Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dritter Teil

Ich versuchte also noch einmal, meine Hand um meine Liebe zu schließen. Aber was hatte ich ein ruhiges Glück nötig? Das Glück, das Marzeline mir gab und das Marzeline für mich vertrat, war wie eine Ruhe für den, der sich nicht ermüdet fühlt. – Aber da ich fühlte, sie war müde und sie hatte meine Liebe nötig, so hüllte ich sie darin ein und tat, als geschehe es, weil ich sie selber nötig hätte. Ich fühlte ihr Leiden unerträglich; um sie davon zu heilen, liebte ich sie.

Ah! leidenschaftliche Sorgen, zärtliche Nachtwachen! Wie andere ihren Glauben steigern, indem sie seine Übungen übertreiben, so entwickelte ich meine Liebe. – Und Marzeline, sage ich euch, gewann sofort wieder Freude an der Hoffnung. In ihr war noch so viel Jugend; in mir, glaubte sie, so viel Versprechen. – Wir flohen aus Paris wie zu neuer Hochzeit. Aber gleich am ersten Tage der Reise begann es ihr viel schlechter zu gehen; schon in Neufchâtel mußten wir Halt machen.

Wie lieb gewann ich diesen See mit den meergrünen Ufern! ohne alles Alpestre – und seine Wasser mischen sich, denen eines Sumpfes gleich, weithin dem Lande und sickern zwischen Schilfrohr durch. Ich konnte für Marzeline in einem recht behaglichen Hotel ein Zimmer mit Aussicht auf den See bekommen; ich verließ sie den ganzen Tag lang nicht.

Es ging ihr so wenig gut, daß ich schon am folgenden Tage einen Doktor aus Lausanne kommen ließ. Er suchte voll Unruhe, ziemlich unnützerweise, zu erfahren, ob ich in der Familie meiner Frau schon andere Fälle von Schwindsucht kenne. Ich antwortete: ja; und doch kannte ich keine; aber ich mochte nicht sagen, daß ich mit ihr selber schon fast aufgegeben gewesen war, und daß Marzeline, ehe sie mich gepflegt hatte, nie krank gewesen war. Und ich schob alles auf die Arterienverstopfung, obgleich der Arzt darin nur einen zufälligen Anlaß sehen wollte und mir versicherte, das Übel datiere von früher. Er riet uns lebhaft zur freien Luft der Hochalpen, wo Marzeline, behauptete er, gesund werden würde; und da mein Wunsch gerade war, den ganzen Winter im Engadin zu verbringen, so brachen wir wieder auf, sowie Marzeline sich nur wohl genug befand, um die Reise auszuhalten.

Ich erinnere mich jeder Empfindung unterwegs wie eines Ereignisses. Das Wetter war klar und kalt; wir hatten die wärmsten Pelze mitgenommen … In Chur hinderte uns der unaufhörliche Lärm im Hotel fast völlig am Schlafen. Ich hätte mich schon gern in eine schlaflose Nacht gefügt, von der ich mich nicht müde gefühlt hätte; aber Marzeline … Und ich ärgerte mich nicht so sehr über diesen Lärm wie darüber, daß sie nicht trotz des Lärms Schlaf zu finden verstanden hatte. Sie hatte ihn so sehr nötig! – Am Tage darauf fuhren wir schon vor der Morgenröte fort; wir hätten die Coupéplätze in der Churer Post belegt; gut organisierter Pferdewechsel gestattet, St. Moritz in einem Tage zu erreichen.

Tiefenkasten, der Julier, Samaden … ich weiß noch alles, Stunde für Stunde; ich erinnere mich des sehr neuen Charakters und der Rauheit der Luft; des Glockentons der Pferde; meines Hungers; des Halts am Mittag vor dem Gasthof; des rohen Eis, das ich mir in die Suppe schlug; des Schwarzbrots und der Kälte des sauren Weins. – Diese groben Gerichte sagten Marzeline schlecht zu; sie konnte fast nichts essen als ein paar Biskuits, die ich zum Glück für unterwegs mitzunehmen vorsichtig genug gewesen war. – Ich sehe noch die Neige des Tages, das rasche Steigen des Schattens gegen die Waldhänge; dann noch ein Halt. Die Luft wird immer lebhafter und schärfer. Wenn die Post anhält, taucht man bis ans Herz in die Nacht und in das klare Schweigen; klar … es gibt kein anderes Wort. Das geringste Geräusch tritt über dieser seltsamen Durchsichtigkeit in den Zustand seiner Vollendung und nimmt seine ganze Klangfülle an. Man fährt weiter in die Nacht hinein. Marzeline hustet. O! wird sie nicht aufhören zu husten? Ich denke wieder an die Post von Susa. Mir scheint, ich hustete besser: Sie macht zuviel Anstrengungen … Wie schwach sie erscheint, und wie verändert; so, im Schatten, erkenne ich sie kaum. Wie lang ihre Züge gezogen sind! Hat man die beiden schwarzen Löcher ihrer Nase immer so gesehen? – O! sie hustet scheußlich. Es ist das klarste Resultat ihrer Pflege. Mir graut vor der Sympathie; dahinein verbirgt sich jede Ansteckung; man sollte nur mit den Starken sympathisieren. – O! wahrhaftig, sie kann nicht mehr! Werden wir noch nicht bald da sein? … Was macht sie? … Sie nimmt ihr Taschentuch, führt es sich an die Lippen, wendet sich ab … Grauen! will auch sie Blut spucken? – Ich reiße ihr das Taschentuch brutal aus den Händen. Im Halblicht der Laterne sehe ich es an … Nichts. Aber ich habe meine Angst zu sehr gezeigt; Marzeline zwingt sich traurig zu lächeln und murmelt:

»Nein, noch nicht.«

Endlich sind wir da. Es ist auch Zeit; sie hält sich kaum noch. Die Zimmer, die man uns zurechtgemacht hat, genügen mir nicht; wir bringen die Nacht darin zu, dann wollen wir morgen wechseln. Nichts erscheint mir schön genug, nichts zu teuer. Und da die Wintersaison noch nicht begonnen hat, ist das ungeheure Hotel fast leer; ich kann wählen. Ich nehme zwei geräumige, helle und einfach möblierte Zimmer, an die ein großer Salon stößt, der mit einem breiten bow-window abschließt, von wo aus man den häßlichen blauen See und ich weiß nicht welchen brutalen Berg sehen kann, dessen Hänge entweder zu bewaldet oder zu kahl sind. Dort soll man uns unsere Mahlzeiten servieren. Die Wohnung ist unverhältnismäßig teuer, aber was tut mir das! Ich habe freilich mein Kolleg nicht mehr, aber ich lasse die Morinière verkaufen. Und dann werden wir schon sehen … Wozu brauche ich übrigens Geld? Wozu brauche ich all das? … Ich bin jetzt stark geworden … Ich glaube, ein vollständiger Vermögenswechsel muß ebensosehr erziehen wie ein vollständiger Gesundheitswechsel … Marzeline, die hat Luxus nötig; sie ist schwach … ah! für sie will ich so viel ausgeben und so lange … Und mir graute vor diesem Luxus zugleich, während ich Geschmack an ihm fand. Ich wusch, ich badete meine Sinnlichkeit darin und wünschte dann, daß sie schweifend würde.

