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1. Kapitel. Eine Landpartie.

»Kinder, is das 'ne Glut! Ich destilliere bei lebendigem Leibe!« – stöhnte Lotte Bach, die am Potsdamer Platz auf ihre Verwandten stieß. Sie hatte glühende Wangen und wischte mit dem Taschentuch über das feuchte Antlitz. »Ja, eine Bullenhitze!« – – »Glaubst Du, wir frieren etwa?« – stimmten die anderen nach der Begrüßung in ihre Klage ein. – »Frieren ist eine ideale Idee heute! Ach, mein Winter! Der macht frisch und tüchtig; aber in dieser Hitze erschlafft man ja total! Und es giebt wohl gegen die Kälte, aber nicht gegen diese lähmende Glut Schutz. Selbst das Schwimmen hält nur eine halbe Stunde vor! Jedes Getränk macht mich noch heißer! Pfui Deibel, am liebsten legte ich mich auf irgend einen Diwan, streckte alle Viere von mir und – – –« – – »Na, und? Leg los! Immer 'raus mit »Das junge Gemüse«!« – erwiderte der Vetter, welcher dieser wütenden Berlinerin immer im urwüchsigsten Tone und meist in Berliner Redensarten antwortete. Lotte lachte: »Ich kann jetzt die Südländerinnen verstehen. Wenn ich ein »Haziendadaemchen« aus Südamerika wäre, wo ja die Sonne nich doller brennen kann als heute im kalten Berlin, wa – haftig, ich pflanzte mich in eine Hängematte und ließe meine Sklavinnen antreten. Eine müßte Luft zufächeln. Eine mir Eisschokolade einlöffeln. Eine Musik machen, aber in anständiger Hörweite. Und die letzte müßte mir einen Roman vorlesen, der in Eis- und Schnee-Milieu spielt!« – Wieder lachten die Zuhörer. »Eine Phantasie hat die Person!« – – »Die Range als Sklavenhalterin!« – – »Du, bei solchem Leben wird man dick und faul!« – neckte ein Cousine. – »Kann ich vollkommen nachfühlen! Übrigens stärkt Faulheit die Glieder! Na, und was das Dicke betrifft! Besser 'ne mollige Polsterung als so ein Rippenkieker. Ich bin für Rundlichkeit!« – – »Aha, pro domo!« – – – »Na ob und öbse, übrigens lasse die Anspielung auf meine Fülle, die rein äußerlich ist. Die Alten haben Venus auch nicht als römische Eins, sondern mit ganz anständigen Hüften gezeichnet!« – – »Aha, das ist wohl Dein Trost, Deine Selbstübertäubung?« – – »Bescheidener Vergleich, Lotte Bach und die olle Venus!« – – »Gar kein Vergleich weiter! Ich gönne der alten Dame ihr Äußeres und beneide sie nur um ihre luftdurchlassende Gewandung,« entgegnete Lotte lachend. –

»Um auf die Hängematte in der Hazienda zurückzukommen, du Sklavenhalterin, – sagte eine Cousine – Wo bleibt dein Willi bei dem Leben?« – – »Ach, mein geliebter Wonnerich! – seufzte Lotte – So paradox es klingt, aber bei dieser Hitze erkalten meine Gefühle. Da bin ich für Hitze und Schwitz apart – und Bräutigam apart! – Mein Schatz taufte mich erst gestern »kalte Mamsell«. Aber wenn alles Zeug anklebt, bin ich nicht für Knutscherei. Je heißer die Temperatur, um so platonischer meine Gefühle!« – – »Läßt er sich das denn gefallen?« – – »P, er mault! Er leidet eben nicht so unter der Hitze wie ich, der Glückspilz! Ich habe ihm schon erklärt: Im Sommer muß er vorsichtig mit mir umgehen und »meine« Liebe auf Eis setzen, sonst schmilzt sie. Im Winter dagegen werde ich mir »seine« Liebe schon warmhalten!« – – »Wann heiratet Ihr denn?« – – »Im August!« – – »So und habt Ihr Euch schon über Eure Hochzeitsreise entschieden?« – –»Na, Sache! Wir gehen nach England, Schottland, Irland! Denn vor dem ersten Oktober können wir nicht in unsere Wohnung!« – – »Aha!« – – »Du, Lotte, mit Deiner Abneigung gegen die Engländer, suchst Dir ihr Land aus? Komische Wahl!« – – »Garnicht komisch! Mein Willi schwärmt doch so für England. Darum will er selbst mich hinbringen und mich von meiner Antipathie kurieren!« – – »Wird ihm das gelingen?« – fragte einer. Lotte schnitt ein Gesicht: »Abwarten und Thee trinken! Ich habe ihm gesagt: Wonnerich, wenn Du mich überzeugst, so sage ich pater peccavi. Wenn nicht, dann verknacke ich Dein Lieblingsland zusammen mit Ernst Georgy, daß es sich gewaschen hat!« – – »Oller Bure!« – – »Bin ich gar nicht!« – – »Du, Lotte, bist Du schon mit Deinen Besorgungen fertig?« – – »Nee, Tantchen, noch nicht ganz!« – – »Wird Dein Freund Georgy nicht Deine Einkäufe auch zu einem Bande ausschlachten?« – – »Möglich ist bei dem alles! Aber ich habe ihm erklärt, daß er die Besorgungsmisèren erst später hört, wenn ich in Ruhe bin! Jetzt, brr! Am liebsten ließe ich meine dicke Wonnemieze allein meine Aussteuer und Einrichtung besorgen! Aber die alte Dame nimmt mich stramm! Äx, ich muß immer mit! Wenn die Frühstücke und Vesper in der Stadt nicht wären, streikte ich längst. So bändigt mich mein Altes mit Aschinger oder Kuchen!« – –

