Simon Gfeller
Steinige Wege
Simon Gfeller

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«Seither...»

«Sakerment noch einmal, daß man sich auch so einfältig verklappern kann!» schimpfte ich mich in Gedanken selbst aus und hastete durch den Wald hinauf. «Jetzt geht mir die Sonne unter, bevor ich auf der Höhe oben bin, und die Berge sind so wunderbar nahe und so klar, der Goldschein liegt wohl schon auf den Schneeflächen, und die Wälder träumen im Sonnenglanz — schade, schade!» Da schlug’s unten an der Dorfkirche die sechste Stunde. Ich atmete auf und verlangsamte meine Schritte; denn Mitte September legt die liebe Alte ihr müdes Haupt erst eine halbe Stunde später auf das dunstblaue Jurakissen.

Droben auf der Anhöhe traf ich den alten Sonnhalden-Daniel. Unter dem großen Nußbaum saß er auf der Ruhebank und guckte über Land. Über dem andächtigen Schauen war ihm die Pfeife erkaltet.

«Ich tät auch ein wenig abstellen, Schulmeister,» rief er mich an und streckte mir die Hand entgegen.

«Hab’ mich schon weit unten auf den Ausblick gefreut», gab ich händeschüttelnd zurück, streifte den Kommissionen-Rucksack von den Schultern und setzte 222 mich, zu ihm. Denn wir kennen einander, der Daniel und ich, und mögen einander.

«Wirst denken: Ein Bauer — und hat Zeit, der Sonne nachzugaffen.» Lächelnd sagte er’s.

Ich beruhigte ihn. «Hast deinen Lebensacker fleißig bestellt wie selten einer! Wer wollte dir verwehren, den Rücken zu strecken.»

Er drauf: «Es arbeiten noch viele, die älter und gebrechlicher sind als ich, bis in alle Nacht hinein und wenn’s pressiert, bin auch ich noch bei der Spritze. Nur wenn’s so schön ist, leg’ ich das Werkholz früher weg und gönne mir ein freies Halbstündchen. Es war auch nicht immer so. Früher hatte ich keine Augen für diese Pracht. Aber seither... seither...» Er verstummte, und sinnend ruhten seine Blicke auf der sonnbeglänzten Landschaft.

«Was ist’s mit dem Seither?» fragte ich behutsam; denn ich witterte ein Erlebnis, und von Alten, Erfahrenen hör’ ich fürs Leben gern erzählen.

«Bin kein Erzähler, kann’s nicht dartun wie man sollte», entschuldigte sich der Alte bescheidentlich, «aber berichten, wie es kam, daß ich so vieles anders anschauen lernte, kann ich dir doch. Nur — — schreib’s dann nicht etwa auf!» zwinkerte er mich an.

«Jä, jä», lächelte ich, «versprechen kann ich nichts. Wenn’s mir gar zu gut gefällt, was du mir erzählst, könnt’ ich’s doch nicht halten.»

