Friedrich Gerstäcker
Germelshausen
Friedrich Gerstäcker

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»Und warum nicht?«

»Darf er, Vater?« frug Gertrud.

»Wenn er nicht bei uns bleibt,« lachte der Schulze, »hab' ich nichts dagegen – aber dahinten fehlt noch etwas.«

»Was?«

»Der Leichenzug von vorhin. – Malt den mit auf das Blatt, und Ihr mögt das Bild mitnehmen.«

»Aber der Leichenzug zu Gertrud?«

»Da ist noch Platz genug,« sagte hartnäckig der Schulze, »der muß mit drauf sein, sonst leid' ich nicht, daß Ihr meines Mädels Bild so ganz allein mit fortnehmt. In so ernster Gesellschaft kann aber niemand etwas Übles davon denken.«

Arnold schüttelte über den wunderlichen Vorschlag, dem hübschen Mädchen einen Leichenzug als Ehrenwache mitzugeben, lachend den Kopf. Der Alte schien aber einmal die fixe Idee zu haben, und um ihn zufrieden zu stellen, tat er ihm den Willen. Später konnte er die traurige Beigabe schon leicht wieder entfernen.

Mit geübter Hand hatte er auch die eben vorbeigezogenen Gestalten, wenn auch nur aus der Erinnerung, auf das Papier gebracht, und die ganze Familie drängte sich dabei um ihn her und sah mit offenbarem Staunen die rasche Ausführung der Zeichnung.

»Hab ich's so recht gemacht?« rief Arnold endlich, als er von seinem Stuhle aufsprang und das Bild in Armeslänge von sich hielt.

»Vortrefflich!« nickte der Schulze, – »hätt's nimmer gedacht, daß Ihr's so schnell fertig brächtet. Jetzt mag's sein, und nun geht mit dem Mädel hinaus und seht Euch das Dorf an – möchtet es doch sobald nicht wieder zu sehen bekommen. Bis um fünf Uhr seid aber fein wieder da – wir feiern ein Fest heint, und da müßt Ihr dabei sein!«

Arnold selber wurde es in der dumpfigen Stube, den Wein im Kopfe, eng und beklemmt zu Mute, und er sehnte sich ins Freie, und wenige Minuten später schritt er an der schönen Gertrud Seite die Straße entlang, die durch das Dorf führte.

Jetzt lag auch der Weg nicht mehr so still da wie vorhin; die Kinder spielten auf der Straße, die Alten saßen hie und da vor ihren Türen und sahen ihnen zu, und der ganze Ort mit seinen alten, wunderlichen Gebäuden hätte sicherlich sogar ein freundliches Ansehen gehabt, wäre die Sonne nur im Stande gewesen, durch den dichten, bräunlichen Rauch zu dringen, der wie eine Wolke über den Dächern lag.

»Ist hier ein Moor- oder Waldbrand in der Nähe?« frug er das Mädchen; »derselbe Rauch liegt über keinen anderen Dorfe und kann nicht von den Schornsteinen herrühren.«

»Es ist Erdrauch,« sagte ruhig Gertrud – »aber habt Ihr nie von Germelshausen gehört?«

»Nie.«

»Das ist sonderbar, und das Dorf ist doch schon so alt – so alt.«

»Die Häuser sehen wenigstens darnach aus, und auch die Leute haben alle ein so wunderliches Benehmen, und eure Sprache klingt so ganz anders, wie in den Nachbarorten. Ihr kommt wohl wenig hinaus aus eurem Orte?«

»Wenig,« sagte Gertrud einsilbig.

»Und keine einzige Schwalbe ist mehr da? – Die können doch noch nicht fortgezogen sein?«

»Schon lange« – antwortete eintönig das Mädchen; – »in Germelshausen baut sich keine mehr ihr Nest. – Sie können vielleicht den Erdrauch nicht vertragen.

»Aber den habt ihr nicht immer?«

»Immer.«

»Dann ist der auch schuld daran, daß eure Obstbäume keine Früchte tragen, und noch in Marisfelde mußten sie dieses Jahr die Äste stützen, so reich gesegnet ist das Jahr.«

Gertrud erwiderte kein Wort darauf und wanderte schweigend an seiner Seite, immer im Dorfe hin, bis sie das äußerste Ende desselben erreichten. Unterwegs nickte sie nur manchmal einem Kinde freundlich zu oder sprach mit einem der jungen Mädchen – vielleicht über den heutigen Tanz und Ballstaat – ein paar leise Worte. Und die Mädchen sahen dabei den jungen Maler mit recht mitleidsvollen Blicken an, daß es diesem, er wußte selber nicht recht warum, ganz warm und weh ums Herz wurde – aber er getraute sich nicht, Gertrud deshalb zu fragen.

Jetzt endlich hatten sie die äußersten Häuser erreicht, und so lebendig es im Dorfe selber auch gewesen, so still und einsam, ja so totenähnlich wurde es hier. Die Gärten sahen aus als ob sie seit langen, langen Jahren nicht betreten wären; in den Wegen wuchs Gras, und merkwürdig schien es besonders dem jungen Fremden, daß kein einziger Obstbaum auch nur eine Frucht trug.

