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1. Kapitel. Lotte Bach auf verbotenen Wegen.

Es war um die Dämmerstunde. Grete und Lotte hatten einige Besorgungen in der Stadt gemacht und traten mit Paketen beladen den Heimweg an. Die verschiedenen Schaufenster in den Straßen reizten die Neugier der beiden Mädchen. In gemütlichem Schlenderschritt bummelten sie dahin und traten bald an die eine, bald an die andere Auslage heran. – »Donnerwetter habe ich Hunger!« stöhnte Lotte, »Hör' nur, wie mir der Magen knurrt! Dabei ist es noch lange hin bis zum Abendessen!« – Die Freundin überhörte die halblaute Bemerkung geflissentlich. »Sieh' mal, Lotte,« meinte sie ablenkend, »der Offizier da, neben dem Herrn mit dem braunen Überzieher, guckt in einem weg zu uns her. Sie gehen schon eine ganze Weile hinter uns!«

Lotte wandte den Kopf zur Seite und schaute auf die beiden Herren, welche in der That langsam hinter ihnen wanderten. Ihre Blicke begegneten denen des Leutnants, die sich aufleuchtend in die ihren tauchten. Errötend preßte sie den Arm der andern und zog sie schneller vorwärts. »Du, schnell, sonst kommen sie noch weiter mit! Das kommt von unserer Bummelei. Anständige Mädel müssen rasch ihrer Wege gehen!« – – »Ach was, habe Dich nicht! Die werden uns nicht beißen, sehen garnicht darnach aus! Na, und was könnten sie uns denn anhaben?« fragte Grete Thronick ärgerlich.

»Anhaben sicher nichts! Aber wenn sie uns anquasseln?« – – »Dann quasseln wir eben wieder. Ist doch ganz interessant, so ein kleines Abenteuer! Sieh Dir doch die Leute an, das sind hochfeine Menschen. Und da sie Augen im Kopfe haben, werden sie uns auch nicht mit Hinz und Kunz verwechseln! Höchstens giebt es eine kleine Unterhaltung und ein nettes Abenteuer! Und das ist doch garnicht zu verachten. Wir haben so schon eine Ewigkeit nichts erlebt!« – – »Das ist wahr!« stimmte Lotte bei. »Aber weißte, ich habe doch Angst, erstens könnte es einer sehen. Und zweitens, wenn die nun unsern Namen erfahren und uns irgendwo in Gesellschaft treffen?« – – »Na, selbst wenn, dann heucheln wir Unbefangenheit und zwingen sie dadurch dazu, das Gleiche zu thun! Im übrigen ist das ein Fall, der wohl kaum eintritt!«

»Jecken thut es mich allerdings auch!« gestand Lotte nun ein. »Aber, um eins bitte ich Dich, Grete! Wir gehen stramm weiter und ermuntern die Leute nicht etwa. Was kommen soll, kommt doch!«

Sie schritten etwas schneller aus und erreichten bald den Potsdamer Platz. Gretes geschicktes Kopfwenden bewies ihnen, baß ihre Verfolger noch auf ihren Spuren waren. Sie zermarterte ihr Hirn, wie sie ein Zusammentreffen ermöglichen konnte, ohne unfein zu werden. Plötzlich durchblitzte sie eine Idee: »Hast Du noch solchen Hunger?« – – »Na, ich sage Dir, nicht von Pappe! Mein Magen bullert man so!« – – »Wer hat heut' eigentlich Spendiertag?« sagte Grete lachend, und blinzelte die Freundin schlau an. »Ich glaube, das letzte Mal berappte ich! Da waren wir nach dem Museum bei Buchholz ... »Wie fein umschrieben!« entgegnete die andere. »Der Berliner sagt: Dir A – – kenn' ick schon! Meinst Du denn, ich habe vorhin nicht Lunte gerochen, als Du fortwährend Anspielungen auf Deinen Appetit machtest, Halunke!« – – Lotte lachte auch: »Na, in Anbetracht Deiner etwas angegriffenen Kassenverhältnisse wollte ich Dich nicht direkt zu einer Ausgabe verleiten!« – – »Piff paff puff reg Dir nich' uff, Lotteken, moralisch haste genug mit dem Zaunpfahl gewunken, und die fünfzig Reichspfennige werde ich schon noch erschwingen können. Darum schnell; riskieren wir noch einen Abstecher zu Konditor Telschow!« – –

Sie lenkte die Freundin durch einen Armdruck nach links in die Königsgrätzerstraße in die bekannte Konditorei. Nach einem flüchtigen Blick auf die Bahnhofsuhr ließ sich Lotte nur zu gern führen. Eine schnelle Wendung bewies ihr auch, daß der Offizier und der Civilist von dieser Operation Kenntnis nahmen. – Sie wollte einer geheimen Stimme folgen und den süßen Ausflug auf ein anderes Mal verschieben. Aber ihre Abenteuersucht war größer als die moralische Anwandlung. Sie schnippte mit der Lippe: »Pst, da sind sie noch; die müssen viel Zeit übrig haben. Na, uns kann es ja recht sein. Wir haben sie nicht zum Nachkommen aufgefordert! Im übrigen sind die beiden Knöppe nicht unappetitlich!« – – Mit dieser beschwichtigenden Erwähnung betraten sie das wie immer stark besuchte Lokal und traten vor den Ladentisch. – Hohe Kuchenberge waren hier aufgetürmt oder lagen verlockend ausgebreitet.