Unterdessen ging es Marzeline besser, und meine beständige Pflege triumphierte. Da es ihr schwer wurde, zu essen, bestellte ich, um ihren Appetit zu reizen, delikate, verlockende Gerichte; wir tranken die besten Weine. Ich überredete mich, sie finde großen Geschmack daran, solchen Spaß machten mir diese fremden Gewächse, die wir Tag für Tag probierten. Wir hatten herbe Rheinweine; fast sirupdicke Tokayer, die mich mit ihrer berauschenden Kraft erfüllten. Ich erinnere mich eines bizarren Barba-grisca, von dem nur noch eine Flasche da war, so daß ich nicht erfahren konnte, ob der ungereimte Geschmack sich auch in den anderen gefunden hätte.

Tag für Tag fuhren wir im Wagen aus; dann im Schlitten, als der Schnee gefallen war, eingehüllt bis an den Hals in Pelze. Ich kam mit brennendem Gesicht nach Hause, voll Appetit, und dann voll Schlummer. – Doch verzichtete ich nicht auf alle Arbeit und fand jeden Tag mehr als eine Stunde, um über das nachzudenken, was ich, wie ich fühlte, sagen mußte. Von der Geschichte war keine Rede mehr; seit langem schon interessierten mich meine Geschichtsstudien nur noch als ein Mittel zu psychologischer Forschung. Ich habe schon gesagt, wie ich mich hatte von neuem für die Vergangenheit interessieren können, als ich dunkle Parallelen in ihr zu finden glaubte; ich hatte es gewagt, indem ich die Toten bedrängte, von ihnen einen geheimen Wink über das Leben zu fordern … Jetzt hätte der junge Athalarich selber, um zu mir zu reden, aus seinem Grabe steigen können; ich hörte nicht mehr auf die Vergangenheit. – Und wie hätte eine alte Antwort meiner neuen Frage genügen sollen: – Was kann der Mensch noch? Das zu erfahren, darauf kam es mir an. Was der Mensch bis hierher gesagt hat, ist das alles, was er sagen konnte? Hat er nichts von sich übersehen? Bleibt ihm nur noch zu wiederholen? … Und von Tag zu Tag wuchs, in mir das wirre Gefühl von unberührten Reichtümern, die von Kulturen, Sitten, Moralen verdeckt, versteckt, erstickt waren.

Da schien es mir, ich sei für eine unbekannte Art von Funden geboren; und ich ereiferte mich seltsam auf meiner Suche in der Finsternis, für die, wie ich weiß, der Sucher Kultur, Sitte und Moral abschwören und von sich stoßen mußte.

Ich kam so weit, daß ich in anderen nur noch die wildesten Kundgebungen genoß, daß ich beklagte, daß irgendein Zwang sie unterdrückte. Um ein Geringes hätte ich in der Ehrlichkeit nur noch Einschränkungen, Konventionen oder Furcht gesehen. Es hätte mir gefallen, sie als eine seltene Schwierigkeit zu hegen; unsere Sitten hatten die gegenseitige und banale Form eines Kontrakts daraus gemacht. In der Schweiz bildet sie einen Teil des Komforts. Ich begriff, daß Marzeline sie nötig hatte; aber ich verbarg ihr trotzdem den neuen Gang meiner Gedanken nicht. Schon in Neuchâtel hatte sie diese Ehrlichkeit gelobt, die da unten aus den Mauern und Gesichtern schwitzt:

»Meine genügt mir reichlich,« antwortete ich; »mir graut vor den ehrlichen Leuten. Wenn ich von ihnen nichts zu fürchten habe, so habe ich auch nichts von ihnen zu lernen. Und übrigens haben sie nichts zu sagen … Das ehrliche Schweizervolk! Die Gesundheit bringt ihm nichts ein … ohne Verbrechen, ohne Geschichte, ohne Literatur, ohne Künste … ein kräftiger Rosenstock, ohne Dornen und Blüten …«

Und daß dieses ehrliche Land mich langweilen würde, hatte ich vorausgewußt, aber nach zwei Monaten wurde diese Langeweile zu einer Art Wut, und ich dachte an nichts mehr als an Aufbruch.

Es war Mitte Januar. Marzeline ging es besser, viel besser; das beständige leichte Fieber, das sie langsam untergrub, war erloschen; ein frischeres Blut färbte ihre Wangen wieder; sie ging wieder gern, wenn auch wenig; war nicht mehr wie vorher fortwährend müde. Es wurde mir nicht sehr schwer, sie zu überreden, die gute Wirkung dieser kräftigenden Luft sei erlangt, nichts werde ihr jetzt besser tun, als nach Italien hinunterzugehen, wo die laue Kraft des Frühlings sie vollends gesund machen werde – und vor allem wurde es mir nicht schwer, mich selber davon zu überzeugen, so müde war ich dieser Höhen.

Und doch bedrängen mich jetzt, wo die verabscheute Vergangenheit in meiner Untätigkeit neue Kraft annimmt, diese Erinnerungen unter all den anderen. Schnelle Fahrten im Schlitten; freudiges Peitschen trockener Luft, Spritzen des Schnees; Appetit; – ungewisser Marsch im Nebel, wunderliche Klangfülle der Stimmen, plötzliches Erscheinen der Dinge; – Lektüre im gut gewärmten Salon, Landschaft durch das Fenster, Eislandschaft; – tragische Erwartung des Schnees; – Verschwinden der äußeren Welt, wollüstiges Sich-Schmiegen der Gedanken … O, noch mit ihr Schlittschuhlaufen, da unten, allein, auf diesem kleinen, klaren, von Lärchen umgebenen, verlorenen See; dann mit ihr nach Hause kommen, am Abend …

Dieser Abstieg nach Italien hinein hatte für mich allen Schwindel eines Sturzes. Es war schön. Im Maße, wie wir in die lauere und dichtere Luft versanken, wichen die starren Bäume der Höhen, die Lärchen und gleichmäßigen Tannen, einer reichen Vegetation von weicher Anmut und Ungezwungenheit. Mir war, als vertauschte ich die Abstraktion mit dem Leben, und obwohl wir im Winter waren, meinte ich überall Düfte zu riechen. Ah! seit zu lange hatten wir nur noch im Schatten gelacht! Meine Entbehrung berauschte mich, und ich war trunken vom Durst, wie andere es vom Weine sind. Die Mäßigung meines Lebens war wundervoll; auf der Schwelle dieser toleranten und versprecherischen Erde brachen alle meine Begierden aus. Eine ungeheure Reserve an Liebe schwellte mich; bisweilen strömte sie mir vom Grunde des Fleisches zum Kopf und machte meine Gedanken schamlos.