«Wird nicht der Fall sein, ist gar nichts besonderes. 223 Nur für mich...» er suchte nach Worten. «Also es ist dreizehn Jahre seither, da hat’s mich geschüttelt. Ich mein’, bis dorthin hab’ ich im Halbschlaf gelebt. Dann kam die böse Nacht und die böse Woche. Mitten in der schönsten Maienzeit drin. Meine Frau war schon einige Tage nicht recht zu Paß. Wir steckten aber über Hals und Kopf in der Feldarbeit. Es war ein Jasten und Jufeln, neben dem nichts anderes Platz hatte. So achteten wir uns ihrer Klagen denn nicht viel, meinten, das gehe vorüber. Todmüde legte ich mich abends zu Bette und schlief wie ein Brett. Jetzt in einer Nacht hör’ ich meine Frau angstvoll rufen: ‹Daniel! Daniel!› Ich fahr’ in die Höhe. ‹Was ist?› frage ich, noch ganz schlafsturm. ‹Ich glaube, ich muß sterben›, keucht sie, keucht und keucht und kann den Atem nimmer finden. Ich im Satz vom Bett herunter: ‹Herr Jesus Gott!› und zu ihr hin. Sie, auf dem Bettrand sitzend, am Ersticken, klammert sich an mich: ‹Hilf, hilf!› Ich leg’ den Arm um sie, und wie ich das tue, spür’ ich, daß sie bachnaß ist vom Angstschweiß, und daß ihr Herz unsinnig klopft. Wie eine Dengelmaschine hämmert es, aber nur ein paar Sekunden, dann setzt es aus und krampft und droht stillzustehen, dann wieder ein Anlauf, so ein verrückter, daß auch ich nichts denken kann als: Das ist der bittere Tod. Und ist mir gewesen, als sei mir mit einem Mal aller Sinn, alle Kraft und aller 224 Mut untenaus geronnen. Nichts anzufangen weiß ich, als sie in den Armen zu halten. Jetzt endlich fährt mir durch den Kopf: ‹Licht! Licht!› Ich sag’s und taste nach den Hölzlein und will anzünden. Brechen mir die Hölzlein eines nach dem andern, und bei einem Haar hätt’ ich das Nachtlämpchen hinuntergestoßen. Ich kratz’ und kratz’, und auf einmal wird Licht, und ich seh’ den ganzen Jammer und das ganze Elend ihres Zustandes. Aber die Lähmung ist aus mir und mit der Helle auch der Wille zum Wehren wieder gekommen. ‹Kannst einen Augenblick allein sein? Fritz muß zum Doktor.› Sie sagt nicht ja und sagt nicht nein; ich zaudere ein paar Atemzüge lang — dann hinaus, durch die Küche hindurch, die Gadenstiege hinauf und mit beiden Fäusten an die Kammertür: ‹Fritz! Fritz! Auf, auf! Mußt den Doktor holen. Gschwind, gschwind!› Er tut einen Satz aus dem Bett, und wie ich das hör’, wieder die Stiege runter und hinein zu ihr. Ist nicht lang gegangen, kommt schon der Bub nach, nur in Hosen und Hemd, ’s ist ein guter Bub und immer an der Mutter gehangen. Augen hat er gemacht! ‹Schnell zum Doktor›, sag’ ich, ‹spring, was du magst! Soll sofort herkommen. Sag’ ihm, wie sie keuchen muß und Herzklopfen hat! Weck auch die andern, bevor du gehst!›

Der Bub besinnt sich noch... ‹Nu›, sag’ ich und weiß nicht, was er zu zögern hat. Ist mir 225 dann in den Sinn gekommen, als er ein Weilchen später auf dem blutten Roß fortsprengte, hat nur überlegt, wie ankehren. ‹Jetzt muß man um ihn auch noch Kummer haben›, stöhnt die Mutter. Aber just daß sie für ihn kummern muß, ist für sie das Rechte. Der Anfall läßt langsam, langsam nach, das Herz tobt weniger wild, der Atem wird besser. Nun sind auch meine übrigen Leut’ gekommen, dann haben wir die Mutter in den Großvaterstuhl genommen, gewartet, gebangt und geplanget. Ich will nicht überflüssig davon reden, man weiß, wie lang solche Stunden werden. Einen Trost hatten wir: Fritz tut das Mögliche, und wenn der Doktor zu Hause ist, kommt er heilig sicher. In der Beziehung war er ein herrlicher Mann, unser lieber, guter Doktor. Blitz und Donner, Sturm und Wetter, Nacht und Graus hielten ihn nicht ab, wenn es Ernst galt. Und so nach anderthalb — zwei Stunden ertönt denn richtig Pferdegetrappel, die Tür geht auf, und der Doktor steht in der Stube.

‹Guten Tag! Was macht Ihr für Geschichten, Mutter?› Und greift schon nach dem Puls und behorcht die Brust, ‹Herzdelirien›, murmelt er, und nun geht’s an den Hals und wieder an die Brust und so eine ziemliche Länge. Dann streckt er sich: ‹Der Kropf ist der Übeltäter, der Kropf muß weg. Ihr müßt Euch operieren lassen, sofort, ohne Verzug, schon morgen.›

226 Wie meine Frau da dreingeschaut hat! Ein solches Entsetzen habe ich nie wieder gesehen.

‹Nicht so schwer nehmen, nicht aufregen!› mahnt der Doktor, ‹sonst kommt die Atemnot wieder, und wer weiß, was das Herz für Geschichten macht!›

‹Gibt’s nicht ein anderes Mittel?› bettelte ich.

