Friedrich Gerstäcker
Germelshausen
Friedrich Gerstäcker

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Arnold fühlte sich im ersten Augenblicke zwischen den vielen fremden Menschen nicht behaglich; auch die wunderliche Tracht und Sprache der Leute stieß ihn ab, und so lieb diese harten, ungewohnten Laute von Gertruds Lippen klangen, so rauh tönten sie von anderen an sein Ohr. Die jungen Burschen waren aber alle freundlich gegen ihn, und einer von ihnen kam auf ihn zu, nahm ihn bei der Hand und sagte:

»Das ist gescheit von Euch, Herr, daß Ihr bei uns bleiben wollt – führen auch ein lustiges Leben, und die Zwischenzeit vergeht rasch genug.«

»Welche Zwischenzeit?« frug Arnold, weniger erstaunt über den Ausdruck, als daß der Bursche so fest seinen Überzeugung aus sprach, daß er dieses Dorf zu seiner Heimat machen wollte. »Ihr meint, daß ich hierher zurückkehre?«

»Und Ihr wollt wieder fort?« frug der junge Bauer rasch.

»Morgen – ja – oder übermorgen – aber ich komme wieder.«

»Morgen? – so?« lachte der Bursch – »ja dann ist's schon recht – na, morgen sprechen wir weiter darüber. Jetzt kommt, daß ich Euch unsere Vergnügenlichkeit einmal zeige, denn wenn Ihr morgen schon wieder fort wollt, bekämet Ihr die am Ende nicht einmal zu sehen.«

Die anderen lachten heimlich mit einander, der junge Bauer aber nahm Arnold an der Hand und führte ihn im ganzen Hause herum, das dicht gedrängt voll lustig schwärmender Gäste war. Erst kamen sie durch Zimmer, in denen Kartenspieler saßen und große Haufen Geldes vor sich liegen hatten, dann betraten sie eine Kegelbahn, die mit hellglänzenden Steinen ausgelegt war. In einem dritten Zimmer wurden Ringel- und andere Spiele gespielt, und die jungen Mädchen liefen lachend und singend aus und ein und neckten sich mit den jungen Burschen, bis auf einmal ein Tusch von den Musikanten, die bis dahin lustig fortgespielt, das Zeichen zum Beginn des Tanzes gab und Gertrud jetzt auch an Arnolds Seite stand und seinen Arm faßte.

»Kommt, wir dürfen nicht die Letzten sein,« sagte das schöne Mädchen, »denn als des Schulzen Tochter muß ich den Tanz eröffnen.«

»Aber was für eine seltsame Melodie ist das?« sagte Arnold, »ich finde mich gar nicht in den Takt.«

»Es wird schon gehen,« lächelte Gertrud; »in den ersten fünf Minuten findet Ihr Euch hinein, und ich sage Euch wie.«

Laut jubelnd drängte jetzt alles, nur die Kartenspieler ausgenommen, dem Tanzsaale zu, und Arnold vergaß, in dem einen seligen Gefühle, das wunderbar schöne Mädchen in seinen Armen zu halten, bald alles andere.

Wieder und wieder tanzte er mit Gertrud, und kein anderer schien ihm seine Tänzerin streitig machen zu wollen, wenn ihn die übrigen Mädchen im Vorbeifliegen auch manchmal neckten. Eines nur fiel ihm auf und störte ihn; dicht neben dem Wirtshause stand die alte Kirche, und im Saale konnte man deutlich die grellen, mistönenden Schläge der zersprungenen Glocke hören. Bei dem ersten Schlage derselben aber war es, als ob der Stab eines Zauberers die Tanzenden berührt hatte. Die Musik hört mitten im Takte auf zu spielen, die lustige durcheinander wogende Schar stand, wie an ihre Plätze gebannt, still und regungslos, und alles zählte schweigend die einzelnen langsamen Schläge. Sobald aber der letzte verhallt war, ging das Leben und Jauchzen von neuem los. So war es um acht, so um neun, so um zehn Uhr, und wenn Arnold nach der Ursache so sonderbaren Betragens fragen wollte, legte Gertrud ihren Finger an die Lippen und sah dabei so ernst und traurig aus, daß er sie nicht um die Welt hätte mehr betrüben mögen.