Diese Illusion des Frühlings dauerte nicht lange. Der plötzliche Höhenwechsel hatte mich einen Moment täuschen können, aber sobald wir die geschützten Ufer der Seen, Bellagio, Como verlassen hatten, wo wir uns ein paar Tage aufhielten, fanden wir den Winter und den Regen. Die Kälte, die wir im Engadin gut ausgehalten hatten, begann jetzt, nicht mehr trocken und leicht wie auf den Höhen, sondern feucht und trüb, uns Leiden zu machen. Marzeline begann wieder zu husten. Da gingen wir, um die Kälte zu fliehen, weiter nach Süden hinab: wir vertauschten Mailand mit Florenz, Florenz mit Rom, Rom mit Neapel, das unter dem Winter regen wohl die düsterste Stadt ist, die ich kenne. Ich schleppte an einer namenlosen Langeweile. Wir gingen nach Rom zurück und suchten in Ermangelung der Wärme einen Anschein von Komfort. Auf dem Monte Pincio mieteten wir eine zu weiträumige, aber wundervoll gelegene Wohnung. Schon in Florenz hatten wir, mit den Hotels unzufrieden, auf drei Monate eine entzückende Villa des Viale dei Colli gemietet. Ein anderer hätte ewig dort wohnen wollen … Wir blieben keine zwanzig Tage darin. Bei jeder neuen Etappe jedoch sorgte ich dafür, alles einzurichten, als sollten wir nie wieder fort. Mich trieb ein stärkerer Dämon … Nehmt hinzu, daß wir nicht weniger als acht große Koffer hatten. Einer davon war voller Bücher, und während der ganzen Reise habe ich ihn nicht ein einziges Mal geöffnet.

Ich ließ nicht zu, daß Marzeline sich mit unseren Ausgaben befaßte, noch versuchte, sie zu mäßigen. Daß sie übertrieben waren, das wußte ich sicherlich, ebenso wie, daß sie nicht dauern konnten. Ich rechnete nicht mehr auf das Geld der Morinière; sie brachte nichts mehr ein, und Bocage schrieb, er finde keinen Käufer. Aber jeder Gedanke an die Zukunft trug nur dazu bei, daß ich noch mehr ausgab. Ah! wozu sollte ich, einmal allein, so viel brauchen! … dachte ich, und ich beobachtete voller Angst und Erwartung, wie, schneller noch als mein Vermögen, Marzelinens gebrechliches Leben abnahm.

Obgleich sie sich in allen Besorgungen auf mich verließ, ermatteten sie diese übereilten Ortswechsel doch; aber noch mehr ermattete sie, jetzt wage ich es mir wohl zu gestehen, die Furcht vor meinen Gedanken.

»Ich sehe wohl,« sagte sie eines Tages zu mir – »ich verstehe deine Lehre wohl – denn mittlerweile ist es eine Lehre. Sie ist vielleicht schön« – und dann fügte sie leiser, traurig hinzu: »aber sie unterdrückt die Schwachen.«

»Das tut not,« antwortete ich sofort unwillkürlich.

Da war mir, als fühlte ich dieses zarte Wesen sich unter dem Schreck über mein brutales Wort in sich zurückfalten und frösteln … Ah! vielleicht werdet ihr meinen, ich liebte Marzeline nicht. Ich schwöre, ich liebte sie leidenschaftlich. Nie war sie so schön gewesen und nie mir so schön erschienen. Die Krankheit hatte ihre Züge feiner gemacht und gleichsam verklärt. Ich verließ sie fast nicht mehr, umgab sie mit beständiger Sorge, beschützte, bewachte jeden Augenblick so ihrer Tage wie ihrer Nächte. Wenn ich sie bisweilen eine Stunde allein ließ und auf der Campagna oder in den Straßen spazieren gehen wollte, da riefen mich, ich weiß nicht welche Sorge der Liebe und die Furcht vor ihrer Langeweile schnell zu ihr zurück; und bisweilen rief ich meinen Willen auf, protestierte gegen diese Aneignung, sagte mir: bist du nicht mehr wert, falscher großer Mann! – und zwang mich, meine Abwesenheit in die Länge zu ziehen; – aber dann kam ich nach Haus, die Arme mit Blumen beladen, frühzeitigen Gartenblumen oder Treibhausblumen … Ja, sage ich euch; ich liebte sie zärtlich. Aber wie dies ausdrücken … in dem Maße, wie ich mich weniger achtete, verehrte ich sie mehr; – und wer will sagen, wieviel Leidenschaften und wieviel feindliche Gedanken im Menschen beisammen wohnen können? …

Seit langem schon hatte das schlechte Wetter aufgehört; die Jahreszeit rückte vor; und plötzlich begannen die Mandeln zu blühen. – Es war am ersten März. Ich stieg morgens auf den Spanischen Platz hinab. Die Bauern haben die Campagna ihrer weißen Äste beraubt, und die Mandelblüten füllen die Körbe der Verkäufer. Mein Entzücken ist so groß, daß ich ein ganzes Gebüsch davon kaufe. Drei Leute tragen es mir. Ich komme mit diesem ganzen Frühling nach Haus. Die Zweige bleiben in den Türen hängen, die Blütenblätter schneien auf den Teppich. Ich stecke sie überall hin, in alle Vasen; ich mache den Salon mit ihnen weiß, indessen Marzeline für den Moment nicht drinnen ist. Schon freue ich mich über ihre Freude … Ich höre sie kommen. Da ist sie. Sie macht die Türe auf. Was hat sie? … Sie schwankt … Sie bricht in Schluchzen aus.

»Was hast du? meine arme Marzeline …«

Ich bemühe mich um sie, bedecke sie mit zärtlichen Liebkosungen. Da sagt sie, als wolle sie sich wegen ihrer Tränen entschuldigen:

»Der Duft dieser Blumen macht mir schlecht.«

Und es war ein feiner, feiner, ein diskreter Honiggeruch … Ohne ein Wort zu sagen, fasse ich diese unschuldigen, gebrechlichen Zweige, zerbreche sie, trage sie fort und werfe sie hin, erbittert, das Blut in den Augen. – Ah! wenn sie schon so wenig Frühling nicht mehr ertragen kann! …

Oft denke ich an diese Tränen zurück, und ich glaube jetzt, sie fühlte sich schon aufgegeben, und sie weinte aus Sehnsucht nach anderen Frühlingen. – Ich meine auch, es gibt starke Freuden für die Starken und schwache Freuden für die Schwachen, die die starken Freuden verletzen würden. Sie berauschte ein Nichts des Vergnügens; ein wenig Glanz mehr, und sie konnte es nicht mehr ertragen. Was sie das Glück nannte, das war, was ich die Ruhe nannte; und ich wollte und konnte nicht ruhen.