‹Nein. Jetzt heißt’s entweder — oder. Operation, oder ich stehe für nichts gut. Und zwar müßt Ihr ins Spital in die Stadt. Unser Krankenhaus ist nicht eingerichtet und ich kann diese Operation nicht vornehmen.› Noch ein paar beruhigende Worte, ein Hin- und Herreden und das Ergebnis ist:

‹Nun, so wird es in Gottsnamen sein müssen.›

‹Aber du mußt mit mir kommen und bei mir bleiben›, sagt meine Frau. ‹Allein gehe ich nicht, lieber sterben!›

‹Ja, ja!› sag’ ich, und der Doktor verspricht, telephonisch alles anzuordnen, gibt noch allerhand Rat und Verhaltungsmaßregeln, tröstet und beruhigt noch einmal und geht.

Wir lauschen auf die verhallenden Hufschläge, dann löst sich unsere Erstarrung. Bisher standen wir unter einem starken, fremden Willen. Jetzt schauen wir einander stumm an, und der Jammer packt uns erst recht. Meine Frau neigt den Kopf zur Seite und beginnt leise, aber bitterlich zu weinen. Ich stehe in ratloser Bekümmernis daneben: ‹Ich hätte es dir ja gerne erspart! Aber wenn es sein muß.›

227 Sie weint nur heftiger.

‹Es wird schon gut kommen. Der Professor sei ja so ein Geschickter, es fehle ihm so gut wie nie.›

Sie schluchzte weiter.

‹Freilich ja, eine Operation ist immer eine strenge Sache. Wenn ich sie dir doch nur abnehmen könnte!›

Immer trostloser weint sie.

Jetzt weiß ich mir auch nicht mehr zu helfen, trete ans Fenster, starre hinaus, und die Augen füllen sich mir mit Tränen. Dann gehe ich und lege ihr den Arm um die Schulter.

‹Es ist so schrecklich! Gestern noch wußte ich nichts Besonderes, und morgen soll ich unter das Messer.› Mit weitgeöffneten Augen starrt sie vor sich hin und einmal murmelt sie: ‹Wie sicher lebt der Mensch, der Staub, sein Leben ist ein fallend Laub!› Und endlich versiegen ihre Tränen. Aufatmend setze ich mich auf den Bettrand.

So still und friedlich war unser Lebensweg bis dahin gewesen! Jetzt dieser grausame Riß mitten durch Ruhe, Behagen, Glück und Frieden. So fest und zuverlässig schien der Grund, auf dem wir stunden! Nun wich plötzlich der Boden unter den Füßen und ein dunkler Abgrund gähnte uns an. Auch meine Frau beschäftigte sich unausgesetzt mit solchen Fragen, ich merkte wohl, wie es mit ihr 228 rechnete: Wirst du es überstehen, oder soll es nun schon aus sein mit dem Leben?

Unter einmal fing sie wieder an bitterlich zu weinen und stieß heraus: ‹Womit habe ich verschuldet, daß solches Unglück über uns kommt?›

‹Nicht so, nicht so›, wehrte ich ab. ‹Selberquälen trägt nichts ab. Denk’ an das schöne Gellertlied:

Ich hab in guten Stunden
Des Lebens Glück empfunden
Und Freuden ohne Zahl.
So will ich denn gelassen
Mich auch im Leiden fassen.
Welch Leben hat nicht seine Qual?

