarer Weise, denn es schien etwas Geheimnisvollem nachzuspüren. Es rührte manches auf, was schon in ihr selbst vorgegangen war. Nachdenklich hob sie ihren Kopf, um aufmerksamer zu folgen, da bemerkte sie Erik Helge, der an der Türe lehnte. Eine Hand hatte er in sein dichtes rotes Haar gewühlt, und seine Augen blickten nicht auf den Musiker, sondern gerade vor sich hin; nicht erregt, fast fröhlich folgte er den Klängen, als führten sie ihn mitten in ein Problem, dessen Lösung er nahe war. Dann begannen seine Augen zu wandern und fielen auf Narzissa. Sie nickte nicht, sie sah auch nicht gleich von ihm fort, denn obwohl er geradeaus auf sie blickte, schien er sie nicht zu sehen, als wären seine Augen noch von den schweren Gedanken verhängt, die er in sich verarbeitete. Sie hatten den gewohnten Ausdruck von Glut und Kälte, Sammlung und intensivstem Leben, doch ohne die Leidenschaftlichkeit, die Narzissa sonst an ihnen kannte.

Doch dies dauerte nur einen Augenblick, dann bemerkte er sie, und sie fühlte das Blut in ihre Wangen steigen – sie wurde immer noch rot wie ein junges Mädchen; seine ganze gesammelte Aufmerksamkeit schien sich jetzt ihr zuzuwenden, und der Ausdruck seines Blickes begann sich zu ändern. Verwunderung, Entzücken, ja, beinahe unverhülltes Erstaunen zeigte sich in seinen Augen, so daß sich das Rot auf ihren Wangen vertiefte und sie ihre eigenen Blicke verwirrt senkte. Die Musik steigerte sich, wurde schneller, dissonierender und ging dann in ein sehr hohes feines Tönen über, zart und immer erregender. Als dann die Töne – man hätte ›kreischend‹ nennen können, was scheinbar ›suchend‹ gedacht war – in weiteste Fernen zu entflattern schienen, hob Narzissa, ohne zu wissen, daß sie es tat, wieder ihre Augen und sah, daß jene blitzenden eisigblauen Blicke noch immer auf ihrem Antlitz ruhten. Sie bannten ihre eigenen Augen und schufen in wenigen Sekunden eine Atmosphäre der Vertraulichkeit, wie Narzissa sie nie vorher gefühlt hatte, bis sie diesen Bann durch ein konventionelles Nicken brach. Er aber weigerte sich, diese Unterbrechung gelten zu lassen. Narzissa wandte sich daraufhin ein wenig ab, doch sie wußte, daß seine Augen, blauer, kühner, erfüllter von Leben, als sie je zuvor gewesen waren, nicht von ihr lassen würden.

»Das scheint mir geradezu unpassend!« murmelte Frau Burton. Narzissa fuhr auf. Ach so – sie sprach von der Musik.

Später unterhielt sie sich mit dem Komponisten. Als sie sich abwandte, um zu ihrer Gesellschaft zurückzukehren, trat Erik Helge auf sie zu.

»Kommen Sie mit mir, wir gehen irgendwohin tanzen!« sagte er. Was für ein Einfall! Sie, Narzissa, sollte Helene verlassen, ihre Freunde, mit denen sie gekommen war, den Colonel! – und allein mit Erik Helge davonlaufen und tanzen gehen?

»Was fällt Ihnen ein, das ist ja unmöglich!« erwiderte sie und hatte ein Gefühl, als klängen ihre Worte recht kindisch und töricht.

»Was hindert Sie?« Er nahm ihren Arm und führte sie gegen die Halle. »Bevor es noch irgend jemand bemerkt, sind wir schon fort.«

»Ich bin doch mit Colonel Fowler hier«, widersprach Narzissa voller Würde.

»Fowler? Wer ist das?«

»Es ist doch wohl belanglos, wer er ist!« Narzissa lachte ihm belustigt ins Gesicht.

»Etwa jener ältliche Engländer, der neben Ihnen saß?«

»Ältlich! Was verstehen Sie unter – ältlich?« Doch da kam ihr zum Bewußtsein, daß sie sich schon durch diesen Streit in eine ganz ungehörige Vertraulichkeit mit ihm einließ. Warum hatte sie ihn nicht gleich in seine Schranken zurückgewiesen? »Ich danke Ihnen bestens,« fuhr sie ganz im Tonfall ihrer Missionärszeit fort, »aber es kann keine Rede davon sein. Das wäre ganz und gar unmöglich!«

»Nichts ist unmöglich«, gab er zurück. »Es gibt noch eine ganze Menge viel schwierigerer Dinge, die doch nicht unmöglich sind!« Seine Hand lag immer noch auf ihrem Arm, so daß ihr nichts übrig blieb, als neben ihm weiterzugehen. »Sehen Sie diese Türe? Dahinter liegt die Halle und die Garderobe. Dort holen wir Ihren Mantel – ich nehme an, daß Sie einen hatten – dann setzen wir uns in ein Taxi und fahren zu Ciro. Wenn es dort zu voll ist, gehen wir wo anders hin. Ich will mit Ihnen tanzen. Ich will mit Ihnen sprechen. Es ist ja, als wäre ich bisher blind gewesen, als hätte ich Sie heute abend zum erstenmal gesehen! Ich habe immer gewußt, daß Sie schön sind, doch es schien mich nicht zu berühren, wenigstens nicht sonderlich. Heute ist das anders geworden, Narzissa – Sie heißen doch Narzissa, nicht wahr? Bisher schien mir das alles nebensächlich, bedeutungslos. Jetzt aber bedeutet es viel für mich. Ja, Narzissa. – Doch nach dem Tanzen werden wir besser darüber sprechen können. Kommen Sie schnell! Bedenken Sie doch, wenn irgend etwas dazwischen käme und wir einander nie wiedersehen würden!«

Ach ja – ganz verrückt! Wer aber war verrückt? Sie selbst mußte es wohl sein, denn sie hörte sich antworten: »Vorher muß ich doch noch mit meinen Freunden sprechen«. Ja, sie mußte wirklich plötzlich ganz verrückt geworden sein, denn anders war es gar nicht zu erklären, daß sie einige Augenblicke später mit ganz ungewohnten Lügen vor dem Colonel stand: »Es tut mir so leid, aber ich muß jetzt gehen. Eine Verabredung – ehe ich noch wußte, daß Sie heute abend hier sein würden. Aber morgen kommen Sie doch zu uns hinaus und bleiben einige Tage? Ich freue mich ja so, daß Sie hier sind.« Alles Worte, von denen sie nie geträumt hätte, sie dem Colonel gegenüber gebrauchen zu können! Und sie verließ ihn, ehe er sich noch so weit gefaßt hatte, um eine Antwort zu finden.

Schwerer war es mit Helene, die scheinbar alles beobachtet hatte und in die Halle kam, als die beiden schon angekleidet die Wohnung verlassen wollten.

»Ihr geht?« fragte sie mit übertriebenem Erstaunen.

»Ich wollte unbemerkt fortgehen, um dich nicht zu stören«, sagte Narzissa, »aber morgen früh hätte ich dich angeklingelt.«

»Ja – wirklich?« gab Helene zurück und Narzissa bemerkte, wie verstimmt sie war. Sie war eifersüchtig! Obwohl Narzissa schön war, hatte sie noch niemals Frauen eifersüchtig gemacht!

»Die Musik war sehr interessant«, meinte Erik. »Es war ein Vergnügen zuzuhören. Aber jetzt müssen wir uns beeilen und irgendwohin tanzen gehen.«

Narzissa war wütend. Hätte er das nicht bei sich behalten können?

»Ich warne dich, Narzissa«, rief Helene in ihrer burschikosen Art, aber ohne den einstigen liebevollen Unterton. »Wenn du jetzt davonläufst, um mit Erik zu tanzen, dann gib nur acht, daß – du nicht aus dem Takt kommst!«

»Oh, keine Sorge, ich bin ein guter Tänzer«, sagte Erik gelassen.

»Ja, gerade passend für ein Missionsmädel!«

»Wer ist ein Missionsmädel? Sind Sie das vielleicht?« fragte er Narzissa mit lustigem Spott. »Ich wußte ja, wir hätten eine Menge miteinander zu reden!« rief er dann, ohne seine Ungeduld über die unnötige Verzögerung ihres Aufbruchs zu verbergen.

»Um Gottes Willen!« spottete Helene, »jetzt will ich euch aber keine einzige eurer kostbaren Minuten mehr rauben!« Narzissa lächelte und hob begütigend ihre Hand. Doch Helene fragte, jetzt schon mit deutlicher Unfreundlichkeit: »Ja, was soll ich denn jetzt mit deinem Colonel anfangen?«

»Ach, Engländer wissen schon immer selbst, was sie mit sich anfangen sollen,« antwortete Erik, »also gute Nacht, Helene.«

Im Stiegenhaus fühlte Narzissa doch Reue. »Ich glaube, ich bin zu unhöflich gewesen. Helene war es unangenehm, daß wir weggingen.«

»Und meinen Sie vielleicht,« er lachte laut heraus, »Helene selbst wäre an Ihrer Stelle nicht weggelaufen, wenn sie Lust dazu gehabt hätte und – die Möglichkeit?«

Ja, die Möglichkeit! Heute abend war es Narzissa, die eine verärgerte Helene zurückließ und alle Möglichkeiten vor sich hatte! Eigentlich hätte sie Helene bedauern, auch ein wenig unruhig sein müssen, denn was würde Helene dem Colonel nicht alles erzählen? Doch weder Bedauern noch Unruhe kamen gegen ihre freudige Erregung auf.

 

VI

Was war es nur, das sie nicht vergessen durfte? Sie hatte sich doch fest vorgenommen … Ja. – »Ich muß den letzten Zug erreichen!« rief sie plötzlich.

»Den Zug? Wohin?«

»Nach Senlis. Wo ich wohne.« Wenn Evans bemerkte, daß sie nicht nach Hause kam und sich Sorgen machte!

»Dieser Tango ist viel zu schön, um ans Fortgehen zu denken!« Schon hatte er ihre Hände ergriffen, zog sie sanft in die Höhe und sie tanzten weiter.

»Aber, dann muß ich wirklich gehen!« sagte sie entschlossen.

Merkwürdig, wie rasch im Tanzen ihre Vertraulichkeit wuchs. Tanzen war immer ihre Leidenschaft gewesen, aber selten hatte sie dazu Gelegenheit gehabt. Und früher war es stets nur der Tanz selbst gewesen, den sie geliebt hatte; ihr Partner hatte bloß ein guter Tänzer sein müssen, alles andere war belanglos gewesen! Nur damals, das einzige Mal, als sie vor langer Zeit mit Tony getanzt hatte, war der Mann selbst die Ursache ihrer Erregung, ihres Glücks gewesen. Jetzt aber, während Eriks Arme sie hielten – nicht zu fest, nicht zu gleichgültig – war ihr ganzes Bewußtsein nur von dem Einen erfüllt: daß sie mit ihm tanzte! Ganz hingegeben jenem Fluidum, das sie schon in seinen Bann gezogen hatte, ehe sie ihm noch so nahe gewesen war, fügte sie sich willenlos seinem Rhythmus. So jung fühlte sie sich, ein wenig berauscht, wie losgelöst und doch in festerem Boden wurzelnd als zuvor.

Er goß ihr noch ein Glas Champagner ein.

»Aber,« unterbrach er ihren Protest, »er paßt doch so gut zu Ihrem Kleid. Und zu Ihren Augen.«

Sie saßen in einer Ecke, in zwei von jenen Fauteuils, in die man so wundervoll einsinkt. Er wandte ihr sein Gesicht zu und gleichzeitig hoben sie ihre Gläser. Er blickte ihr in die Augen und sie erwiderte – berauschende verwirrende Vertrautheit – seinen Blick, und das Leben, das aus seinen Augen sprühte, ließ sie selbst lebensfroh werden, wie sie es nie zuvor gewesen war. ›Jetzt bin ich eben glücklich!‹ sang etwas in ihr und erklärte damit die Veränderung, die sie fühlte.