»Sag 'mal, Lotte, geht Ihr nicht manchmal in ein Restaurant essen?« – – »Seit ich verlobt bin und verheiratete Schwestern habe, selten, Tante! Unser Küchendrache hat dadurch sehr viele Sonntage ohnehin frei! Aber warum fragst Du?« – – »Wir haben unserm Mädchen diesen Sonntag ganz freigegeben. Sie machen eine Vereinslandpartie. Da wollen wir auch irgendwohin ausfliegen. Seid Ihr mit von der Partie?« – Lotte ging nachdenklich neben den Verwandten her. »Sonntag grade?« – fragte sie zweifelnd. – – »Du meinst, es sei überall überfüllt? Nein, Lotte, es soll gar nicht so schlimm sein! Jetzt ist ja ganz Berlin verreist!« – – »Das stimmt! Wir sind auch fast solo hier. Etepetetchen ist in Marienbad, meine Geschwister teils in Thüringen, teils an der Ostsee, wie Ihr ja wißt! Die Idee ist gar nicht so ohne! Ich werde sie jedenfalls meiner dicken und meiner schönen Wonne unterbreiten!« – – »Dann gieb uns aber Bescheid!« – – »Gewiß, den habt Ihr morgen früh! Ach wohin soll die Fahrt gehen?« – – »Schlag vor!« – – »Nee! Ihr, Mannsvolk, mit Euern Radel- und Reitleidenschaften seid außer Berlin kompetenter. Ich schlage lieber nach!« – – »Na, wie wäre es mit Grunewald, Paulsborn, Hundekehle, Schlachten- oder Wannsee?« – sagte der eine. »Nee, Du! Das ist nichts für meiner Mutter jüngste Tochter! – rief Lotte – Du bist ja der reine Schliemann, daß Du Altertümer ausbuddelst! Der Grunewald ist jetzt fast ganz Villa oder Restaurant. Und wenn ich da erhitzt, müde und hungrig durch wohlgepflegte Straßen wandeln soll, um die behäbigen, ausgeruhten Villenbesitzer und ihre Besucher auf schattigen Plätzen hocken zu sehen, p, nee, das paßt mir nicht! Die Leute haben immer so ein niederträchtiges, mitleidiges Lächeln, wenn sie unsere glühenden Wangen betrachten. So 'ne Schadenfreude über unser gesottenes Krebstum! Nein, danke! Dann bleibe ich lieber auf unserm Balkon!« – – Alle lachten: »Na und die kleinen Seenorte?« – – »Zu abgegrast! Überall lagert was 'rum, und alles streut Stullenpapier! Überdies ist es überall proppendicke voll!« – – »Sie hat nicht Unrecht! Na, wie wäre es mit dem Norden von Berlin: Lehnitz, Briese, Oranienburg?« – – »Das ginge schon eher! Ist aber dort nicht viel »Pöblikum«?« – – »Wenn Du die Prinzessin auf der Erbse spielen willst, dann bleib daheim!« – meinte einer ärgerlich – »Baubau, Achtung! Bissige Hunde! – Ich bin ja schon klein! Nur, wie ist es mit Mutta? Sind die Coupés nicht überfüllt?« – fragte Lotte. – – »Wir nehmen einen Extrazug!« – – »Quatsch!« – – »Nein, Lotte, diese Sorge ist sehr berechtigt! Aber zu Deiner Beruhigung will ich Dir nur sagen: Wir steigen nur auf Endstationen ein. Da hat man immer noch Platz!« – – »Gut, also morgen habt Ihr Nachricht. Ich denke, wir kommen mit! Wir lechzen ja auch alle nach Waldluft, Wasser, Schatten! Aber wann geht es los?« – – »Vor der Mittagshitze, Kind! Spätestens um zehn Uhr! Damit wir, wenn der Sonnenbrand beginnt, an Ort und Stelle sind. Wir suchen uns ein schattiges Restaurant am Wasser, wo wir bis fünf Uhr bleiben können und wandern weiter, wenn die Sonne weg ist!« – Lotte war befriedigt. Sie plauderte noch ein Weilchen und verabschiedete sich dann von den Verwandten.

Nach einer Rücksprache mit der Geheimrätin und Doktor Feller wurde die Beteiligung an dem Sonntagsausflug beschlossen. Alle spürten die lebhafte Sehnsucht, einen Tag außerhalb der glühenden Stadt zu verbringen. Von Tag zu Tag stieg die Hitze. Kein Lüftchen rührte sich. Kein Regen brachte Kühlung. – Am Sonntag früh trat Lotte auf den Balkon. Schaudernd kam sie ins Zimmer zurück: »Es flimmert man so! Das reine russische Schwitzbad! Am allervernünftigsten wäre es gewesen, ruhig zu Haus in den kühlen Zimmern zu bleiben!« – – »Treppenwitz! Wärst Du nur früher so klug gewesen, ich habe es ja gleich gesagt – antwortete Frau Bach brummend – Jetzt wartet Willi und die ganze Gesellschaft auf uns auf dem Nordbahnhof. Fix, Lotte, zieh' Dich an!« – – »Rat mir was!?« – – »Dein weißes!« – – »Nich in die Tüte, ich will mich im Grase 'rumwälzen. Überhaupt, Mieze meiner Seele, bilde Dir nicht etwa die Schwachheit ein, daß ich irgend ein gutes Kleid anziehe. Irgend ein oller Mousselinfetzen vom vorigen Jahr genügt vollständig. Erstens kann ich mich darin austoben!« – – »Bei der Temperatur!« – warf die Geheimrätin ein. – »Ich garantiere für nichts, mir ist heute so toberig zu Mute. Zweitens kann ich ruhig einregnen!« – – »Du bist nicht gescheut, sieh Dir den Himmel an! Nicht einen Tropfen giebt es!« – – »Na na? Wer weiß? Zu einer echten Berliner Landpartie gehört ein tüchtiger Pladder! – erklärte die Tochter – Sag, was Du willst, ich kleide mich farb- und waschecht!« –

