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4. Kapitel. Laubenkolonie.

Auf einem Balkon eines niedlichen Landhauses in der Nähe von Berlin saß eine kleine Gesellschaft zusammen und plauderte angeregt. – Man besprach bei einer schönen, kalten Waldmeisterbowle die Vorteile von Reisen oder sogenannter Sommerwohnungen in den Vororten. Es kam zu manchen mehr oder minder erregten Debatten Die Behauptung einer anwesenden Dame, daß man die Ferien sehr angenehm in Berlin verbringen und sich auch dort erholen könne, erregte stürmischen Widerspruch. Dann schritt die Unterhaltung zu den armen Leuten und ihren Sommerfreuden. Ein Schweizer, der erst seit kurzer Zeit in Berlin ständig Wohnsitz genommen und doch den größten Teil des Jahres im Auslande verlebte, erkundigte sich eingehend nach diesen Verhältnissen.

»Ach, das Mitleid mit dem großstädtischen Pöbel ist absolut nicht so am Platze!« – meinte ein Herr. – – »Wie können Sie das nur sagen! Ich bitte Sie, Holler! – rief ein anderer empört – Sie sprechen, pardon, aber es ist so, wie der Blinde von der Farbe. In Ihren reichen Prachtstraßen sehen Sie das Elend nicht! Und in Ihren hohen, luftigen Wohnungen ahnen Sie es nicht! Nun kommen Sie aber in das Centrum, in den Osten, Norden, Süden und äußeren Westen. Ich danke! Himmelhohe Mietskasernen. Im Vorderhause kleine Wohnungen mit Balkons und Erkern für den Mittelstand, aber auch nur sogenannte Blender. Hinten liegen drei Höfe, womöglich mit Seitenflügeln und Quergebäuden. Menschenüberfüllt vom Keller bis zum Dach. Die Luft, die Gerüche, die stickige Glut! Es ist haarsträubend! Und in einem Loche hausen die Eltern, die Kinder, und womöglich noch die Schlafburschen und Aftermieterinnen!« – – »Selbstverständlich! Es ist furchtbar! Betrachten Sie nur diese blassen, rachitischen Proletarierkinder mit ihren krummen Beinchen und ihren Skrofeln!« – – »Das ist alles richtig, liebe Anna, trotzdem haben diese Leutchen mehr Vergnügen als der Mittelstand! Komme nur abends in die Biergärten, in die Stadtparkanlagen oder Sonntags in die Vororte. Überall triffst Du diese Armen und zwar sehr vergnügt. Und eher geneigt, ein paar Mark in unglaublichem Leichtsinn fortzuschleudern als der Mittelstand ein paar Groschen!« – – »Das stimmt schon!« – – »Und die Laubenkolonien. Wie lustig geht es dort her! Die Kolonisten amüsieren sich da besser als wir in den teuer erkauften Bädern!«

»Was sind denn Laubenkolonien?« – fragte der Schweizer interessiert. – Der Hausherr übernahm die Beantwortung: »Die sind Ihnen sicher auch schon aufgefallen!« – sagte er – »Wenn Sie mit der Bahn fahren, so werden Sie an der Peripherie der Stadt ganze Strecken finden, wo sich kleine Buden und Lauben aneinanderreihen! Viele sind abgezäunt, andere tragen Fahnen und Guirlanden, Schilder mit Namen – – – –« – – »Natürlich habe ich mich schon verschiedentlich über solche Strecken gewundert! Ich hielt es für Jahrmärkte und Vogelwiesen!« – meinte der Ausländer lebhaft. – – »Ich fragte mich immer, wie kommen die Leute dahin?« – sagte eine Dame. – – »Das will ich Ihnen erklären!« – rief wieder der Wirt. – – »Und ich werde Ihnen ein persönliches Erlebnis zum besten geben. Aber erst nach Ihnen, lieber Freund! Bitte belehren Sie uns erst!« – – Der also Aufgeforderte trank einen Schluck und strich seinen Bart. »Ja, ich bin nicht Meyers Lexikon, auch nicht Bürgermeister von Berlin, nicht einmal Laubenkolonist. Ich kann Ihnen nur wahrheitsgetreu, aber ohne Obligo der Redaktion, das wiederholen, was man mir selbst beigebracht!« – – »Keine Vorrede! Anfangen, wir vertrauen Ihnen blindlings!« – rief eine Ungeduldige.