Lottes Augen schweiften begehrlich darüber hin. Wie immer bei solchen Gelegenheiten wurde ihr die Auswahl zur Qual. Sie suchte und suchte nach dem Idealstück in Größe und Geschmack. Gretes ermunternder Rippenstoß blieb unbeachtet. Schließlich übernahm diese einfach die Bestellung und zog Lotte zu einem kleinen Tisch in einer Ecke, der gerade frei wurde!

»So geht es mir immer, und so wird es wohl ewig mit mir bleiben. Ich male mir alle Freuden des Lukullus aus, und am Ende wird es stets der belämmerte Appelkuchen mit Schlagsahne! ... So ging es mir schon als Kind. Das ganze Jahr freute ich mich auf meinen Geburtstag, wo ich das Menu machen durfte. Wochenlang vorher träumte ich von dieser Galatafel. Kam dann der große Tag, und Mama trat mit der gewichtigen Frage zu mir, dann sagte ich Esel ganz betäubt: ›Rindfleisch mit Mostrichsauce‹, alle andern Leibgerichte hatte ich im Moment verschwitzt. Später schwang ich mich zu Huhn mit Reis auf, und dabei blieb's dann bis jetzt. So wird es mir wohl mit allem gehen mein Leben lang! Ich, die ich in Gedanken Throne stürzte und errichtete, der der Himmel nicht hoch, und Millionen nicht viel schienen, ich werde resigniert wohl bei dem gut bürgerlichen Appelkuchen mit Sahne und Huhn mit Reis landen!« – – Lotte sagte das sehr ernst und seufzte tief. In dieser Essensbetrachtung lag mehr Philosophie, als Grete imstande war, einzusehen. Sie konnte der Freundin, bei welcher Poesie und Prosa stets hart beieinander lagen, schon längst in vielem nicht mehr folgen. Daher hielt sie sich an Lottes prosaisches Teil und entgegnete phlegmatisch: »Na, es soll Dir nie Schlimmeres passieren als das, Freßliese!« – – Lotte blickte sie groß an und schwieg.

Das bedienende Ladenfräulein brachte die verlangten Näschereien. Grete machte sich sofort darüber her: »Weißte, Du, ich möchte wohl wissen, was aus meiner Zukunft wird oder aus deiner?« – – »Na, das können wir doch leicht thun, gehen wir doch wieder einmal zu einer Kartenlegerin!« schlug Grete vor. – – »Ach, die quatschen doch bloß! Was hat die in der Gneisenaustraße damals nicht alles gekohlt!« – – »Das war auch entschieden keine richtige,« meinte die andere. »Richtig sind nur die Lenormandschen. Unsere Ausbesserin, die Schreiber, weißte, die erzählte mir neulich von ihrer Freundin. Die soll einfach alles aus den Karten lesen. Bei der halten Equipagen vor der Thür, und Gräfinnen und Baroninnen kommen zu ihr und befragen sie. Bei Öl-Meyers von Onkel Fritz die Verwandten, hat sie Idas Tod und Fritzens Verlobung ganz richtig vorausgesagt!« – – »Na, höre du! Daß die schwer schwindsüchtige Ida sterben würde, sah ein Blinder!« unterbrach Lotte. »Und Fritz mit seinen Dreißig war auch fällig!« – – »Sie bestimmte aber Tag und Stunde, etsch! Überhaupt, die soll wirklich Wunder wissen. Sie errät die ganze Vergangenheit ihrer Besucher. Alle sind paff darüber! Daß sie etwas ganz besonderes ist, siehst Du schon daraus, daß sie für einfaches Kartenlegen drei Mark nimmt. Für jedes extra Kunststück eine Mark mehr! ... Wenn Du nicht mitwillst, bon! Ich gehe bestimmt bald zu ihr!« – – »Weißt Du, wo sie wohnt?« – – »Nee, aber die Schreiber kann es mir sagen, die redet mir schon so lange zu!« – – »Und wirkliche Adlige gehen hin?« – – »Neulich war eine Palastdame und eine Generalin erst wieder dort! Solche Damen werden sich doch kein X forn U machen lassen!« überredete Grete eifrig.

Lotte dachte nach: »Du, ich komme mit! Etwas mag ja dran sein. Es giebt eben viele Dinge zwischen Himmel und Erde ... Schade nur, daß sie so teuer ist; vielleicht ist sie bei zweien billiger!« – – »Ich glaub's kaum; aber ... was hast Du denn ... au!?« – – Fräulein Thronick fuhr ganz entsetzt auf, denn Lotte hatte sie ins Bein gekniffen. Blutrot wies sie nach der Thür, die in den Laden führte. Auch Grete erglühte. Denn die beiden Herren standen da und sahen sich nach freien Plätzen um, dabei kokett nach den jungen Damen herüberlächelnd. – – »Ach herrje!« entfuhr es ihr. – – »Du, ich habe einen Mordsbammel!« flüsterte Lotte. – – »Endlich mal wieder 'was fürs Herz, ich liebe die Abenteuer!« – – »Jrade wat Scheenet!« sagte Lotte jetzt auch mutiger, obgleich ihr Herz gar gewaltig klopfte. »Wenn sie bloß nicht in die Nähe kommen! So von weitem techtlemechtle ich auch ganz gern. Immer kalt Blut und warm angezogen.«