»Kümmern Sie sich um keinen Zug,« sagte er, »ich werde Sie nach Hause bringen.«

»Aber es ist sehr weit.«

»Umso besser.«

»Hinter Chantilly.«

»Wir werden im Wald den Sonnenaufgang bewundern.«

»Aber … das geht doch nicht.« Narzissa wurde unsicher.

»Und dort frühstücken.«

»Aber wie wollen Sie mich denn nach Hause bringen?« fragte sie, bemüht, sich an praktischen Dingen einen Halt zu geben.

»Wie? In meinem Wagen. – Eigentlich gehört er meinem Bruder«, fügte er dann hinzu und beide lachten. Dann erzählte er ihr von diesem Bruder, der eine Schiffahrtslinie zwischen Norwegen und Frankreich betrieb. »Er hält mich für unpraktisch, aber er ist selber höchst unpraktisch. Er möchte nämlich lieber Forscher sein. Nun, warum tut er nichts dazu?«

»Wahrscheinlich hat er für eine Familie zu sorgen«, warf Narzissa ein.

»Das schon, aber sehen Sie mich an, ich bin doch auch Familienvater!«

»Familienvater!« Zu spät erkannte sie, daß sie ihre Bestürzung zu deutlich gezeigt hatte.

»Ich habe eine Dänin geheiratet. Man soll nie eine Dänin heiraten.«

»Und wo ist – diese Dänin?« fragte Narzissa, jetzt schon wieder im Konversationston.

»Ja, wo sollte wohl eine Dänin sein? Natürlich in Kopenhagen. Kennen Sie Kopenhagen?« Narzissa kannte Kopenhagen nicht. Aber sie mußte doch diesen letzten Zug erreichen – jetzt mußte sie ihn erst recht erreichen. »Ich plante einmal, eine Bewegung ins Leben zu rufen, um Kopenhagen von seiner Vernünftigkeit zu retten. Jetzt aber wäre mir ein Gesetz lieber, durch das alle Dänen gezwungen würden, in Kopenhagen zu bleiben – so nüchtern und so vernünftig wie sie wollen. – Ich bin hereingefallen,« erzählte er ihr, »ich begegnete einem schönen unbewegten Äußern und vermutete lodernde Gluten dahinter. Aber in Dänemark gibt es keine Gluten.«

»Sie sagten doch – Familienvater. Haben Sie Kinder?«

»Ein kleines Mädchen. Ich fürchte, es überlädt sich den Magen mit dänischen Süßigkeiten, aber ich kann nichts dagegen tun.«

»Besuchen Sie es manchmal?«

»Ich bin angeblich geschieden.«

»Ach so!« Aber da dieser Ausruf zu erleichtert geklungen hatte, fügte sie in kühlerem Tone hinzu: »Weiß man es denn nicht sicher, ob man geschieden ist oder nicht?«

»Nein, nicht unbedingt. Aber mein Bruder scheint der Ansicht zuzuneigen, daß ich geschieden bin, und er pflegt solche Dinge meist richtig zu beurteilen. – Doch warum soll ich an diese trübe Vergangenheit denken, während ich hier bei Ihnen sitze?« Wieder blickte er in ihre Augen, und wieder vermochte sie nicht gleich wegzusehen.

»Bitte, bitte, Narzissa,« drängte er, als sie nach einer Weile nochmals an ihren Zug erinnerte, »sind wir schon jemals allein zusammen gewesen?«

»Nein.« Narzissa lächelte. »Vor heute abend niemals.«

»Jeder von uns hat schon eine Reihe von Jahren hinter sich …«

»Ja, eine ganze Reihe …«

»… und wir waren einander fern. Und jetzt, hier, sind wir einander ganz nahe.« Es sah ihm ganz gleich, daß er ihr nicht näherrückte, während er dies sagte, sondern sich mit dem Gefühl begnügte, ihr wirklich ganz nahe zu sein. »Sagen Sie, Narzissa, mit diesem ältlichen Engländer, der neben Ihnen gesessen hat … mit dem sind Sie doch wohl nicht besonders befreundet?«

Der Colonel! Morgen wollte er sie besuchen. Oh, sie mußte nach Hause, noch ein wenig schlafen. Aber gerade dies wollte sie nicht tun, und so antwortete sie in einer Art verbissener Loyalität gegen den Colonel: »Sogar ganz besonders befreundet!«

»Wieso?« drängte er zu wissen, jetzt wirklich mehr drängend als fragend.

»Mein verstorbener Mann war lange Zeit krank und Colonel Fowler hat sich meiner in rührender Weise angenommen.«

»Na schön. Warum hätte er es auch nicht tun sollen? Und was ist dabei, wenn er es getan hat?«

Sie fühlte seine kühle Abwehrbereitschaft und wie alle seine Nerven sich angriffslustig spannten. Es war ihm nicht gleichgültig! Sein ganzes Wesen schien von dem Gedanken erfüllt, für etwas kämpfen zu können. Und da ihr diese Erkenntnis wie ein Rauschgift war, von dem sie nicht genug haben konnte, fuhr sie fort: »Ich glaube, ich werde ihn sogar heiraten.«

»Und ich glaube, daß Sie das nicht tun werden!« Wie Stahl war jetzt das Blau seiner Augen, ganz erfüllt von seinem beherrschenden Willen. Doch gleich darauf schien er erleichtert. »Warum diese Scherze? Das ist nicht schön von Ihnen.«

»Ich scherze durchaus nicht. Und ich glaube, daß ich den Colonel heiraten werde, weil es das Richtige für mich ist.«

»Ich begreife gar nicht, was Sie da reden. Er ist doch alt.«

»Nicht zu sehr.«

»Und Sie sind jung.«

Sie schüttelte ihren Kopf. »Nicht zu sehr.«

Er beugte sich zu ihr hin, er streckte seine Hand aus, doch ohne die ihre zu berühren:

»Hören Sie, Narzissa. Hören Sie mir zu, Liebste. Sie sind … Ach was, warum sollen wir noch länger in diesem stickigen Raum sitzen! Kommen Sie. Wir holen uns den Wagen. Wir werden durch den Wald fahren, es wird immer noch Nacht sein, Sterne werden durch die Bäume funkeln … und dann wird sich alles wandeln. Wir werden die Veränderung beobachten. Auch für uns wandeln sich alle Dinge. Wir werden über alles dies sprechen, während die Wandlung geschieht – Island – Colorado – die Jahre, in denen wir nichts voneinander wußten. Vielleicht erleben wir eine neue Wandlung. Und der Morgen wird anbrechen und wir werden zusammen in einem Bauernhaus Kaffee trinken …«

 

VII

Sie warf zwei Stücke Zucker in die Tasse und hielt das dritte Stück in der erhobenen Zange. Zwei Stücke nahm der Colonel immer, das wußte sie, aber manches Mal auch ein drittes.

»Noch eines?« fragte sie, den Zucker über seine Tasse haltend, und erinnerte sich dabei, wie oft sie in England mit der gleichen Bewegung die gleiche Frage gestellt hatte, meist in Berts Zimmer, manchmal auch, wenn Bert weniger wohl war, unten in der Bibliothek. Immer war Colonel Fowler dagewesen, mit seinem freundschaftlichen Rat, mit seiner beruhigenden Nähe. Das dritte Stück Zucker hatte stets ein wenig Ausschweifung, ein Verleugnen von Grundsätzen bedeutet. Wenn sie verzagt und erschöpft gewesen war, wenn er ihr Zuversicht hatte einflößen wollen, neues Vertrauen in die Zukunft, dann hatte er diesem dritten Stück Zucker wohl herzlich zugestimmt, als hätte er mit seinem ›Ja, bitte‹ sagen wollen: ›Nun, warum soll es nicht besser werden?‹

»Danke, nein«, lehnte der Colonel heute ihre Frage ab.

Ein gewisses Schuldbewußtsein hatte sie heute bewogen, ihn besonders herzlich zu empfangen. Hatte sie doch gefürchtet, er würde, durch ihr Benehmen am Abend zuvor beleidigt, gar nicht kommen. Auch Evans' wegen war sie besorgt gewesen, hatte sich geängstigt, er könnte erfahren, daß sie erst um sieben Uhr morgens nach Hause gekommen war. Was hätte der Junge von seiner Mutter denken müssen! Doch es war ja alles gut abgelaufen. Als er von seiner Tennispartie heimkehrte und ihr beim Mittagessen gegenübersaß, hatte er keine Ahnung, daß sie bis ein Uhr geschlafen hatte. Und jetzt war sie von herzlicher Liebenswürdigkeit zu dem Colonel und zu Evans, in einer dankbaren Stimmung, die auch nicht wenig durch das Bewußtsein gehoben wurde, daß sie heute mit frischen geröteten Wangen und funkelnden Augen besonders schön und jugendlich aussah. Sie nahm eine Zigarette und meinte dabei lächelnd: »Die erste heute morgen …«, doch sie verschwieg, wieviel es in der letzten Nacht gewesen waren, denn während der Fahrt durch den dunklen Wald hatten sie fast unausgesetzt geraucht. Hinter der leichten Wolke ihres eigenen Zigarettenrauches lächelte sie jetzt in der Erinnerung an diese nächtliche Fahrt immer noch. Erik hatte gesagt: »Aber in diesem einen Punkt kann ich mit Einstein nicht übereinstimmen …« und dann voller Eifer diesen einen Punkt auseinandergesetzt – die arme Narzissa verstand ja kein Wort von Einstein, geschweige denn von den verwickelten Meinungsverschiedenheiten, die Erik mit ihm hatte! Dann hatte es einen heftigen Stoß gegeben, sie waren gegen einen Baum angefahren! Glücklicherweise mit geringer Geschwindigkeit. Warum war das eigentlich so komisch gewesen, da es doch – zumindest im ersten Augenblick – geschienen hatte, als wäre der Wagen ernstlich beschädigt, und Erik auch sagte, sein Bruder würde darüber gar nicht sonderlich erfreut sein. Aber in dieser Nacht schien alles in seiner Art merkwürdig gesteigert, und was heiter war, wurde zum fröhlichsten Erlebnis. Worte, einfache altvertraute Worte hatten einen neuen wundersamen Klang – niemals vorher war die Sprache so ausdrucksvoll, so schön gewesen. In warmer Dankbarkeit dachte Narzissa jener Worte, die es ermöglicht hatten, von allem zu sprechen, was geklärt werden mußte: vom Leben eines kleinen Jungen in Island, von den Ereignissen der Schulzeit, seiner tiefen Erregung, als er zum erstenmal selbst etwas ergrübelt und gefühlt hatte, daß sich dadurch eine Lücke schloß, vielleicht sogar ein Fehler in Dingen korrigiert wurde, die man ihn gelehrt hatte, von Erregungen und Kämpfen an der Universität – er war in Cambridge relegiert worden, hatte Helenes Freund von der Sorbonne berichtet – Erik selbst erzählte ihr jetzt, daß er seine Stellung an der norwegischen Universität hatte aufgeben müssen, weil man ihm vorwarf, er bestünde auf seinen eigenen Theorien. »Es waren nicht bloß Theorien,« verteidigte er sich Narzissa gegenüber, »denn manche von ihnen habe ich einwandfrei bewiesen. Was kann es überhaupt Interessanteres und Wichtigeres geben, als eine Theorie!« Narzissa wußte gewiß nichts Interessanteres – außer vielleicht diese Unterhaltung im nächtlichen Wald, diese zunehmende Vertrautheit, die mit jedem Thema, das sie berührten, inniger wurde: Mathematik … Missionswesen … ja, jetzt drang Narzissa langsam zu dem Ziel vor, nach dem sie so lange Zeit grübelnd getastet hatte, jetzt, so fühlte sie, würde sie bald mitten im Erleben stehen, nicht, wie bisher, als eine Unwissende außerhalb. Sah Mutter Naomi wohl noch von irgendwo auf ihre Tochter, die jetzt aus dem dunklen Wald von Chantilly zu den funkelnden Sternen aufblickte, jetzt, da sie neben diesem wundersamen Mann aus Island saß, diesem Mann voll Leidenschaft, geladen mit Erregungen und voll – Schüchternheit; heftig, zärtlich – ja, und auch vereinsamt. –

»Und wie war denn die Musik gestern abend?« hörte sie Evans Stimme.