Damit verschwand sie, während die Geheimrätin in ihr neustes Foulardkleid schlüpfte und sich dann an eine gewaltige Einpackerei begab. In diese Beschäftigung schneite Lotte, deren Anblick der Mutter einen Entrüstungsschrei entlockte: »Du bist – – Du bist! – – Nein, es ist unerhört! In diesem alten, verwaschenen, unmodernen Kleid willst Du – – Nein, wie eine Magd siehst Du aus, »ich« gehe so nicht mit Dir! Ein bischen auf sich halten muß doch der Mensch! Du treibst es zu toll, Lotte! Was wird Dein Bräutigam und die Verwandtschaft sagen? Heute ist doch Sonntag!« – – Lotte bespiegelte sich sinnend: »Nee, Wonnchen, ich bin sauber, ganz unzerrissen und finde sogar, daß mir die Robe sehr gut steht! Sei nich so aprilwettrig, denn just dieses Kleid war einst Dein Liebling!« – – »Du bist doch Braut! – jammerte die Mutter – Sei doch ein bischen eitel!« – – »Ach was, Schönheit vergeht – Tugend besteht. Reg' Dich nicht auf, Du Mondschein meiner Seele, denn die Sonne ist jetzt Willi. Ich bleibe, wie ich bin! Paß auf, wer zuletzt lacht, lacht am besten! Und zu meinen Annäherungsversuchen an das niedere Volk paßt diese Bescheidenheit besser als eine sonntägliche Aufdonnerung. Im übrigen bleibe ich ein König auch in Unterhosen!« – – »Thu mir den Gefallen, liebe Tochter, und laß Deine Annäherungsversuche heute aus! Weder Willi noch ich inklinieren für diese Verpöblungen! Und gerade im Norden kannst Du sehr leicht auf unangenehme Erlebnisse stoßen. Willi könnte in sehr unangenehme Lagen kommen!« – – »I wo wird er denn! Aber lassen wir mütterliche Ahnungen und hemmen wir nicht den Gang der Zukunft, Du Unglücksrabe! Beichte 'mal lieber, was Du da für Packete verschnürst?« – »Wozu hat man eine gestickte Landpartie-Trommel mit Überzug und Blecheinsatz? Ich habe das Ding schon drei Jahr liegen und noch nie benutzt. Heute weihe ich es ein!« – – Lotte machte entsetzte Augen: »Um Himmelswillen, Maria, Du gedenkst doch nicht etwa mit einem Freßkober und einer Pulle mit kaltem Kaffee loszugondeln?« – – »Sicher gedenke ich das! Und Du sollst es sogar tragen!« – – »Ich, bei 28° Réaumur im Schatten? Schirm, Jacke, Freßkober? Und da sprichst Du noch von Deiner Feinheit? Maria, ich bin außer mir!« – – »Gehe wieder in Dich, mein Kind!« – meinte Frau Bach kühl. – – »Aber, Mutta, wa-haftig, wir kommen doch nicht in Urwälder, sondern in civilisierte Gegenden mit Restaurants, wo man seinen Durst und Hunger stillen kann!?« – – »Laß die Philosophieen, Lotte, sie nützen Dir nichts! Wir nehmen entschieden einen Napfkuchen, Mürbeküchelchen und zehn belegte Brötchen mit. Jetzt spielst Du Dich auf! Aber nachher wird Dir der Vorrat sehr angenehm sein!« – –

Lotte erhob sich und sagte seufzend: »Bon, Ihr Mütter könnt nun einmal nicht umhin! Und da ich meinen bockigen Eigensinn von Dir geerbt habe, strecke ich die Waffen! Überzeugen kann man uns beide doch nicht! Also suum cuique. – Im übrigen! Bah, wozu ist man verlobt? Mein Wonnevieh trägt ja doch all meine Packete! Und bei dem Gedanken, daß mein schlanker Willi mit einem bestickten Freßkober loszieht, könnte ich mich totquietschen vor Vergnügen!« – – »Ich hoffe, Du wirst nicht so taktlos sein, und Willi die Trommel aufbürden?« – – »Oh, Mieze, Du ahnst es nicht, wie wenig ich mich zur Tochter des Regiments eigene. Ich ernenne Willi für unsere Ehe schon von heute ab zum Trommler, behalte mir aber das »Regiment«, die »Flötentöne zum Beibringen« und die »Posaune des Gerichtes« vor! Mehr kann ich doch nicht thun? – – – – – Aber nun allons, dicke Wonne, sonst kommen wir zu spät!« –

Auf der Straße war es trotz der frühen Stunde schon sengend heiß. Lotte pustete, ärgerte sich über die Hitze und ihre Empfindlichkeit dafür: »Wenn ich bedenke, daß ich früher als Kind trotz Glut und Sonne Wettrennen – Boxen – Haschen spielte und mit Vorliebe so lange um einen Laternenpfahl kreiste, bis ich schwindelnd zu Boden fiel, dann möchte ich am liebsten in meine Kinderjahre zurück. Da empfand man noch keinen Sonnenbrand und keinen Ärger über Freßkober-Beförderung!« – – »Deine Anspielungen verfangen nicht! Glaubst Du, ich, in meinem neusten Staate, werde die Trommel nehmen?« – – »Nein, trotzdem sie undurchlässig ist, wage ich solche Kühnheiten nicht zu glauben! Dagegen hoffe ich, daß Du eine Droschke spendierst!« – – »Nein, liebe Lotte, was man für zwanzig Pfennige haben kann, dafür wirft man keine Mark hinaus oder noch mehr! Denn bis zum Nordbahnhofe ist dreifache Tour, so denke ich sicher!« – – »Oller Gnietscher!« – – »Bitte, spendier' Du Dir einen Wagen; aber von Deinem Geld. Ich fahre mit dem Omnibus, der dort schon kommt. – – – – Schnell! Schnell!« – –