Wir wollen lieber vorwärts schauen. Wie vieles gibt es noch zu besorgen, bevor wir fort können!›

Ja, es gelang mir, sie abzulenken. Wie so oft im Leben erwiesen sich die kleinen Sorgen als Verdränger der großen. Vorbereitungen aller Art mußten ja noch getroffen werden. Was anziehen? Was mitnehmen? Wie verpacken? Reiseungewohnten Leuten, die noch niemals mehr als einen Tag von zu Hause fort waren, geben schon solche Kleinigkeiten zu überlegen. Und erst die Sorge um alles Zurückbleibende, um Haushalt und Stalltiere, um Hof und Garten. Wie könnte man das ohne weiteres verlassen? Zwanzigerlei Anstaltung muß da noch gegeben werden. Man muß doch der Magd noch 229 einschärfen, beim Schmelzen der Butter aufzupassen, muß ihr sagen, welche Sorte Kartoffeln zu brauchen, welche zu sparen sind, muß ihr die Hühner und Schweine anbefehlen, muß sie an den Rest ungeplätteter Frühlingswäsche erinnern und so fort. Und zwischenhinein geht der Blick wieder nach innen, die Hände sinken: ‹Ach Gott, was will ich mich noch um solche Dinge quälen, vielleicht... ach...› Und wieder: ‹Wenn doch Fritz schon geheiratet hätte, daß eine junge, zuverlässige Frau da wäre!›

Glaub nicht, Schulmeister, daß meine Frau eine leide gewesen sei; in solchen Augenblicken schüttelt’s den Festesten, und wenn er auch nichts vor den Mund hinaus läßt, innwendig macht er doch Reu’ und Leid und nimmt sich vor, nie wieder Böses zu tun; ich wenigstens kann mir’s nicht anders denken.

Mir machte besonders Sorgen der Moment des Abschiednehmens vom Haus und den Angehörigen. ‹Das wird noch etwas können!› dachte ich.

Unterdessen war es Morgen geworden, und Fritz hatte schon eingespannt, um uns auf die Station zu führen. Das Fuhrwerk stand vor der Schwelle. Wir hatten uns sonntäglich angekleidet. Reisekoffer oder Wäschekorb besaßen wir keinen; wozu hätten wir ihn bisher brauchen sollen? Der große Kindskorb mußte nun Stellvertreter sein, man konnte ja ein Tuch darüber nähen. Ich führte die Mutter 230 hinaus. Am Türpfosten lehnte sie noch den Kopf an und fing heftig an zu schluchzen, und auch mir wurde heiß. ‹Komm, Mutter, komm, wir dürfen nicht säumen, der Zug wartet nicht.› Da ermannte sie sich und kam. Als wir schon aufgesessen waren, fiel ihr ein, daß sie das seidene Kopftüchlein und die Filzfinken zu verpacken vergessen hatte. Ich ließ sie aber nicht mehr hinunter, die Magd mußte suchen, und endlich hieß es: Hüh in Gottesnamen! Im Garten leuchteten die Schlüsselchen, und am Astrachanerbaum guckten die rötlichen Blustpöllchen, der große Herzkirschenbaum stand schon in voller Blüte. Aber wir konnten uns ihrer nicht freuen. Unsere Augen waren zu trübe, unsere Sinne wie traumbefangen. Oben im Kehr warf die Mutter noch einen langen Blick auf unser Heim, dann ging’s der Station zu. Dort bricht das Weh noch einmal durch, als sie dem Braunen den Hals streichelt. ‹Kauf ihm beim Krämer ein Bitzli Zucker!... Bhüet dich Gott, Fritz.›

‹Bhüet dich Gott, Mutter, und Adie, Vater. Habt nicht Kummer wegen zu Hause; wir wollen schon schauen.›

Wir schlucken alle an unsern Tränen und, ‹Einsteigen, rasch, wir haben Verspätung›, mahnt der Kondukteur. Man hilft uns in die zweite Klasse, ein Pfiff und fort, dem unbekannten Schicksal entgegen. Man sitzt weich in der zweiten Klasse, ja; 231 aber was hilft’s, wenn das Herz voller Unruhe ist? Ich tue alles mögliche, um meiner Frau darüber hinwegzuhelfen. ‹Das ist jetzt Rieddorf, schau, Mutter, und dort drüben Grabenwil, wo ich einmal ein Roß gekauft habe, weißt noch: das Köhli mit dem weißen Stern.› Sie nickte. ‹Und schau, wie dort schon Gras gewachsen ist!› Sie nickt wieder. Und bald darauf: ‹Man hätte die Operation vielleicht doch noch verschieben können. Der Atem plagt mich jetzt viel weniger.›