»Das war gar keine Musik«, erwiderte der Colonel.

»Mir hat sie gefallen«, widersprach Narzissa, aber lächelnd, nicht herausfordernd.

»Wie kann Ihnen etwas gefallen, was sinnlos ist?«

»Ich weiß nicht, vielleicht hat es doch einen Sinn – eine andere, neue Art von Sinn.«

»Es gibt keine zweierlei Arten von Sinn; entweder hat etwas Sinn oder es hat keinen.«

»Meinen Sie?« fragte Evans zögernd, nachdenklich, nicht überzeugt. Narzissa betrachtete ihn mit neuem verwundertem Interesse. Vielleicht würde er an Erik Gefallen finden.

»Ich bin schon begierig,« sprach Evans lachend, »ob es Unsinn oder Sinn sein wird, was wir in Amerika entdecken werden!«

»In Amerika?« fragte der Colonel und Narzissa konnte nicht antworten, denn auch in ihr weckte dieses Wort bestürzten Widerhall. Sie hatte ja ganz vergessen! Aber … aber das war ja unfaßbar! Hilflos sank sie zusammen. Die berauschende Schönheit dieses Tages, von dessen Vorläufern alle, außer der letzten Nacht ausgelöscht waren, hatte sie Amerika ganz vergessen lassen und an ihren alten Vater, den sie noch vor dem Sterben hatte sehen wollen!

»Oh, ich habe gemeint …« Evans bedauerte, davon gesprochen zu haben, »ich dachte, daß Mutter Ihnen davon erzählt hätte.«

»Ich wollte gerade davon sprechen«, sagte Narzissa.

»Sie reisen nach Amerika?« Die Stimme des Colonels schien sich dagegen zu wehren, die Worte zu glauben, die er sprach. Auch Narzissa fehlte jetzt die Überzeugung zu einer entschiedenen Bejahung, doch sie fühlte den fragenden Blick ihres Sohnes und nickte wortlos mit dem Kopf. »Jetzt?« fragte der Colonel weiter. »Jetzt gleich?«

Evans erwartete die Bestätigung seiner Mutter. Da Narzissa indes stumm blieb, sagte er selbst, jetzt auch unsicher geworden: »Sobald wir unsere Schiffsplätze haben; nicht wahr, Mutter?« Und wieder warteten sie beide auf Narzissas Antwort.

»Ja«, sagte sie ganz leise.

»Sie müssen nämlich wissen,« erklärte Evans dem Colonel, »daß mein Großvater, Mutters Vater, sehr alt und gebrechlich ist und uns noch einmal sehen will.«

Sie wußte, ohne hinzusehen, daß der Colonel sie beobachtete.

»Es tut mir sehr leid, daß Sie diesen Kummer haben«, sagte er schließlich, gütig wie immer, wenn es Sorgen zu verscheuchen galt. Da sie nichts darauf erwiderte, fuhr er fort: »Es ist eine lange, beschwerliche Reise«.

»Ja, allerdings«, stimmte sie zu.

»Und Sie meinen wirklich, daß Sie sofort reisen müssen?«

»Ich …«, sie zögerte, »ich fürchte, ja.«

»Mutters Onkel Willy hat geschrieben, daß wir es nicht länger aufschieben dürfen, wenn wir Großvater noch sehen wollen«, berichtete Evans in gedämpftem Ton, denn sie beide, er und der Colonel, meinten, Narzissas seltsames Verstummen durch ihre Sorge um den Vater erklären zu können.

Evans verließ kurz darauf das Zimmer und der Colonel wurde nun wieder ganz zum alten besorgten Freund, als hätte diese trübe Nachricht ihm wieder seinen festen Halt an ihrer Seite gegeben. Ja, er war wie befreit, vielleicht weil er jetzt glaubte, manches erklären zu können, was er vorher nicht verstanden hatte: war nicht auch ihr rätselhaftes Verhalten in der letzten Nacht nichts anderes als Nervosität, als Flucht vor den eigenen Sorgen und Gedanken gewesen?

»Sie dürfen sich davon nicht so niederdrücken lassen«, sprach er. »Wir müssen überlegen, wir werden einen Weg finden, um Ihnen all dies zu erleichtern.« Ja, ganz der Alte; ruhig, besonnen, tatkräftig, weil er fühlte, daß er gebraucht wurde. Verantwortungsvoller Führer. Und nur unter dieser Oberfläche zitterte seine Erregung, die Narzissa trotzdem erkannte. Sie wußte, was er im stillen erwog, sie kannte, noch ehe er mehr darüber sprach, den Weg, den er finden wollte, um ihr ›all dies zu erleichtern‹. Sie wußte, er würde sie drängen, gleich jetzt seine Frau zu werden, damit er das Recht hätte, sie als ihr Beschützer zu begleiten.

 

VIII

Sie hatte Erik gesagt, sie würde ihn wahrscheinlich zwei oder drei Tage nicht sehen können. »Zwei oder drei Tage!« hatte er ausgerufen, als wenn es sich um zwei oder drei Monate gehandelt hätte. »Jetzt, da wir einander eben erst gefunden haben?« – »Ja,« hatte sie erwidert, »jetzt, da wir einander eben erst gefunden haben.« Wie wunderbar, so als Tatsache davon zu sprechen, obwohl sie einander im gebräuchlichen Sinne des Wortes – etwa nach Helenes Auffassung – noch gar nicht ›gefunden‹ hatten. Auch daß sein erregtes Drängen nicht bloßer Wunsch des Mannes nach dem Besitz einer Frau war, die ihn reizte, war ein Teil jenes Wunders, das ihr begegnet war, und vielleicht der allerschönste davon, und der, der ihr die größte Befriedigung bot. Es war wirklich sie selbst, es war ihre Persönlichkeit, nach der er verlangte, mit der er zuerst vertraut werden wollte. Jedem Fremden hätte es sehr sonderbar scheinen müssen, wieviele ganz unpersönliche Dinge in ihrem nächtlichen Gespräch berührt worden waren, obwohl ihnen selbst keines dieser Dinge unpersönlich geschienen hatte, denn jedes trug dazu bei, die wundersame Vertraulichkeit zwischen ihnen zu vertiefen. Als sie schließlich bei dem Bauernhaus an der Waldgrenze gehalten hatten und die Bäuerin, die eben im Herd Feuer machte, sie anfangs befremdet, dann aber mit freundlicher Einsicht empfangen hatte, da hatte er gefragt, sobald sie allein in dem kleinen Zimmer saßen:

»Narzissa … warum heißen Sie Narzissa?«

»Narzissen an einem kleinen Bach … meine Mutter hatte sie einst so geliebt … und dort wurde sie selbst geliebt. Zur Erinnerung daran hat sie mir diesen Namen gegeben.« Und ganz ohne Scheu hatte sie ihm die Geschichte ihrer Mutter erzählt, von der sie niemals vorher geglaubt hatte, mit irgendeinem Menschen sprechen zu können. Wieviel Verständnis hatte er für all das Schöne in Naomis Liebe gezeigt! Wie schön war er selbst gewesen, während er ihr schweigsam gelauscht hatte! Wie ergriffen konnte er sein, wie ernst und zärtlich in seinem Mitfühlen. Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, denn sie spürte, daß ihre arme Mutter niemals, solange sie noch gelebt hatte, so richtig verstanden worden war, wie jetzt, um sechs Uhr morgens, in einer kleinen französischen Bauernstube, von diesem Mann aus Island, während die Kaffeetassen vor ihnen dampften und die Bäuerin, über ihrem Feuer nickend und kichernd, ihnen Eier kochte. »Ich war nicht gut zu ihr«, hatte Narzissa ihre Erzählung geschlossen. »Einmal werde ich Ihnen auch davon erzählen. Erst bis Sie mich besser kennen. Wenn ich es Ihnen schon jetzt sagte, würden Sie mich gar nicht mehr mögen.«

»Sie sollen mir nicht früher davon erzählen, Narzissa, ehe Sie es nicht richtig finden«, hatte er erwidert. »Aber es gibt nichts, was mich bewegen könnte, Sie nicht mehr zu mögen – Sie nicht zu lieben.«

»Zu lieben? Sie kennen mich doch kaum.«

»Ich liebe Sie«, war seine Antwort gewesen. Und gerade in diesem Augenblick hatte ihnen die Bauernfrau die Eier gebracht.

Auf dem weiteren Weg hatte er dann von seinen Forschungen, seinen Plänen gesprochen.

»Ich bin froh, daß man mich von der Universität fortgejagt hat, denn von selbst hätte ich diese Sklavenarbeit gewiß nicht früh genug aufgegeben, und ich muß doch nach – China.«

»China!« hatte sie aufgeschrien, ohne sich diesmal ihrer Bestürzung zu schämen.

»Ja, nach China, aber Sie begleiten mich.« Wie er dies gesagt hatte, als wenn es ganz außer Frage stände!

China? Es war ja heller Wahnsinn! Sie dachte bestimmt nicht daran, nach China zu gehen! Er wollte dort irgend etwas suchen, hatte er weiter erzählt, irgendein Geheimnis; nur aus dem Studium gewisser alter Manuskripte in China meinte er den Endpunkt einer Spur finden zu können, die er verfolgte. »Und wenn ich beweisen könnte, daß ich recht habe …!« Er hatte seinen bloßen Kopf zurückgeworfen, und wie jetzt die Strahlen der Morgensonne auf ihn fielen, hatte Narzissa gemeint, einen Gott vor sich zu sehen, einen Gott aus dem Norden, der nach dem Lande der Mittagsonne zog, um ein altes Geheimnis zu ergründen.

Dann, schon in Senlis, hatte er plötzlich mitten auf der Straße seinen Wagen abgebremst. »Eines müssen Sie mir versprechen oder ich rühre mich nicht von der Stelle!«

»Was muß ich versprechen?«

»Sie müssen mir versprechen, daß Sie diesem Colonel nicht zusagen werden, ihn zu heiraten.« Seine Augen hatten ihren Blick nicht freigegeben. Sie hätte sagen sollen: ›Mit welchem Recht können Sie das fordern?‹ doch sie hatte bloß gelacht.

»Ich verspreche Ihnen, daß ich ihm nichts zusagen werde, bevor ich Sie nicht wiedergesehen habe.«

Zuerst schien er nicht sicher, ob ein solches Versprechen auch ausreichend wäre, doch dann hatte sich der Ausdruck seiner Augen geändert, der Gedanke schien ihn zu beruhigen, daß sie selbst gar nicht mehr wünschen würde, dem Colonel irgend etwas zuzusagen, wenn sie nur erst ein zweites Mal mit ihm beisammen gewesen wäre. Ein sehr eingebildeter Mensch, dachte Narzissa ein wenig verletzt, eingebildet, trotz seiner oft überraschend bitteren Selbsterkenntnis. An ihrer Tür hatten sie dann Abschied genommen. Ein paar Sekunden hatten sich ihre Augen ineinander versenkt, dann hatten sie beide gelächelt – scheu, glücklich gelächelt, denn dieser Blick war wie ein Kuß gewesen.

 

Es schien ihr zu glücken, über diesen Abend hinwegzukommen, ohne daß der Colonel die Möglichkeit gefunden hätte, mit ihr allein zu sprechen. Doch dieser Erfolg befriedigte sie nicht, es war nicht recht von ihr gehandelt gegen einen so alten treuen Freund. Schlecht verhehlte er seine Enttäuschung, als er hörte, sie hätte Freunde, die Edwards, zum Bridge gebeten.