Um zehn Uhr wurde im Tanzen eine Pause gemacht, und das Musikchor, das eiserne Lungen haben mußte, schritt dem jungen Volke voran in den Eßsaal hinab. Dort ging es lustig her; der Wein floß nur so, und Arnold, der nicht gut hinter den übrigen zurückbleiben konnte, berechnete sich schon im stillen, welchen Riß dieser verschwenderische Abend in seiner bescheidenen Kasse machen würde. Aber Gertrud saß neben ihm, trank mit ihm aus einem Glase, und wie hätte er da einer solchen Sorge Raum geben können! – Und wenn ihr Heinrich morgen kam?

Der erste Schlag der elften Stunde tönte, und wieder schwieg der laute Jubel der Zechenden, wieder dieses atemlose Lauschen den langsamen Schlägen. Ein eigenes Grauen überkam ihn; er wußte selber nicht weshalb, und der Gedanke an seine Mutter daheim zog ihm durch das Herz. Langsam hob er sein Glas und leerte es als Gruß den fernen Lieben.

Mit dem elften Schlage aber sprang die Gäste von den Tischen auf; der Tanz sollte aufs neue beginnen, und alles eilte in den Saal zurück.

»Wem habt Ihr zuletzt zugetrunken?« frug Gertrud, als sie ihren Arm wieder in den seinen gelegt hatte.

Arnold zögerte mit der Antwort. Lachte ihn Gertrud vielleicht aus, wenn er es ihr sagte? – Aber nein – so brünstig hatte sie ja noch an dem Nachmittage an ihrer eigenen Mutter Grabe gebetet, und mit leiser Stimme sagte er:

»Meiner Mutter.«

Gertrud erwiderte kein Wort und ging schweigend neben ihm die Treppe wieder hinauf – aber sie lachte auch nicht mehr, und ehe sie wieder zum Tanze antraten, frug sie ihn:

»Habt Ihr Eure Mutter so lieb?«

»Mehr als mein Leben.«

»Und sie Euch?«

»Liebt eine Mutter ihr Kind nicht?«

»Und wenn Ihr nicht wieder heim zu ihr kämet?«

»Arme Mutter,« sagte Arnold – »Ihr Herz würde brechen.«

»Da beginnt der Tanz wieder,« rief Gertrud rasch – »kommt, wir dürfen keinen Augenblick mehr versäumen!«

Und wilder als je begann der Tanz; die jungen Burschen, von dem starken Wein erhitzt, tobten und jubelten und kreischten, und ein Lärmen entstand, das die Musik zu übertäuben drohte. Arnold fühlte sich nicht mehr so wohl in dem Toben, und auch Gertrud war ernst und still dabei geworden. Nur bei den anderen allen schien der Jubel zu wachsen, und in einer Pause kam der Schulze auf sie zu, schlug dem jungen Manne herzhaft auf die Schultern und sagte lachend:

»Das ist recht, Herr Maler, nur lustig die Beine geschwenkt den Abend; wir haben Zeit genug, uns wieder auszuruhen. Na, Trudchen, weshalb schneidest denn du so ein ernstes Gesicht? – paßt das zu dem Tanze heint? Lustig – hei da geht's wieder los! Jetzt muß ich meine Alte auch suchen, mit ihr den letzten Tanz zu machen. Stellt Euch an; die Musikanten blasen schon wieder die Backen auf!« – und mit einem Jauchzen drängte er sich durch den Schwarm der lustigen Menschen.

Arnold umschlang wieder Gertrud zu neuem Tanze, als diese sich plötzlich von ihm losmachte, seinen Arm ergriff und leise flüsterte:

»Kommt!«

Arnold behielt keine Zeit, sie zu fragen wohin, denn sie glitt ihm unter den Händen weg und der Saaltüre zu.

»Wohin, Trudchen?« riefen sie ein paar der Gespielinnen an.

»Bin gleich wieder da,« lautete die kurze Antwort, und wenige Sekunden später stand sie mit Arnold draußen in der frischen Abendluft vor dem Hause.