»Wenn es man Willi Feller wäre, dann wärest du sicher nicht so für die Distanz!« – – »Da kannst du recht haben! Willi ist ein Gemälde, an dem man sich ewig erbaut, und das sind Momentphotographieen!« – – »Die machen mehr Jux als – – – natürlich – du, die drei neben uns sind gleich mit ihrem Kaffee fertig. Darauf warten die beiden nur! Hietsch, da sind sie! Jetzt gleichgültig thun, Lotte, unbefangen weiterplaudern! Je höher man die Trauben hängt, desto begieriger greift der Fuchs danach? Also los!« – – – –

Die beiden Herren klemmten sich vorsichtig durch die Stuhlreihen und eilten auf den freigewordenen Tisch neben den jungen Mädchen zu. Diese saßen mit feuerroten Wangen da und plauderten anscheinend eifrig. Sie nahmen mit zitternden Händen von Zeit zu Zeit einen Löffel mit Sahne, verzehrten ihn hastig und schienen sich um ihre Nachbarschaft garnicht zu kümmern. Im Vorübergehen ließ der Herr in Civil seinen Spazierstock gegen Grete absichtlich fallen. Dann griff er hastig danach, zog den Hut und sagte mit tiefer Verneigung: »Bitte tausendmal um Vergebung, mein allergnädigstes Fräulein!« – Grete war erschrocken zusammengefahren und neigte nur schnippisch den Kopf. »Das ist toll!« sagte sie leise. »Komm, wir wollen gehen!« antwortete Lotte – »Na da kennst du Buchholzen schlecht! Irgendwie müssen sie doch anbandeln, nur nicht ete thun!« flüsterte sie der Freundin kaum vernehmlich zu. Dann zupfte sie diese am Kleid: »Horch!«

»Du wirst also den Juristenball mitmachen, Hugo?« – »Wenn nichts dazwischen kommt, gewiß! Wie sind denn eure Damen? Angenehm?« – »O gewiß, wir haben stets eine ganze Reihe reizender Tänzerinnen. Du mußt mir dann nur vorher dein Genre beschreiben, dann stelle ich Dich gleich an den richtigen Orten vor!« erwiderte der Civilist.

»Aha, ein Jurist! Für die schwärme ich!« sagte Grete.

»Dann nehme ich den Leutnant; Uniform ist mir – pscht, höre nur, so'ne Frechheit!« »Mein Genre, das will ich Dir gleich vorführen!« meinte der junge Offizier und blickte Lotte scharf an. Seine weißen Zähne blitzten beim Lächeln unter dem blonden Schnurrbart hervor. Er lehnte sich nachdenklich und elegant zurück, trank einen Schluck Bier, wobei er das Glas fast unmerklich dem jungen Mädchen entgegenhob. Lotte wandte sich errötend und erblassend ab. – »Also, Franz, ich liebe die Blondbraunen mit blauen Augen und frischen Farben, die jugendlichen kecken Dachse, die doch schüchtern seien können. Ich mag die rundlichen, schlauen, die echten Berlinerinnen, mit denen man eine nette Unterhaltung führen kann. Ich mag es, wenn die Haare etwas zerzaust unter dem Pelzbarett hervor – – ach so – – die Damen auf den Bällen tanzen ja ohne Hut!« – Wieder trank er Lotte zu. Diese wandte ihm aber entrüstet den Rücken. Das war ihr denn doch ein wenig zu deutlich gewesen!

»Und ich,« sagte der mit Franz Angeredete, »ich liebe die großen starken Germaninnen mit den hellblonden Haaren, den tiefblauen Augen. Nur schade, daß diese Festungen immer ziemlich schwer zu attackieren sind! Nun, dem Mutigen gehört die Welt. Nicht wahr, Hugo, bei Telschow trifft man immer reizende Mädchen? Schau Dich nur einmal um!« – »Nein, danke, teuerster Referendarius, ich bin mit meiner Aussicht so zufrieden, daß ich mir gar keine bessere denken könnte!« versetzte der hübsche Leutnant mit so fröhlichem Gesicht, daß Lotte unwillkürlich lächeln mußte. Damit war der Bann gebrochen. Sie freute sich innerlich unbändig, daß sie dem patenten Kerlchen so wohl gefiel. Und plötzlich verwandelte sich diese geheime Freude in ihren alten quellenden Übermut, der auch die Freundin mit fortriß. Sie unterhielten sich ihrerseits nun möglichst anzüglich und diskret vernehmbar. Blicke, bald feurig, bald lustig, flogen von Tisch zu Tisch. Unter dem Kreuzfeuer dieses Augenspieles hob sich die animierte Stimmung. –

»Donner und Doria, wir vier kokettieren nicht schlecht!« flüsterte Lotte fidel. »So ist's nett, nachher bandeln sie uns an, und dann haben wir für den Nachhauseweg ein famoses Abenteuer!« – »Dann haben wir doch 'ne schöne Erinnerung mehr zu unsern andern Streichen. Davon können wir dann sprechen, wenn wir alt sind! Tugendproppen müssen dafür später häkeln und Dienstbotenjammer austauschen. Wir denken an unsere Jugend und haben – – –«

»Es leben die süßen Berlinerinnen. Prosit, Franz, auf die Blonden und Braunen!« sagte der kleine Leutnant behaglich. –