»Es macht Ihnen doch nichts?« fragte sie und hätte ihn, an seine durch lange Jahre erprobte Herzlichkeit denkend, gern ganz froh und zufrieden neben sich gesehen.

»Wie Sie wollen«, meinte er, sich beherrschend. »Vielleicht lenkt es Ihre Gedanken von allem ab, was Ihnen Sorge macht.«

»Ja,« dankbar ging sie darauf ein, »beim Bridge kann man alles vergessen, nicht wahr?«

Doch die Edwards gingen bald wieder und Evans war auch nicht zu Haus; so blieb sie doch noch mit dem Colonel allein.

»Wie wär's mit einem Schlaftrunk?« fragte sie, während sie den Whisky nach seinem Geschmack mischte. Wie gut sie seine Gewohnheiten, seine Wünsche kannte. Ja, das war nach seinem Geschmack, vor dem Kamin zu sitzen, seinen Whisky zu genießen, behaglich zu rauchen und ihr zuzusehen, wie auch sie an einem Likörglas nippte. So würden alle ihre Abende sein, das wäre die Zukunft – wenn es sich nicht in der letzten Nacht ereignet hätte, daß ihre Augen in die eines bestimmten Mannes geblickt hätten, eines sehr seltsamen und zweifellos verantwortungslosen Mannes. Und wenn nicht zwischen ihr und jenem Mann irgend etwas – was war es nur? – vorgegangen wäre, wodurch die ganze Welt verändert schien.

Noch hatte sie sich selbst nicht eingestanden, daß sie Colonel Fowler nicht heiraten würde. Noch war sie dieser Frage ausgewichen. Etwas war vorgegangen. Sie wußte nicht, was es gewesen war, sie wußte nicht, was daraus werden sollte. Die Zeit, darüber nachzudenken, war noch nicht da.

»Müde?« fragte der Colonel.

»Es wurde spät gestern nacht«, gab sie zu.

»Sie haben neue Freunde gewonnen?«

»Ja.«

»Daß Sie so allein in der Welt stehen, bereitet mir immer ein unbehagliches Gefühl«, begann er. »Sie sind zu …«

»Doch nicht vielleicht zu jung!« Narzissa lachte.

»Zu anziehend.«

O Gott – sie sollte ihn also heiraten, weil sie ›zu anziehend‹ war! Was für eine Begründung! Doch gleich schalt sie sich selbst wegen dieser heimlichen Kritik.

»Ja, wegen dieser Reise nach Amerika schlage ich …« Er unterbrach sich, da die Eingangstür ins Schloß fiel.

»Bist du's, Liebling?« rief Narzissa in den Vorraum und gleich darauf trat Evans ins Zimmer. Narzissa begann ein lebhaftes Gespräch und tat ihr möglichstes, um Evans zurückzuhalten, doch dieser fühlte, daß er ihre Unterhaltung mit dem Colonel gestört hatte, und sagte bald Gute Nacht. Sie verstanden einander eigentlich wundervoll, der Colonel und ihr Sohn. Sie konnte dem Ärmsten nachfühlen, wie sehr ihn diese Unterbrechung geärgert hatte, und doch hatte er den Jungen nichts davon merken lassen und sich herzlich wie immer mit ihm unterhalten. Evans verehrte den alten Freund seines Vaters und hatte ihn gern; es wäre notwendig für den Jungen, einen Mann im Hause zu haben; besonders in diesen Entwicklungsjahren, die jetzt kamen, würde er die Stütze eines Mannes brauchen. Durfte man alle diese Erwägungen wegen einer einzigen tollen Nacht einfach beiseite schieben? So fragte sich jene Narzissa, die seit Jahren gewohnt war, für sich und ihr Kind allein die Verantwortung zu tragen. Wegen einer tollen Nacht … War es Tollheit, die in eine Zukunft hinüberleitete? War es denn Tollheit? Es war das Leben! Jahre hindurch hatte sie so wenig davon gefühlt; andere Jahre würden folgen, in denen ihr nicht mehr beschieden wäre – ja, nichts in Wahrheit, wenn sie diesen vernünftigen Schritt täte, ihrem Jungen und sich selbst ein Heim zu schaffen. Aber mußte sie nicht auch weiter denken, an Jahre, die in einer viel ferneren Zukunft lagen, Jahre, die weit hinter der verwirrenden, betörenden Schönheit lagen, die das Leben verhieß …? Sie versuchte an diese Jahre des Alterns zu denken, während sie dem Mann gegenübersaß, der gewiß eine Entscheidung von ihr verlangen würde, wenn sie ihm nicht gleich Gute Nacht sagte, doch eine andere Stimme klang ihr im Ohr als die seine, eine Stimme, nach der sich jede Fiber ihres Herzens sehnte.

Wie sehr wünschte sie, zu Bett gehen, mit dem berauschenden Wunder ihrer Gefühle allein zu sein. Sie konnte den Colonel auf morgen vertrösten, ihm sagen, sie fühle sich müde und wolle die Aussprache vertagen. Das konnte sie tun, und er würde sich fügen. Doch diese Ausflucht schien ihr unwürdig. Durfte sie anders als vornehm gegen diesen Mann handeln, der sich stets so freundschaftlich und vornehm gegen sie benommen hatte? Sie mußte ihm Rede stehen. Doch was sollte daraus werden? Was konnte sie ihm sagen?

»Es ist schade, daß Sie jetzt nach Amerika reisen wollen. Aber wenn Ihr Vater es verlangt, dann müssen Sie es wohl tun. Es wäre später zu schmerzlich für Sie, wenn Sie ihn nicht mehr gesehen hätten.«

»Ja.«

»Der eigene Vater! Ich verlor den meinen mit zwanzig Jahren. Es ist doch das mindeste, was man für seinen Vater tun kann …«

Und du weißt gar nicht, sprach eine schmerzliche Stimme in ihr, wieviel mehr er mir war, als der eigene Vater!

In seiner Ecke, deren gedämpfte Beleuchtung die beginnenden Runzeln und Falten seiner Züge schonend verhüllte, lehnte sich der Colonel jetzt vor, und als fühlte er selbst, daß kein unbarmherzig grelles Licht sein Alter unterstrich, sprach er mit jugendlich eindringlicher Stimme:

»Lassen Sie mich mit Ihnen reisen.« Er stellte das Glas nieder, das er in der Hand gehalten hatte. »Ich liebe Sie seit langem, Narzissa. Sie wissen es.«

»Ja«, mußte sie zugeben. »Und Sie sind gut zu mir gewesen.«

»Ich will immer gut zu Ihnen sein dürfen. Ich will für Sie sorgen dürfen. Ich will zu Berts und Ihrem Jungen gut sein. Ich will nicht länger außerhalb stehen und kein Recht dazu haben. – Ich liebe Sie, Narzissa,« flüsterte er, »schon so lange sehne ich mich nach Ihnen!«

Sehnen – sehnen? Aber das bedeutete doch … und sie selbst sehnte sich … Was konnte sie tun, was konnte sie jetzt noch für ihn tun, jetzt, da alles in ihr sich nach einem anderen sehnte?

»Andrew,« sprach sie, »mein lieber Freund, Sie sind so gut zu mir. Aber – es ist etwas vorgefallen.«

»Vorgefallen? Was ist vorgefallen?«

»Etwas, das mich unsicher macht.«

»Aber Sie dürfen nicht unsicher sein«, entgegnete er ein wenig scharf. »Nicht jetzt. Sie haben Entscheidungen zu treffen.«

»Ja. Ich muß Entscheidungen treffen«, sagte Narzissa leise. Er forschte in ihren Zügen; sie fühlte Mitleid mit ihm, weil sie ihn so enttäuschen, so ins Dunkel zurückfallen lassen mußte. »Ich bedaure es ja so sehr«, sagte sie.

»Ich vermute, es sind die Sorgen um Ihren Vater, die Sie so irritieren. Lassen Sie mich Ihnen abnehmen, was möglich ist«, fuhr er fort und war wieder so ruhig wie immer, wenn er helfen konnte. »Wir werden zusammen reisen.«

»Es handelt sich nicht um meinen Vater.« Sie durfte ihn doch nicht in diesem Irrtum lassen. Ein Schweigen entstand.

»Etwas – Neues?« fragte er schließlich. Sie nickte. Er stand auf, räusperte sich einige Male, ging auf und ab, seine Haltung schien immer steifer zu werden. »Handelt es sich um diesen Mann, mit dem Sie gestern nacht fortgingen?«

Sie war bestürzt. Sie hatte nicht die Absicht gehabt, mit ihm über Erik zu sprechen. Sie hatte gehofft, er würde nichts wissen, obwohl es naheliegend gewesen war, daß Helene ihm alles berichtet hatte.

»Ja«, sagte sie ein wenig abweisend, obgleich ihr Unmut eigentlich Helene galt.

»So eine Art Taugenichts, wie ich höre.«

»Ein bezwingender, geistvoller Taugenichts«, verteidigte sie sich. Doch wie sie ihn so gebeugt beim Kamin stehen sah und ihn mit dem jugendlichen Erik verglich, verflog ihr Unmut, und ihr ganzes Mitgefühl wandte sich wieder dem alten Freund zu. »Ich bedaure es unendlich«, sprach sie mit sanfter Stimme. »Ich hatte nicht die Absicht, darüber mit Ihnen zu sprechen. Begreifen Sie doch, ich … ich habe ihn bis gestern nicht gekannt.« Sie lachte ein wenig nervös.

»Sie haben ihn bis gestern nicht gekannt?« wiederholte er langsam, jedes Wort betonend, als wollte er ihr Gelegenheit geben, diese unglaublich klingende Äußerung zu widerrufen.

»Nein«, sagte Narzissa, jetzt, da sie sich angegriffen fühlte, mit festerer Stimme.

»Das hätte ich nie für möglich gehalten.« Dies war alles, was er zu sagen vermochte, während er auf sie herabsah. »Sie schienen immer so – so klug.«

»Vielleicht zu klug, wenn Sie das klug nennen.«

»Hören Sie doch, Narzissa,« er rückte einen Stuhl ganz nahe zu ihr hin und ließ sich darauf nieder. »Sie haben ja den Kopf verloren. Es ist unfaßbar – Sie, Narzissa! Aber jetzt überlegen Sie einmal in aller Ruhe, was Sie selbst vor der gestrigen Nacht über so etwas gedacht hätten.«

»Ich habe mir wegen der gestrigen Nacht gar keine Vorwürfe zu machen«, wehrte sich Narzissa herausfordernd, wie ein kleines Mädchen, das man ausschilt.

»Davon bin ich überzeugt«, sagte er bestimmt. »Ich kenne Sie doch.« – ›Meinst du wirklich?‹ dachte Narzissa und preßte ihre Hände gegeneinander, denn sie wollte nichts mehr weiter sagen. – »Aber es gibt vieles zu erwägen, wenn man für den ganzen Rest seines Lebens Entscheidungen trifft.« – ›Wie wahr!‹ schrie etwas in ihr auf, aber sie dachte dabei an Erwägungen, die wohl nicht nach seinem Sinn waren.