Vier Tage darauf brachen wir wieder nach Sorrent auf. Ich war enttäuscht, dort nicht mehr Wärme zu finden. Alles schien zu frösteln. Der Wind, der zu blasen nicht aufhörte, ermüdete Marzeline sehr. Wir hatten im selben Hotel wie bei unserer ersten Reise absteigen wollen; wir fanden dasselbe Zimmer wieder … Wir blickten unter dem trüben Himmel mit Staunen auf all den entzauberten Zierat und auf den düsteren Hotelgarten, der uns so reizend erschienen war, als unsere Liebe darinnen ging.

Wir beschlossen, zu Meer nach Palermo zu fahren, dessen Klima man uns rühmte; wir kehrten nach Neapel zurück, wo wir uns einschiffen mußten, und wo wir uns noch aufhielten. Aber in Neapel langweilte ich mich wenigstens nicht. Neapel ist eine lebende Stadt, wo die Vergangenheit sich nicht aufdrängt.

Fast alle Momente des Tages blieb ich bei Marzeline. Abends legte sie sich früh, da sie müde war; ich wachte bei ihr, bis sie einschlief, legte mich bisweilen auch selber nieder, dann aber, wenn ihr gleichmäßiger Atem mir sagte, daß sie schlief, so stand ich geräuschlos wieder auf so zog ich mich ohne Licht wieder an; ich glitt wie ein Dieb hinaus.

Draußen! o! ich hätte vor Jubel schreien können. Was wollte ich? Ich weiß es nicht. Der Himmel, der am Tage finster war, hatte sich der Wolken entledigt; der fast volle Mond leuchtete. Ich ging aufs Geratewohl dahin, ohne Ziel, ohne Wunsch, ohne Zwang. Ich sah alles mit neuem Auge an; ich belauerte jedes Geräusch mit aufmerksamerem Ohr; ich sog die Feuchtigkeit der Nacht in mich; ich legte meine Hand auf die Dinge; ich strich umher.

Den letzten Abend, den wir in Neapel blieben, dehnte ich diese landstreicherische Wollust aus. Als ich nach Hause kam, fand ich Marzeline in Tränen. Sie hatte Angst gehabt, sagte sie, da sie plötzlich aufgewacht sei und mich nicht mehr da gefühlt habe. Ich beruhigte sie, erklärte meine Abwesenheit so gut ich konnte, und versprach mir, sie nicht mehr zu verlassen. – Aber schon die erste Nacht in Palermo konnte ich es nicht mehr aushalten; ich ging aus … Die ersten Orangen blühten; der leiseste Hauch trug ihren Duft herbei …

Wir blieben in Palermo nur fünf Tage; dann fuhren wir auf einem großen Umwege wieder nach Taormina, das wir alle beide wiederzusehen wünschten. Sagte ich schon, daß das Dorf ziemlich hoch auf dem Berge liegt? der Bahnhof liegt am Rande des Meeres. Der Wagen, der uns ins Hotel brachte, sollte mich gleich wieder mit nach dem Bahnhof nehmen, wo ich unsere Koffer erheben wollte. Ich war im Wagen stehen geblieben, um mit dem Kutscher zu plaudern. Es war ein kleiner Sizilianer aus Catania, schön wie ein Vers Theokrits, strahlend, duftend, würzig wie eine Frucht.

»Com'è bella la Signora!« sagte er mit entzückender Stimme, indem er Marzeline nachsah, als sie sich entfernte.

»Anche tu sei bello, ragazzo,« antwortete ich; und da ich zu ihm geneigt stand, konnte ich mich nicht halten und zog ihn bald an mich und küßte ihn. Er ließ es lachend geschehen.

»I Francesi sono tutti amanti,« sagte er,

»Ma non tutti gli Italiani amati,« antwortete ich gleichfalls lachend. »… Ich habe ihn die folgenden Tage gesucht, aber es wollte mir nicht gelingen, ihn wiederzusehen.

Wir gingen von Taormina nach Syrakus. Wir gingen Schritt für Schritt auf unserer ersten Reise zurück, stiegen bis zum Ausgangspunkt unserer Liebe zurück. Und ebenso wie ich zur Zeit unserer ersten Reise von Woche zu Woche auf die Genesung zuschritt, so verschlimmerte sich Marzelinens Zustand von Woche zu Woche in dem Maße, wie wir nach Süden kamen.

In welcher Verwirrung, welcher hartnäckigen Verblendung, welcher willkürlichen Torheit überredete ich mich und suchte ich vor allem sie zu überreden, sie brauche noch mehr Licht und Wärme, rief ich die Erinnerung meiner Genesung zu Biskra an? … Und doch war die Luft lauer geworden; die Bucht von Palermo ist mild, und Marzeline gefiel sich dort. Da wäre sie vielleicht … Aber war ich Herr, meinen Willen zu wählen? über meinen Wunsch zu entscheiden?

In Syrakus zwang uns der Zustand des Meeres und der unregelmäßige Dampferdienst, acht Tage zu warten. All die Momente, die ich nicht bei Marzeline verbrachte, verbrachte ich im alten Hafen. O, der kleine Hafen von Syrakus! die Gerüche von sauer gewordenem Wein, die kotigen Gassen, die stinkige Bude, wo sich Auslader, Landstreicher und betrunkene Matrosen wälzten. Die Bande der schlimmsten Leute war mir köstliche Gesellschaft. Und wozu brauchte ich ihre Sprache gut verstehen, wenn ich sie mit meinem ganzen Fleisch genoß? Noch die Brutalität der Leidenschaft nahm dort für meine Augen den heuchlerischen Schein der Gesundheit, der Kraft an. Und ich mochte mir noch so oft sagen, ihr elendes Leben könne für sie nicht den Geschmack haben, den es für mich annahm … Ah! ich hätte mich mit ihnen unter dem Tisch wälzen mögen und erst beim traurigen Morgenfrösteln erwachen. Und ich trieb in ihrer Nähe mein wachsendes Grauen vor dem Luxus, vor dem Komfort, vor allem, womit ich mich umgeben hatte, vor diesem Schutz, den meine neue Gesundheit mir unnötig zu machen verstanden hatte, vor allen diesen Vorsichtsmaßregeln, die man ergreift, um seinen Körper vor dem gefährlichen Kontakt mit dem Leben zu bewahren, aufs äußerste. Ich stellte mir ihr Dasein weiter vor. Ich hätte ihnen weiter folgen mögen, eindringen in ihre Trunkenheit … Dann sah ich plötzlich Marzeline wieder. Was tat sie in diesem Moment? Sie litt, weinte vielleicht … Ich stand in Eile auf; ich lief; ich kehrte ins Hotel zurück, wo auf der Tür geschrieben schien: Den Armen ist der Eintritt verboten.