»Ja, comme vous voulez! Die Sache liegt so: Leute, welche aus Spekulation oder anderen Zwecken Grund und Boden brachliegen lassen, vermieten ihre Terrains an kluge Unternehmer. Diese parzellieren das Land und überlassen es gegen kleine Pacht den Leuten, welche Lauben errichten wollen. Sogar die Stadt giebt ihre Gründe zu diesen Zwecken her. Wenn kein Unternehmer oder Aufseher da ist, versuchen die Armen manchmal auf gut Glück ihr Heil und bauen sich ihre Sommeridyllen, so lange es eben mit der Freude dauert!« – – –

»Nun haben Sie Ihren Vortrag gehalten, teuerster Hausvater! – unterbrach ihn Herr Schenn, der erste Sprecher; – da mein Stücklein just hierzu gut paßt und nicht ohne Komik ist, so gestatten Sie mir wohl, daß ich es Ihnen jetzt erzähle?« – – »Wir bitten darum!« – – »Keiner darf Sie stören!« – – »Ruhe, Kinder, Schenn hat das Wort!« – – Man gruppierte sich recht bequem und schaute neugierig auf den interessanten Mann, der seine Erzählung flott begann: »Also, meine Herrschaften, vor ungefähr dreißig Jahren hatten wir einige Kapitalien frei. Um nun eine ganz sichere Anlage zu machen, und weil wir auf die Zinsen nicht angewiesen waren, beschlossen wir, unter die Spekulanten zu gehen. Ein großes Terrain zwischen Wilmersdorf und Berlin war uns angeboten. Mit sicherem Blick und glücklichem Ahnen sah mein älterer Bruder in dieser Gegend die Zukunft voraus. »Das kaufen wir, lassen es ruhig liegen! Das ist keine terre morte, sondern wird sich mit Zinseszinseszins einst gut bezahlt machen!« – sagte er. Ich folgte ihm blindlings. Der Kauf wurde vollzogen. Wir wurden Grundbesitzer. Die Jahre vergingen. Mein Bruder starb. Ich vergaß gänzlich mein Besitztum, bis plötzlich vor einigen Jahren die Gegend beim Zoologischen Garten einen ungeheuren Aufschwung nahm. Da fiel mir mein Terrain ein. Ich dachte daran, es zu verkaufen. Vorerst wollte ich es doch einmal besichtigen. Einer meiner Bekannten und ich, wir sattelten unsere Stahlrosse, orientierten uns auf den Karten und sausten in die neue Gegend! – – – – – – Mir war es, als ob ich in eine fremde Stadt käme! Ganz neue Straßen waren bereits bewohnt, andere erst im Entstehen. Himmel, was wurde da gebaut! Alle Bauwut Berlins schien sich hier konzentriert zu haben! – – – – – – – – Meine Landflächen fand ich nicht. Da, wo sie unserm Plan nach sein mußten, waren große, durch Bretterzäune abgeteilte Gründe von kolossaler Ausdehnung. Auf dem einen stand ein Schild mit der Aufschrift: »Neu-Jerusalem«, darunter mit Kohle: »Juden ist der Eintritt verboten«. – Auf dem zweiten stand: »Neu-Samoa« und auf dem dritten »Neu-Kamerun«. – Wir starrten erst uns betroffen an, blickten dann ratlos auf Zäune und Schilder. Zuletzt schauten wir durch die Lattenthüren hinein. Was wir da erblickten, war ein menschlicher Ameisenhaufen. Wahre Schwärme von Kindern kribbelten da durcheinander. »Heiliger, wo stecken diese Massen sonst, wo kommen sie her?« – rief Blume. Ich entdeckte noch Laube an Laube, kleine Gärtchen ringsum, Bänkchen davor. Auf denen saßen Väter mit Pfeifen und Zeitungen. Frauen mit Nähsachen. Andere jäteten, pflanzten, gossen und sprengten. Kurz, das war ein Behagen und Schwatzen auf meinem Boden, daß sich mein menschenfreundliches Herz freute oder vielmehr freuen konnte. »Blume – fragte ich –, ist das eine Fata Morgana, oder sind wir am Ende falsch gefahren?« Wieder holten wir die Situationspläne heraus. Es stimmte, mußte stimmen! – – »Gehen wir doch einmal hinein, und sehen uns den Zauber von drinnen an!« – schlug mein Freund vor.