»Es war eben eine – Entgleisung. Schön. Was liegt daran?« fuhr er tapfer fort. »Nach all diesen stillen Jahren … die weiteren Jahre werden ja anders sein. Aber jetzt kommen Sie doch zu sich! Gebrauchen Sie doch Ihren gesunden Menschenverstand! Ein kleiner Taumel – zählt der denn überhaupt mit, wenn man daran geht, über sein ganzes Leben zu bestimmen?« – ›Über sein ganzes Leben zu bestimmen!‹ Warum klang das, als würde man einen Toten aufbahren? – »Wir kennen einander doch schon seit – seit achtzehn Jahren, nicht wahr? Damals kamen Sie mit Bert nach Konstantinopel.« – Achtzehn Jahre und dann – eine Nacht! Doch was galt Zeit … Der Begriff von Zeit hatte sich geändert. Ihr war, als wäre sie und Erik in der letzten Nacht mit allen Zeiten verwachsen, die es je gegeben hatte, je geben konnte. Als hätte sich der Begriff Zeit gespalten, um sie beide in seine Unendlichkeit versinken zu lassen. – »Ich habe stets so viel Hochachtung vor Ihnen gefühlt, Narzissa. Vor Ihrer Würde, während all der langen – Beschwerlichkeiten.« Dann meinte er das eindrucksvollste Argument gefunden zu haben: »Was würde wohl Bert wünschen, daß Sie tun?«

»Das wissen Sie,« gab sie rasch zurück, »und darum hätten Sie dies nicht fragen dürfen.«

Mit einem schweigenden Neigen seines Kopfes nahm er die Zurechtweisung hin. Aber – würde Bert es auch wirklich wünschen? Würde er? Wenn er alles wüßte? Bert, der sie ins Leben hatte zurückfuhren wollen, der sich auf seinem Krankenlager über nichts so gegrämt hatte, als daß ihm dies nicht vergönnt gewesen war?

»Und wie denken Sie über Ihre Reise nach Amerika? Über diesen Besuch bei Ihrem Vater?«

Ja! Wie dachte sie …? Oh, es gab so vieles zu bedenken! Erschöpft sank sie in sich zusammen. Sie konnte nicht mehr! Sie begann zu weinen und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

»Ich weiß es nicht. Ich sage Ihnen doch, ich weiß es nicht … Ich kann nicht …«

Er ließ nicht von ihr ab. »Will er Sie heiraten?«

Sie hob ihren Kopf, obgleich sie wußte, daß ihr Gesicht durch zornige verzweifelte Tränen entstellt war. »Welches Recht haben Sie zu dieser Frage?«

»Das Recht desjenigen, der Sie beschützen will,« antwortete er mit erhobener Stimme. »Er ist doch schon verheiratet, nicht wahr?«

»Er glaubt, geschieden zu sein«, erwiderte Narzissa stockend.

»Glaubt, geschieden zu sein!« Er lachte zornig, geringschätzig. Und nach einem zweiten verächtlichen Auflachen fuhr er fort: »Gehen Sie jetzt schlafen, Narzissa. Sie sind übermüdet, Sie wissen nicht mehr, was Sie reden. Morgen werden Sie alles ganz anders beurteilen. – Morgen wollen wir dann unsere Reise besprechen«, schloß er mit einer ruhigen Stimme, als wäre ihr ganzes Gespräch nicht gewesen.

 

IX

Am nächsten Morgen sagte der Colonel, er hätte tagsüber in Paris zu tun, wolle aber abends wieder nach Senlis kommen und hier nächtigen. »Dann muß ich wohl nach England zurück,« meinte er, »wenigstens für einige Tage.« Er sagte nicht, daß er Vorbereitungen für die Hochzeit und seine Reise nach Amerika zu treffen hätte, und dadurch machte er es Narzissa unmöglich, ihm zu widersprechen. Im übrigen war sie eigentlich froh, nicht weiter an all diese Dinge rühren zu müssen, hatte sie doch wegen ihrer eigenen Fahrt nach Amerika noch keinen Entschluß fassen können. Sich vom Leben abwenden, wenn man es eben erst erkannt hatte? Sie versuchte, nicht weiter zu grübeln, überredete sich, daß sie nichts beschließen könne, ehe sie Erik nicht nochmals gesprochen hätte. Wenn es dem Colonel Spaß machte, in Paris nachzufragen, wann die Schiffe abgingen – sie hatte ihn nicht darum gebeten! Sie war kein Kind mehr und konnte sich ihre Angelegenheiten selbst ordnen. Doch auch Evans verlangte nach Entscheidungen.

»Mutter, sollten wir nicht schon beginnen, unsere Vorbereitungen zu treffen?«

»Unsere Vorbereitungen …?«

»Ja, wegen unserer Reise nach Amerika.«

»Ach, da werden nicht viel Vorbereitungen nötig sein.«

»Gibt es nicht noch allerlei einzukaufen?«

»Wir haben doch alles, was wir brauchen.«

»Aber für eine Seereise sind wir doch nicht ausgestattet. Ich habe immer gehört, daß Leute, ehe sie nach Amerika fahren, ganze Kisten und Koffer voll Ausrüstung kaufen«, er lachte und da sie nichts entgegnete, fügte er hinzu: »und voller Geschenke.«

»Geschenke?«

»Wir müssen doch dem Großvater und all den Verwandten drüben etwas mitbringen!«

Narzissa fand dies qualvoll, obgleich sie selbst bestimmt genau so gedacht und gesprochen hätte – wäre nicht diese eine Nacht mit Erik Helge gewesen.

»Wir werden alles besorgen, sobald der Colonel abgereist ist«, beruhigte sie Evans.

»Er würde uns sicher gerne helfen. – Und wie steht's mit den Pässen?«

»Bitte, Evans! Ich habe heute schrecklich viel zu tun, ich … ich weiß wirklich nicht, wo mir der Kopf steht.«

»Tut mir leid«, sagte er bloß trocken und ging hinaus.

Als sie ihn eine Weile später in seine Unterrichtsstunde gehen hörte – er lernte bei einem deutschen Professor, der seine Ferien in Senlis verbrachte, Latein und Griechisch – eilte sie ihm in die Halle nach.

»Hast du alle deine Hefte, Liebling? Und ist deine Aufgabe fertig geworden?« Es half ihr nichts, er blieb immer noch ein wenig gekränkt.

 

Ganz wie eine kleine Familie nahmen sie sich aus, als sie nach dem Abendessen in der Bibliothek saßen. Evans plagte sich mit einer schwierigen Stelle im Cäsar. »Laß mich mal sehen,« bot ihm der Colonel seine Hilfe an, »ich stehe mit dem alten Knaben immer noch auf recht gutem Fuß.« Er las die Stelle mit nicht wenig Stolz laut vor und versuchte, sie Evans verständlich zu machen. Evans stellte mancherlei Fragen über Cäsar. »War er wirklich so bedeutend?« Sehr bedeutend wäre er gewesen, bestätigte der Colonel. Sie sprachen über andere hervorragende Feldherren, über Napoleon. Evans war sehr angeregt. Sein Verhalten dem Colonel gegenüber war voller Verehrung, war mehr als Höflichkeit, mehr als Zuneigung. Ja, das war ein Mann, zu dem er emporsah, und ein Mann mit solchem Charakter mußte einem Jungen auch Bewunderung einflößen. Und darin lag die sicherste Gewähr für Ehrfurcht, Nachahmung – so dachte Narzissa.

Die Schulbücher ihres Jungen riefen ihr die Zeit ins Gedächtnis, da sie selbst noch in der Küche ihres Wohnhauses in Santa Clara gebüffelt hatte. Wie oft hatte sie gequält aufgestöhnt, und Vater und Mutter hatten sich dann solche Mühe gegeben, ihr zu helfen! Jene Zeiten waren für immer vorbei! Und derselbe Vater, der damals so liebevoll zu ihr gewesen war, wartete nun auf sie, wartete, daß sie komme, ehe es für ihn zu spät wäre. Die beiden Männer, die hier mit ihr im Zimmer saßen und sie liebten, der ganz junge und der ältere, zweifelten nicht daran, daß sie ihrem Vater und der alten Heimat die Treue halten würde. Zwei Männer saßen hier neben ihr, die zärtlich bemüht waren, ihr zu helfen. War ihr rechter Platz nicht hier, bei ihnen? War der richtige Weg nicht der, den beide ihr rieten? Was erwartete sie außerhalb dieses vorgezeichneten Weges?

Die Eintrittsglocke schellte. Marie kam mit der Meldung, es wäre ein Herr draußen, der Madame zu sprechen wünsche.

»Führen Sie ihn …« Doch ihr fiel ein, daß der Besucher keinen Namen genannt hatte. Konnte es möglich sein …? Sie erhob sich rasch und ging in ihr kleines Boudoir, wohin Marie den Gast geführt hatte. Er war es, Erik.

»Hätte ich nicht sollen …?« fragte er zerknirscht.

»Es ist gegen unsere Vereinbarung«, erwiderte sie, doch sie war viel zu selig, ihn zu sehen, als daß sie an Vorwürfe gedacht oder überlegt hätte, welche peinlichen Verwicklungen sein Auftauchen hier hervorrufen konnte.

»Ich weiß. Ich hatte es auch gar nicht beabsichtigt. Ich wollte nur in der Nähe Ihres Hauses umhergehen und an Sie denken. Ich muß unaufhörlich an Sie denken, Narzissa.« Er streckte ihr seine Hände entgegen und sie legte die ihren hinein. So standen sie eine Weile schweigend. »Und dann habe ich gemeint, daß – er vielleicht schon fort ist.« Er lächelte. »Ich habe gemeint, da nicht alles so ganz nach seinen Wünschen verläuft, wird er vielleicht eher fortgehen.«

»Nein. Mein Freund ist noch hier.«

»Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht, Narzissa, gefürchtet, daß man Sie quälen könnte.« Er forschte in ihren Zügen. »Und Sie sind gequält worden! Was gibt ihm das Recht, es Ihnen so schwer zu machen?«

Sie warf einen raschen Blick nach der halboffenen Türe. Er machte eine Bewegung, um sie zu schließen.

»Nein, nein. Ich kann ja nicht mit Ihnen hier bleiben. Nicht heute abend.«

»Ist es Ihren Freunden verboten, Sie zu besuchen?«

»Sicher nicht! Aber ich sagte Ihnen ja …«

»Ich weiß. Aber ich fühlte mich so allein ohne Sie. Der Gedanke, eine zweite qualvolle Nacht mitzumachen, ohne Sie gesehen zu haben, war mir unerträglich!«

Daß dies Wahrheit war – und was sie in seinen Augen las, was sie aus dem Beben seiner Hände fühlte, sagte ihr besser als seine Worte, daß es die volle Wahrheit war –, das erschien ihr wundervoller als alle Wunder, die sie bisher mit ihm erlebt hatte.

»Nehmen Sie mich mit hinein. Warum nicht? Was ist an mir auszusetzen?« Er lachte. »Es gibt einige sehr nette Leute, mit denen ich verkehre.«

Herausfordernder Trotz, der Wunsch, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, und vor allem jener, sich nicht so rasch wieder von ihm trennen zu müssen, verdrängten bei ihr alle Bedenken.

»Wir sitzen in der Bibliothek«, sagte sie, während sie ihm dahin voranging.

»Colonel Fowler – dies ist Herr Helge … Mein Sohn Evans.«

Nun saß Erik Helge mit ihnen in der Bibliothek. Colonel Fowler hatte ihn mit jener gewissen Nachlässigkeit begrüßt, durch die man zu verstehen gibt, daß man nicht die Absicht hat, unvermeidliche flüchtige Bekanntschaften länger als unbedingt nötig fortzusetzen. Erik hatte sich zu dem langen Tisch gesetzt, an dem Evans mit seinen Büchern beschäftigt war, und sprach gleich mit dem Jungen über seine Studien. Narzissa bemerkte, daß dieser ungewöhnlich aussehende Mann, der keine der üblichen Phrasen gebrauchte, mit denen Erwachsene Kinder in ein Gespräch zu ziehen versuchen, Evans fesselte. Dem Colonel gegenüber schien sich Erik etwa so zu fühlen, wie ein Volk nach siegreich beendeter Revolution gegenüber dem abgesetzten Monarchen; sein ganzes Wesen schien den Gedanken auszudrücken: »Oh, laßt ihm doch ruhig seine Überheblichkeit. Wenn sie ihm Spaß macht und da sie uns nicht weiter schaden kann …«

»Es ist ja zu dumm, daß man euch so einen blödsinnigen Stoff zu lesen gibt,« sprach Erik zu dem jungen Evans, »es gibt doch auch im Lateinischen andere, interessante Dinge.«

»Cäsar ist gewiß nicht uninteressant«, sagte darauf der Colonel und seine Augen hoben sich gerade ein wenig über die Spitzen seiner eigenen Schuhe und nicht hoch genug, um Erik zu erreichen.