So und ähnlich geht es auf der ganzen Fahrt. Die Augen gleiten wohl über dies oder jenes Neue, Fremdartige der Außenwelt; aber das Bild dringt nicht an die Pforten der Seele und glättet nicht die unruhigen Wogen im Innern. ‹O du armes Muetterli›, seufze ich inwendig, ‹wenn man dir doch diese Last von der Seele nehmen könnte!› Wohl erregt der verrückte Hut der einsteigenden Madam einen Augenblick die Aufmerksamkeit. Aber im nächsten bohrt der Wurm schon wieder: ‹Werd’ ich’s überstehen? O die grausamen Schmerzen!›

Endlich ist die Stadt erreicht. Welch ein Gewühl von Menschen! Und alle hoffärtig geputzt, lebensfroh, geschäftig! Wie weh es tun muß, unter allen diesen Glücklichen die einzige zu sein, die schon halb dem Tod verfallen ist!

Wir bestiegen ein Auto. Zögernd, unlustig! Ach ja, es wäre wohl schön, wenn wir einem fröhlichen Anlaß entgegenführen. So aber — warum diese 232 Hast und Eile? Kommt man nicht früh genug ins Haus des Jammers und des Todes?

Eh’ wir uns versehen, sind wir am Ort. Die Pforten der Klinik öffnen sich. Das Zimmer ist schon bereit, die Krankenschwester geschäftig. Freundlich tröstend spricht sie der zaghaften Mutter zu. Ja keine Furcht haben! Weit über tausend hat der berühmte Professor schon von diesem Leiden befreit. Dem fehlt’s nicht; nur ganz ruhig sein.

In einer halben Stunde stellt sich der leitende Arzt ein und nimmt die Untersuchung vor. Er bestätigt die Aussage unseres Doktors. Nur durch Operation sei gründlich zu helfen. Morgen sollen die Vorbereitungen dazu vorgenommen werden. Also noch eine kurze Gnadenfrist. Die Patientin soll zuerst ausruhen und Kräfte sammeln. Aber wie kann ein entwurzelter Baum Säfte an sich ziehen? Immerhin: die Krankenschwester ist eine mitleidsvolle Seele. Ihre Stimme hat etwas Gewisses, Festes, das tröstet und beruhigt. Der Ton tut einem wohl. ‹Das Mutterchen soll jetzt ein wenig ruhen und zu schlafen versuchen. Der Mann›, das wäre also ich, ‹kann derweilen auf den Balkon hinaussitzen — vielleicht raucht er gerne ein Pfeifchen.› Wie gern gehorchten wir diesen verständigen Anordnungen! Zumal ich — schon auf der Bahn hatte ein Gelüstchen an mir genagt, und die Hand war nach der Tasche gefahren, in der meine Pfeife steckte.

233 ‹Aber macht dir das Alleinsein nichts?› fragte ich. ‹Nein, geh’ nur, ich sehe dich ja immer durch die Glastüre.› So gehe ich denn und stecke in Brand; aber übertreiben will ich’s nicht damit, es wär’ nicht recht, ich genießen und meine Frau leiden. Aber man mag sagen was man will, gelassener nimmt man doch alles Schlimme, wenn man rauchen darf.