Da begegneten ihnen Menschen, die von draußen hereinkamen, und Arnold erkannte augenblicklich den rückkehrenden Leichenzug. Die Leute zogen still an ihnen vorüber wieder in das Dorf hinein, und fast unwillkürlich lenkten sich beider Schritte dem Friedhof zu.

Arnold suchte jetzt seine Begleiterin, die ihm gar so ernst vorkam, aufzuheitern, erzählte ihr von anderen Orten, wo er gewesen, und wie es draußen in der Welt aussehe. Sie hatte noch nie eine Eisenbahn gesehen, ja nie davon gehört, und horchte aufmerksam und erstaunt seiner Erklärung. Auch von den Telegraphen hatte sie keine Ahnung, eben so wenig von all den neueren Erfindungen, und der junge Maler begriff nicht, wie es möglich sei, das noch Menschen in Deutschland so abgeschieden, so förmlich getrennt von der übrigen Welt und außer der geringsten Verbindung mit ihr leben konnten.

In diesen Gesprächen erreichten sie den Gottesacker, und hier fielen dem jungen Fremden gleich die altertümlichen Steine und Denkmale auf, so einfach sie auch im ganzen waren.

»Das ist ein alter, alter Stein,« sagte er, als er sich zu dem nächsten niederbog und mit Mühe die Schnörkelschrift desselben entziffert hatte, »Anna Maria Berthold, geborene Stieglitz, geboren am 1sten Dcbr. 1188 – gestorben den 2ten Dezember 1224 –«

»Das ist meine Mutter,« sagte Gertrud ernst, und ein paar große, helle Tränen drängten sich in ihr Auge und fielen langsam auf ihr Mieder nieder.

»Deine Mutter, mein gutes Kind?« sagte Arnold erstaunt, »deine Ur-Ur-Elternmutter, ja, die konnte es gewesen sein.«

»Nein,« sagte Gertrud, »meine rechte Mutter – der Vater hat nachher wieder gefreit, und die zu Haus ist meine Stiefmutter.«

»Aber steht da nicht gestorben 1224 ?«

»Was kümmert mich das Jahr,« sagte Gertrud traurig – »es tut gar weh, wenn man so von der Mutter getrennt wird, und doch« – setzte sie leise und recht schmerzlich hinzu – »war es vielleicht gut – recht gut, daß sie vorher zu Gott eingehen durfte.«

Arnold bog sich kopfschüttelnd über den Stein, die Inschrift genauer zu erforschen, ob die erste 2 in der Jahreszahl vielleicht eine 8 sei, denn die altertümliche Schrift machte das nicht unmöglich; aber die andere 2 glich der ersten auf ein Haar und 1884 schrieben sie noch lange nicht. Vielleicht hatte sich der Steinmetz geirrt, und das Mädchen war so in das Andenken an die Verstorbene vertieft, daß er sie nicht weiter durch vielleicht lästige Fragen stören mochte. Er ließ sich deshalb bei dem Steine, an dem sie niedergesunken war und leise betete, um einige andere Denkmäler zu untersuchen; aber alle ohne Ausnahmen trugen Jahreszahlen viele hundert Jahre zurück, selbst bis 930, ja 900 n. Chr. G., und kein neuerer Stein ließ sich auffinden, und doch wurden die Toten selbst jetzt noch hier beigesetzt, wie das letzte, ganz frische Grab bezeugte.

Von der niederen Kirchhofmauer aus hatte man aber auch einen trefflichen Überblick über das alte Dorf, und Arnold benutzte rasch die Gelegenheit, eine Skizze davon zu entwerfen. Aber auch über diesem Platz lag der wunderliche Höhenrauch, und weiter dem Walde zu konnte er doch die Sonne hell und klar auf die Berghänge sehen.

Da schlug im Dorfe wieder die alte, zersprungene Glocke an, und Gertrud, sich rasch emporrichtend und die Tränen aus den Augen schüttelnd, winkte freundlich dem jungen Manne, ihr zu folgen.

Arnold war rasch an ihrer Seite.

»Jetzt dürfen wir nicht mehr trauern,« sagte sie lächelnd, »die Kirche läutet aus, und nun geht es zu Tanze. Ihr habt bis jetzt wohl geglaubt, daß die Germelshauser lauter Kopfhänger wären; heut abend sollt Ihr das Gegenteil gewahr werden.«

»Aber da drüben ist doch die Kirchentüre,« sagte Arnold, »und ich sehe niemanden herauskommen?«

»Das ist sehr natürlich,« lachte das Mädchen, »weil niemand hineingeht, der Pfarrer selber nicht einmal. Nur der alte Sakristan gönnt sich keine Ruhe und läutet die Kirche aus und ein.«

»Und keins von euch geht in die Kirche?«

»Nein, – weder zur Messe – noch Beichte,« sagte das Mädchen ruhig, »wir liegen in einem Streite mit dem Papste, der bei den Welschen wohnt, und der will es nicht leiden, bis wir ihm wieder gehorchen.«

»Aber davon hab' ich im Leben nichts gehört.«

»Ja, ist auch schon lange her,« sagte das Mädchen leicht hin, – »seht Ihr, da kommt der Sakristan ganz allein aus der Kirche und schließt die Tür zu; der geht auch nicht abends ins Wirtshaus, sondern sitzt still und allein daheim.«

»Und der Pfarrer kommt?«

»Das sollt' ich meinen – und ist der lustigste von allen. Er nimmt sich's nicht zu Herzen.«

»Und weshalb ist das alles geschehen?« sagte Arnold, der sich fast weniger über die Tatsachen, als über des Mädchens Unbefangenheit wunderte.