»Das habe ich nie finden können.«

»Womit wohl nicht das geringste bewiesen ist.«

»Aber Sie finden ihn gewiß ebenso blödsinnig wie ich, nicht wahr, Evans?« Lächelnd wandte sich Erik wieder zu dem Jungen.

»Cäsar ist durchaus nicht blödsinnig«, wiederholte der Colonel mit Nachdruck. Ein Schweigen entstand.

»Ich habe schon ganz vergessen, ob er interessant oder blödsinnig ist,« warf Narzissa lachend ein, um die peinliche Stille zu unterbrechen.

»Aber hier,« Erik schlug ein griechisches Buch auf, »das ist eine Sprache! Vielleicht bin ich voreingenommen, weil es die Muttersprache von Anaxagoras war.«

»Bei dem bin ich noch nicht«, sagte Evans lachend. »Halten Sie vom Griechischen mehr als vom Lateinischen?«

»Griechisch ist die schönste Sprache, die es jemals auf der Welt gegeben hat!«

Der Colonel räusperte sich. »Die schönste Sprache der Welt ist Englisch«, bemerkte er ganz ruhig.

»Englisch ist nicht schlecht,« entgegnete Erik friedfertig, »für eine Mischsprache sicher gar nicht schlecht. Aber keine Sprache, die dem Norwegischen so viel entlehnt hat, könnte wirklich schlecht sein.«

»Sind Sie Norweger?« erkundigte sich Evans.

»Das,« bemerkte der Colonel, »scheint wohl außer Frage.«

»Herr Helge stammt aus Island«, klärte Narzissa ihren Sohn auf. Evans ließ sich vom Klima und vom Wintersport in Island erzählen. Der Colonel saß unbewegt, teilnahmslos dabei, er gab sich nicht einmal die Mühe, seine Augenlider zu heben. Nach einiger Zeit erst kam wieder etwas Bewegung in seinen Körper, er blickte in die Richtung, in der Erik saß, doch ohne diesen anzusehen.

»Ich glaube, Sie haben studiert?«

»O ja. Ich habe mich auf allen möglichen Universitäten herumgetrieben. In England, Deutschland – überall.«

Schwache Röte stieg in den leicht gesenkten Kopf des Colonels, als er jetzt weiter fragte:

»Sind Universitätsprofessor, wie man mir sagte?«

»Gewesen! Gewesen, aber hinausgeflogen!« Evans kicherte vergnügt über diese Antwort von Erik Helge. »Hinausgeflogen,« erklärte ihm Erik, »wegen ketzerischer Auslassungen über das zweite thermodynamische Gesetz. Ewig werde ich der Thermodynamik dafür dankbar sein, denn jetzt kann ich endlich meinen eigenen Arbeiten leben.« Er wandte sich an Narzissa: »An einer Universität ist es ja unmöglich, sich mit seinen eigenen Gedanken zu befassen!«

Der Colonel in seinem Lehnstuhl schlug die Beine übereinander und blickte von den dreien, die beim Tisch saßen, weg, in die entgegengesetzte Ecke des Zimmers. In dieser Stellung sprach er, als wäre es ihm plötzlich eingefallen und mit besonderer Betonung jedes Wortes:

»Ja, richtig, ich habe mich heute wegen Ihrer Schiffsplätze erkundigt.« Narzissa fühlte Eriks fragenden Blick und eine heiße Welle stieg ihr in die Wangen.

»Wann sollen wir reisen?« fragte Evans eifrig.

»Ein White-Star-Schiff geht am Zwölften ab, also von morgen in einer Woche. Bis dahin gibt es nur französische Dampfer.«

»Und Sie meinen, daß wir ein englisches Schiff nehmen sollen?« fragte Evans.

»Selbstverständlich.«

Narzissa ertrug es nicht länger, Eriks Blicken auszuweichen, und als sie den Ausdruck seiner Augen sah, machte sie eine Bewegung, als müßte sie beruhigend nach seiner Hand fassen; dann erinnerte sie sich, daß sie das nicht tun durfte.

»Schiffsplätze?« murmelte Erik Helge.

»Mutter und ich reisen nach Amerika«, klärte ihn Evans auf.

»Sie – reisen nach Amerika?« Erik sprach es ganz leise und der ungläubige schmerzliche Blick seiner Augen hing starr an Narzissas Mund.

»Ja – vielleicht …« war alles, was sie über die Lippen brachte.

»Mutters Vater ist sehr leidend«, erklärte Evans weiter. Erik lachte auf. Narzissa fühlte den erstaunten Blick, mit dem Evans ihn ansah. Der Colonel wandte sich ganz langsam herum, wie gefaßt auf irgendeine Ungeheuerlichkeit.

»Ihr Vater? Der ist doch ein alter Mann, nicht?« fragte Erik erregt.

»Natürlich«, murmelte Narzissa bestürzt.

»Als wir uns das letzte Mal sprachen, vorgestern nacht, sagten Sie nichts davon, daß Sie die Absicht hätten, nach Amerika zu reisen.« Narzissa wünschte, er hätte vor diesem Mann, der ihn bewußt verletzen wollte, nicht so sehr gezeigt, wie schwer ihn diese Nachricht traf. Doch offensichtlich war sein Schmerz so groß, daß er an nichts anderes denken konnte.

»Ich vergaß es zu erwähnen«, sagte Narzissa und sie versuchte, in ihrem Blick alles auszudrücken, was sie nicht aussprechen durfte; ihre Augen beschworen ihn: »Warte! Vertraue mir!« Doch er verstand sie nicht.

»Sie wußten, daß Sie auf dem Sprunge wären, nach Amerika zu reisen und – vergaßen es zu erwähnen?«

Colonel Fowler räusperte sich, wie zur Ankündigung dessen, was er dazu zu sagen hatte. Dann sprach er, zu Erik gewendet:

»Warum hätte Frau Narzissa davon sprechen sollen, wenn ihr offenbar lieber war, darüber zu schweigen?«

»Ich habe deshalb nichts davon erwähnt,« Narzissa sprach jetzt erregt, denn über diese letzte Äußerung des Colonels war sie empört und diese Empörung trieb sie dazu, sich zu Erik zu bekennen, »weil ich die ganze Reise vollkommen vergessen hatte, während ich mit Ihnen beisammen war.« Und sie blickte ihn voll an, um ihre Worte zu unterstreichen. Schweigen lastete über dem Raum. Evans stieß, in peinlicher Verlegenheit, leise pfeifend seinen Atem aus.

»Aber Sie reisen?« Eriks Stimme war sehr leise, nur für sie bestimmt.

»Ich weiß es nicht.« Auch sie sprach leise, verwirrt durch diese Vertraulichkeit. »Ich weiß es noch nicht«, wiederholte sie dann in gewohnterem Gesprächston. Erik wandte keinen Blick von ihr. Er gab sich gar keine Mühe, seine Überraschung zu verbergen.

»Aber … Mutter! Ich habe gemeint, es wäre alles beschlossen!«

»Natürlich wird deine Mutter reisen«, mischte sich der Colonel ins Gespräch. »Wie könnte sie sich weigern, zu ihrem Vater zu reisen, der im Sterben liegt und nach ihr verlangt! Aber ich denke, niemand hat das Recht, sie zu nötigen, diese Frage hier zu erörtern.«

»Weder war ich es,« sagte Narzissa, jetzt vor Entrüstung zitternd, »die begonnen hat, diese Frage hier zu erörtern, noch war es Herr Helge!« Erik erhob sich. »Oh, es tut mir leid, daß Sie schon gehen wollen,« Narzissa wandte sich an ihn, »es tut mir wirklich sehr leid.«

Er verabschiedete sich von Evans und knurrte einen kaum vernehmbaren Gruß in der Richtung des Colonels, den dieser mit übertriebener Höflichkeit erwiderte. Narzissa begleitete ihn in die Halle, hier legte sie ihre Hand auf seinen Arm und führte ihn so in ihr Boudoir.

»Das nächste Mal, wenn wir uns sehen, will ich Ihnen alles erklären!«

»Ich muß Sie heute noch sprechen!« Stürmisch hatte er ihren Arm ergriffen. »Unbedingt! Sagen Sie nicht nein. Narzissa, Sie dürfen nicht … all dies unausgesprochen lassen … die ganze Nacht … den ganzen morgigen Tag … bis morgen Abend … Zwischen Ihnen und mir, Narzissa, darf das nicht sein!«

»Aber ich kann doch heute abend nicht aus dem Hause.«

»Sie können. Wenn alles schläft, gehen Sie fort – ich erwarte Sie.«

»Erik – ich kann so etwas nicht tun!«

»So etwas – nicht? Und alles dies unausgesprochen zwischen uns lassen – ja? Hören Sie, Narzissa, hören Sie zu. Ich werde drüben warten, auf dem Weg zum Kriegerfriedhof. Sie haben nicht weit allein zu gehen. Dort werde ich bis zum Morgen warten, wenn es sein muß. Aber kommen Sie bald, Narzissa. Lassen Sie dies alles – zwischen uns – nicht zu lange unausgesprochen!« Er hielt ihre Arme, seine erregten Augen waren ihr ganz nahe. Sie fühlte den Sturm, der in ihm tobte – ja, er hatte recht, sie durfte ihn nicht zu lange warten lassen.

»Ich komme, sobald ich nur kann«, flüsterte sie.

 

X

Endlich waren die beiden in ihre Zimmer gegangen. Jetzt. Ganz leise. Sie schlüpfte durch die Hintertüre, schlich auf Zehenspitzen durch den Garten. Was für ein Unternehmen! »In meinem Alter!« Unwürdig! Wahnsinnig! Doch Erik wartete auf sie … Sie überquerte die Straße, ging den Bäumen zu, die auf den Wällen eine Allee bildeten. Dies mußte der Weg sein …

»Narzissa!« Seine Arme hielten sie umschlungen. »Du bist gekommen!« Er küßte sie. »Narzissa, das eine sag' mir, ich muß es jetzt wissen: Liebst du mich?«

»Ja, ich liebe dich.«

Sie schritten den Weg entlang, an vielen Gräbern vorbei, in denen Menschen lagen, für die es keine Liebe mehr gab, sie fanden eine Straße, die über den Strom führte, blieben auf der Brücke stehen, blickten auf das Wasser hinab und lauschten seinem Raunen.

»Es ist doch nicht möglich,« sprach er, nachdem eine Zeitlang nur das Wasser zu hören gewesen war, »daß du fort willst – jetzt!« Sie schmiegte sich eng an ihn. Nein, sich von ihm zu trennen, erschien auch ihr jetzt unmöglich.

»Aber – mein Vater! Er ist ja gar nicht wirklich mein Vater, er ist mir ja viel mehr …« Sie erzählte ihm jetzt alles übrige, was sie früher nicht ausgesprochen hatte. Auch von dem kleinen John, der vor seinen Augen niedergestampft worden war. »Meine Mutter hat den Vater nie geliebt. Ein schwerfälliger, wortkarger Mann war er, immer alt. Sie konnte ihn nicht lieben. Keine Liebe gab es in seinem Leben außer der wenigen, die ich ihm schenkte. Und niemals hat er es mich fühlen lassen! – Jetzt verläßt er mich, verläßt unsere Welt. Einmal will er mich noch sehen.« Stille Tränen rannen ihr über die Wangen, während sie durch das flache Land dem Walde zugingen.

»Ja, Liebste. Ich begreife. Es ist schwer für dich.« Zärtlich stützte er sie, als sie durch die stille Sternennacht schritten, in der ringsum alles schlief.

»Warum liebst du mich?« fragte sie.

»Warum? Weiß man denn jemals, warum?«

»Du kennst mich doch kaum.«

»Ich fühle dich. Fühle, wer du bist. Oh, ich kenne dich doch.«

»Doch du liebst mich, als ob ich ein Mädchen wäre. Ich bin achtunddreißig Jahre alt«, sagte Narzissa tapfer.