Ja, und nun sitze ich also da auf dem Balkon wie ein Zinsherr und schaue dazu über das Häusergewirr der Stadt und denke: Gestern hast du um die Zeit noch Mist geladen und keine Ahnung gehabt, daß du heute Strafsonntag machen mußt! Es ist doch seltsam, wie wir Menschen durchs Leben schlafwandeln und nie wissen, was unser harrt. Aber gut ist’s, sonst verlernte mancher das Lachen. Nun, für den Anfang wäre das Faullenzen vielleicht noch erträglich gewesen, wenn die Sorgen nicht immer an mir genagt hätten. So aber dehnte sich der Nachmittag unendlich in die Länge. Meine Frau sagte auch: ‹Mir ist, als wären wir schon weiß Gott wie lange von Hause fort.› Und nun erst die Nacht! Die Nacht, der Müden Freundin, der Beschwerten Feindin, die Nacht, die vor Kummer und Sorgen das Vergrößerungsglas hebt, die Nacht mit ihren neuen, unbekannten Geräuschen! Zu Hause weiß man sie alle zu deuten: Ach, es ist nur die Maus in der Kammer, die Katze auf der Bühne, das Pferd, das gegen den Plamper hämmert, die Kuh, die an der 234 Stallwand reibt. Aber in der Stadt muß man sich erst einleben. Die Pfiffe vom Bahnhof her, das Rollen des Trams und einiges andere kennt man wohl; aber vieles weiß man nicht zu erklären. Nun, es ist gut, geben sie uns Rätsel auf, Rätsellösen lenkt ab, wenn auch nur einen Augenblick. Rechter Schlaf, tief und fest, war uns keiner beschieden, nur eine Schicht Schlummer, dünn und durchlässig wie Fließpapier. Beide hielten wir uns still, keines wollte das andere am Einschlafen hindern oder wecken. Aber unser Weiher ist auch ruhig auf der Oberfläche, und auf dem Grunde gramselt allerhand Grausliches umher. Erschöpft vom gezwungenen Stilliegen fragte eines das andere leise: ‹Schläfst du noch nicht?› Und das andere antwortete ebenso: ‹Ich kann nicht.› Nun durften wir uns wenigstens auf die andere Seite drehen, wenn es nicht mehr zum Aushalten war. Dieses Ruschen und Herumwerfen und Kissenkehren dauerte bis gegen Morgen, und am Ende war ich so in meine Leintücher verwickelt, daß ich meine Beine fast nicht mehr wiederfand. Merkwürdigerweise hatte meine Frau die ganze Nacht keinen Anfall gehabt, und nun schien auch mir, man hätte mit dem Operieren noch warten können. Doch ein Zurück gab es nicht mehr. Schon am Vormittag holte der Anstaltsarzt meine Frau ins Operationszimmer: ‹Nur Vorbereitungen›, sagte er leichthin, ‹also keine Sorge. Vorerst muß der Herr Professor das Herz noch einmal untersuchen. Vielleicht ist nötig, 235 vorher noch etwas Stärkendes zu verordnen. Der Mann bleibt da,› fügte er bei, als ich mitgehen wollte, und faßte Muttern am Arm. Ehe ich ein Wort dazwischenreden konnte, waren sie zur Türe hinaus.

Ich trat auf den Balkon hinaus, schaute den Spatzen zu, die sich in der Dachrinne tummelten, rauchte eine Pfeife, beobachtete drei Hunde, die sich in den Anlagen herumbalgten, und den Bäckerjungen, der Brot in die Anstalt brachte.

Das dauerte aber lange mit diesen Vorbereitungen! Nun war schon eine Stunde vorbei und meine Frau noch nicht zurück. Ich wurde ungeduldig und regte mich auf. Es mußte nicht gut stehen, gar nicht gut stehen! Immer verlangender spähte ich durch die halbgeöffnete Tür. Endlich bringen sie die Frau. Der Anstaltsarzt trägt sie auf den Armen und legt sie aufs Bett. Sie ist schneeweiß und halb ohnmächtig. Am Halse ein Verband! ‹Die Operation ist glücklich vorbei,› meldet die Schwester. ‹Die Vorbereitungen erwiesen sich als überflüssig,› lächelte der Arzt. ‹Ihr habt uns getäuscht,› sage ich halb froh, halb vorwurfsvoll. ‹Um euch nicht noch mehr aufzuregen. Ist’s nicht gut so?› ‹Wohl, wohl,› stammelte ich dankbar und streckte ihm die Hand dar.

