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2. Kapitel. Vom Deutschen Theater zu Hiller.

»Lotte, Du mußt mit mir auf die Bahn. Mein Taufpate und Vormund, Onkel Walter Krüger, kommt nach Berlin!« – meinte Willi Feller, als er an einem Sonnabend Vormittag bei seiner Lotte vorsprach. Nach zärtlicher Begrüßung teilte er ihr diese unglaubliche Neuigkeit schonend mit. Sie nahm es höchst gleichgültig auf. »So, rührt sich der alte Fuchs auch einmal aus seinem Bau? Das ist ja nett. Aber wozu muß ich da mit? Er hat mir noch nicht einmal gratuliert. Na, und den Brief, welcher er an Dich gelegentlich unserer Verlobung schrieb, vergess' ich ihm nicht. So'ne Grobheiten habe ich noch in keinem Glückwunschschreiben gelesen Hol' ihn Dir nur allein ab, ich habe keine Lust, ihm die Ehre zu erweisen!« –

Fräulein Bach hatte ihren ärgerlichen Tag. Sie gestand es nicht ein, daß sie sich über den vergötterten Bräutigam gekränkt hatte. Am Abend zuvor war sie mit ihm bei seinen Verwandten gewesen. Die Schwiegermutter hatte ihr unvorsichtiger Weise erzählt, daß ihre entschlafene Mama und der Ministerialdirektor Feller über Willi und Hilde Feller schon in frühster Kindheit verfügt hatten. Bereits in der Wiege hatte man die Kleinen verlobt, wie man dies so im Scherz zu thun pflegte. Hilde war sehr lieblich erblüht und als echte Tochter ihrer würdigen Eltern eine bildhübsche, äußerst korrekte und musterhafte junge Dame geworden. Sie war nach Frau Fellers Ausspruch »eine leise, weiche Frauennatur«. Just so, wie sie sich ihr Schwiegertöchterlein vorgestellt hatte, ehe Lotte sich zu diesem Verwandtschaftsgrad emporgeschwungen. – Onkel Krüger war auch Hildes Pate. Sicher hatte er die gleichen Wünsche gehegt. Grund genug für Lotte, ihn schon jetzt nicht ausstehen zu können. – Gestern hatte sie die Rivalin zum ersten Male richtig kennen gelernt. Ihr Gerechtigkeitsgefühl war sofort mit dem Urteil fertig. Willi war einfach wahnsinnig und nicht zu verstehen! Dieses schöne, liebenswerte, reizende Mädchen hatte er im Stich gelassen um ihretwillen? Es war ein Rätsel!

Wie ein Spürhund hatte sie die beiden belauert, aber nichts Verdächtiges gefunden. Denn daß ihr Schatz die verwandte junge Dame mit Ehrerbietung und Bewunderung behandelte, war natürlich. Trotzdem hatte sie sich im Dunkel der Nacht gar manche Gedanken gemacht. In grimmiger Laune war sie umhergegangen. Des Bräutigams unverändert zärtliches Begrüßen war ein Trost, verscheuchte aber nicht ganz die Dämonen der Eifersucht und der Selbsterniedrigung. Jetzt durchkreuzten die Gedanken blitzschnell ihr Hirn. Der alte Erbonkel kam seit Willis Einsegnung zum ersten Male nach dem von ihm sehr gehaßten Berlin. Er würde sie kennen lernen, mit Hilde vergleichen und – – er konnte ja nur den Kopf schütteln über seines Lieblings unbegreifliche Wahl. Sie sah in dem fremden Manne einen Feind ihres Glückes! – Aber Willi hob ihr Gesicht beim Kinn in die Höhe und schaute sie ernst und forschend an.