»Essen wir die süße Sahne auf die süßen Worte galanter Berliner!« sagte Lotte und fügte über ihre Keckheit entsetzt hinzu: »Ich meine natürlich auf unsere Brüder und Vettern!« – Verwirrt schob sie den letzten Bissen in den roten Mund; denn die Herren lachten. – Die Stimmung war auf dem Höhepunkt. Die vier Leutchen hatten ganz vergessen, daß noch andere Leute außer ihnen in der Konditorei waren. Sie bemerkten auch nicht, daß im Eingang zu dem Feld ihrer Wonne eine starke, große Dame stand und sich das Pincenez aufsetzte, um ihre Ecke besser betrachten zu können. Hinter ihr stand klein und vergneddert ein sehr eleganter alter Herr, in dem man auf fünfzig Schritt den Pantoffelhelden erkannte. »Sieh nur, Krause,« rief die Eingetretene laut, mit der Ungeniertheit eingesessener Honoratiorenfamilien aus kleinen Städten, »das ist doch Lotte Bach! Aber janz fraglos, das ist Vetter Geheimrats berühmte Jüngste. Das ist ja janz harrlich, kaum einen Tag in dem jroßen Barlin und schon aine Bekannte! Da schelte einer noch auf Jraudenz!« – Sie steuerte energisch auf den Tisch der beiden jungen Damen zu, klappte die ganz in ihre Koketterie versunkene Lotte auf die Schulter und sagte beseligt: »Juten Abend, Lotte, main Kind! Nanu, was für ain Jesicht! Du wirst doch noch die Tante Stadtrat Krause aus Jraudenz kennen, die leibliche Cousine von deinem Papa?« –

Lotte war aus allen Wolken gefallen, als sie emporschnellte und in die geöffneten Arme der ›Provinztante‹ versank. Der Vater sprach oft von seiner Cousine und versäumte nie, hinzuzusetzen: »Eine tüchtige Frau war Malchen stets; aber ein Satan bleibt sie bis an ihr selig Ende!« Dieser väterliche Ausspruch hatte es denn auch zuwege gebracht, daß Lotte furchtbare Prügel erhielt. Sie war vier Jahr alt, als Tante Krause zu Besuch kam. Und Malchen sowie Satan hatte sich in ihrem Kindergemüt zu einem Begriff verbunden. Einen Satan aber küßt man nicht und läßt sich auch nicht von ihm küssen! –

Jetzt war sie älter und fürchtete sich nicht mehr vor dieser Umarmung. Aber sie geriet in peinlichste Verlegenheit, ganz abgesehen von ihrer tiefen Enttäuschung ob des unterbrochenen, kleinen Flirt. Je leiser sie sprach, um so lauter sprach Frau Stadtrat. Es dauerte eine Stunde, ehe die Freundinnen sich anstandshalber drücken konnten. Selbst ›die von Krauses noch bezahlte Chokolade und Apfeltorte‹ entschädigten sie nicht! – Der Leutnant und der Referendar hatten ein Weilchen gewartet, dann wiederholt nach der Uhr gesehen und sich schließlich mit bedauerndem Achselzucken erhoben. Zwei tiefe Blicke trafen die Mädchen, dann verschwanden die Herren. –

Als Lotte und Grete endlich weißglühend vor Wut vor der Thür, im Getriebe der Straße standen, war niemand zu erblicken. Zuerst schlichen sie wortlos davon. Dann aber brach sich der Zorn Bahn. Sie haderten mit dem Schicksal, mit den Entschwundenen, vor allem mit Frau Krause. Diese kam sogar mordsschlecht weg! »Natürlich, da hast Du mein Pech,« meinte Lotte, »es konnte ein Vanilleeis-Abend werden! Was kam aber durch den alten Satan nur zustande – – – Appelkuchen mit Schlagsahne! – – – Meine Bestimmung! Ich habe es Dir ja immer gesagt.«

Sehr verstimmt trennten sich die Freundinnen an ihrer Straßenecke. Sie hatten von diesem Heimwege soviel erwartet, und was war daraus geworden? Beinah ein tüchtiger Streit! Zuguterletzt hatte Fräulein Thronick das Dazwischentreten der Stadträtin Krause als persönliche Beleidigung angesehen, für welche Lotte verantwortlich war. Na, diese aber nicht faul, hatte ihr heimgeleuchtet! Heute blieben sie nicht eine halbe Stunde stehen oder geleiteten sich hin und her. Ein kurzes: »Tchö, Grete! – Tchö, Lotte!« und man ging seiner Wege nach rechts und links.

An dem folgenden Tage fühlte man keine Sehnsucht, sich wiederzusehen. Desto freudiger war Grete am Sonntag Morgen überrascht, als sie nach einem stürmischen Klingelzug die Thür aufmachte. Lotte, die sonst so Eigensinnige, fiel ihr jauchzend um den Hals und küßte sie gewaltsam ab. »Schnell, fix, komm in Dein Zimmer! Ich habe dir etwas unmenschlich Wichtiges zu erzählen! – Du wirst ja baff sein! – Mir bibbern noch die Kniee von dem Schreck!« – – »Was ist denn los?« – – »Nein, nein, bei Dir! Ein Geheimnis!!«