Nach einiger Zeit erwachte die Kranke. ‹Es ist vorbei! Gut vorbei!› sagte ich. ‹Ich bin so froh, o so froh!› antwortete sie und sank bald darauf in einen Erschöpfungsschlaf. ‹Geht Ihr jetzt ein wenig 236 spazieren,› riet mir die Schwester, der ich offenbar im Wege war. Ich gehorchte nicht ungern. Vorerst mußte ich nun doch meinen Leute zu Hause eine Karte schreiben und Bescheid geben. Eine Karte schreiben? Nein, das ging viel zu langsam, telephonieren oder telegraphieren. Ich entschied mich für das letztere. Mit den Beamten zu verhandeln, war mir zwar sehr zuwider. Lieber hätte ich zu Hause einen ganzen Acker angefurcht. Und ob ich den Weg in die Anstalt zurückfinden werde, machte mir auch Gedanken. Aber schließlich sind die Stadtleut’ auch keine Herrgötter, und reden wird man mit ihnen wohl auch dürfen. Und fuhr nicht das Tram ganz in der Nähe vorbei? Ich ging also auf die Tramhaltstelle und machte mir derweilen das Telegramm im Kopfe zurecht: ‹Operation glücklich vorbei. Mutter schwach, aber auf guten Wegen.› Zehnmal wiederholte ich’s mir, bis ich’s fest im Kopfe hatte. Das Telegraphenbureau hab ich glücklich erfragt, und ist alles leidlich gut abgelaufen, ein bißchen eine Stürmerei hat’s freilich abgesetzt; aber im ganzen war ich zufrieden mit mir und kam mir fast ein wenig großartig vor. So gar keinen Mut hat denn unsereins auch nicht, und daß wir Bauern ganz auf den Kopf gefallen seien, sollen sie in der Stadt nur nicht glauben. Bei einem Kuh- oder Roßhandel wollt’ ich’s ihnen beweisen. — Aber ich komm’ ins Schwätzen und hab das Trom verloren. —

Als ich wieder in die Anstalt kam, war meine 237 Frau wach und hatte schon unruhig nach mir gefragt und geweint. Die seelische Erschütterung hatte sie aus allen Geleisen geworfen. Sie war so reizbar und empfindlich, daß man ihr jedes rauhe Lüftchen abhalten mußte. In der Erste durft ich gar nicht mehr von ihrer Seite, nicht einmal auf den Balkon hinaus, und zu vieles Reden war uns auch verboten. So mußte ich da am Stuhle kleben und die Hände in den Schoß legen und gähnen. Du meine Kraft, in einem geschlagenen Jahr hab ich zu Hause nicht so oft und so schrecklich gegähnt wie dort in einer Woche. Und ein Heimweh überkam mich, es zerriß mich fast. Dazu diese Spitalkost! Kein Bissen schmeckte mir recht: Nicht aus Geiz, mehr um uns nicht aufzublähen, hatten wir uns die einfachste Kost verschrieben, und nun genügte sie uns nicht. Uns in eine höhere Klasse einreihen zu lassen, schämten wir uns, und solang es mit der Mutter noch auf der Kippe stand, mochten wir nicht großtun. Und was hätt’s geholfen? Vielleicht hätt’s noch weniger Kartoffeln, noch weniger Kohl und Rübli und noch mehr Fleisch gegeben, Fleisch, das wir mit unsern alten Zähnen nicht beißen konnten. O wie oft malten wir uns die Herrlichkeit aus, an einem wohlbesetzten Bauerntisch zu tafeln, vor uns eine mächtige Schüssel Kässuppe, einen Haufen geschwellte Kartoffeln, Milch, Schnitze und anderes Gemüse, unabgeteilt und so reichlich, daß man das Gefühl hat: Du dürftest dreimal hungriger sein, es wär doch genug da! Daß 238 man nicht immer Komödie spielen müßte: Ich mag nichts mehr, nimm du’s nur, das letzte Stücklein da!