»Wo willst du hin, Gertrud?«

»Kommt!« – Wieder ergriff sie seinen Arm und führte ihn durch das Dorf, an ihres Vaters Haus vorbei, in das sie hineinsprang und mit einem kleinen Bündel zurückkehrte.

»Was hast du vor!« fragte Arnold erschreckt.

»Kommt!« war das einzige, was sie erwiderte, und an den Häusern vorbei schritt sie mit ihm, bis sie die äußere Ringmauer des Dorfes hinter sich ließen. Sie waren bis jetzt der breiten, festen und hartgefahrenen Straße gefolgt; jetzt bog Gertrud links vom Wege ab und schritt einen kleinen, flachen Hügel hinauf, von dem aus man gerade auf die hellerleuchteten Fenster und Türen des Wirtshauses sehen konnte. Hier blieb sie stehen, reichte Arnold die Hand und sagte herzlich:

»Grüßt Eure Mutter von mir – lebt wohl!«

»Gertrud,« rief Arnold so erstaunt wie bestürzt – »jetzt mitten in der Nacht willst du mich so von dir schicken? Habe ich dir mit irgend einem Worte weh getan?«

»Nein, Arnold,« sagte das Mädchen, ihn zum erstenmale bei seinem Vornamen nennend, – »eben – eben weil ich Euch gern hab', müßt Ihr fort.«

»Aber so laß ich dich nicht von mir im Dunklen allein in das Dorf zurück« – bat Arnold; »Mädchen, du weißt nicht, wie lieb ich dich habe, wie du mir das Herz in wenigen Stunden fest und sicher gefaßt hast. Du weißt nicht –«

»Sprecht nichts weiter,« unterbrach ihn Gertrud rasch, »wir wollen keinen Abschied nehmen. Wenn die Glocke zwölf geschlagen hat – es kann kaum noch zehn Minuten dauern – so kommt wieder an die Türe des Wirtshauses – dort werd' ich Euch erwarten.«

»Und so lange –«

»Bleibt Ihr hier auf dieser Stelle stehen. Versprecht mir, daß Ihr keinen Schritt zur Rechten oder zur Linken gehen wollt, bis die Glocke zwölf ausgeschlagen hat.«

»Ich verspreche es, Gertrud – aber dann –«

»Dann kommt,« sagte das Mädchen, reichte ihm die Hand zum Abschied und wollte fort.

»Gertrud!« rief Arnold mit bittenden, schmerzlichem Tone.

Gertrud blieb einen Augenblick wie zögernd stehen, dann plötzlich wandte sie sich gegen ihn um, warf ihre Arme um seinen Nacken, und Arnold fühlte die eiskalten Lippen des schönen Mädchens fest auf den seinen. Aber es war nur ein Moment, in der nächsten Sekunde hatte sie sich losgerissen und floh dem Dorfe zu, und Arnold blieb bestürzt über ihr wunderliches Betragen, aber seines Versprechens eingedenk, an der Stelle stehen, wo sie ihn verlassen.

Jetzt erst sah er auch, wie sich das Wetter in den wenigen Stunden verändert hatte. Der Wind heulte durch die Bäume, der Himmel war mit dichten, jagenden Wolken bedeckt, und einzelne große Regentropfen verrieten ein nahendes Gewitter.

Durch die dunkle Nacht glänzten hell die Lichter aus dem Wirtshause heraus, und wie der Wind dort herüber sauste, konnte er in einzelnen unterbrochenen Stößen den lärmenden Klang der Instrumente hören – aber nicht lange. Nur wenige Minuten hatte er auf seiner Stelle gestanden, da hob die alte Kirchenturmglocke zum schlagen aus – in demselben Moment verstummte die Musik oder wurde von dem heulenden Sturm übertäubt, der so arg über den Hang tobte, daß Arnold sich zum Boden niederbiegen mußte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Vor sich auf der Erde fühlte er da das Paket, das Gertrud aus dem Hause geholt, seinen eigenen Tornister und seine Mappe, und erschreckt richtete er sich wieder empor. Die Uhr hatte ausgeschlagen, die Windsbraut heulte vorüber, aber nirgends im Dorfe entdeckte er mehr ein Licht. Die Hunde die kurz vorher gebellt und geheult, waren still, und dichter, feuchter Nebel quoll aus dem Grunde herauf.