Marzeline empfing mich immer gleich; ohne ein Wort des Vorwurfs oder Zweifels zwang sie sich trotz allem zu lächeln. – Wir nahmen unsere Mahlzeiten für uns; ich ließ ihr das Beste servieren, was das mittelmäßige Hotel noch bewahren konnte. Und während der Mahlzeit dachte ich: ein Stück Brot und Käse, ein Fenchelstengel genügt ihnen und würde mir wie ihnen genügen. Und vielleicht sind da, da ganz nah, Leute zu finden, die Hunger haben, und die nicht einmal diese magere Kost besitzen … Und hier auf meinem Tisch steht, womit man sie auf drei Tage übersättigen könnte! Ich hätte die Mauern aufbersten mögen, die Gäste hereinströmen lassen … Denn Hunger leiden zu fühlen wurde mir furchtbare Qual. Und ich ging wieder in den alten Hafen, wo ich aufs Geratewohl das Kleingeld verteilte, von dem ich die Taschen voll hatte.

Die Armut des Menschen ist Sklavin; um zu essen, nimmt sie eine Arbeit ohne Freude an: jede Arbeit, die nicht freudig ist, ist beklagenswert, dachte ich, und ich zahlte mehreren die Ruhe. Ich sagte: – »Arbeite doch nicht, das langweilt dich.« Ich träumte für jeden jene Muße, ohne die nichts Neues, kein Laster, keine Kunst aufblühen kann.

Marzeline täuschte sich nicht über mein Denken; wenn ich von dem alten Hafen nach Hause kam, verbarg ich ihr nicht, was für traurige Leute mich umgaben. – Alles liegt im Menschen. Marzeline sah recht wohl halb, was aufzudecken ich erpicht war; und als ich ihr vorwarf, sie glaube zu häufig an Tugenden, die sie nach Maßgabe in jedem Wesen erfinde, sagte sie:

»Ja, du bist erst zufrieden, wenn du sie hast ein Laster zeigen lassen. Verstehst du nicht, daß unser Blick bei jedem den Punkt, an den er sich heftet, entwickelt, übertreibt? und daß wir ihn zu werden zwingen, Was wir behaupten, daß er ist?«

Ich hätte gewollt, sie hätte nicht recht gehabt, mußte mir aber doch gestehen, daß mir bei jedem Wesen der schlechteste Instinkt als der aufrichtigste erschien. – Und dann, was nannte ich Aufrichtigkeit?

Schließlich verließen wir Syrakus. Die Erinnerung an das Heimweh nach dem Süden quälte mich. Auf dem Meere ging es Marzeline besser … Ich sehe noch den Ton des Meeres. Es ist so ruhig, daß die Furche des Schiffes in ihm zu dauern scheint. Ich höre die Geräusche des Abtropfens, die flüssigen Geräusche; das Waschen des Decks, und auf den Planken das Klatschen der nackten Füße der Wäscher, Ich sehe Marzeline ganz weiß; die Annäherung an Tunis … Wie ich verändert bin!

Es ist heiß. Es ist schön. Alles ist glänzend. Ah! ich wollte, in jedem Satz hier destilliere sich ein Tau der Wollust … Vergebens würde ich jetzt meiner Erzählung mehr Ordnung aufzuzwingen versuchen, als in meinem Leben vorhanden war. Lange genug habe ich zu sagen versucht, wie ich wurde, was ich bin. Ah! meinen Geist von dieser unerträglichen Logik befreien! … Ich fühle nur Edles in mir.

Tunis. Licht in größerer Fülle als Kraft. Noch der Schatten ist von ihm erfüllt. Die Luft selber scheint eine leuchtende Flüssigkeit, in der alles sich badet, in die man hinabtaucht, in der man schwimmt. – Dieses Land der Wollust befriedigt, aber stillt nicht das Verlangen, und jede Befriedigung erhöht es.

Ein Land frei von Kunstwerken. Ich verachte die, die nur die schon umschriebene und fertig ausgelegte Schönheit zu erkennen wissen. Das arabische Volk hat dieses Wundervolle, daß es seine Kunst von der Hand in den Mund lebt, singt, verstreut; es fixiert sie nicht und balsamiert sie in keinem Werk ein. Das ist die Ursache und die Wirkung des Fehlens großer Künstler … Ich habe stets die für die großen Künstler gehalten, die es wagen, so natürlichen Dingen das Schönheitsrecht zu geben, daß nachher, wer sie sieht, sagen muß: »Wie habe ich nicht längst begreifen können, daß dies schön ist?«

Zu Kairuan, das ich noch nicht kannte und wohin ich ohne Marzeline ging, war die Nacht sehr schön. Im Moment, da ich zum Schlafen ins Hotel zurückkehren wollte, erinnerte ich mich einer Gruppe von Arabern, die in freier Luft auf den Matten eines kleinen Cafés gelegen hatten. Ich ging hin, dicht neben ihnen zu schlafen. Ich kam von Ungeziefer bedeckt zurück.

Die feuchte Hitze der Küste schwächte Marzeline sehr, und so überredete ich sie, was not tue, sei, so schnell wie möglich nach Biskra zu kommen. Es war Anfang April.

Diese Reise ist sehr lang. Am ersten Tage fahren wir in einem Zug bis Konstantine; am zweiten Tage ist Marzeline sehr matt, und wir kommen nur bis El Kantara. – Da haben wir gegen Abend einen Schatten gesucht und gefunden, köstlicher und frischer als der Mondschein, die Nacht. Er war wie ein unversiegliches Getränk; er rieselte bis zu uns hin. Und von der Böschung aus, wo wir saßen, sah man die glühende Ebene. Diese Nacht kann Marzeline nicht schlafen; die Fremdartigkeit der Stille und der geringsten Geräusche beunruhigt sie. Ich fürchte, sie hat ein wenig Fieber. Ich höre sie auf ihrem Bette sich rühren. Am folgenden Tage finde ich sie blasser. Wir fahren weiter.