Und daß man keinen Augenblick die Füße strecken darf, wie man gerne möchte! Und überhaupt dieses Leben mitten zwischen Heustöcken von Krankheit und Elend, wind und weh wird es einem dabei. Und keine Arbeit und kein rechter Schlaf! Wenn ich nur hätte ein Klafter Holz spalten dürfen oder ein paar Dutzend Reiswellen hacken! Aber so wie ein Spittler den ganzen Tag herumtratschen, wer hielte das aus! Kurz, ich fiel von einer Wunderlichkeit in die andere und hatte doch so viel Grund, dankbar zu sein. Meiner Frau ging es ja soweit ganz ordentlich, nur daß sie auch Heimweh hatte und sich langweilte wie ich. Ihre Nerven hatten sich wieder erholt, und am fünften Tag willigte sie ein, daß ich nach Hause durfte, um das Geld zu holen für die Bezahlung der in Aussicht stehenden großmächtigen Rechnung. Im Augenblick des Fortgehens hatte ich nicht viel Barvorrat im Hause gehabt und meinem Sohne Auftrag gegeben, auf der Sparkasse etwas zu erheben.

‹O wenn ich doch nur auch mit dir kommen könnte,› sagte meine Frau beim Mittagessen, und als ich ging, hatte sie Tränen im Auge.

‹Wein’ nicht›, tröstete ich, ‹das ist nun doch noch zu erleben, und morgen komm’ ich ja wieder, und dann weiß ich dir viel zu erzählen, und mitbringen tue ich auch allerhand, ein paar rotbackige 239 Kenter und die Lismete und wer weiß, was sonst noch.› Wir rieten noch ab, was ich denen zu Hause kramen solle, und dann schaufelte ich ab. Sie winkte mir durchs offene Fenster nach; ich gab ihr mit dem Stock ein Zeichen, und dann ging’s um die Ecke.

Heim, heim! Nie hatte ich gewußt, welch unbeschreibliche Süßigkeit in diesem Worte liegt, nun schmolz es mir über die Zunge wie eine Honigscheibe. Wie gerne hätte ich dem Schalterbeamten, der mir die Fahrkarte reichte, ein Trinkgeld gegeben! Nur die Furcht, ausgelacht zu werden, hielt mich davon ab. Es war auch gut, denn der Zug hatte Verspätung! Und mich reute jede Minute. Auf der Aussteigstation nahm ich mir nicht Zeit, ein Glas Wein zu trinken, obschon Bekannte da waren. Unverweilt stieg ich hügelan und kam gerade recht, um zu sehen, wie die Abendsonne mein Besitztum liebkoste und vergoldete. Hier auf diesem Platze war’s und ein Abend wie der heutige. Geweint hab ich wie ein Kind. Damals hat mir der Herrgott den Flirz aus den Augen gewischt und mit Sonnenstrahlen auf mein Heim geschrieben, wie schön es sei. Als ich da den Schrägweg hinab auf mein Haus zuschritt, Hab ich im Vorbeigehen jedem Baum mit der Hand einen Streichel und Schmeichel gegeben!

Und seither sind mir noch mancherlei Spinnhuppen aus dem Kopfe geflogen. Seither weiß ich, was ich an meinen Leuten hab und weiß, daß die Welt nicht aus den Angeln springt, wenn der Daniel einmal 240 nicht mehr da ist. Seither bin ich nicht mehr bloß der Ackerstier, der in den Kummet liegt, daß die Seitenblätter surren, seither ist mein Gemüt offen für viel Schönes und Gutes, das mir früher entgangen ist, seither eracht ich es nicht für verlorne Zeit, das Herz zu füllen mit Freude und Dank. Und meine Frau, die ich dann auch wieder heimgeholt hab, ist darin mit mir einig. Wenn wir eine Kuh schlachten müssen oder uns ein Mostfäßlein ausrinnt oder ein Sensenblatt zerreißt, hintersinnen wir uns nicht mehr, sondern wissen, daß es Schlimmeres zu ertragen gibt. Und wenn wir andern etwas helfen können...»

In diesem Augenblick trat eine Magd vor Daniels Haus und rief zu uns herauf: «Drätti, z’Nacht essen!» und er hob den Arm zum Zeichen, daß er den Ruf vernommen habe.

Drüben an den Schneebergen starb langsam der Widerschein der untergegangenen Sonne. Wir standen auf, verabschiedeten uns, und ich sprach: «Du, Daniel, das schreib ich doch auf!»

Er zuckte die Achseln: «Derlei muß man selber durchfechten, erst dann trägt’s die rechte Frucht.» Und wir gingen.


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