»Die Zeit ist um,« murmelte Arnold vor sich hin, indem er seinen Tornister auf den Rücken warf, »und ich muß Gertrud noch einmal sehen, denn so kann ich nicht von ihr scheiden. Der Tanz ist aus – die Tänzer werden jetzt zu Hause gehen, und wenn mich der Schulze auch nicht über Nacht behalten will, bleib' ich im Wirtshause – in der Dunkelheit fänd' ich überdies nicht meinen Weg durch den Wald.«

Vorsichtig stieg er den leisen Abhang wieder hinunter, den er mit Gertrud heraufgekommen, dort den breiten und weißen Weg zu treffen, der in das Dorf hineinführte, aber umsonst tappte er unten in den Büschen darnach herum. Der Grund war weich und sumpfig, mit seinen dünnen Stiefeln sank er bis tief über die Knöchel ein, und dichtes Erlengebüsch schoß überall dort empor, wo er den festen Weg vermutet hatte. Gekreuzt konnte er ihn in der Dunkelheit auch nicht haben, er mußte ihn fühlen, wenn er darauf trat, und außerdem wußte er, daß die Ringmauer des Dorfes querüber lief – diese konnte er nicht verfehlen. Aber umsonst suchte er mit einer ängstlichen Hast darnach: der Boden wurde weicher und sumpfiger, je weiter er darin vordrang, das Gestrüpp dichter und überall von Dornen durchzogen, die seine Kleider zerrissen und seine Hände blutig ritzten.

War er rechts oder links abgekommen und an dem Dorfe vorbei? Er fürchtete, sich noch weiter zu verirren, und blieb auf einer ziemlich trockenen Stelle, dort zu erwarten, bis die alte Glocke eins schlagen würde. Aber es schlug nicht an, kein Hund bellte, kein menschlicher Laut tönte zu ihm herüber, und mit Mühe und Not, durch und durch naß und vor Frost zitternd, arbeitete er sich wieder zu dem höher gelegenen Hügelhang zurück, an dem ihn Gertrud verlassen. Wohl versuchte er von hier aus noch ein paarmal in das Dickicht einzudringen und das Dorf zu finden, aber vergebens; zum Tode erschöpft, von einem eigentümlichen Grausen erfaßt, mied er zuletzt den tiefen, dunklen, unheimlichen Grund und suchte einen schützenden Baum, die Nacht dort zu verbringen.

Und wie langsam zogen die Stunden an ihm vorüber! Denn zitternd vor Frost war er nicht imstande, der langen Nacht auch nur eine Sekunde Schlaf abzustehlen. Immer wieder horchte er dabei in die Dunkelheit hinein, denn immer aufs neue glaubte er den rauhen Schlag der Glocke zu vernehmen, um immer aufs neue sich getäuscht zu sehen.

Endlich dämmerte der erste lichte Schein aus fernem Osten; die Wolken hatten sich verzogen, der Himmel war wieder rein und sternenhell, und die erwachenden Vögel zwitscherten leise in den dunklen Bäumen.

Und breiter wurde der goldene Himmelsgürtel und lichter – schon konnte er deutlich um sich her die Wipfel der Bäume erkennen – aber vergebens suchte sein Blick den alten braunen Kirchturm und die wettergrauen Dächer. Nichts als ein wildes Erlengestrüpp, mit einzelnen verkrüppelten Weiden dazwischen, dehnte sich vor ihm aus. Kein Weg war zu erkennen, der links oder rechts abführte, kein Zeichen einer menschlichen Wohnung in der Nähe.

Heller und heller brach der Tag an; die ersten Sonnenstrahlen fielen auf die weite, grüne, vor ihm ausgebreitete Fläche, und Arnold, nicht imstande sich dieses Rätzel zu erklären, wanderte ein ganzes Stück den Grund zurück. Er mußte sich in der Nacht, während er den Ort suchte, ohne daß er es wußte, verirrt und weiter davon entfernt haben, und war jetzt fest entschlossen ihn wieder aufzufinden.