»Na, Herzlieb, ist die Gerste verhagelt? Du bist doch so verstimmt, oder ist Dir die Ankunft des Onkels nicht angenehm?« – – »Was will er hier? Er war doch so ewig nicht hier!« – knurrte Herzlieb. – – »Dich kennen lernen, seine Patenkinder wiedersehen!« – – »Quatsch, an mir sieht er was Rechts! Und die entzückende Hilde ist ganz geeignet, mein holdes Ich noch mehr zu verdustern!« – – »Schäfchen, jede von Euch hat ihre Reize! Ich zum Beispiel finde Dich millionenmal schöner und herziger. Ich könnte nur Dich lieben, wie ich es Dir ja bewiesen habe!« – Er küßte ihre kalte Hand. Plötzlich brach auf ihrem Gesicht eine so beglückende Helle und Freude hervor, daß er sich nicht daran satt sehen konnte. »Sie ist aber wirklich bezaubernd!« – – »Ja!« – – »Sie würde Dich auch lieben, wenn auch nicht halb so heiß wie ich!« – – »Möglich!« – – »Onkel Krüger wollte Euch auch verheiraten, der wird nett enttäuscht sein!« – – »Das war er auch, sehr stark sogar!« – – »Wenn er mich nun aber scheußlich findet?« – –

»Lotte!« – Willi packte die Braut und riß sie an sich – »Und wenn die ganze Welt Dich scheußlich findet – Pah! Ich kenne Dich, und ich liebe Dich in Zeit und Ewigkeit, Du herzige, kleine Person! Und nur ein Grund könnte mich bewegen, Dich noch in dieser Minute für immer zu verlassen!« – – fügte er mit starkem Pathos hinzu und strich seinen schönen Schnurrbart. – »Und der wäre?« – fragte Lotte erblassend mit starren Augen. »Deine Kratzbürstigkeit, aus der heraus Du mir niemals sagst, wie Du mich liebst! Die Dich dazu treibt, mich ruhig und unverschämt stets dazu zu bringen, Dir unverdiente Liebeserklärungen zu machen! Dir! Ich – Dir! Wenn – Du – mir – nicht also sofort ein paar liebe Worte sagst, dann – – – –« rief er drohend. Sie lachte: »Später, wenn Du mein Mann bist!« – – »Jetzt sofort, oder ich gehe zu Hilde! Die würde es thun!« – – »So! Na, was Hilde vermag, kann ich am Ende auch. Also – – – sie knirschte mit den Zähnen und ballte die Fäuste – also, wo ich am allermeisten fühle, da kann ich aber nicht so recht heraus mit der Sprache, Du! Im übrigen habe ich Dir ja alles geschrieben!« – – »Ach was hören will ich es! Auf dem einen Brief reitest Du beständig herum, Du herbe Citrone! Los!!« – – Lotte legte den Kopf schief und blinzelte ihn von unten herauf schlau und glücklich an: »Ach Du, Du, ich hasse Dich ja vor lauter Liebe, Du wonniges Ekelchen! Ich kann Dir ja gar nicht sagen, was für ein süßes, einziges Monstrum Du bist, Du häßlicher Knopp Du! Je länger ich Dich kenne, um so gräßlicher wird es mir, wenn – – – – wenn ich nur eine Stunde ohne Dich sein muß! Und für Dich möchte ich vor lauter Liebe, lauter Liebe sterben!« – – »Leben für mich sollst Du, leben!« rief er begeistert. Sie warf sich an seine Brust und weinte vor Glück. Die Eifersucht und Unruhe, das Gefühl des Nichts, welches sie dem schönen Mädchen gegenüber empfunden, hatten sie erschüttert. Er streichelte sie. »Also wir gehen morgen früh und holen uns den alten Herrn von der Bahn. Er ist ein Sonderling; aber Du wirst schon mit ihm fertig werden. Versuch' es mir zu Liebe! Auf Dein Todesopfer verzichte ich gern!« –

Daß man eine ernst gemeinte Äußerung im Scherz anwandte oder sie gar damit neckte, konnte Lotte nicht vertragen, so sehr sie auch sonst an beständiges Necken gewöhnt war. Auch jetzt wurde sie sogleich wieder borstig. Sie wischte sich die Thränen ab, richtete sich auf und rief zornig: »Habe ich da etwa geflennt? Pfui, das muß ein Irrtum gewesen sein! Glaube nicht etwa, daß ich aus Rührung weinte. Du! So ein Waschlappen bin ich nicht!« – – «So? Ei sieh! Woher stammten denn die Thränen, wenn ich fragen darf?« – sagte er lachend. – »O bitte! – entgegnete sie unwirsch – – Ich habe – – – habe – – ach Schöps! – – – doch im Oktober unsere Wintersachen vom Naphtalin gelüftet!« – – Sie lachte auch. »Ich glaube, Du beißt Dir eher die Zunge ab, als daß Du einmal Deine Gefühle so in all ihrer Weichheit zum besten giebst. Du Bock! Als ob es eine Schande wäre! Hältst Du denn das etwa für Sentimentalität, was zwischen zwei Verlobten so selbstverständlich ist?« – sagte er ernst. Sie zeigte ihm freundlichst ihre Zunge: »Pah, über Selbstverständliches kohlt man eben nicht so lange, meine ich!« – – »Na, warte, Eigensinn, Dich werde ich mir schon zähmen. So nach und nach! Du wirst noch windelweich. Du wildes Fohlen!« – – »Daß Du die Nase ins Gesicht behältst, Affenschwanz! Mal sehen, wer zuerst kirre wird!?« – erwiderte sie und drehte sich vergnügt im Kreise. »Wenn Du denkst, Du hast 'n – – – nicht wahr, Herr Doktor, Sie kennen doch das schöne Lied?« – –