»Wirklich, Liebste? Niemand würde das erraten. Denn die Jugend hat dich noch nicht verlassen, wird dich noch lange nicht verlassen. Und doch glaube ich, daß es die Jahre sind, die ich in dir liebe. Du bist das brausende Leben selbst, in seltener Vollendung; Ich weiß, wie du mich lieben wirst, Narzissa, nach all den Jahren ohne Liebe; Ich bin ein böser Egoist! Ich denke vor allem an mich selbst! Doch auch an dich denke ich. Ich will dich glücklich machen, liebste, liebste Narzissa. Ich will dich von allem retten,« er lachte, »was nicht Leben heißt. Wie kannst du behaupten, daß ich dich nicht kenne?«

»Ich werde altern«, sagte Narzissa mit all ihrer Tapferkeit.

»Ja, und eben deswegen sind diese Jahre ein Geschenk Gottes. Was Gott uns anbietet, danach müssen wir greifen – oder es auf ewig verlieren!« Sie standen unter den mächtigen Bäumen und hielten einander bei den Händen.

»Du sprichst von Gott, Erik,« sagte Narzissa ernst, »aber glaubst du auch an Gott?«

»Ich habe wissenschaftlich nachgewiesen, daß es Gott nicht geben kann. Wenn man aber in die verwirrenden Dinge eindringt, die meine Arbeit sind, wenn man in dem Gestrüpp plötzlich eine Lichtung findet, die Ausblick auf die Erkenntnis bietet, und wenn man dann den Blick nach dem Dickicht zurückwendet, aus dem man so lange keinen Ausweg gesehen hat, dann fühlt man, daß dieses Finden vielleicht Gott ist. In solchen Augenblicken konnte wohl das Bewußtsein über mich kommen, daß andere, höhere Kräfte als meine eigenen in mir schafften, und darum bin ich bereit, solange ich keine bessere Hypothese des Schaffens gefunden habe, Gott anzuerkennen. – Hörst du das Flüstern der Bäume?«

»Die fürchten sich nicht, Gottes Lob zu singen«, murmelte Narzissa.

»Wie schön du bist, wenn du so nach oben blickst. Wie falsch wäre es, wie ungerecht, bloß zu sagen, daß du jung aussiehst. Jeder junge Mensch sieht jung aus, mühelos, und oft bedeutet dies gar nichts. Wie kann ein Mensch schön sein, der nicht schon vieles erlebt hat? Du aber hast schon viele Fragen an das Leben gestellt, nicht wahr, meine Narzissa? Weit drüben in Colorado, bei den Missionären im Osten, während der trüben Jahre in England – aus deiner Einsamkeit, deiner Leere hast du verwundert gefragt. Und gehofft. Und gewartet. Und so wärst du am Leben vorbeigegangen. Doch das sollst du nicht! Das darf nicht sein! Und wenn du dich mir schenkst und ich dich glücklich mache, wenn du jetzt mein wirst und durch mich glücklich, dann hat das Leben einen Sieg errungen. Frohlocken wird in dieser Nacht im Himmel sein wegen der einen Seele, die gerettet wurde! Und ich,« plötzlich änderte sich sein Ton, unvermittelt wie sein ganzes Wesen, und dankbar, demütig flüsterte er, seinen Kopf an ihre Schulter schmiegend: »ich werde endlich erfahren, was Liebe ist.«

»Du mußt doch geliebt worden sein, Erik«, sagte sie, zart seinen Kopf streichelnd. »Du gewiß.«

»Nicht genug. Nicht so, wie ich die Liebe meine. Vielleicht habe ich zu viel gefordert. Es gibt eine Liebe, die doch nicht das geringste Opfer bringt.« Seine Finger folgten den Konturen ihres Gesichtes, als wollte er jede Linie erforschen, als wollte er ihre Züge selbst nochmals nachbilden. »Narzissa«, flüsterte er zärtlich. »Narzissa nannte sie dich.«

»Doch was soll ich tun, Liebster?« fragte sie, immer noch ungläubig gegenüber dem Wunder ihres Glücks. »Es ist zu spät, um die Reise aufzugeben. Selbst mein Sohn fühlt, daß ich zu meinem Vater muß.«

Sie waren weitergegangen, tief in den Wald hinein. Wie früher blieben sie wieder stehen, um den Bäumen zu lauschen. Doch es war nicht eine Unterbrechung ihrer Wanderung, es war eine Sammlung, ein Aufhorchen, als hätten sie eine alte Botschaft, geheimnisvolle Weisungen zu empfangen.

»Ja, die Sache mit deinem Vater ist bitter. So bitter kann das Leben sein. Du weißt es. Tief in deinen Augen ruht diese Erfahrung. Wir aber müssen tapfer sein. Du bist es immer gewesen, immer auf dem rechten Wege, nicht wahr? Gibt es aber nicht noch einen – andern Mut?«

»Einen andern Mut?« flüsterte sie, von seinen Armen umschlossen, ganz an ihn gedrängt, wie Schutz suchend.

»Dein Vater ist ein alter Mann, Narzissa. Am Ende aller Dinge. Uns aber stehen noch Jahre bevor – nicht allzu viele. Das sind die Jahre der Liebe, und die Liebe wartet auf uns.« (Wann hatte sie solche Worte schon gehört? Das gleiche hatte jemand anderer zu ihr gesprochen!) »Jetzt ist unsere Zeit gekommen, oder wir müssen sterben, ohne gelebt zu haben! Gibt es ein Zaudern?« Er rief dies, wie von plötzlichem Ärger übermannt. »Ich liebe dich. Frage nicht wieder, warum. Weiß ich es denn, warum? Es ist wie Forschen, wie Finden. Gemeinsam werden wir alle Seligkeiten erschöpfen! Zögre nicht, Liebste, nach diesen Jahren zu greifen, die Gott uns schenkt! Durch Wahnsinn und Wunder werden wir taumeln, verwirrende Schönheit wird wie Frost schmerzen. Alles Erleben wird unser sein, Glück und Leid. Vielleicht werden wir schließlich barfuß durch China wandern! Heute aber, jetzt …«

»Nein, nein, Erik! Nicht jetzt!« Der Weckruf des lang verleugneten Lebens erschreckte sie und alle alten Widerstände standen gegen die Liebe auf, nach der sie sich sehnte.

»Jetzt …« wiederholte er und feierliche Leidenschaft klang aus seinen Worten, brausend wie das Wogen des Meeres. »Du und ich. Dann kann es nichts anderes mehr geben. Nein, Liebste, keine Tränen. Ich will gut zu dir sein! Narzissa, du Einzige, Geliebte!«

Tief im Wald, als wären sie allein auf der Welt, als wäre der Sinn ihres ganzen Lebens nur der gewesen, daß dies einmal geschehen sollte, unter dem Rauschen der mächtigen Bäume, unter den fernen Sternen erlebte Narzissa Evans die Liebe.

 

XI

Drei Tage lang hatte sie ihr Gespräch mit Evans immer wieder hinausgeschoben. Heute abend wollte sie es ihm sagen. Etwas davon hatte sie gleich am nächsten Morgen dem Colonel angedeutet: »Nein, ich fahre nicht mit Ihnen nach Paris. Die Pässe haben Zeit. Ich habe noch manches zu überlegen.« Er bedaure, so hatte er gesagt, und sich sehr überwinden müssen, um das zu sagen, wenn er unhöflich gegen jenen Mann gewesen wäre. Er gestand, daß er ihm unsympathisch sei; er fand ihn unverschämt. Da sie schweigsam geblieben war, hatte er gefragt:

»Sie sind böse?«

»Ja. Aber es ist ungerecht von mir«, hatte sie zugeben müssen. »Ich bin ärgerlich, verstimmt, vielleicht nicht gerade deswegen.« Dann hatte sie es ihm gesagt: »Ich kann Sie nicht lieben, ich liebe ihn.«

»Ich kann es nicht glauben«, hatte er leise, zögernd erwidert. »Sie lieben ihn? Sie kennen ihn doch kaum.«

»Ich liebe ihn.«

»Und Sie wollen nicht zu Ihrem Vater reisen?«

»Das werde ich allein entscheiden.«

»Ich bitte um Entschuldigung«, hatte er kühl entgegnet, aber so gebrochen, daß sie gequält gerufen hatte: »Es tut mir ja aufrichtig leid!« doch hinzugefügt, da er scheinbar immer noch hoffend wartete: »Aber ich kann es nicht ändern«.

So hatte sie sich von dem getrennt, der durch Jahre ihr zuverlässiger Freund gewesen war. Sie hatte ihm nachgeblickt, wie er müde davonging, immer noch stramm, doch in einer Haltung, der man die Anstrengung anmerkte. Mit ihm entschwanden die Jahre ruhiger Behaglichkeit, der unbestrittenen Ehrbarkeit, des gesicherten Heims. Sie wußte, daß sie all dies mit ihm verabschiedete.

»Morgen,« sprach sie zu Evans, als sie abends in der Bibliothek saßen, »werden wir in die Stadt fahren und deinen Paß besorgen.«

»Hast du schon deinen eigenen?«

»Nein.«

»Du meinst also, wir werden unsere Pässe besorgen.«

»Liebling,« sie neigte sich ein wenig zu ihm vor, »ich möchte dich bitten, daß du etwas für mich tust.«

»Ja, Mutter?« Er wartete, ihr Junge.

»Ich möchte, daß du allein reist.«

»Aber – Mutter!« Das war alles, was er zu sagen vermochte.

»Ich kann jetzt von hier nicht fort. Ich mag nicht.«

»Wirklich?« fragte er, ohne zu begreifen.

»Und du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn du nicht nach den Gründen fragen wolltest. Nicht wahr,« fuhr sie fort und streckte die Hände nach ihm aus, »es ist viel auf einmal, um was ich dich bitte?«

»Aber nein. Wie du willst«, erwiderte Evans. »Aber Großvater will doch dich sehen.«

»Ja, mich will er sehen.« Narzissas Augen füllten sich mit Tränen, wie immer jetzt, wenn sie an den alten Mann dachte, der sie erwartete. »Aber – ich werde nicht kommen. Ich kann nicht fort. Ich habe eingesehen, daß es nicht geht. Du sollst an meiner Statt reisen. Ich möchte, daß mein Sohn zu meinem Vater reist, den ich selbst nie wieder sehen werde.« Sie deckte die Hände über ihre Augen und begann still zu weinen.

»Aber Mutter,« murmelte Evans, »es scheint … wenn es dir so schwer wird … da solltest du doch lieber fahren.« Sie schüttelte den Kopf, faßte sich im Augenblick wieder und blickte ihn an.

»Dich zu sehen wird ihn entschädigen. Vielleicht wird es ihm sogar mehr bedeuten, als wenn er mich gesehen hätte.«

»Ich nehme an, daß er am liebsten uns beide gesehen hätte«, scherzte Evans. »Bleibst du – wegen des Colonels?«

»Nein.«

»Du wirst ihn nicht …«

»Nein.«

»Wirklich nicht, Mutter? Er schien diesmal ungeheuer nett.«

»Ja. In seiner Art.«

»Er war immer so gut zu uns.«

»Ja.«

»Aber Mutter,« er blickte sie unruhig an, »dann wirst du ja ganz allein sein!«

Sie wollte es ihm nicht sagen. Jetzt darüber sprechen, alles erklären – das konnte sie nicht. Es sollte das Wunder bleiben, das es war.