Die Mädchen suchten so schnell als möglich aus dem Familienzimmer zu entkommen. Sie atmeten auf, als sie endlich in Gretes winzigem Kämmerchen bei festverschlossenen Thüren saßen. »Himmel, deine Alten sind die reinen Polypen! Sowas von Fangarmen. Man kommt und kommt nicht los!« – – »Schnell doch, erzähle! Spann' mich nicht auf die Folter!« drängte die Wirtin und betrachtete den Gast, der eine Zeitung aus der Tasche zog und diese umständlich entfaltete. – »So, Puffschnuteken, nun lies! Du wirst dein blaues Wunder erleben!« – – – Grete beugte sich verständnislos über das Blatt. »Hier?« – – »Ja, fix!« – – »Ein brauner Teckel entlaufen, auf den Namen Waldm – – – –« – – »Nein, weiter unten!« – – »Ein Kronleuchter zu verkaufen – – –« – – »Noch tiefer, Schöps!« – – »Also: Kräftige Landamme – – – –« – »Na, Grete!« unterbrach sie Lotte heftig. »Hast Du keine Augen im Kopfe. Auf der zweiten Spalte ungefähr in der Mitte!« – – Lotte sprang ungeduldig auf und zeigte mit dem Finger auf eine Annonce, welche die andere rotwerdend, dabei vor Wonne mit den Beinen strampelnd, laut las:

»Telschow!! –

»Grete und Lotte werden innigst gebeten, ein Lebenszeichen zu geben. Am besten Zeit und Ort eines Wiedersehens sofort zu bestimmen. – Brief unter: F. H. 300. – Expedition Zeitung.« – –

stand da gedruckt. Die Zeitung, welche dem kleinen Liebesgott so hilfreich unter die Arme griff, fiel zu Boden. Denn die beiden Mädchen umarmten sich und tanzten im Kreise herum. Lachend und atemlos sank die eine auf das Bett, die andere auf den Stuhl. »Menschenskind, ich war baff, als ich es entdeckte. Hurra, unser Abenteuer hat eine Fortsetzung! Kinder, wie müssen wir den beiden imponiert haben? Denke doch, die lange Annonce und alles gesperrt gedruckt! Was das kostet?! He! – Und daran erkennt man die Liebe! Wenn ein Mann etwas für uns springen läßt, dann sitzt es tief. Wenn er aber mit den Moneten gaunert, dann hapert's! Denke 'mal, was Willi Feller schon für mich ausgegeben hat! Fritz Haffner dagegen – – – – P! Nich' einen blanken Sechser! Na, so steht's, Willi mochte ›mich‹ aber, aber Fritz brauchte das ›Verliebtsein‹. Und weil kein anderes Mädel im Hause war, fiel er auf mich!« behauptete Lotte Bach nicht unrichtig.

»Haben es Deine Eltern nicht gesehen?« – – »Nich' in die Tüte! I wo! Ich brachte dieses Beiblatt sofort beiseite, ›wer‹ mich ekeln und es rumliegen lassen. Nun sage aber, was sollen mir thun?« – – Grete, deren größerer Lebensklugheit sich Lotte in solchen Dingen willig unterordnete, dachte nach. – »Natürlich antworten wir; aber man nicht gleich Ja und Amen sagen! Sonst denken die beiden Monsieurs, wir wären schon futschikato von ihnen. Erst ein bißchen zappeln lassen!« – – »Selbstverständlich hast Du Recht! Je mehr Hunger, desto größer der Appetit! Aber wie? Allzu straff gespannt, zerreißt der Bogen!« – – Wieder entstand eine Pause. »Ich meine, wir antworten mit ein paar Knüttelversen. Die polkst Du schon 'raus! Haben sie Lust weiterzugehen, werden sie schon antworten. Und ob nich', die Brieder bammeln im Netz. Die kommen schon. Hier haste Papier und Feder, jetzt dichte!« – – »Aber Du schreibst es ab, deine Handschrift ist schöner!« erwiderte Lotte. – – »Gut! Doch inzwischen muß ich im Salon Staub wischen, sonst giebt es Mordskrach! Und gerade jetzt, wo wir wieder 'was auf dem Kieker haben, müssen wir doppelt anständig sein. Damit sie keinen Argwohn kriegen und uns laufen lassen!« meinte Grete und verschwand.

Lotte legte alles zurecht. Dann knabberte sie eifrig am Federhalter und dachte nach, denn der Anfang wurde ihr schwer. Was sollte sie schreiben, und ›wie‹ eine ›Absage‹ einkleiden, die im Grunde doch nur eine ›Zusage‹ war? Plötzlich beugte sie sich und schrieb hintereinander:

»Eure Druckzeilen lasen wir, doch Parole d'Honneur,
Mit dem baldigen Treffen, wie Ihr glaubt, o Malheur,
Wird es wohl allzu schnell nicht gleich gehen,
Wir sind nicht so happig aufs Wiedersehen!
Zwar habt Ihr gefallen uns – – – einigermaßen;
Doch giebt es gleich Euch mehr auf den Straßen!
Uns aber, wenn wir mit dem Kommen nicht geizen –
Muß etwas ganz außerordentlich reizen! – – – –
Drum wartet ein wenig, ehe nehmen die Tête – –
Lotte – die braune – und die blonde Grete!« –

Gerade in diesem Augenblicke steckte Grete den Kopf durch die Thürspalte, dann schob sie sich, mit Pinsel und Staubtuch bewaffnet, ganz hinein: »Nanu, hast du schon etwas zustande gebracht?« – – »Ich bin fertig! Uns kann keiner! Aber Grete, ich glaube, es ist höllischer Quatsch?« antwortete die Gefragte zerknirscht. Doch die Andere hatte über ihre Schulter fort schon den Inhalt gelesen.