Er wurde mit ihr nicht fertig und gab den Kampf auf. Am nächsten Morgen holte Willi Lotte von der Eisbahn ab und fuhr mit ihr zum Bahnhof Friedrichstraße. »Willst Du den Onkel nicht bei der Ankunft ein paar Blumen überreichen?« fragte er zaghaft. »Daran gedacht habe ich; aber nich in die Tüte! Er soll nicht denken, daß ich mich anschmeicheln will! Gerade bei Erbonkels muß man doppelt herb sein, sonst reden sie sich noch ein, man vettermichelt auf ihr Geld hin. Paß auf, er soll sehen, daß er da an die Falsche geraten ist. Bloß keine Beweihräucherung!« – – Willi schwieg, um sie nicht in irgend einen Eigensinn hineinzutreiben. Er liebte den Onkel, der ein Sonderling war, von Herzen. Es lag ihm daran, daß seine Braut die Liebe des alten Herrn erwarb. – Oben aus dem Bahnsteig traf Lotte Bekannte, stellte ihn vor und geriet in sehr vergnügte Laune. Als der erwartete Zug einlief, lachte sie, und ihr frisches Gesicht strahlte gerade so, wie er es gern hatte. Herr Rittergutsbesitzer Walter Krüger aus Tannenwalde stand bereits am Coupéfenster und nickte Willi freudig zu. Als der Zug hielt, kletterte er hinaus und übergab einem Gepäckträger seinen Schein und die Handtasche. Dann umarmte er den Doktor. »Lüttje, Kind, was ist aus Dir für ein stattlicher Mensch geworden. Aus dem blassen, aufgeschossenen Konfirmanden ein ganz prächtiger Mann!« – – »Willi war schon als Knabe sehr hübsch!« – warf Lotte sofort kriegerisch ein. Jetzt erst wandte er sich ihr zu. »Aha, das also ist Deine Braut, Lüttje? Sehen Sie bloß an! Sie sind Berlinerin?« – – »Na, aber wasserecht!« – – »Woher haben Sie denn die roten Wangen und das frische Aussehen? Ich habe mir das Geheimratstöchterchen aus Berlin W denn doch anders vorgestellt!« – – »Irren ist menschlich! Ich hoffe, Sie sind zum Guten enttäuscht?« – sagte Lotte kühl. Er musterte sie erstaunt. »Ich bin vollauf befriedigt, mein Fräulein!« – – »Na, Gott sei Dank! Ich übrigens auch, Herr Krüger!« – – »Sie? – – – In welcher Beziehung?« – – – fragte er unruhig. »Na, wenn man so immer auf dem Lande hockt! – sie sah seinen Anzug forschend an – Aber es geht, sogar sehr!« – – »Lotte!« – Willi preßte warnend ihren Arm – »Ja, lieber Onkel, meine kleine Braut ist eine sehr offenherzige Person. Du wirst sie aber noch kennen lernen, dies Berliner Original! Hoffentlich darf sie auch bald zu Dir Onkel sagen, und Du nennst sie bei ihrem Vornamen Lotte! Es will mir nicht in den Kopf, daß zwei Menschen, die ich so lieb habe, so fremd miteinander stehen! Ich hoffe, doch, Du wohnst diesmal bei uns? Die Fremdenzimmer stehen für Dich bereit!« – fügte er schnell hinzu, während sie die Treppen hinabstiegen. – – »Nein, mein alter Lüttje, ich habe schon wie früher mein Zimmer im Hotel de Rome bestellt. Ihr kennt ja meine Gewohnheiten.« – – »Mama wird sehr betrübt sein. Sie freut sich so auf Deinen lieben Besuch. Heute zu Tisch geben wir Dich aber nicht frei!« – –