Beide Damen eilten auf das schwerfällige, zum Glück offene Gefährt zu. Es war fast ganz besetzt. Sie erhielten die letzten freien Plätze. Frau Bach wurde neben einen dicken, fürchterlich schwitzenden Mann gequetscht. Lotte kam neben ein Pärchen, von dem er nach entsetzlich süßer Pomade, sie nach Moschus roch. Beide Odeure waren ihr gleich unerträglich. Sie saß mit bösem Gesicht da und zog die Stirn kraus und den Mund schief. – Der Omnibus hottelte langsam weiter. Von Zeit zu Zeit wurde Halt gemacht, denn Männer mit Eimern erschienen und tränkten die durstigen Pferde. – Endlich, schon weit drinnen in der Stadt, wurde Fräulein Bach von ihren Peinigern befreit. Ihre Miene hellte sich auf, und sie sah nach der Mutter. Die Rollen schienen vertauscht. Frau Geheimrat fächelte sich zornig Luft zu und warf ihrem triefenden Nachbar wütende Blicke zu. Der stöhnte und fauchte und stellte die Beine immer breiter voneinander, so daß die Nebenplätze immer beengter wurden. Dabei half alles Drängen nichts, denn sein brutales, rotes Gesicht verhieß nichts Gutes. Lotte wurde ängstlich. Sie kannte ihre liebe Alte. Überall lieb und gemütlich, war sie nur auf Reisen und Fahrten gegen die Mitmenschen von großer Unduldsamkeit. Und diese falsch angewandte Energie zeugte leicht erbitterte Auseinandersetzungen, welche Lotte wie den Tod scheute! Daß aber auch jetzt bei ihr ein Ausbruch nahe war, sah das junge Mädchen mit Zittern. Sie mußte ihn à tout prix vermeiden und bot schließlich der Geheimrätin einen Plätzetausch an. Diese ging darauf ein, und Lotte kam neben den Dicken, der an Hitzeausströmung einem überheizten Ofen glich.

Endlich waren sie an der Endstation angelangt. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihnen aber, daß sie die allergrößte Eile hatten, um an den Zug zu kommen. So jagten sie denn im Trabe durch die Straße bis zum Bahnhofe. Dort stand schon Willi, die Billete hochhaltend und zur Schnelligkeit antreibend mit verzweifelten Armbewegungen. Ohne weitere Begrüßung jagten sie vorwärts, passierten den Kontrolleur und stürzten über den Bahnsteig. Der Schaffner schob Frau Bach in das erste, beste Coupé. Willi und Lotte sprangen in ein andres offenstehendes. Der überfüllte Zug brauste fort. Natürlich waren beide in ein Abteil dritter Klasse geraten. Nicht ein Plätzchen frei, sogar die Kniee der Väter, die Schöße der Mütter besetzt. Trotzdem standen noch einige Personen quer zwischen den Bänken. Lotte war halb ohnmächtig. Willi hielt sie besorgt im Arme und beobachtete mitleidig, wie sie sich langsam erholte. Endlich schlug sie die Augen auf, atmete ruhiger und fragte sofort: »Wo ist Mama? Du, die arme Mama?« – Er beruhigte sie und versprach ihr, auf der ersten Station die Mutter zu suchen und nach ihr zu sehen. Wenn möglich auch mit ihr in die ihnen zukommende, zweite Klasse zu steigen. »Warum kamt Ihr aber auch so spät? Kaum wurde man an den Zug gelassen, so strömten auch schon Hunderte hinein. Nur wer schon lange, ganz vorn an der Barrière gewartet hatte, erwischte gute Eckplätze. Im Augenblick waren sämmtliche Coupés gefüllt. Tante Luni und Alfred, Else, sowie die andern Bachs: Richard, Ernst, Arthur, Kläre, Annchen und Lotte sitzen vorn. Ich beneide sie sogar nicht, denn die Polster sind gräßlich verstaubt und glühen vor Hitze!« – – »Das glaube ich! Wie gut, daß es hier etwas luftiger ist!« – sagte Lotte und beugte den Kopf mehr nach vorn. – – »Ich finde, es zieht schrecklich! Wenn Du Dich nur nicht erkältest. Lieb, nimm Deine Jacke um, oder soll ich ein Fenster schließen lassen?« – – »Um Himmelswillen, mach' keinen Aufstand! Ich bin froh über etwas Luftbewegung, denn ich habe nicht einen trockenen Faden an mir! Na, ich mag überhaupt doll aussehen!« – Sie seufzte über ihre aufgegangenen Locken, ihre unordentliche Frisur und ihre brennend roten Wangen. Feller musterte sie und lachte: »Struwelpeter, kleines Herzensviehchen mit gesträubten Borsten! Schön siehst Du gerade nicht aus. Auch Dein Kleid begeistert mich nicht, es ist nicht weiter elegant!« – flüsterte er ihr zu. Sie sah ihren Schatz an: in seinem eleganten, mattgelben Tennisanzug so hübsch und vornehm wie ein echter Kavalier. Selbst seine bräunliche Gesichtsfarbe hob sich nicht sehr durch die Hitze. Nicht ein Schweißtröpfchen perlte auf seinem schönen Antlitz! – Lotte schämte sich plötzlich über sich selbst. Scheu wie ein unartiges Kind senkte sie die Lider und verzog den roten Mund. »Laß gut sein, Schatzlieb! Wer mich heute sieht, denkt: Aha, der geht mit seinem kleinen Zofchen spazieren! Oder wenn man mich kennt, glaubt man: Der Feller ist ein Spitzbube. Seine Braut ist verreist, da schasst er sich eine Ferienliebe an!« – – »Na, ich danke!« – stöhnte Lotte betroffen und gab im Stillen den Ermahnungen der Mutter recht. Er weidete sich an ihrer Qual, gönnte ihr aber die kleine Lehre, weil sie zu wenig eitel war. »Wie gut, daß die Mieze so anständig aussieht. Wenigstens kannst Du auf Deine Schwiegermutter stolz sein!« – flüsterte sie seufzend. –

Plötzlich gab es einen heftigen Ruck. Der Zug ging über eine schlecht eingestellte Kurve. Alle wurden zusammengerüttelt. Lotte flog gegen ihren Bräutigam, der sie schleunigst umarmte Etwas fiel in ihr Gesicht und dann zu Boden. Gleichzeitig erhob sich in der Höhe ein durchdringendes Weinen, das einem schwachem Gemecker glich. – Betroffen schaute das Brautpaar auf. Und zu seinem Erstaunen entdeckte es oben, im Gepäcknetz, zwischen Taschen, Tüchern und Mantelrollen ein Steckkissenbaby. Das Kleine hatte fest geschlafen, war emporgeworfen und hatte dabei seinen Lutschpfropfen verloren. Nun schrie es aus Leibeskräften Auf die Bitte der jungen Mutter, welche ein älteres Kind im Arme hatte, mußte sich der Arzt bücken. Er suchte und suchte, ehe er das feuchte, staubige Ding erwischte. Dann reichte er es der Frau hin und stäubte ärgerlich seinen Ärmel ab, der zwei große Schmutzflecke bei der Operation erhalten hatte. Da dem peinlich eigenen Manne Flecke mehr als zuwider waren, machte er ein ärgerliches Gesicht und blickte Lotte verstimmt an! Dies sah der Vater des Säuglings, welcher den Sauger mit einem riesigen Taschentuch und seinem eigenen Speichel reinigte.