»Na, Goethe hätte bessere Verse gemacht. Deine ›Beine‹ wackeln ein bissel; aber sonst geht es ganz gut! Ich werde das Gedicht schnell kopieren!« – – »Ach ja, die Versfüße,« seufzte Lotte, »Du, ein Dichter werde ich nicht! Nicht 'mal der olle Hans Sachs, der doch nur Schuster war und nicht sein Lehrerinnenexamen gemacht hatte! – – – – Höchstens Prosa geht wie geschmiert! Na, hoffentlich lassen sich unsere Verehrer nicht durch mein Gedicht abschrecken!« – »I bewahre, es ist ja ganz launig! Aber wo soll die Antwort hin?« – – »Auch an die Expedition! Wenn ich zu Tante gehe, bin ich ganz nahe bei – –!«

Nach zwei Tagen erklärte Lotte ihrer ›dicken Wonne‹, für gewöhnlich Frau Geheimrat Bach benannt, daß sie lebhafte Sehnsucht nach der Tante empfinde und unbedingt zu ihr müsse. Es ließe sich nämlich so nett mit Grete Thronick arrangieren, die in der Stadt Einkäufe machen müsse, so daß sie einen Weg hätten! – Die gute Mutter sagte nicht nein. Und so stiebelten unsere beiden denn vergnügt und in einiger Erregung los. Auf der Zeitungsexpedition wurde ihnen ein Couvert mit ›L. G.‹ überreicht. Der Beamte sah erstaunt in die errötenden, verklärten Mädchengesichter, worauf der Schlaukopf Lotte diplomatisch erklärte: »Nun, hoffentlich bringen Sie uns Glück, und wir erhalten endlich gute Stunden durch Ihre geschätzte Zeitung!« – – Der Angestellte war auch kein Dummling weiter und entgegnete schmunzelnd: »Gewiß, ich hoffe sicher, daß Sie durch diesen Brief angenehme Stunden haben werden. Wenigstens sahen die beiden Herren, welche ihn gestern brachten, und sich bereits heute erkundigten, ob er abgeholt wäre, sehr nett aus!« – – Grete verduftete sofort, denn sie machte Kehrt und verschwand. Lotte bog sich vor Lachen: »So!« rief sie vergnügt, »Sie wissen ja Bescheid, Sie haben sicher auch früher in dem Geschäft mitgearbeitet? Na, darum keine Feindschaft nicht: tout comprendre c'est tout pardonner!«

Sie nickten sich verständnisinnig wie alte Freunde zu. Dann entschlüpfte auch Lotte. Hastig kreuzten sie den Damm. In dem Treppenhaus bei der Tante saßen sie auf den Stufen und öffneten frohgemut den Brief. Ein Bogen mit Versen fiel ihnen entgegen. »Gieb her, ich lese vor!« rief Lotte und packte ihn:

»Nur wer die Sehnsucht kennt
Weiß, was wir leiden!
So grausam roh getrennt
Von Euch, Ihr beiden!
Lindert doch mild die Qual,
Erhört unser Flehen,
Laßt Euch ein einzig mal
Ach, baldigst nur sehen!
Gönnet uns Entzückten
Die wonnige Fête,
Machet zu Beglückten,
Uns! Lotte wie Grete!«

»Famose Knöppe!« meinte Grete hingerissen. »Na aber! Prachtviehcher! Nee Du, die müssen wir kennen lernen, bestimmt! Die haben den richtigen Avek! Heute schreiben wir ihnen einfach ein Rendezvous: aber wo?« – – »Im Tiergarten!« – – »Nee danke, wo alle Kindermädchen von Berlin – – – Es muß was ganz besonderes sein!« – – »Konditorei oder Normaluhr?« – – »Zu abgeklappert! Fehlt bloß noch das Taschentuch in der Hand und die Rose im Knopfloch!« – – »Im Theater?« – – »Ja, das ginge! aber ich bin jetzt sehr knapp auf der Pinke. Und mit sonen Leutnants- und Referendarkassen sieht es auch man windig aus! Der Staat erkennt die hohe Bedeutung dieser Leute noch nicht genügend an und besoldet sie nicht hinreichend genug. Nee Du, wirklich, im Ernste, denke mal, was zum Beispiel die beiden auf uns für Einfluß haben könnten. Auf alle Mädchen. Na, und wir sind doch die künftigen Mütter des Volkes!« – – »Lotte Bach als Stammmutter Deutschlands! Na, ich danke, Herr Franke, das gäbe eine Rotte Korah!« lachte Grete. – – »Laß man gut sein, 's wären nicht die schlechtesten Untertanen,« entgegnete die Geneckte ernster, »aber um auf unsere Hammel zu kommen! Im Theater geht es nicht! Bleiben wir also beim – – – beim – – – Du, ich hab's – – – Wir treffen uns einfach im Museum oder in der Nationalgalerie! Erstens von wegen elternlicher Beruhigung. Zweitens ist es da skandalöser Weise meist recht leer. Drittens läßt die Kunst nicht allzu profane Sachen zu, und zwingt die Herren in die Grenzen!« – – »Na, wenn Du man den Einfluß der Kunst nicht überschätzt, Lotteken. Aber im übrigen, das Lokal ist gut und für solche Zwecke wohlgeeignet. Also verfasse heute Abend die Antwort und bestelle sie, damit es besser klingt, zu nächsten Sonntag in die Nationalgalerie!« sagte Grete energisch.

»So lange noch? Schade, mich jieperts jetzt mächtig, mit den beiden rumzuulken; aber Du hast vielleicht recht. Zappeln lassen, und wenn es uns selbst peinigt!« antwortete Lotte. Dann verabschiedete sie sich von der Freundin und stieg zur Tante hinan. – – Am Abend aber verfaßte sie noch die Antwort an die unbekannten Bekannten und beförderte sie am nächsten Morgen. Sie lautete kurz und bündig:

»Sonntag in acht Tagen erbauen wir uns während einiger Vormittagsstunden an den Meisterwerken der Nationalgalerie. – L. G.«

Mit richtigem Ahnen durchforschte Lotte jetzt täglich die Zeitungsannoncen. Wirklich entdeckte sie auch in der Dienstagsnummer einen gesperrt gedruckten Vers.