Sie stiegen in eine Droschke. »Ja, Lüttje, kommen Direktors auch?« – – »Selbstverständlich, lieber Onkel!« – – »So, dann ist ja alles in Ordnung! – sagte der alte Herr – Ich komme diesmal mit bösen Absichten. Ich will nämlich Berlin tüchtig genießen unter Deiner Führung und dabei gleich Deine Lotte gründlich kennen lernen!« – – »Hoffentlich werdet Ihr gute Freunde, es ist mein inniger Wunsch und Lottens desgleichen!« – sagte Willi. – »Warum denn nicht, oder ist ein alter Onkel vom Lande nicht nach Ihrem Geschmack, meine liebe Lotte?« – – »Das Land thut dazu nichts! Hauptsache ist, daß der Mensch mir gefällt!« – meinte sie ruhig. – – »Na, glauben Sie, daß ich Aussichten dazu habe?« – – Krüger sah sie scharf prüfend und doch wohlwollend an. Sein biederes Gesicht gefiel ihr sehr. – »Gewiß!« – antwortete sie. Die beiden schauten sich an und erkannten in sich verwandte Naturen. Sie reichten sich liebenswürdiger als zuvor die Hände.

In den nächsten Tagen schlossen sie sogar Freundschaft. Dabei kam es Lotte allerdings zu statten, daß Hilde Feller, durch einen Influenzaanfall zurückgehalten, sich an den Fahrten durch Berlin nicht beteiligen konnte. Willi arbeitete in der Klinik und in seiner eigenen Praxis. So machte es sich ganz von selbst, daß Fräulein Bach am Vormittag die alleinige Führerin des alten Herrn wurde. Beide lernten sich kennen und gewannen sich lieb. Sie entzückte es, wie er die kolossalen Fortschritte, den Aufschwung ihrer Vaterstadt mit Gerechtigkeit und Bewunderung aufnahm. Er erfrischte sich an ihrem klaren, munteren Wesen. Eines Nachmittags kam sie mit ihrem Bräutigam ins Hotel. »Hört mal, Kinder, ich habe für uns Billete besorgt. Ihr müßt meine Gäste sein!« – – »Im Theater? Machen wir mit Wonne, Onkelchen, in welchem denn?« – fragte Lotte.– – »Im Deutschen Theater, Herzchen!« – – »Nee, da irrst Du Dich, da ist heute doch – – – – –« – – ›Die Macht der Finsternis von Tolstoi.‹ – – »Au fein! Du, das haben wir beide noch nicht gesehen! Famos!« – jubelte Lotte. – – »Ist denn das Stück für Brautpaare geeignet?« – fragte Willi zweifelnd. – – »Ich kenne es nicht. Der Titel hat mir allerdings etwas Angst eingejagt!« – sagte Herr Krüger peinlich berührt, zog die Billets aus der Tasche und musterte sie zweifelnd. – – »Ich aber habe es gelesen! – sagte Lotte – Es ist ein Werk voll höchster Ethik. Allerdings behandelt es wohl alle menschlichen Laster, die möglich sind, aber es schließt so großartig!« – – »Wollen wir nicht lieber die Eintrittskarten abgeben? Vielleicht bekomme ich in der Oper noch Platz!« – – »Oh nein, Onkel! Das wirst Du gar nicht versuchen! – rief das junge Mädchen energisch – Willi kennt mich. Ich bin kein Affe, sondern ein großstädtisches Geschöpf, das mit offenen Augen gelebt hat. Ich will Tolstois Werk sehen. Es ist nicht wie die französischen Schweinigeleien aus einem unsauberen Sinn heraus geboren. Nein, ein guter, edler Mann hat eine kulturhistorische Studie über die russischen Bauern voller Erbarmen und Menschenliebe geschaffen. Die Kunst heiligt das Thema!« – –