Na, seh doch den, Mutta, wat der forn Jesichte macht! Sie, Männeken, es is Ihn' weita keene Perle aus de Krone jerutscht, wenn Se sich mal bücken müssen! Un' de beeden Schmieren da uff Ihr'n Ärmel hatten Se sicha schon vorher. Man nich so dicke thun! Der scheene Anzug macht noch keenen Prinzen! – Den kriegen wa alle in de Joldene Hundertzehne, wenn wa 'n paar Jroschen springen lassen!« – – Willi schwieg. Lotte desgleichen. – – »Wa sind Ihn woll nich jut jenug zu'ne Antwort, Sie?« – fragte ein anderer. Hitze macht leicht gereizt. Im Nu verbreitete sich die Antipathie gegen Doktor Feller. Alle nahmen gegen ihn Partei. – – »So een Patentsatzke bildt sich wunder was ein, wenn er mal dritta Jüte fahren muß« – – »Na eben, nehm' Se Sich doch een Salonanzug, Sie!« – – »Erst tritt er ein' mit sein Verhältnis de Pedale bein Einsteigen ab, und denn macht er sich noch mausig. Wejen son paar kleene Flecke Summs zu machen!« – – »Wenn Ihn' mein Kind da oben steert, denn entschuldjen Se man, det es jeboren is! Sie haben och jeweint, als Se kleen waren!« – – »Na, schon! Wer weeß, ob det Kind ins Netz nich mal feiner anjezogen jeht als Sie. Noch is nich aller Tage Abend!« – – »So 'n scheenes Kleid wie Ihre Sonntagsbraute ha'm wa och noch aufzuweisen! Bilden Se sich man keene Schwachheiten ein, Sie!« – – »Der is aus'n Herrnjadrobenbazar Reklamemann!« – – »Der feine Reißner!« – – So höhnte man.

Eine Station kam. Willi und Lotte entflohen der ungemütlichen Situation. Sie fanden zwei Stehplätze in dem Coupé, wo ein freundlicher Spießer der Geheimrätin seinen Ecksitz eingeräumt hatte. Kaum sah der Mann Lotte, da rief er: »Schwager, nu jieb Du Deine Ecke die junge Dame. Wer so'n nettet, liebet Jesichtchen hat, der braucht nich' zu stehen. Jehen Se man, Fräuleinchen, imma nehm' Se's an!« – – Lotte knüpfte mit den andern Insassen jetzt ein munteres Gespräch an. Sie freute sich, daß ihre geliebten Berliner sich ihrem Bräutigam nun von der gemütlichen Seite zeigten. –

Endlich war man am Ziel angelangt. Trotz der Hitze und Fülle im Waggon war der Rest der Fahrt besser verlaufen, als zu erwarten war. Der schnoddrige Humor der Reisenden ließ keine Abspannung aufkommen. – Auf dem Perron vereinigten sich die Verwandten alle. Man begrüßte sich herzlichst. Lotte aber konnte einen kleinen innerlichen Selbstvorwurf nicht unterdrücken. Die Blicke, mit denen man hastig ihr Kleid überflog, zeigten ihr, wie recht die Mutter gehabt hatte. Sie stach stark gegen die übrigen Damen ab. – – »Hier ist die Luft doch schon erträglicher!« – – »Ja, die Hitze ist nicht so lastend!« – – »Es riecht schön nach Kiefern und Tannen!« – – »Dafür ist es hübsch staubig!« – – »Naa, nun denke ich, gehen wir erst zum See und in den Wald. Dort lagern wir ein Stündchen oder zwei und wandern dann in das Restaurant, um Mittag zu speisen!« –

Der Vorschlag wurde angenommen. Die älteren Damen, die jüngeren mit den Herren und hinterher Willi und Lotte folgten den beiden Führern: Ernst und Alfred in langsamem Promenadenschritt. Die steigende Wärme ließ so ein recht munteres Gespräch nicht aufkommen. – Langsam schleppten sich die ermatteten Menschen, und ähnlich ging es der Unterhaltung. – Von Zeit zu Zeit sah sich das Brautpaar zärtlich an, flüsterte sich ein paar Liebesworte zu oder erwiderte auf die Neckerei der Voranschreitenden. Sonst hing man seinen träge fließenden Gedanken nach. Schließlich verließ man die staubige Landstraße und kam in den Wald. Noch eine Viertelstunde, da fand man ein reizendes Fleckchen mit der Aussicht auf den lieblichen See. Hier wurde Rast gemacht. – Die Schirme wurden in den Boden gestoßen. Die Hüte auf Zweige gehängt. Die Tücher ausgebreitet und andere Dinge, wie Überzieher, Mäntel oder Jacken zusammengerollt zu Kopfkissen verwendet. – Schnell wurden die Mürbekuchen, Eisbonbons, Schokolade und mitgebrachtes Obst herumgereicht. Dann lagerte man sich behaglich. – Von den Strapazen des Tages erschöpft, schliefen Frau Geheimrat Bach, sowie Tante Luni sogleich ein. Selbst die Herren rauchten still vor sich hin oder flüsterten leise. Die Damen druselten auch ein wenig. –

Willi hatte seinen englischen Gummimantel und einen gleichen, großen Staubmantel noch von seinen Weltreisen her. Er hatte die patentierten Dinger so geschickt in kleine Umzüge einrollen gelernt, daß er sie bequem mit sich führen und in die weiten Taschen seines Anzuges versenken konnte. Jetzt hatte er für sein Bräutchen und sich daraus zwei reinliche Lagerstätten bereitet. Von den Tropen her an ganz andere Hitze gewöhnt, fühlte er allein sich recht munter. Ununterbrochen flüsterte er Lotte Koseworte zu oder störte sie auf, wenn auch sie der Schlaf übermannen wollte. Dadurch flößte er ihr etwas von der Energie ein, welche das einzige Schutzmittel gegen Hitze ist. – – – – – Zuerst hatte sie durchaus schlafen wollen, bis plötzlich etwas über ihr Gesicht krabbelte. Es war eine harmlose Schneiderspinne. Jedoch Lotte fuhr mit einem Entsetzensschrei empor und wurde totenblaß. Willi befreite sie von dem Untier. Aber sie schüttelte sich vor Ekel und war nicht mehr dazu zu bringen, sich der Länge nach auszustrecken! Nur nach langem Überreden ließ sie sich erbitten, den Kopf auf Willis Knieen zu betten.