Biskra. Dahin also will ich kommen … Ja; hier ist der öffentliche Garten; die Bank … ich erkenne die Bank wieder, auf der ich in den ersten Tagen meiner Genesung saß. Was las ich doch da? … Homer! Seither habe ich ihn nicht wieder aufgeschlagen. – Da ist der Baum, dessen Rinde ich betastete. Wie schwach ich damals war! … Sieh! da sind Kinder … Nein; ich erkenne keines wieder. Wie ernst Marzeline ist! Sie ist ebenso verändert wie ich. Warum hustet sie bei diesem schönen Wetter? – Da ist das Hotel. Da unsere Zimmer; unsere Terrassen. – Was denkt Marzeline? Sie hat noch kein Wort mit mir gesprochen. – Sowie sie in ihrem Zimmer ankommt, legt sie sich aufs Bett; sie ist müde, und sagt, sie wolle ein wenig schlafen. Ich gehe hinaus.

Ich erkenne die Kinder nicht wieder, aber die Kinder erkennen mich wieder. Von meiner Ankunft benachrichtigt, eilen alle herbei. Ist es möglich, daß sie das sind? Welch ein Unglück? Was ist nur geschehen? Sie sind schrecklich gewachsen. In kaum ein wenig über zwei Jahren – das ist nicht möglich … Welche Strapazen, welche Laster, welche Trägheit hat schon soviel Häßlichkeit auf diese Gesichter gelegt, auf denen soviel Jugend strahlte! Welche gemeine Arbeit hat diese schönen Leiber so schnell gekrümmt? Das ist wie ein Bankerott … Ich frage. Baschir ist Waschjunge in einem Café; Ashur verdient sich mühsam ein paar Sous, indem er die Kieseln auf den Straßen bricht; Hammatar hat ein Auge verloren. Wer hätte das geglaubt! Sadeck ist ein ordentlicher Mensch geworden; er hilft einem älteren Bruder, auf dem Markt Brot verkaufen; er scheint stupid geworden. Agib hat sich als Schlächter neben seinem Vater auf getan; er wird fett; er ist häßlich; er ist reich; er will mit seinen geringeren Gefährten nicht mehr reden … Wie blöde die ehrbaren Berufe machen! Soll ich denn bei ihnen wiederfinden, was ich unter uns haßte? – Bubaker? – Er hat sich verheiratet. Er ist noch keine fünfzehn Jahre alt. Es ist grotesk. – Und doch, nein; ich habe ihn abends wiedergesehen. Er erklärt sich: seine Heirat ist nur eine List. Ich glaube, er ist ein verdammter Wüstling! Aber er trinkt, verunstaltet sich … Und das ist also alles, was noch da ist? Das also macht das Leben daraus! – Ich fühle an meiner unerträglichen Traurigkeit, daß ich zum großen Teil sie wiederzusehen gekommen war. – Menalkas hatte recht: die Erinnerung ist eine Unglückserfindung.

Und Moktir? – Ah! der kommt aus dem Gefängnis. Er versteckt sich. Die anderen verkehren nicht mehr mit ihm. Ich möchte ihn wiedersehen. Er war der Schönste von ihnen allen; wird er mich auch enttäuschen? … Man findet ihn wieder. Man bringt ihn mir. – Nein! der hat nicht versagt. Selbst meine Erinnerung zeigte ihn mir nicht so prachtvoll. Seine Kraft und seine Schönheit sind vollendet. Als er mich erkennt, lächelt er.

»Und was hast du denn getan, ehe du im Gefängnis warst?«

»Nichts.«

»Du hast gestohlen?«

Er protestiert.

»Was tust du jetzt?«

Er lächelt.

»Eh! Moktir! wenn du nichts zu tun hast, wirst du uns nach Tuggurt begleiten.« – Und ich fühle mich plötzlich von dem Verlangen ergriffen, nach Tuggurt zu gehen.

Marzeline geht es nicht gut; ich weiß nicht, was in ihr vorgeht. Als ich abends ins Hotel zurückkehre, drängt sie sich, ohne ein Wort zu sagen, mit geschlossenen Augen gegen mich. Ihr weiter Ärmel, der aufschlägt, zeigt ihren abgemagerten Arm. Ich streichle sie und wiege sie lange wie ein Kind, das man einschläfern will. Ist es die Liebe, oder die Angst, oder das Fieber, was sie so zittern macht? … Ah! vielleicht wäre es noch Zeit … Werde ich nicht inne halten? – Ich habe gesucht und habe gefunden, was meinen Wert ausmacht: eine Art Eigensinn im Schlimmsten. – Aber wie komme ich dazu, Marzeline zu sagen, daß wir morgen nach Tuggurt aufbrechen? …

Jetzt schläft sie im Nachbarzimmer. Der Mond, der seit langem aufgegangen ist, überschwemmt jetzt die Terrasse. – Es ist eine fast erschreckende Helle. Man kann sich nicht vor ihr verbergen. Mein Zimmer hat weiße Fliesen, und da vor allem wird sie offenbar. Ihre Flut tritt durch das offene Fenster ein. Ich erkenne die Helle im Zimmer wieder, und auch den Schatten, den die Tür hineinzeichnet. Vor zwei Jahren reichte sie noch weiter … ja, gerade bis dahin, wo sie jetzt vorrückt – da bin ich aufgestanden und habe auf den Schlaf verzichtet. Ich stützte die Schulter gegen den Pfosten dieser Tür da. Ich erkenne die Reglosigkeit der Palmen wieder … Welches Wort habe ich doch an diesem Abend gelesen? … Ah! ja; die Worte Christi an Petrus: »Jetzt gürtest du dich selber und wandelst, wohin du wandeln willst …« Wohin gehe ich? Wohin will ich gehen? … Ich habe euch nicht gesagt, daß ich diesmal von Neapel aus eines Tages allein nach Paestum gefahren war … ah! ich hätte vor diesen Steinen schluchzen können! Die alte Schönheit ging mir auf, einfach, vollkommen, lächelnd – verlassen. Die Kunst geht von mir, ich fühle es. Und um wem Platz zu machen? Es ist nicht mehr wie vorher eine lächelnde Harmonie … Ich kenne den Gott der Finsternis nicht mehr, dem ich diene. O neuer Gott! gewähre mir, daß ich noch neue Rassen, nie gesehene Typen der Schönheit kennen lerne.

Am folgenden Tage führt uns die Post mit Tagesanbruch fort. Moktir ist bei uns. Moktir ist glücklich wie ein König.

Chegga; Kefeldorh'; M'reyer … düstere Etappen auf der noch düstereren, endlosen Straße. Ich hätte mir, ich gestehe es, diese Oasen doch lachender gedacht. Aber nichts mehr als Stein und Sand; dann einige Zwergbüsche mit bizarren Blüten; bisweilen ein Ansatz zu Palmen, die eine verborgene Quelle ernährt … Der Oase ziehe ich jetzt die Wüste vor … dieses Land tödlicher Herrlichkeit und unerträglichen Glanzes. Die Bemühung des Menschen erscheint häßlich darin und elend. Jetzt langweilt mich jedes andere Land.