Wir führten unsere Räder bis an den Zaun, legten die Sicherheitsketten an die Maschinen und stellten einen halbwachsenen Hallodri gegen Versprechen eines guten Trinkgeldes als Wache daneben. Dann schoben wir den Riegel fort, öffneten die Pforte, welche rasend quietschte und traten hinein. Sofort erhob eine wütende, zum Glück festgebundene Töhle ein leidenschaftliches Geheul und scharrte den Sand auf, um auf uns zustürzen zu können. – Aus einer Laube, über welcher: »Zum stillverjnüjten Pingel« angeschrieben stand, kamen zwei Leute. Ältere und vernünftig aussehende Männer, der eine in einer Blouse aus dunkelblauem Kattun. Der Andere in Hemdsärmeln. – Beide musterten uns mißtrauisch. »He Sie, zu wen wollen Sie?« – rief der eine, welcher auch der Wortführer zu sein schien. – – »Zu keinem, wir wollen uns die Geschichte hier gern von innen anschauen!« – entgegnete ich. – »Des jeht hier nich. Wir lieben keine fremden Besucher!« – lautete seine wenig verbindliche Antwort. Inzwischen sammelten sich die zahllosen Kinder an, und auch Erwachsene kamen herbei. Keiner sah recht freundlich, alle mißtrauisch aus. – – »Dann bitten wir Sie, uns ein wenig herumzuführen!« – sagte ich höflich. – »Och noch 'rumführen, det könnte Ihn' so passen! Nee, Männeken, is nich. Hier jiebt es nur Lauben und Menschen. Na, und sowas haben Se doch schon mal jesehen in Ihren Leben! Sie sind doch och keener von de jüngsten mehr!« – – Da hatte ich mein Fett weg und sah ein, daß besagter Pingel zwar innerlich recht »stillvergnügt« sein mochte, daß er aber äußerlich dieses wenig zu beweisen liebte. Ich gestehe ein, mir schwoll etwas der Kamm. Ich klopfte Blume auf die Schulter und sagte kurz: »Kommen Sie, mein Freund, dann werden wir eben auf eigene Faust Umschau halten!« – – Wir wandten uns zum Gehen. Jedoch die beiden Männer stellten sich energisch in unsern Weg. »Des wollten wir Ihn' nich geraten haben – erwiderte der eine drohend – Wir sind 'ne Privatkolonie un' dulden nur denjenigen, den wir wollen, vastan'?« – – »So? – entgegnete ich jetzt ungeduldig, denn die spöttischen Mienen und unverschämten Zurufe der frechen Berliner paßten mir nicht sehr – So? Meinen Sie, mein Werter? Ich aber sage Ihnen, Sie haben hier garnichts zu sagen, sondern sich nur sehr anständig zu benehmen, denn Sie befinden sich als ungeladene Gäste auf meinem Grund und Boden. Mein Name ist Schenn!« – –

Ein wahres Hohngelächter war die Antwort. Faule Witze wurden gerissen, wie: »Schenn is ja nich schen!« – – »Wer is Schenn?« – – »Jroßkotze von Rotterdamm!« – – »Schenn – – – ken Sie uns wat!« – – »Se sind een schenn – dlicher Fatzke!« – rief man mir zu. Mein Blut kochte. Jedoch meine Gegenüber blieben ruhig. »Sie heeßen Schenn? Sehr anjenehm. Mein Name is Pingel. Und der Herr, wo mein Schwager is, heeßt Kulke. Nu kenn' Se uns, un nu erzählen Se uns freindlichst nochmal, was Se sind?« – – »Das wiederhole ich Ihnen gern! Ich bin der Besitzer dieses und der benachbarten Grundstücke und bin sehr erbaut und erstaunt über diese Art der Ausnützung meines Terrains!« – – Meine Erklärung wirkte wie ein glänzender Witz. Die Menge beugte sich vor Lachen. Die Jungen schossen Purzelbäume. – – »Lassen Sie dieses geistlose Lachen! – brüllte ich jetzt – Ich habe meine Papiere und Pläne bei mir und kann Ihnen meine Behauptung sogleich beweisen!« – –