»Hör' nur Deine Braut an, Lüttje! Von der Seite kenne ich sie noch garnicht – wunderte sich Herr Krüger – Du kennst sie besser! Und sie wird Dein Weibchen, also bestimme Du!« – – Willi betrachtete seine Braut forschend. Ernst erwiderte sie seinen Blick. – – »Ich glaube, wir können ruhig in das Theater gehen!« – sagte er dann. Lotte reichte ihm aufatmend die Hand. »Ach, Du Wonnekloß, Du geliebter – Wehe Dir, wenn Du nein gesagt! Siehst Du, am Residenztheater, an den Schwänken und Possen liegt mir garnichts! Aber mit diesem Theaterbesuch geht mir ein großer Wunsch in Erfüllung!« – – »Und nachher soupieren wir bei Hiller!« – – »Herrlich, da war ich noch nie! Spendierst Du mir Hummer und Kaviar?« – – »Selbstverständlich, Du kannst Dir selber Dein Menu aussuchen!« – –

Lotte war selig. Als sie sich daheim für den Abend umkleidete, hatte sie noch ein Sträußlein mit Frau Geheimrat Bach auszufechten. Diese war sehr entrüstet über die Wahl des Stückes. Sie verstand auch ihren Schwiegersohn nicht. Lotte war ein junges Ding, dem man solche Eindrücke noch fernhalten konnte. All ihre Einwendungen scheiterten an Lottes Eigensinn: »Wirst Du Dich denn nicht vor Deinem Bräutigam schämen, wenn da oben auf der Bühne die heikelsten Situationen, die unangenehmsten Unterhaltungen sind?« – »Nein, Dickes, mein Bräutigam ist erstens ein Gentleman und zweitens ein Arzt. Ich bin Braut, kein Kind mehr! Unter zwei ernsten Menschen giebt es bei ernsten Werken keine Nebengedanken! In mancher Gesellschaft oder in sogenannten harmlosen Stücken hätte ich eher Unannehmlichkeiten empfinden können. C'est toujours le ton, qui fait la musique!« – – Die »dicke Wonne« trollte sich endlich seufzend.

Am Arme ihres Bräutigams, neben Herrn Krüger schreitend, betrat Lotte den Theatersaal nur wenige Minuten vor Anfang des Stückes. »Was, dieser häßliche, unsaubere alte Kasten ist das berühmte Deutsche Theater? Hier habe ich vor vielen Jahren noch Deichmann mit seinem Operettenensemble gehört! Ist es möglich?« – sagte der Onkel betroffen. – »Ja, Onkel, das Gebäude ist unter aller Kritik, dafür entschädigt aber das großartige Spiel und die charakteristische Inszenierung. Ich bin überzeugt, daß das Spiel hier höher steht, als das am Burgtheater oder an der Comédie Française. Lotte, Du bist ja da überall gewesen. Du Vielgereiste! Wie denkst Du darüber? – meinte Willi leise. – – »Du hast recht, Liebster, das heißt, nur soweit es sich um ganz moderne, realistische Stücke handelt! Die werden hier auf das unübertrefflichste herausgearbeitet. Natürlich haben wir auf diesem Gebiete Paris und Wien überflügelt! Es giebt nur ein einziges Theater, das auf gleicher Höhe steht!« – – »Und das wäre?« – – »Das kleine kaiserliche Theater in Moskau!« – – »Wahrhaftig, Rangchen?« – – »Auf Ehre!« – – »Na; aber sagt mir, warum reißt man diesen Stall nicht ein und baut ein würdiges Haus? Ihr sagt doch, es ist hier alle Abend so voll besetzt wie heute!« – – »Darüber zerbrechen sich noch andere Gelehrte den Kopf, Onkelchen! Vielleicht wendest Du Dich mal an den Direktor und befragst ihn! – flüsterte Lotte – Dabei ist das Merkwürdige, daß ganz Berlin W, die eleganten Tiergartenkreise, dieses Theater bevorzugen. Was Berlin an Reichtum, Berühmtheit und Luxus aufzuweisen hat, trifft sich hier bei den Premieren. Im Schauspielhause, beinah überall, außer vielleicht im Lessingtheater an der Kronprinzenbrücke, triffst Du ein sehr einfaches Publikum!« – –