»Vielleicht kann ich dir bald alles erklären«, sagte sie. »Vielleicht wird es dir aber auch dann nicht klarer sein. Doch wenn du es auch nicht begreifst, ich bitte dich, das eine bitte ich dich, mein liebster Junge, um all der Jahre willen, die wir zusammen verlebt haben, um all dessen willen, was wir beide durchgemacht haben – bitte ich dich inständig, fälle kein voreiliges Urteil! Ehe du urteilst, sage dir das eine: wenn ich es auch jetzt nicht begreife, vielleicht werde ich es später verstehen, wenn ich älter bin.« Neue Tränen rannen über Narzissas Wangen. »Und dann, mein Liebling, wenn du selbst erst einmal nahe den Vierzig bist, dann denke nochmals darüber nach. Dann, wenn ich nicht mehr bei dir bin, denke darüber nach – das sollst du für mich tun! – Und vielleicht wirst auch du dann sagen … wie ich heute … zu meiner Mutter …« Ihr Kopf sank auf den Tisch nieder und verzweifeltes Schluchzen hinderte sie weiterzusprechen.

»Mutter!« flüsterte der Junge und ging um den Tisch herum zu ihr hin und legte linkisch seinen Arm um sie, denn er kargte mit seinen Gefühlsäußerungen. Ohne ihren Kopf zu heben, griff sie nach seiner Hand und hielt sie fest.

»Nun aber genug!« rief sie und sprang plötzlich auf. »Das soll jetzt vorbei sein.« Sie ging umher, trocknete ihre Augen, putzte ihre Nase, trat vor den Spiegel – »Oh, mein Gott!« rief sie entsetzt, nahm ihre kleine silberne Büchse zur Hand, puderte sich, tupfte mit dem roten Stift über ihre Lippen, ihre Wangen und zündete sich eine Zigarette an. »Es wird doch ein herrliches Abenteuer für dich sein, Evans, allein zu reisen.« Und sie begannen, Pläne zu machen, allerlei praktische Fragen zu erörtern. –

Anders aber wurde es, jetzt ein beängstigendes Abenteuer, als sie mit ihm auf dem Schiff in seiner Kabine stand. In wenigen Augenblicken sollte sie ans Ufer zurück und ihr Junge, ihr Baby, ging tausende Meilen von ihr fort. Noch niemals hatte sie sich von ihm getrennt, und jetzt sandte sie ihn in ein fremdes Land, von dem sie selbst kaum noch etwas wußte. Würde er jemals zu ihr zurückkehren? Was war sie nur im Begriffe zu tun, fragte sie sich erschreckt, und mußte doch äußerlich ruhig, fröhlich bleiben. Ihre Kräfte durften nicht versagen, sie durfte ihn nicht in Sorge fortfahren lassen.

»Ich bin überzeugt, daß du ganz gut zurechtkommen wirst.«

»Bestimmt, Mutter.«

Was ging in seinem Innern vor? Sie blickte ihn an, versuchte, es zu erraten. Um ihretwillen hatte er diese Fahrt auf sich genommen. Er gab sich den Anschein, gern zu reisen. Wenn er auch innerlich vor diesem Unternehmen zurückschreckte, er zeigte es nicht. Aber er zeigte ebensowenig seine wahren Gefühle. Würde sie jemals wieder wissen, was er in Wahrheit fühlte?

»Du wirst meinem Vater die innigsten Grüße bestellen.« Ihre Hand lag schon auf dem Türknopf, ihr Kinn zuckte.

»Ja. Und ich werde mir Mühe geben, daß er sich mit mir freut.«

»Er … er wird dir vielleicht nicht sehr – anziehend vorkommen. Er ist ja so alt. Und anders, als die Menschen, die du bisher gekannt hast. Wirst du trotzdem sehr lieb zu ihm sein, um meinetwillen, weil auch er – weit mehr als du begreifen kannst – weit mehr als ich dir sagen kann – immer so lieb zu mir gewesen ist?«

»Aber natürlich, Mutter«, beruhigte er sie.

Sie war im Zweifel gewesen, ob sie Evans alles sagen sollte. Hätte sie von ihrer Mutter mit ihm sprechen sollen, bevor er hinüber ging? Vielleicht würde es ihn gerührt haben, ihn veranlaßt haben, dem Großvater besonders herzlich entgegenzutreten, doch dann hatte sie sich erinnert, wie es sie selbst einst abgestoßen hatte, und wenn sie ihm jetzt bald etwas zu bekennen haben würde … Nein. Selbst Evans Vater, Bert, hatte sie nie etwas davon gesagt. Konnte sie gegen einen, der Joe hieß und nun schon so lange tot war, eine Verpflichtung haben, seinem Enkel zu enthüllen, daß er sein Enkel war? Nein. Evans sollte der Enkel ihres Vaters bleiben. Nichts anderes durfte die Gedanken des Jungen verwirren, wenn er jetzt dorthin kam, wo vor länger, langer Zeit Rätselhaftes geschehen war.

»Vergiß nicht, daß der graue Anzug für den Vater ist und der braune für Onkel Willi.«

»Nein, Mutter. Ich werde es auf der ganzen Reise unaufhörlich vor mich hinsagen«, erwiderte er scherzend, um ihr über den Abschied hinwegzuhelfen.

»Wie kann ich nur! Ich hätte dich doch nicht fahren …«

»Mutter!« unterbrach er sie, ein wenig ungeduldig. »Was ist denn los? Was ist denn mit mir los?« fuhr er übermütig fort. »Ich bin doch schon achtzehn Jahre alt! Kannst du mich hindern, über den Ozean zu schwimmen, wenn ich Lust dazu habe?«

»Ja, gewiß, Liebling«, murmelte sie dankbar. »Aber nicht wahr, du wirst recht vorsichtig sein?«

»Nein, o nein«, sagte er. »Ich habe mir fest vorgenommen, über Bord zu springen, sobald du nur erst das Schiff verlassen hast!« Sie lachten beide.

»Lebe wohl, Evans, mein Junge.«

»Auf Wiedersehen, Mutter.«

»Du siehst meiner Mutter ähnlich«, sagte sie, während sie seine Hände hielt. »Schreib' mir alles, was man dir von ihr erzählt.«

»Das will ich tun.« Er führte sie auf das Verdeck und bemühte sich, ein fröhliches Gespräch in Gang zu halten.

Nachdem er sie zum letztenmal umarmt, sie schon in das Boot gehoben hatte, das sie zurück ans Land bringen sollte, und beiseite getreten war, um andern Raum zu geben, erregte sie die Entrüstung aller Matrosen, indem sie wieder heraussprang und nochmals die Schiffstreppe hinauflief. Sie nahm Evans unter den Arm und führte ihn aus dem Gedränge.

»Wenn die Narzissen am Bach schon in Blüte stehen – sicher werden sie jetzt schon blühen – dann pflücke die schönsten von ihnen und lege sie meiner Mutter aufs Grab.«

»Ja, Mutter.«

»Aber sie müssen vom Bach sein, hart am Ufer müssen sie wachsen!«

»Ich verstehe, Mutter.«

»Und – denke auch an sie, Evans; an meine Mutter. Laß sie in deinem Geist auferstehen.«

»Ja, ja, Mutter. Aber jetzt rufen sie schon, du mußt gehen.«

Vom Ufer aus sah sie ihn, er stand ein wenig abseits. Sie drückte beide Hände an ihren Mund und streckte dann ihre Arme so weit sie vermochte ihrem Kinde nach, von dem sie jetzt für so lange Abschied nahm. Für so lange? Wie lange? Unsicher schritt sie davon.

Im nächsten Kaffeehaus sollte Erik auf sie warten. Wie zartfühlend war es von ihm gewesen, daß er ihr vorgeschlagen hatte, sie hier abzuholen. Er hatte es besser gewußt als sie selbst, wie nötig sie ihn haben würde. Wenn sie jetzt allein in dieser Stadt sein müßte, allein zurück nach Paris sollte – ja, es war rührend gut von Erik gewesen. Wenn er aber nicht da wäre, durch ein Mißverständnis, irgendeine Verzögerung … jetzt, da sie alle Brücken zur Welt abgebrochen hatte, wenn er jetzt nicht hier wäre …

Schon von weitem entdeckte sie ihn an einem Fenstertisch; er schrieb eifrig oder zeichnete er? Ganz vertieft war er in seine Arbeit, und sie stand da und beobachtete ihn, ein wenig enttäuscht, ein wenig ängstlich, daß er über seinen Gedanken ganz vergaß, nach ihr auszublicken. Hätte sie an seiner Stelle dort gesessen, sie wäre gewiß nicht imstande gewesen, die erwartungsvolle Unruhe ihres Blickes zu verbergen. Doch bei ihm mußte es ja anders sein. Er hing voll Leidenschaft an seinen Arbeiten. Oft noch würde es solche Augenblicke geben wie jetzt, und sie wollte gar nicht, daß es anders wäre! Gerade das liebte sie an ihm, sprach sie zu sich selbst, während sie jenseits der Straße stand und ihn beobachtete. Sie erinnerte sich an ihr Gespräch vor wenigen Tagen. Sie hatte Erik gefragt, ob er denn nicht mit ihr nach Amerika kommen könnte, und er hatte ihr erklärt, daß gerade die Arbeit der nächsten folgenden Wochen für ihn von entscheidender Bedeutung wäre. Wenn er ein Problem, mit dem er sich eben befaßte, rechtzeitig zu Ende bringen könnte, dann würde er von einer wissenschaftlichen Stiftung ein Stipendium erhalten, durch das die Reise nach China gedeckt wäre. Müßte er aber diese Arbeit jetzt unterbrechen, dann würde der Termin verstreichen und die Arbeit der letzten drei Jahre wäre vergeblich gewesen.

Dann blickte Erik doch auf, aber nicht nach der Richtung, in der sie, halb von andern verborgen, stand. Seine Augen spähten die Straße entlang, als fühlte er, sie müßte nun bald kommen. Seine Gedanken weilten jetzt bei ihr. Wie beglückend es war, wie reizvoll, zu wissen, daß er jetzt an keinen der vielen Menschen dachte, die vorbeigingen, nur an sie. Er trank einen Schluck Bier und wandte sich wieder seinen Papieren zu. Alle die Leute rings um ihn, die wußten nichts von ihm, wußten nicht, wer er war, was er fühlte. Sie aber wußte es. Zu ihr sprach er von sich selbst, er wollte, daß sie alles von ihm wüßte. Welche seltsame Vertraulichkeit lag darin, so quer über die Straße nach ihm hinzublicken, wo er unter Fremden saß, während sie selbst unter Fremden stand, und dabei zu wissen, daß sie im nächsten Augenblick vereint sein würden! Sie fühlte es auf eine ganz neue Art, wie sehr sie ihn liebte. Alle diese Leute ringsum, die ganze Welt mochte gegen ihn aufstehen – sie liebte ihn! Was hatte er damals voll Übertreibung gesagt? ›Vielleicht werden wir schließlich barfuß durch China wandern …‹ Ja, selbst wenn es dazu käme – sie wollte für ihn kämpfen, für ihn leiden, alles ertragen, was kommen mußte! Für alle Ewigkeit? Nein, kaum für die Ewigkeit, doch wenn es auch nur wenige Jahre wären, wenn es selbst nur ein einziges Jahr wäre – das würde sie gelebt haben, das reichte für alle Zeiten …

Während sie die Straße überquerte, brachte ihr dieser Gedanke die Erinnerung an ihre Mutter. ›Ja,‹ sprach sie vor sich hin, ›ja, Mutter, jetzt glaube ich dich zu begreifen!‹

Er blickte auf, sah sie und erhob sich mit liebendem Eifer. Und wäre es nur dieser Augenblick, dieses Aufleuchten seiner Augen zur Begrüßung, wäre nur dies allein gewesen und alles andere danach verlöscht und verweht – das Erlebnis dieses einen Augenblicks entschädigte für alles! Und dann hielt er ihre Hände, dann forschte er in ihren Zügen, um zu sehen, wie es um sie stand, um alles zu erfassen, was sie fühlte.

In stummer Andacht stand er vor dem, was er in ihren Augen las: tapfere Einsicht, durch die sie ihren Schmerz besiegte, stand er vor der Liebe, die ihm aus ihren Blicken entgegenleuchtete.

»Narzissa!«

»Ja, Erik.«

Was dies bedeutete? Sie waren beisammen.


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