Ein neuer Schreckensschrei in langgezogenen Kadenzen brachte die ganze friedliche Gesellschaft auf die Beine. Die Schlafenden erwachten. Die Herren sprangen empor. – »Was ist los? Was giebt's? Wo brennt es?« – fragte man verstört. Einer sah den andern suchend an. Nur Fräulein Kläre mit weit ausgestreckten Armen brüllte zitternd die Antwort: »Ich! – – – Ich! – – – Äx brr! – – – – Ich – Au!!– – Ameisen! A – – – meisen! Pfui! Ich habe auf einem Ameisen – – – haufen gelegen! – – – Und die krabbeln und beißen! – – – Meinen ganzen Körper laufen sie 'runter! Ich ekle mich tot! Äx!« – stieß sie hervor und fügte zornig hinzu: »Lotte, lach' nicht so dumm! Die Sache ist kein Spaß!« – Lotte Bach quiekte nämlich vor verhaltenem Gelächter, während die arme Kläre weiter schauderte. Große Beratung von Allen fand statt. Endlich zog Ernst mit dem Unglückswurm und seiner Schwester ab. Im Restaurant, wo man später speisen wollte, sollte in einem stillen Zimmer Jagd auf die kleinen Unholde gemacht werden. Ernst mußte den Wegweiser abgeben! – – Dieser neue Vorfall hatte zur Folge, daß jeder erst genau den harmlosen Waldboden untersuchte, ehe er sich niederließ. Jedenfalls war man munterer geworden und plauderte lebhafter als zuvor. Nachdem noch das Attentat eines frechen Frosches auf die liebe Luni heldenhaft mit Schirmen und Stöcken zurückgeschlagen war, begaben sich Willi und die schadenfrohe Lotte auf eine kleine Wanderung. – Sie hatten sich wieder einmal soviel zu erzählen! –

Fröhlich streiften sie durch den Wald am See entlang. Gar oft stießen sie auf Gruppen anderer Ausflügler. Hier schnarchten Vater und Kinder unter Obhut einer fleißig häkelnden Mama. – Da spielten junge Leute, unbekümmert um Sonne und Hitze »Katze und Maus« oder »Dritten abschlagen«. – Hinter einer Buschgruppe küßte sich ein Pärchen. – Kinder buddelten im Sande am Ufer. Ein größerer Verein mit bunten Mützen und aufgesetzten Pappnasen behauptete eine reizende Lichtung. Man drehte einen Leierkasten, blies Radau-Instrumente. Die Jugend flog in Pfänderspielen über den höckrigen Waldgrund. Um ein bekränztes Riesenfaß lagerten die Mütter und Väter. Auf umgestürzten Tonnen wurden verschiedene Skatpartien geklopft. Einige sangen Volkslieder nach der Drehorgel mit. Die Frauen packten gigantische Futterkörbe aus und schmierten und belegten Brotschnitten. Zwei mahlten Kaffee in rasselnden Maschinen. Die Kinder halfen schleppen und Teller abwischen oder schauten mit gierigen Augen den Eßvorbereitungen zu. In der Ferne, zwischen den Bäumen, sah man promenierende Liebespärchen, die sich von der Allgemeinheit abgesondert hatten. –

Zärtlich aneinander geschmiegt wanderte unser Brautpaar in seliger Lust durch all die Sommerwonne. Ihre Stimmung hob sich immer mehr, und endlich sanken sie sich an einem schattigen Plätzchen in die Arme. Lotte vergaß ihre Abneigung gegen Zärtlichkeiten im Sonnenbrand. Beide schmatzten ganz tüchtig. Sie überhörten ein leises, immer lauter werdendes Räuspern, das schließlich zu einem überstarken Husten anschwoll. Nun wirkte es! – Lotte ließ erschrocken ihre Arme von Willis Hals sinken und drehte sich suchend um. – Entsetzt erspähte sie zu ihrer Rechten hinter einer Eiche einen behaglich ausgestreckten Mann. Neben ihm lag eine Botanisiertrommel, ein Schmetterlingsnetz und ein Schirm. – Faunisch grinste er zu ihr empor. – Eins, zwei, drei nahm unsere Range das Hasenpanier und raste in wilder Flucht davon. Willi nach. Und hinterher scholl ein höhnisches Gelächter! – – Erst weit von dem Naturfreund entfernt, hielt sie atemlos an und hielt sich die Seiten. Feller blieb stehen: »Dummchen! Was rennst Du denn? Küssen ist doch keine Schande: Wir sind doch in allen Ehren verlobt!« – schalt er. – – »Himmel! – stieß Lotte, nach Luft schnappend hervor – Was wird der nur alles glauben? Da hast Du es, Willi, ich kann das Geknutsche im Freien und vor Andern nicht ausstehen! Was muß der nur von uns denken?« – – »Gott!? Die sind ehrlich verliebt!« denkt er einfach. Und was ist denn dabei? Der war auch 'mal jung!« – – »Ja, ja, aber nun hat er auch unser ganzes Liebeslexikon mitangehört! Tz! Es ist zum Platzen! Das geht doch nur uns beide an! Was haben wir bloß alles gesagt?« – Lotte starrte sinnend auf die Binsen im Schilfrohr. Sie standen ganz nah am Wasser. »Ich weiß schon, Du hast: Schatzlieb – Wonne – Engel – Sonnenschein – gesagt!« – – »Und Du – fiel ihr der Arzt ins Wort – Du hast vor lauter Liebe wieder geschimpft! Ich habe Dich immer vor Deinen sonderbaren Kosenamen gewarnt! Nun hast Du Dich blamiert, siehst Du!« – – »Was habe ich denn bloß gesagt?« – jammerte Lotte. – Er biß sich auf die Lippen, ehe er tadelnd sagte: »Deine alten Ausdrücke: Wonnevieh – Goldlump – Hundevieh und so weiter! Der wird sich amüsieren über die Dame, welche vor lauter Zärtlichkeit schimpft!« – – »Ach ja, komisch mag es ihm klingen! – gab sie zu – Aber ich kann mir nun mal nicht helfen! Alle gewohnten Liebesausdrücke erscheinen mir trivial für mein Gefühl. Es giebt notorisch kein so dolles Schimpfwort, daß es genügen könnte, um meiner Liebe für Dich den richtigen Ausdruck zu geben!« – Sie breitete die Arme aus und schrie, so laut sie konnte: »Oh Du geliebtes Wonne-Hunde-Lumpenvieh!« – –