»Du liebst das Unmenschliche,« sagt Marzeline. Aber wie sie selber schaut! und mit welcher Gier!

Am zweiten Tage wird das Wetter ein wenig schlecht; das heißt, der Wind erhebt sich und der Horizont wird trüb. Marzeline leidet; der Sand, den man einatmet, verbrennt, reizt ihr die Kehle; die Überfülle des Lichts ermüdet ihren Blick; diese feindselige Landschaft zermalmt sie. – Aber jetzt ist es zu spät, um umzukehren. In ein paar Stunden werden wir in Tuggurt sein.

Eben dieses letzten Teils der Reise, der doch noch so nah ist, erinnere ich mich am wenigsten gut. Unmöglich jetzt, mir noch die Landschaften des zweiten Tages vorzustellen und was ich zunächst in Tuggurt tat. Aber was ich noch weiß, das ist, daß sie meine Ungeduld und meine Überstürzung waren.

Morgens ist es sehr kalt. Gegen Abend erhebt sich ein brennender Samum. – Marzeline, von der Reise erschöpft, hat sich gleich nach der Ankunft gelegt. Ich hoffe ein etwas behaglicheres Hotel zu finden; unser Zimmer ist furchtbar; der Sand, die Sonne und die Fliegen haben alles blind gemacht, alles beschmutzt, getrübt. Da wir seit Sonnenaufgang fast nichts mehr gegessen haben, lasse ich sofort die Mahlzeit servieren; aber alles scheint Marzeline schlecht, und ich kann sie nicht bestimmen, etwas zu sich zu nehmen. Wir haben alles mitgebracht, um Tee zu machen. Ich beschäftige mich mit diesen spöttischen Sorgen. Wir begnügen uns zum Diner mit ein paar trockenen Kuchen und mit diesem Tee, dem das salzige Wasser der Gegend seinen scheußlichen Geschmack gegeben hat.

Aus einem letzten Schein von Tugend bleibe ich bis zum Abend bei ihr. Und plötzlich fühle ich mich selber wie am Ende meiner Kräfte. O Aschengeschmack! O Mattigkeit! Trauer der übermenschlichen Anstrengung! Ich wage sie kaum anzusehen; ich weiß nur zu gut, daß meine Augen sich, statt ihren Blick zu suchen, fürchterlich auf die schwarzen Löcher ihrer Nase heften werden; der Ausdruck ihres leidenden Gesichts ist schauerlich. Auch sie sieht mich nicht mehr an. Ich fühle ihre Qual, als ob ich sie berührte. Sie hustet stark; dann schläft sie ein. Momentelang schüttelt sie ein plötzliches Frösteln.

Die Nacht könnte schlimmer werden, und ehe es zu spät ist, will ich wissen, an wen ich mich wenden könnte. Ich gehe hinaus. Vor der Hoteltür, der Platz von Tuggurt, die Straßen, die Atmosphäre selber – das ist bis zu einem Grade unheimlich, daß ich glaube, nicht mehr ich bin es, der sie ansieht. – Nach ein paar Augenblicken gehe ich wieder hinein. Marzeline schläft ruhig. Ich habe mich unnütz geängstigt; auf diesem phantastischen Erdteil setzt man überall Gefahren voraus; es ist absurd. Und genügend beruhigt, gehe ich wieder hinaus.

Seltsames nächtliches Leben auf dem Platz; schweigsame Zirkulation; heimliches Gleiten weißer Burnusse. Der Wind reißt auf Momente Fetzen seltsamer Musik los und trägt sie herbei, ich weiß nicht woher. Es tritt jemand zu mir … Es ist Moktir. Er hat mich erwartet, sagt er, und dachte sich, ich werde noch wieder ausgehen. Er lacht. Er kennt Tuggurt gut, kommt oft her und weiß, wohin er mich entführt. Ich lasse mich von ihm fortziehen.

Wir gehen durch die Nacht; wir treten in ein maurisches Café; von daher kam die Musik. Dort tanzen arabische Frauen – wenn man dies monotone Gleiten einen Tanz nennen kann. – Eine von ihnen faßt mich an der Hand; ich folge ihr; es ist Moktirs Geliebte; er geht mit … Wir treten alle drei in das schmale und tiefe Zimmer, dessen einziges Möbel ein Bett ist … Ein sehr niedriges Bett, auf das man sich setzt. Ein weißes Kaninchen, das im Zimmer eingeschlossen ist, wird erst wild, dann vertraut, und kommt, aus Moktirs Hand zu fressen. Man bringt uns Kaffee. Dann, während Moktir mit dem Kaninchen spielt, zieht diese Frau mich an sich, und ich lasse mich zu ihr gleiten, wie man in den Schlummer gleitet …

Ah! ich könnte hier heucheln oder schweigen – aber was soll mir diese Erzählung, wenn sie nicht mehr wahrhaftig ist? …

Ich kehre allein ins Hotel zurück, denn Moktir bleibt die Nacht da unten. Es ist spät. Es weht ein trockener Scirocco; es ist ein Wind, ganz beladen mit Sand und tropisch, trotz der Nacht. Nach ein paar Schritten bin ich in Schweiß gebadet; aber plötzlich habe ich große Eile, nach Hause zu kommen, und fast laufend kehre ich zurück. – Vielleicht ist sie aufgewacht … vielleicht hat sie mich nötig gehabt? … Nein; das Fenster des Zimmers ist dunkel. Ich warte auf einen kurzen Anstand des Windes, um zu öffnen; ich trete sehr leise ins Schwarze. – Was ist dies für ein Geräusch? Und ich kenne doch ihren Husten nicht wieder … Ist sie das wirklich? … Ich mache Licht.