Endlich erreichte er den Stein, an dem er Gertrud gezeichnet; den Platz hätte er unter tausenden wieder erkannt, denn der alte Fliederbusch mit seinen starren Ästen bezeichnete ihn zu genau. Er wußte jetzt genau, woher er gekommen war, und wo Germelshausen liegen mußte, und schritt rasch das Tal zurück, genau dieselbe Richtung, beibehaltend, der er gestern mit Gertrud gefolgt war. Dort erkannte er auch die Biegung des Hanges, über dem der düstere Höhenrauch gelegen; nur das Erlengebüsch schied ihn noch von den ersten Häusern. Jetzt hatte er es erreicht – drängte sich hindurch und – befand sich wieder in dem nämlichen sumpfigen Moraste, in dem er in der letzten Nacht herumgewatet.

Vollständig ratlos und seinen eigenen Sinne nicht trauend, wollte er die Passage hier erzwingen, aber das schmutzige Sumpfwasser zwang ihn endlich, das trockene Land wieder zu suchen, und vergebens wanderte er dort jetzt auf und ab. Das Dorf war und blieb verschwunden.

Mit diesen unnützen Versuchen mochten mehrere Stunden vergangen sein, und die müden Glieder versagten ihm zuletzt den Dienst. Er konnte nicht weiter und mußte sich erst ausruhen; was half ihm auch das nutzlose Suchen? von dem ersten Dorfe, das er erreichte, konnte er leicht einen Führer nach Germelshausen bekommen und dann den Weg nicht wieder verfehlen.

Todesmatt warf er sich unter einen Baum – und wie war sein bester Anzug zugerichtet! – Aber das kümmerte ihn jetzt nicht; seine Mappe nahm er vor und aus der Mappe Gertruds Bild, und mit bitterem Schmerz hing sein Auge an den lieben, lieben Zügen des Mädchens, das, wie er zu seinem Schrecken fand, schon einen zu festen Halt an ihn gewonnen hatte.

Da hörte er hinter sich das Laub rascheln – ein Hund schlug an, und als er rasch emporsprang, stand ein alter Jäger nicht weit von ihm und betrachtete sich neugierig die wunderliche, so anständig gekleidete und so verwildert aussehende Gestalt.

»Grüß' Gott!« rief Arnold, seelensfroh, einem Menschen hier zu begegnen, indem er das Blatt rasch wieder in die Mappe schob. »Sie kommen mir hier wie gerufen, Herr Förster, denn ich glaube, ich habe mich verirrt.«

»Hm,« sagte der Alte, »wenn Sie hier die ganze Nacht im Busche gelegen haben – und kaum eine halbe Stunde nach Dillstedt hinüber zu einem guten Wirtshause – so glaub' ich das auch. Donnerwetter, wie sehen sie aus, gerade als ob Sie eben Hals über Kopf aus Dornen und Sumpf kämen!«

»Sie sind hier im Walde genau bekannt?« sagte da Arnold, der vor allen Dingen wissen wollte, wo er sich eigentlich befand.

»Ich sollt' es denken,« lachte der Jäger, indem er Feuer schlug und seine Pfeife wieder in Brand brachte.

»Wie heiß das nächste Dorf?«

»Dillstedt – gerad' dort hinüber. Wenn Sie da drüben auf die kleine Anhöhe kommen, können Sie es leicht unter sich liegen sehen.«

»Und wie weit hab' ich von hier nach Germelshausen?«

»Wohin?« rief der Jäger und nahm erschreckt seine Pfeife aus dem Munde.

»Nach Germelshausen.«

»Gott sei mir gnädig!»sagte da der Alte, während er einen scheuen Blick umherwarf – »den Wald kenn' ich gut genug; wie viel Klaftern tief im Erdboden drinnen aber das verwünschte Dorf liegt, das weiß nur Gott – und – geht unsereinen auch nichts an.«

»Das verwünschte Dorf?« rief Arnold erstaunt.