»Lang ist die Frist –
Voll Sehnsucht ganz –
Zählen die Stunden –
Hugo und Franz!«

Sie brachte ihn getreulich der Freundin. Aber nicht nur die beiden Herren zählten, wie sie schrieben, die Stunden! In Wahrheit waren es wohl unsere Verschworenen, die sich jeden Abend niederlegten, selig in dem Bewußtsein: »Wieder ein Tag näher zu Sonntag!« –

Von Donnerstag an waren die beiden Mädels in einer Aufregung. Grete mußte Lottes Hut kleidsamer umgarnieren. Die Toiletten wurden hervorgesucht, um- und umgedreht, anprobiert, geprüft. Endlich hatte man die schwere Frage der Bekleidung erledigt. Denn natürlich mußte man doch so hübsch wie nur möglich aussehen! Grete war der Verzweiflung nahe, weil sich an ihrem Kinne zwei rote Flecke zeigten, die trotz Coldcream, Puder, Massage und kalten Umschlägen nicht wichen. Auch Lotte mußte sich resigniert mit einem kleinen Pickelchen auf ihrer weißen Stirn abfinden. »Na, er weiß ja, wie ich aussehe und rechnet auf keine Venus!« meinte sie laut, die innere Klage übertäubend.

Am Sonnabend sahen die jungen Damen alle Stunden betrübt zum Himmel empor. Es goß wie mit Kannen, und der Himmel machte keine Anstalten, sich aufzuklären. – Auf eine kurze Bemerkung Lottes: »Wenn bloß besseres Wetter wird. Wir wollen morgen in die Galerie oder in irgend ein Museum!« entgegnete die Geheimrätin ordentlich empört: »Ihr seid wohl nicht recht gescheit! Bei dem Matsch wollt ihr euch wohl à tout prix die Kleider ruinieren? Die Museen laufen Euch nicht fort, und Ihr bleibt vorläufig in Berlin! Also verkneift Euch nur diese Gelüste!« – – Lotte schwieg; aber im Innern sagte sie sich: »Wir gehen, und wenn es Steine hagelt!« – Mit dem gleichen Entschluß und der festen Vornahme zu gehen, und wenn sie fliehen müsse, legte sich Fräulein Thronick zum Schlummer nieder. Und aus beiden Herzen stieg das heiße Gebet zum Himmel empor: »Lieber Gott, bitte, bitte, laß doch morgen schönes Wetter sein!« –

Aber der Himmel ist hart und erbarmungslos. Oder er ist weiser, als wir es ermessen können. Schon um sechs Uhr erwachte Lotte. Es war noch stockfinster, und ein niederträchtiger Wind heulte und peitschte schwere Regenmassen klatschend gegen die Scheiben. Was half alles Hadern? Wütend drehte sich Lotte im Bette um und schlief bis gegen neun Uhr, wo sie allerdings den gleichen Wetterzustand antraf. – Seufzend erschien sie beim Kaffeetisch, wo die Eltern ihrer schon harrten.

»Ich kann mir nicht helfen,« meinte der Rat behaglich sich in seinen Schlafrock hüllend. »Aber am Sonntag, wenn man nicht fortbraucht, ist solch Wetter 'mal ganz nett. Man kostet die Freuden des gemütlichen Heims so recht aus! Wie ist es, Range, wollen wir nachher ein paar Schachpartieen riskieren! Und singst Du Deinem Alten etwas vor?« – – »Von Herzen gern, Väterchen, aber erst heute Nachmittag, bitte! – Ich muß auf alle Fälle zu Grete. Etwas ganz Wichtiges! Ich habe es ihr fest versprochen!« sagte die Tochter, nervös vor innerer Ungeduld. – »Na, dann weiche ich älteren Rechten; aber nachmittags, mein Kind, ja?« – Er winkte der Gattin ab, die empört das Ausgehen verhindern wollte. »Laß nur, Ollecken, so junge Mädchen haben stets wichtige Amtsgeschäfte vor. Nicht wahr, Range, W... F...? Na, na!« beschwichtigte er. Lotte war bei diesen Buchstaben erblassend aufgesprungen. Die Erinnerung an Feller fiel ihr wie eine Bombenlast auf die Seele. Sie fühlte, daß sie ihm heute schwer Unrecht that. Aber dennoch! Sie konnte und wollte nicht mehr zurück. Ihre Unternehmungslust war zu gewaltig erweckt worden! –