Sie sitzt zur Hälfte auf ihrem Bett; einer ihrer mageren Arme klammert sich an die Bettstangen, hält sie aufrecht; ihre Decken, ihre Hände, ihr Hemd – alles ist von einer Blutflut überschwemmt; ihr Gesicht ist ganz beschmutzt damit; ihre Augen sind scheußlich erweitert; und irgend welcher Angstschrei würde mich weniger entsetzen als ihr Schweigen. – Ich suche auf ihrem schwitzenden Gesicht eine kleine Stelle, wo ich einen furchtbaren Kuß anbringen kann. Der Geschmack ihres Schweißes bleibt mir an den Lippen kleben. Ich wasche und erfrische ihre Stirn, die Wangen … Am Bett etwas Hartes unter meinem Fuß: ich bücke mich und hebe den kleinen Rosenkranz auf, den sie damals in Paris verlangte, und den sie hat fallen lassen; ich lege ihn ihr in die offene Hand, aber ihre Hand senkt sich alsbald und läßt ihn von neuem fallen. – Ich weiß nicht was tun; ich möchte Hilfe rufen … Ihre Hand hängt sich verzweifelt an mich, hält mich zurück; ah! glaubt sie denn, ich will sie verlassen? Sie sagt:

»O! du kannst doch noch warten.« Sie sieht, daß ich sprechen will:

»Sage mir nichts,« fügt sie hinzu; »es ist alles gut.« – Ich hebe den Rosenkranz von neuem auf; ich lege ihn ihr wieder in die Hand, aber wieder läßt sie ihn fallen – was sage ich? sie wirft ihn hin. Ich knie bei ihr nieder und presse ihre Hand gegen mich.

Sie läßt sich halb gegen das Bettpfühl und halb gegen meine Schulter sinken und scheint ein wenig zu schlafen, aber ihre Augen bleiben weit offen.

Eine Stunde darauf richtet sie sich wieder auf; ihre Hand macht sich aus meinen Händen los, klammert sich an ihr Hemd und reißt die Spitze von ihm ab. Sie erstickt. – – Gegen Tagesgrauen ein zweites Blutspeien …

Ich habe euch meine Geschichte auserzählt. Was sollte ich weiter hinzufügen? – Der französische Kirchhof von Tuggurt ist scheußlich, zur Hälfte vom Sand verschlungen … Das bißchen Wille, das mir blieb, habe ich ganz darauf verwandt, sie diesen Orten der Trauer zu entreißen. Sie ruht zu El Kantara im Schatten eines Privatgartens, den sie liebte. Seit all dem sind kaum drei Monate verflossen. Diese drei Monate haben es um zehn Jahre fortgerückt.

 

Michel verstummte lange. Wir schwiegen auch, jeder erfaßt von einem seltsamen Unbehagen. Es schien uns, ah! als habe Michel sein Handeln dadurch, daß er es erzählte, rechtmäßiger gemacht. Daß wir nicht wußten, an welcher Stelle seiner langen Auseinandersetzung wir es tadeln sollten, machte uns fast zu Mitschuldigen. Wir waren gleichsam mit hinein verwickelt. – Er hatte diese Erzählung ohne ein Zittern in der Stimme vollendet, ohne daß eine Modulation oder eine Geste bezeugte, daß ihn irgendwelche Erregung bewegte – sei es, daß er einen zynischen Stolz darein setzte, nicht bewegt zu erscheinen, sei es, daß er aus einer Art Scham heraus durch seine Tränen unsere Bewegung zu wecken fürchtete, sei es endlich, daß er nicht bewegt war. Ich unterscheide in ihm selbst jetzt noch nicht den Teil Stolz, Kraft, Trockenheit oder Scham. – Dann begann er plötzlich von neuem:

»Was mich erschreckt, ist, ich gestehe es, daß ich noch sehr jung bin. Mir scheint bisweilen, mein wahres Leben habe noch gar nicht begonnen. Reißt mich zunächst hier heraus und gebt mir Daseinsgründe. Ich selber weiß keine mehr zu finden. Ich habe mich befreit, das ist möglich; aber was liegt daran? Ich leide unter dieser Freiheit ohne Beschäftigung. Glaubt nicht, es sei, weil ich von meinem Verbrechen ermattet wäre, wenn es euch beliebt, es so zu nennen – aber ich muß mir selber beweisen, daß ich mein Recht nicht überschritten habe.

»Als ihr mich zuerst gekannt habt, hatte ich eine große Festigkeit des Denkens, und ich weiß, daß eben das die wahren Männer macht; – ich habe sie nicht mehr. Aber ich glaube, daran ist dieses Klima schuld. Nichts entmutigt das Denken so sehr wie diese Beharrlichkeit des Azurs. Hier ist jede Forschung unmöglich, so nahe folgt die Lust dem Verlangen. Vom Glanz und Tod umgeben, fühle ich das Glück als zu gegenwärtig und die Hingabe daran als zu gleichförmig. Ich lege mich mitten am Tage nieder, um mich über die düstere Länge der Tage und ihre unerträgliche Muße zu täuschen.

»Da habe ich, seht, weiße Kiesel, die ich im Schatten kühlen lasse und dann lange in der hohlen Hand halte, bis ihre beruhigende Frische erschöpft ist. Dann beginne ich von neuem, indem ich mit den Kieseln wechsle, und lege die, deren Kälte versiegt ist, wieder zum Kühlen hin. Darüber vergeht Zeit, und der Abend kommt … Reißt mich hier heraus; ich kann es nicht selber tun. Etwas in meinem Willen ist gebrochen; ich weiß nicht einmal, woher ich die Kraft genommen habe, aus El Kantara fortzugehen. Bisweilen habe ich Angst, was ich unterdrückt habe, werde sich rächen. – Ich möchte neu anfangen. Ich möchte mich dessen entledigen, was mir von meinem Vermögen noch bleibt; seht, diese Wände sind ganz damit bedeckt … Hier lebe ich von fast nichts. Ein halb französischer Gastwirt bereitet mir ein wenig Nahrung. Das Kind, das ihr bei eurem Nahen in die Flucht gejagt habt, bringt sie mir abends und morgens für ein paar Sous und Liebkosungen. Dieses Kind, das vor Fremden wild wird, ist gegen mich zärtlich und treu wie ein Hund. – Seine Schwester ist eine Uled-Naïl, die jeden Winter wieder nach Konstantine geht, wo sie ihren Leib den Reisenden verkauft. Sie ist sehr schön, und ich habe es die ersten Wochen bisweilen geduldet, daß sie die Nacht bei mir verbrachte. Aber eines Morgens hat uns ihr Bruder, der kleine Ali, zusammen überrascht. Er zeigte sich sehr gereizt und hat fünf Tage lang nicht wiederkommen wollen. Und doch weiß er recht gut, wie und wovon seine Schwester lebt; vorher sprach er in einem Ton davon, der auf keinerlei Verlegenheit deutete … Ist er also eifersüchtig? – Übrigens hat dieser Schelm sein Ziel erreicht; denn halb aus Verdruß, halb aus Furcht, Ali zu verlieren, habe ich das Mädchen seit dem Zwischenfall nicht mehr bei mir behalten. Sie ist nicht böse gewesen; aber so oft ich ihr begegne, lacht sie und scherzt, weil ich ihr den Knaben vorziehe. Sie behauptet, er vor allem halte mich hier zurück. Vielleicht hat sie ein wenig recht …«



 << zurück