»Germelshausen – ja« – sagte der Jäger. »Gleich da drin im Sumpfe, wo die alten Weiden und Erlen stehen, soll es vor so und so vielen hundert Jahren gelegen haben, nachher ist's weggesunken – niemand weiß, warum und wohin, und die Sage geht, daß es alle hundert Jahre an einem bestimmten Tage wieder ans Lichte gehoben würde – möchte aber keinem Christenmenschen wünschen, daß er zufällig dazu käme. – Aber zum Wetter noch einmal, das Nachtlager im Busche scheint Ihnen nicht gut zu bekommen. Sie sehen käseweiß aus. Da – nehmen Sie einmal einen Schluck aus der Flasche hier, der wird Ihnen gut tun – nur ordentlich!«

»Ich danke.«

»Ach was, das war nicht halb genug – einen ordentlichen, dreimal geknoteten Schluck – so – das ist der echte Stoff, und nun machen Sie, daß Sie hinüber ins Wirtshaus und in ein warmes Bett kommen.«

»Nach Dillstedt?«

»Nun ja, natürlich – näher haben wir keines.«

»Und Germelshausen?«

»Tun Sie mir den Gefallen und nennen Sie den Ort nicht wieder hier, gerade an der Stelle wo wir stehen. Lassen wir die Toten ruhen, und besonders solche, die überhaupt keine Ruhe haben und immer wieder einmal unversehens zwischen uns auftauchen!«

»Aber gestern hat das Dorf noch hier gestanden,« rief Arnold, seiner Sinne kaum mehr mächtig; – »ich war darinnen – ich habe darin gegessen, getrunken und getanzt.«

Der Jäger betrachtete sich die Gestalt des jungen Mannes ruhig von oben bis unten, dann sagte er lächelnd:

»Aber es hieß anders, nicht wahr? – wahrscheinlich kommen Sie gerade von Dillstedt herüber, dort war gestern abend Tanz, und das starke Bier, das der Wirt jetzt braut, kann nicht ein jeder vertragen.«

Arnold öffnete, statt aller Antwort, seine Mappe und nahm die Zeichnung heraus, die er vom Kirchhof aus entworfen hatte.

»Kennen Sie das Dorf?«

»Nein!« sagte der Jäger kopfschüttelnd – »solch ein flacher Turm ist hier in der ganzen Gegend nicht.«

»Das ist Germelshausen,« rief Arnold – »und tragen sich so die Bauernmädchen in der Nachbarschaft, wie das Mädchen hier?«

»Hm, – nein! was ist denn das für ein wunderlicher Leichenzug, den Ihr da darauf habt?«

Arnold antwortete ihm nicht; er schob die Blätter wieder in seine Mappe zurück, und ein eigenes, wehes Gefühl durchbebte ihn.

»Den Weg nach Dillstedt können Sie nicht verfehlen,« sagte der Jäger gutmutig, denn ein dunkler Verdacht stieg jetzt in ihm auf, daß es im Kopfe des Fremden nicht so ganz richtig sein möchte, – »wenn Sie es aber wünschen, will ich Sie begleiten, bis wir den Ort liegen sehen; ich gehe mir so nicht viel aus dem Wege.«

»Ich danke Ihnen,« wehrte aber Arnold ab. »Dort hinüber finde ich mich schon zurecht. Also alle hundert Jahre nur soll das Dorf nach oben kommen?«

»So erzählen die Leute,« meinte der Jäger – »wer weiß aber, ob's wahr ist.«

Arnold hatte seinen Tornister wieder aufgenommen.

»Grüß' Gott!« sagte er, dem Jäger die Hand entgegenstreckend.

»Schönen Dank,« erwiderte der Forstmann – »wo geht Ihr jetzt hin?«

»Nach Dillstedt.«

»Das ist recht – dort über den Hang kommt Ihr auch wieder auf den breiten Fahrweg.«

Arnold wandte sich ab und schritt langsam seine Bahn entlang. Erst auf dem Hange oben, von dem aus er den ganzen Grund übersehen konnte, blieb er noch einmal stehen und schaute zurück.

»Leb' wohl, Gertrud!« murmelte er leise, und als er über den Hang hinüberschritt, drängten sich die großen, hellen Tränen aus den Augen.


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