»Wenn du so wahnsinnig bist und bei dem Pansch zu Grete willst, dann nimm nur deine ältesten Sachen und die Gummischuhe!« rief die Mutter der Enteilenden noch über den Korridor nach. – Es war aber gut, daß sie ihre Jüngste nicht erblickte, als sie durch die Küche über die Hintertreppe Reißaus nahm. Lotte trug ihr nagelneues, grünes Kostüm, die gute Pelzgarnitur, weiße Glaceehandschuhe, Lackschuhe und den besten Schirm ihrer Mama, den sie schon am Abend vorher beiseite gebracht hatte. – Grete erwartete sie ebenso nobel angezogen schon in ihrem Hausflur. Ihre Wangen glühten: »Na, ich habe einen Transch hinter mir, der war nicht von schlechten Eltern! Einfach alle haben mit mir gekracht, von oben runter. Und soviel habe ich in meinem Leben noch nicht geschwindelt wie heute. Als Bertha einholen ging, habe ich mich eben heimlich und ohne Erlaubnis fortgeschlichen. – – – – Wie kommen wir nun hin: Pferde- oder Omnibusen?« – – »Du!« sagte Lotte bedenklich. »Unsere guten Sachen! Wenn die nur nicht zu sehr leiden? Wäre es nicht besser, wir spendierten uns gemeinsam einen Droschkon zweiter Güte. Es macht sich auch nobler, wenn wir forsch vorgefahren kommen!?«

»Ach nee, wer weiß, ob die Herren schon da sind. Und eine Mark umsonst verpuffen, das wäre schade!« erklärte Grete. »Hin benutzen wir erst die Bahn, dann den Omnibus und gehen das Endchen 'rum. Dort ist das Pflaster besser, weil nicht soviel gefahren wird! Zurück leisten wir uns stolz eine Droschke!« – – »Wie Du willst; aber meine armen neuen Sachen. Meine Lackstiefel sind schon durch! ... Jedoch nobel geht die Welt zu Grunde, die Gelegenheit lohnt schon!« – – »Natürlich! Du, wir können doch nicht Franz und Hugo zu ihnen sagen?« – – »I bewahre, sie stellen sich uns vor!« – – »Und dann müssen wir unsere Namen preisgeben? Lotte, das thue ich auf keinen Fall!« – – »Schöps, den wissen sie längst schon durch die Krausesche Brüllerei bei Telschow!« meinte Lotte. »Na, wer weiß?« zweifelte die andere. »Dann sagen wir eben, Du heißt Schulze und ich Müller, wenn sie noch einmal fragen sollten. Aber sie sind doch nicht taub!« – –

Hochgeschürzt, die Schirme dicht über die Hüte gehalten, trabten die jungen Mädchen durch den Sturm und Guß dahin. Es regnete wie mit Kannen. Die Straßen waren leer; dafür alle Fahrgelegenheiten besetzt. Erst die vierte Pferdebahn nahm die beiden auf. Im Omnibus nach dem Rosenthaler Thor fanden sie eher Unterkommen und ließen sich hoch aufatmend auf dem feuchten Polster nieder. »Sehe ich noch menschlich aus?« fragte Grete. »Man mau! Und ich?« ertönte die Gegenfrage. »Auch nicht weiter berühmt!« Beide seufzten und schauten wütend zum grauschwarzen Himmel empor. »So ein Pech kann nur uns passieren!« – – »Ach was, Grete! Sei froh, daß wir uns nicht im Tiergarten verabredet haben!« tröstete Lotte. Beide verstummten. Ihre Herzen schlugen unruhig, je näher sie dem Ziele kamen. An der Kaiser-Wilhelm Brücke stiegen sie aus und kämpften sich durch den Sturm über den Kanal. Da lag die Galerie. Dort harrten ihrer die Freuden eines angenehmen, kleinen Abenteuers! – Lotte entfuhr ein leiser Juchzer. »Na, da wären wir gleich, schneidig!« – – »Nur noch über den Matsch da! Himmel, wie kommen wir da 'rüber?« simulierte Grete und zeigte auf eine Ladung zusammengekehrten Straßenschmutzes, der sich mit dem Regen vermischt zu einem anständigen kleinen See verbreitet hatte.

»Gehe vorsichtig herum!« mahnte Lotte und machte sich bereits auf den Weg. »Ach was ich springe!« rief Grete unmutig. Sie nahm einen gewaltigen Ansatz – sprang zu kurz – rutschte von der Stufe zurück – und klatsch – stolperte, glitt aus – und lag der Länge lang am Boden. Beide kreischten auf. – »Det macht sich scheen! So bleiben Se man liejen, Fräuleinchen!« rief ihnen ein vorübereilender Arbeiter zu. – –

Lotte wußte nicht, sollte sie weinen oder lachen. Vorerst half sie der Freundin vorsichtig empor. Dann besah sie den Schaden. Der ganze Rock triefte vor Nässe und verbreitete ein häßliches Parfüm. »Himmeldonnerwetter, so können wir uns garnicht sehen lassen!« stieß sie hervor. »Und ich habe mich braun und blau geschlagen!« jammerte Grete und rieb die getroffene Stelle. »Grinse nicht noch!« brüllte sie plötzlich. – »Fällt mir garnicht ein! Ich bin selbst außer mir!« verteidigte Lotte. – »Ach ja Du!« höhnte Grete ganz ungerecht. »Geh nur hinein, amüsier' Dich und entschuldige mich!« – »Oh nein, soviel Korpsgeist habe ich denn doch!« widersprach Lotte entrüstet. »Mit Dir oder garnicht!« – Sie wendete sich entschlossen und rief eine Droschke an. Erst nachdem Grete das Versprechen gegeben, daß sie sich nicht mit dem schmutzigen Rock auf die Polster setzen würde, nahm der ungalante Kutscher die Bittenden auf. – Unterwegs sprachen beide kein Wort. »Du bist ein guter Kerl!« war alles, was Grete schluchzend vor ihrem Hause hervorbringen konnte. – Aber auch Lotte heulte sich heimlich, enttäuscht in ihrem Zimmer aus, dabei wütend mit beiden Fäusten den Tisch bearbeitend.

 


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