Herr Krüger beäugte durch sein Opernglas das Parkett, die Logen und den ganzen ersten Rang, in dem sie selber saßen. – – »Weißt Du, sehr begeistert bin ich von diesen Zuschauern allen nicht. Das ist ja ein Geschwatze und Gehabe wie in einem Ballsaale. Wetter, sind das Brillanten und Toiletten! Kennst Du einige von den Leuten?« – – Lotte kannte sehr viele. Sie zeigte sie dem Gast mit drastischen Randbemerkungen. Das erste Klingelzeichen ertönte. Noch einmal ging ein Aufbrausen durch das Haus, dann wurde es still. Gleichzeitig verdunkelte sich der Raum. Tolstois krasses, ungeschminktes Bild russischen Bauernlebens ging in Scene. – Auf Lotte legte sich eine düstere, dumpfe Beklemmung, welche mit dem Fortschreiten der Vorgänge auf der Bühne zunahm. Deshalb geriet sie in eine wahre Wutstimmung während der Pausen.

Das Publikum des Deutschen Theaters weiß, daß der Vorhang selbst nach dem stärksten Beifall nicht mehr gehoben wird. Die Schauspieler dürfen sich nicht zeigen, um die Illusion nicht zu stören. Und dies ist sehr richtig und einer vornehmen Bühne ganz angemessen! – Kaum sinkt also die Gardine, so weiß man, die Freude ist aus. Man läßt es also bei einem sehr spärlichen Applaus bewenden und kümmert sich um seine privaten Angelegenheiten. – In den Logen entsteht ein Kommen und Gehen. Bekannte begrüßen sich, lachen und plaudern. Ein Teil der Theatergäste strömt in die Foyers und Korridore.

»Was sagst Du zu der Wirkung?« – fragte Krüger sarkastisch und schaute sich um – All diese Herrlein und Dämlein scheinen ja von diesen Tragödien da auf der Bühne recht ergriffen! Sieh Dir nur, wie die Leutchen dreinfahren!« – – »Das stößt mich hier immer ab. Die Leute gehen her, weil es zur Bildung oder zur Mode gehört. Man muß eben die Stücke im Deutschen Theater gesehen haben, wenn sich die Welt nicht auf den Kopf stellen soll!« – entgegnete Willi und erhob sich. Er tippte Lotte auf die Schulter: »Na, Schatz, so blaß und benommen? Komm ein bischen mit hinaus.« Schweigend erhob sie sich. Die Wirkung des Stückes lastete auf ihrem empfänglichen Gemüt. Ihre beiden Begleiter unterhielten sich über das Drama und verglichen russische und deutsche Verhältnisse, wobei Herr Krüger, als genauer Kenner des Landlebens, zu dem Resultat kam: »Es ist bei uns nicht eine Spur anders!« – Fräulein Bach beobachtete die übrigen Anwesenden. »Ist denn hier keiner, der sich so zu Boden gedrückt fühlt wie ich?« – fragte sie sich innerlich und horchte auf.

»Was sagen Sie zu der Lehmann? Feine Nummer, was?« – – »Ähnliche Sache wie in Fuhrmann Henschel als Hanne. Giebt famos die Weiber aus dem Volk!« – –

»Bassermann war am Berliner Theater früher, sagen Sie? Ach! Ist er verheiratet? Übrigens 'ne angenehme Aufgabe, kleine Kinder zu zerquetschen! Pfui Spinne!« – – –

»Das Stück ist 'ne Tortur, der reine Massenmord! Zu so 'was geht man ins Theater! Ich danke! Bleibt das bis zum Schlusse so?« – – »Keine Ahnung!« – – »Am Ende werden sie wohl alle ermordet?« – – »Warten wir's ab!« – –

»Ist diese Toilette von Gerson, Frau Generalkonsul?« – – »Nein, von Petrus, ich kaufe stets dort!« – – »Ich habe Sie noch nie so vorteilhaft gesehen! Verzeihen Sie die indiskrete Frage; aber Sie haben sich wohl Ihren Schmuck umfassen lassen?« – – »Ja, ich liebe es nicht, meine Juwelen stets in gleicher Weise zu tragen. Friedländer ist sehr tüchtig in Neuarrangements!« – –