»Das ist eine lange Geschichte,« meinte aber Gertrud, »und der Pfarrer hat das alles in ein großes, dickes Buch aufgeschrieben. Wenn's Euch Spaß macht und Ihr lateinisch versteht, mögt Ihr's darin lesen. Aber« – setzte sie warnend hinzu – »sprecht nicht davon, wenn mein Vater dabei ist, denn er hat's nicht gern. Seht Ihr – da kommen die Burschen und Mädchen schon aus den Häusern, jetzt muß ich machen, daß ich heim komme und mich auch anziehe, denn ich möchte nicht die Letzte sein.«

»Und den ersten Tanz, Gertrud? –«

»Tanze ich mit Euch, Ihr habt mein Versprechen.«

Rasch schritten die beiden in das Dorf zurück, wo jetzt aber ein ganz anderes Leben herrschte, als am Morgen. Überall standen lachende Gruppen von jungen Leuten; die Mädchen waren zu der Festlichkeit geschmückt und die Burschen ebenfalls in ihrem besten Staate, und an dem Wirtshause, an dem sie vorbeigingen, hingen Blatt-Girlanden von einem Fenster zum anderen und zogen über der Türe einen weiten Triumphbogen.

Arnold mochte sich, da er alles aufs beste herausgeputzt sah, nicht in seinen Reisekleidern zwischen die Festtägler mischen, schnallte deshalb in des Schulzen Hause seinen Tornister auf, nahm seinen guten Anzug heraus und war eben mit seiner Toilette fertig, als Gertrud an die Türe klopfte und ihn abrief. Und wie wunderbar schön sah das Mädchen jetzt in ihrem einfachen und doch so reichen Schmucke aus, und wie herzlich bat sie ihn, sie zu begleiten, da Vater und Mutter erst später nachfolgen würden!

Die Sehnsucht nach ihrem Heinrich kann ihr das Herz nicht besonders abdrücken, dachte der junge Mann freilich, als er ihren Arm in den seinen zog und mit ihr durch die jetzt einbrechende Dämmerung dem Tanzsaal zuschritt; aber er hütete sich wohl, einem derartigen Gedanken Worte zu geben, denn ein eigenes, wunderliches Gefühl durchzuckte seine Brust, und sein Herz klopfte ihm selber ungestüm, als er das der Jungfrau an seinem Arme pochen fühlte.

»Und morgen muß ich wieder fort,« seufzte er leise vor sich hin. Ohne das er es selber wollte, waren aber die Worte zu dem Ohre seiner Begleiterin gedrungen, und sie sagte lächelnd:

»Sorgt Euch nicht um das – wir bleiben länger zusammen – länger vielleicht als Euch lieb ist.«

»Und würdest du es gerne sehen, Gertrud, wenn ich bei euch bliebe?« frug Arnold, und er fühlte dabei, wie ihm das Blut mit voller Gewalt in Stirn und Schläfe schoß.

»Gewiß,« sagte das junge Mädchen unbefangen, »Ihr seid gut und freundlich – mein Vater hat Euch auch gern, ich weiß es, und – Heinrich ist doch nicht gekommen!« setzte sie leise und wie zürnend hinzu.

»Und wenn er nun morgen käme?«

»Morgen?« sagte Gertrud und sah ihn mit ihren großen, dunklen Augen ernst an – »dazwischen liegt eine lange – lange Nacht. Morgen! Ihr werdet morgen begreifen, was das Wort bedeutet. Aber heint sprechen wir nicht davon,« brach sie kurz und freundlich ab, »heint ist das frohe Fest, auf das wir uns so lange, so sehr lange gefreut, und das wollen wir uns ja nicht durch trübe Gedanken verkümmern. Und hier sind wir auch am Orte – die Burschen werden nicht schlecht schauen, wenn ich mir einen neuen Tänzer mitbringe.«

Arnold wollte ihr etwas darauf erwidern, aber lärmende Musik, die von innen heraustönte, übertäubte seine Worte. Wunderliche Weisen spielten auch die Musikanten auf – er kannte keine einzige davon und ward durch den Glanz der vielen Lichter, die ihm entgegenfunkelten, im Anfang fast wie geblendet. Gertrud führte ihn jedoch mitten in den Saal hinein, wo eine Menge junger Bauernmädchen plaudernd zusammenstanden, dort erst ließ sie ihn los, sich, bis der wirkliche Tanz begann, erst ein wenig umzusehen und mit den übrigen Burschen bekannt zu werden.


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