»Da könnt' woll 'n Jeder kommen! Sie sehn ma janich nach Besitzer aus!« – – »Nunn' von de Kol'nie!« – – »Schmeißt ihm raus!« – – »Leben Se woll, Herr Jroßjrundbesitza vom Monde!« – – Man umringte uns sehr bedrohlich. Ich wurde ganz ruhig. »Herr Pingel! – redete ich diesen an – Ich hoffe, daß ich es mit anständigen Männern zu thun habe, und daß Sie mich vor Thätlichkeiten schützen werden. Lassen Sie einen Schutzmann holen. Und im übrigen hüten Sie sich vor Unbesonnenheiten, denn sie könnten Ihnen übel bekommen!« – – Er stutzte und gebot Ruhe; aber die Beleidigungen häuften sich. »Lump! – – Schwindler! – – – Hört doch den Affen an!« scholl es aus der Menge. – – Noch einmal schaffte Pingel Ruhe. »Nee Sie, des jlauben wa och nich! – meinte er lachend. – Vor achtundzwanzig Jahren ha'm mein selijer Vata und ich hia unsere Laube jebaut und de Kol'nie anjelejt! Meine und unse Kinda sind hia aufjewachsen. Da könnt' woll getz' ein Jeda kommen und sa'n, ihm jehört der Jrund und Boden! Pah! Det fehlte noch! Drum sage ich Ihn', verduften Se so schnell als möglich, sonst könnt' uns der Ärjer hoch kommen, und denn jarantier' ich for nischt!« – –

»Darauf kann ich Ihnen nur antworten, daß Ihre Rechnung stimmen kann, denn wir kauften die Terrains vor fast dreißig Jahren!« – – Herr Schenn knirschte plötzlich mit den Zähnen und wurde rot. Mit einem heftigen Zug leerte er sein Glas Bowle. Die andern Anwesenden blickten ihn gespannt an. »Nun, und was ist daraus geworden?« – fragte der Wirt neugierig. – – »Was soll ich Ihnen die ganze Geschichte erzählen. Mir sprengt noch der Ärger fast die Brust! – rief Schenn – All' mein ernstes und vernünftiges Reden half nichts. Die Bande wurde immer frecher. Blume und ich wurden unter verschiedenen Püffen an die Luft gesetzt. Wir konnten froh sein, daß wir von diesem Pöbel nicht windelweich gehauen wurden. Selbst ein geholter Schutzmann konnte uns nicht zu unserm Recht verhelfen. Ich wurde aus meinem Grundstück vertrieben!« – – »Und was werden Sie thun?« – fragte man neugierig. – »Die Sache schwebt noch! Ich fuhr sofort zu meinem Rechtsanwalt. Er informierte sich und brachte mir die angenehme Botschaft, daß die Kolonisten im Recht wären!« – – »Nanu!?« – – »Ja, es giebt, wenn ein Terrain so und solange brach liegt, ein Gewohnheitsrecht. So mir nichts – Dir nichts kann ich die Leute nicht vertreiben!« – – »Unerhört!« – – »Unglaublich!« – – »Das ist is! Ich werde noch eine Menge Geldkosten und Schwierigkeiten haben, ehe ich mein so selbstverständliches Anrecht auf meinen Boden erlange! Aber ich scheue keine Schwierigkeiten, sondern setze es durch. Und an dem Tage, wo diese unverschämte Gesellschaft Pingel und Konsorten zur polizeilichen Räumung gezwungen wird, da gebe ich ein Fest! Sie Alle sind geladen!« – –

Man nahm diese Aufforderung jubelnd und mit Dank an. Alle waren auf den Erfolg seiner Sache begierig. Denn daß Herr Schenn mit Schimpf und Schande, blauen Flecken und zerschlagenem Hute von seinem Besitz gejagt worden war, erregte ebenso allgemeine Heiterkeit wie Empörung. Und da drei deutsche Reichsbürger schon genügen, um die Zustände ihres Vaterlandes zu Tode zu kritisieren, so kam hier deutsches Reich und deutsches Recht schlecht weg! Man tadelte zuletzt einfach alles! Es war gut, daß kein Russe, Engländer oder Franzose dabei war. Sie hätten von unsern Zuständen, bei dieser sich häufenden Fülle von heimatlichen bösen Exempeln entsetzt sein müssen! Dabei waren sich in ihrem Urinnern all diese Tadler klar: »Es wird überall mit Wasser gekocht!«


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