»Guten Tag, meine beste Generalin, Sie auch hier? Ich habe Sie neulich im Klub recht vermißt! Mein kleines Protégé sang!« – – »Ich habe es außerordentlich bedauert, verehrte Frau, wir waren aber zur Soiree beim Grafen Uhlenthal gebeten. Lassen Sie doch das Kind auf meinem Empfang einmal singen!« – – »Würden Sie dies wirklich gestatten?« – –

»Liebe Goldnau, gestern haben wir uns besser amüsiert als heute in diesem Tolstoischen Schmutz, nicht wahr? Diese Nerventortur könnte man sich doch eigentlich ersparen. Mein Mann hat es mir gleich gesagt. Er drückte sich kluger Weise. Wir sind nachher im Automobilklub, wollen Sie sich uns anschließen?« – – »Ich werde Hermann fragen. Er ist unten im Restaurant und will dort mit dem Kommissionsrat und dem Direktor eine Partie spielen. Er streikt entschieden!« – – »Was halten Sie bloß von dem Stück? Ich bin windelweich!« – – »In der That? Ich bitte Sie, dazu liegen uns doch die Kreise zu fern! Diese russischen Bauern, mein Himmel! Traurig für die Leute! Das kann doch aber uns nicht tangieren! So etwas geht mir ans, aber nicht ins Herz! »Rosenmontag« hat mich tief ergriffen. Waren Sie da?« – – »Nun gewiß, in der Premiere. Das gehört doch einmal dazu!« – – »Selbstverständlich; also nach Schluß der Vorstellung im Automobilklub. Nicht wahr, Ecke der Dorotheenstraße, ja?« – – »Ganz richtig!« – –

»Fräulein Bach, Sie auch hier, in der Macht der Finsternis?« – rief ein kleiner Herr und klopfte Lotte auf die Schulter. Sie erschrak und drehte sich um. Der Rat Grumburg stand vor ihr. »Natürlich, ohne mich geht es doch nicht! – erwiderte sie erheitert – Mein Bräutigam und ein Onkel als Anstandsbaubau sind auch dabei!« – Die Herren stellten sich vor und begrüßten sich. »Kommen Sie nachher mit ins Hotel Bristol?« – – »Nein, danke, Herr Rat! Onkel hat uns zu Hiller eingeladen, und ich freue mich wie ein Mops darauf!« – – »So, na haben Sie nach diesem Stücke noch Appetit? Mir ist er vergangen! – meinte der Bankier – Meine Frau und ihre Adjutantur sind benommen von dem Stück! Ich gestehe, daß ich ein Barbar bin. Mir ist ganz elend von all dem Schmutz und der Verkommenheit auf der Bühne! Ist das nun Kunst?« – – »Sicher nicht! – sagte Herr Krüger – Das ist Lebensabklatsch; aber nicht mehr die edle, heitere Kunst. So etwas sehe ich bei mir auf dem Gute schon mit Erbarmen und Abscheu. Um wieviel mehr hier in glänzender und geschminkter Imitation!« – »So giebt es so etwas auch bei uns in Deutschland?« – fragte Grumburg entsetzt. – »Leider! Sogar sehr häufig! Ich kann mit einer ganzen Fülle von ähnlichen Histörchen dienen!« – – »Schade, ich tröstete mich damit, daß solche Dinge bei uns nicht möglich seien!« – – »Wenn ich die ›Weber‹, ›Bartel Turaser‹ und solch ein Drama wie heute sehe, dann fühle ich mich förmlich bedrückt, daß es mir so gut geht!« – sagte Willi sinnend. – – »Das wollen ja die Dichter gerade! – rief Lotte – Sobald sie die Wirkung erzielten, haben sie ihr Ziel erreicht. Wir sollen über das Elend nachdenken und es zu lindern suchen!« – Sie preßte Willis Hand. – »Ob aber eine wirkliche werkthätige Hilfe als Folge eintritt?« – sagte Grumburg skeptisch. – »Bei diesem Publikum sicher nicht!« – entgegnete Krüger. – – – »Wir reden alle und sind eigentlich auch nicht besser! – erklärte Lotte betrübt – Das macht mich immer so unglücklich. Sehe ich irgend wo und irgend wie Not und Elend, dann möchte ich hinstürzen, mich zerreißen und geben. Man lebt aber nachlässig seinen Schlendrian weiter. Ja, man geht sogar in das teuerste Restaurant und freut sich sündhaft darauf. Es ist doll! Willi, Du kriegst eine inkonsequente Frau!« –