In diesem Augenblick trat mit wütendem Gesicht ein friedlicher Angler hinter der Schilfecke hervor: »Zum Donnerwetter, nicht ein Fisch beißt bei dem Radau an! Und umsonst stehe ich hier nicht in der Glut! Wenn Sie durchaus brüllen müssen, dann gehen Sie bitte tiefer in den Wald, wo Sie keinen vernünftigen Menschen stören. Sie – – – – – mit Ihrem Wonne-Hunde-Lumpenvieh!« – Brummend zog er sich nach dieser Moralpauke zurück. –

Sehr bedrückt und doch halb lachend, schauten sich die beiden Verlobten an. Dann reichte er ihr den Arm. Sie sahen nach der Uhr, erschraken über die vorgerückte Stunde und den weiten Weg, den sie gemacht. Das Beste war, jetzt die letzte Wendung des Sees zu umgehen und direkt im Restaurant zu erscheinen. Endlich gelangten sie dorthin. Es war bis zum letzten Tische besetzt. Essens- und Biergerüche. Lautes Tellergeklapper mischte sich mit dem Schwatzen, Lachen und dem Rufen nach den Kellnern. Diese rasten schwitzend und geschäftig hin und her. – Alfred entdeckte die beiden Suchenden und holte sie an den gemeinschaftlichen Tisch. Die Geheimrätin kam ihrer Tochter sehr ärgerlich entgegen: »Wie Du aussiehst! Welches Benehmen! Das schickt sich absolut nicht!« – – Auch Willi bekam sein Teil ab. Sehr verstimmt ließ sich unser Pärchen nieder.

Fräulein Klara, die auf sich über vierzig Ameisen gefunden und sich von den Unholden befreit hatte, begann zu necken. Fellers fanden ihre gute Laune wieder. Und die war sehr notwendig! Trotz aller Trinkgeldversprechungen verzögerte sich die Aufwartung ihres bedienenden Kellners entsetzlich. Zwischen den einzelnen Gängen mußten sie halbe Stunden warten. Was dann kam, war schlecht zubereitet und fast kalt. In den Gerichten herumschwimmende Fliegen durften nicht weiter stören. Und als Lotte aus ihrem Spinat sogar ein langes, schwarzes Haar herauszog, da war es um Aller Appetit geschehen. Man wetterte mit dem Oberkellner, der sehr gleichmütig die Achseln zuckte. Bezahlt werden mußte ja doch! – Aber man beschloß, diesen Leuten nichts mehr zu verdienen zu geben! Den Kaffee wollte man mit dem Abendbrot in Oranienburg einnehmen! –

So brach unser Kreis auf. Sie traten ins Freie. Willi spähte zum Himmel. Ein kurzer, stoßweiser Wind trieb den Staub in Wirbeln auf der Landstraße. Die Sonne hatte einen grellen, stechenden Schein. Über das einfarbige Himmelsblau hatte sich eine gelbgraue Schicht gezogen. »Na?? Seht Euch das an!« – rief er bedenklich. »Ach, das kommt vor Abend nicht herunter!« – meinte Richard. – – »Das giebt zur Nacht ein Gewitter!« –behauptete ein um seinen Rat eingeholter, vorüberkommender Förster. – – »'ne Landpartie ohne Gewitter giebt es nicht! Schon aus Niedertracht gegen mich, weil ich mich fürchte!« – erklärte Lotte. – – »Nur nicht ängstigen, vorläufig kommt es noch lange nicht!« – – «Nee, wenn Willi dabei ist, habe ich nich' solch dolle Angst! Aber all die Vereine und Ausflügler drüben in dem Walde thäten mir leid!« – – »Was gehen uns die fremden Menschen an! Ich jammere eventuell über mein neues Kleid! – sagte Frau Bach egoistisch – Auch Annchen und Lottchen sind im Staat!« – – »Siehst Du, dicke Wonne, wie recht ich hatte, daß ich nicht meinen Sonntagnachmittag-Ausgehstaat riskierte? Wer zuletzt lacht, lacht am besten!« – triumphierte ihre eigene Lotte. –

Man hielt Beratung ab. »Vorläufig giebt es noch nichts! Ich denke, wir wandern bis Oranienburg, trinken dort Kaffee und fahren dann nach Berlin zurück. Dort essen wir in irgend einem Restaurant Abendbrot« – schlug Ernst vor. Man fügte sich ihm. Der Weg wurde angetreten. Die vorherige starke Hitze hatte jetzt etwas brütend Lastendes angenommen. Dazu kam der volle Magen, die Unbefriedigung über das teure schlechte Essen. Und der staubaufwirbelnde Wind, welcher das Sprechen ziemlich unmöglich machte. Schweigsam schleppte man sich den kürzeren Weg an der Chaussee dahin. Dies steigerte das Vergnügen nicht weiter, denn unzählige Menschenkaravanen und alle Sorten von Gefährten benutzten diesen Weg! Der Staub wurde fast unerträglich. Hier hottelten Droschken oder sonntäglich benutzte Schlächter- und Marktgespanne mit stolz dreinschauenden Insassen vorbei. Radler sausten klingelnd dahin. Kremser mit Vereinen – Automobile – Equipagen fuhren vorüber. Zuerst machte das Beobachten der Wagen Spaß. Dann ermüdete man und ärgerte sich über den Staub. Die beiden lichten Kleider und die hellen Anzüge von Richard und Willi zeigten schon bedenkliche grauschwarze Spuren. Tante Luni, Else und die Geheimrätin hoben ihre Kleiderröcke sorglich hoch. Lotte machte es Spaß, ihren Rock, dem es nichts schadete, ruhig nachschleppen zu lassen. – Ihre geheime Absicht eines ostentativen Triumphes wurde durch eine ihnen entgegenkommende Männer- und Knabengruppe bestraft. Der Eine blies auf einem Scherzinstrument und wirbelte ihr eine Seidenpapierrolle ins Gesicht. Der Zweite bepustete sie mit Kletten. »Na, Meechen, Ihn' friert woll? Se sehen so blaß aus?« – rief ein Dritter. »Nu noch een bisken Butter druff, denn hab'n wa Krebsbutta!« – schrie ein Anderer, auf ihre erhitzten Wangen anspielend. Dröhnendes Gelächter folgte. –