Sie sah so blaß und betrübt aus, daß die Herren lachten. Dann mußten sie in den Theatersaal zurück. Das Stück nahm seinen Fortgang. Der großartige Schluß mit der Bekehrung und Buße des Sünders erschütterte Lotte tief. Mit wütender Entrüstung machte sie »Pßt!« und rief »Ruhe!« als ein paar ganz Dumme bei den tragischsten Scenen über den alten Stotterer auf der Bühne lachten. Dieses verständnislose Lachen wiederholte sich und entriß der impulsiven jungen Dame ein kräftig geflüstertes: »So 'ne Heupferde!« – Willi und sein Pate beobachteten sie mit geheimem Vergnügen. Sie lebte und webte mit den Darstellern. Ihr Mienenspiel wechselte jede Minute. Der Vorhang begann zu fallen. –

Sofort hob wieder das Geschwatze an, das Aufklappen der Sitze und das Drängen nach den Ausgängen und zur Garderobe. Wieder entrüstete sich Lotte, die dadurch ganz aus der Stimmung gerissen wurde und den Schauspielern gern noch ihren Beifallstribut dargebracht hätte. »Kunstpöbel!« und »Kaffern!« Diese beiden Kraftausdrücke entfuhren ihr. – »Wahrhaftig, – es ist in diesem Theater peinlich, im Parkett oder ersten Rang zu sitzen. Man verekelt sich stets! Wirkliche Anteilnahme und ernstes Verständnis haben doch nur die wahrhaft gebildeten Menschen im zweiten Rang und auf der Galerie!« – – »Wollen wir laufen? Es war im Hause so heiß, und der Weg ist nicht weit!?« – schlug Willi vor. Aber Lotte wollte nicht. »Ach nein, bitte nicht! Es ist ja nicht um die paar Schritte zu thun; aber wenn man schon 'mal bei Hiller speist, dann muß man den noblen Mann vollständig machen. Dazu gehört, daß man vorfährt! Nicht wahr, Onkel, wenn schon – denn schon!« – – »So? Eigentlich hast Du recht, Kind, gelt Lüttje? – antwortete Krüger schmunzelnd – Dann darf ich wohl auch nicht eine Droschke zweiter Güte nehmen?« – – »Um Himmelswillen, Onkel, Du bist ein Barbar! Zweiter Klasse nicht 'mal zu Kempinski! Und nun noch zu Hiller? P! Wenn man da schon nicht Equipage hat, dann mindestens Taxameter.«

Stolz zurückgelehnt setzte sie sich mit dem Onkel in den Fond des herangewinkten Wagens. Dann nahm Willi den Platz auf dem Rücksitz ihr gegenüber ein und freute sich über ihren Jubel. Auf dem Wege wurde das Stück noch einmal kurz besprochen. »Ich kann mir nicht helfen; aber die eine Dame hatte mit ihrem Urteil ganz recht – meinte Lotte sinnend – So lange ich dasaß, hat das Drama sehr auf mich gewirkt. Jetzt aber fühle ich doch, daß mir die ganze Sphäre sehr weit liegt. Hunger und Liebe kann ich verstehen, darum packten mich »Liebelei«, die »Weber«, »Rosenmontag« und viele, viele andere Stücke auf Tage und Wochen. Aber diese gehäuften, unbereuten gräßlichen Laster wirken auf mich fast übermenschlich! Schade, daß es etwas so Hundeschlechtes giebt! Und – – – –«

»Na und –?« – ermunterte Krüger. »Und zu meiner Schande muß ich gestehen, ich freue mich, daß ich nicht in dem Milieu lebe! Und daß ich jetzt, gerade nach diesem Drama, in ein so ganz feines Restaurant komme. Der Großkapitalismus ist entschieden doch am schönsten! Man kann soviel Gutes thun und selbst so reinlich und vergnügt leben!« – – Die Herren schüttelten sich vor Lachen. – »Habe ich etwas Dummes gesagt?« – – »Im Gegenteil, eine große Weisheit, Lotte! Das einzig Richtige wäre wirklich, jeder würde als Großkapitalist geboren! Dagegen könnte kein Sozialdemokrat etwas einwenden!«

Die Droschke hielt. Man war am Ziele.


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