Willi zog seine Braut rasch weiter, damit sie nicht erst antworten konnte. – –»Tante Minchen, es donnert!« – – »Wahaftig, es donnert schon!« – – »Ganzes Bataillon, vorwärts marsch! Damit wir landen, ehe es lostratscht!« – hieß es. Schweigend in aufs Äußerste beschleunigtem Tempo eilte man weiter. – – »Der Deibel hole diese Schwitzkur, in mir wackelt der maue Lachs und das harte, zähe Roastbeef immer durcheinander. Mir ist ganz elend!« – stöhnte Lotte Bach. – – »Solche Sonntagsausflüge sind ein spießiges Vergnügen und waren mir stets antipathisch!« – erklärte Feller. – »Willi, sieh 'mal, Deine Braut wird ganz grün. Sollte sie Kotzebue studieren wollen?« – – Der Arzt beugte sich besorgt zu ihr. Sie biß verzweifelt die Zähne zusammen. »Bei der Hitze und dem Schlangenfraß mit eiskaltem Bier wäre es kein Wunder! – sagte er – Nimm Dich noch ein Weilchen zusammen, mein Liebling! Ich besorge Dir Natron aus der Apotheke.« – – »Es regnet. Ich habe den ersten Tropfen!« – – »Allmächtiger!« – –

Die weißen Sonnenschirmchen flogen auf. Die Herren schulterten ärgerlich ihre Spazierstöcke. Man stürzte vorwärts und erreichte noch vor Ausbruch des Gewitters die kleine Stadt und das Hotel. – Lotte entschwand aller Blicke. Nach zehn Minuten kam sie erleichtert zurück. Sie hatte ihren Tribut bezahlt und wurde auf bitteren Thee gesetzt. – Draußen ging ein tüchtiger Sturm nieder. – Nachdem man sich erholt und wieder menschlich gemacht, wich die Verstimmung einem launigen Galgenhumor. Man überbot sich in Erzählungen von erlittenen Landpartie-Unbillen! – Willi erzählte sehr interessant von seinen Reisen und Taifunen. Alfred, der auch lange Fahrten als Schiffsarzt gemacht, schilderte seine Erlebnisse. –

Inzwischen klärte sich draußen das Wetter. Der Regen hörte auf. Nachdem man noch eine Stunde gewartet hatte, damit der verschmachtete Erdboden das Wasser aufsaugen konnte, begab man sich in den schönen Schloßpark. Die Luft war abgekühlt und rein, so daß der Spaziergang zu einem wirklichen Vergnügen wurde. – Schon früh, gegen halb acht Uhr, wurde die Heimfahrt angetreten. Dadurch entging man dem hauptsächlichsten Ansturm auf die Züge und den damit verbundenen, unangenehmen Scenen. Trotzdem wurde es recht voll. Damit nun aber der Tag nicht harmonisch enden sollte, gab es einen Mordsspektakel zwischen den Herren und zwei angetrunkenen Individuen, welche Fräulein Lotte und Frau Annchen behelligten. Das Zugpersonal mußte Ruhe schaffen, und der Bahnhofsinspektor der nächsten Station schrieb alle Beteiligten auf und ließ die Störenfriede in ein leeres Dienstabteil überführen. –

Wie glückliche Sieger nach der Schlacht fuhr man aus der Station hinaus. Aufgeregt und triumphierend. Aber man sollte den Triumph nicht auskosten. Plötzlich gab es einen fürchterlichen Krach und Rückstoß. Der Zug wurde so gebremst, daß sich die Gegenübersitzenden tüchtig mit den Köpfen stießen und durcheinander fielen. Lotte hatte eine Beule auf der Stirn und Willi eine geschwollene Nase. »Ein Eisenbahnunglück?« – fragte man erblassend. Ernst und Alfred sahen aus den Fenstern. Es gab angstvolle Fragen und Rufe, Hinundherhasten. – Ein Unglück war es, dem Himmel sei Dank, nicht; aber ein Unfall an der Lokomotive oder Gott weiß was! Noch dazu war Sonntag, der Dienst klappte nicht so recht. Kurz und gut, was nützte alles Wettern und Schimpfen und Ärgern und Lachen? – Man lag zwei volle, geschlagene Stunden auf freiem Felde. Dann wurde man nach Berlin bugsiert. – Hatte vorher Lotte über ihr schlechtes Kleid, während des Regens, triumphiert, so war die Reihe jetzt an der Geheimrätin. Ihr unerschöpflicher Freßkober rettete, wie ihr Neffe konstatierte, die ganze Gesellschaft vom Hungertode. Jetzt blickte »sie« vielsagend auf ihre Jüngste. –

Um halb elf Uhr war man am Potsdamer Platze endlich angelangt. Nun ließ man sich in einem der dortigen Restaurants noch ein Abendessen auftragen. Dieses bestand entschieden aus den letzten Restbeständen der Küche und war, der vorgerückten Stunde entsprechend, schlecht. Schließlich lachte man nur noch über die »Reinfälle des Tages«. Aber man gelobte sich, nie wieder am Sonntag eine Landpartie zu machen! – – – – Außer wenn der »geheime Medizinalrat Professor Feiler in spe« seinen Wagenpark und seine Rassepferde zur Verfügung stellen würde! Aber bis dahin wollte man noch warten! Das war beschlossene Sache! –


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