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Plauderbriefe aus Paris.

1. Plauderbrief.

Verehrter Verleger!

Uff und ach! – – Eine ermutigende Einleitung für einen Reisebericht. Aber es hilft Ihnen nichts, ich muß noch ein kraftvolles Donnerwetter! hinterdrein senden. Dieses Kernwort hat bei mir solch merkwürdig lösende Wirkung. – Und das ist absolut notwendig! – Sie wollen meine Eindrücke von der Pariser Weltausstellung, vom Seinebabel selbst, von seinen Bewohnern und seinen Besuchern haben! Das ist sehr, sehr viel!

Vom vielen Sehen – Hören – Staunen ist mir schon ganz dreherig zu Mute, wie wir in Berlin so richtig sagen. Alles stürmt und wirbelt noch in meinem Kopfe durcheinander. Aber das wird sich hoffentlich nach und nach legen, und Sie, Verehrter, kommen zu Ihrem Recht. Sie kennen Ihre alte Freundin Lotte Bach ja seit lange als eine begeisterte, deutsche Patriotin, als stolze Preußin insbesondere und als enragierte Berlinerin ganz besonders! Und nun schicken Sie mich nach Paris! – – Hei, dachte ich mir, wartet man, Ihr Rothosen, mir imponiert Ihr nicht! Ich gucke Euch und Eure Weltausstellung an, vergleiche, hohnlache und verputze euch daheim, daß es nur so kracht! Mir kann keiner!

Und nun bin ich in Paris. – Anstatt daß es nun beständig regnet, anstandshalber ebenso wie bei uns in Treptow, im Jahre 1896 – – – ja Kuchen! Da hat der liebe Herrgott von Frankreich ein Wetter gespendet! Das Ende is von weg! Lachendster Sonnenschein, blauer Himmel, lindendurchwürzte Kühle mit leichtem Winde. Man geht wie von selbst in dieser lauklaren Maienluft. – Und das ganze Sündennest an den Ufern der Seine scheint zu grünen und zu blühen. Auf allen Boulevards und Straßen diese herrlichen, alten Kastanien, Linden und Akazienreihen mit ihren duftenden Blütentrauben oder weiß, rosa und dunkelroten Blütenkerzen. Der starke Morgentau, der Wind und einzelne Regenschauer in der Nacht haben den berühmten Pariser Staub vertrieben. Noch ist das Laub der hohen, schattenspendenden Baumalleen saftgrün.

Unter den Bäumen auf den Bürgersteigen wogt scheinbar ganz Paris hin und her. Man kann sich bei diesem Hasten, Stoßen und Treiben gar nicht vorstellen, daß es noch Menschen in den an beiden Seiten der Straße sich hinziehenden Häuserreihen giebt. Im Geschwindschritt eilen die beschäftigten Leute dahin. Langsamer, die Augen rechts und links wandern lassend, sehen wir die bekannten, bespöttelten Pflastertreter durch die Mengen schreiten oder sich vom Strom schieben lassen. Das sind die oberfaulen Pariser, welche Tag und Nacht die Parkanlagen und die Cafés bevölkern. Diese Drohnen, deren Frauen sich fast totschuften, damit der Herr Gemahl – – seine Pflasterstudien, die Kinder – – ihren Landaufenthalt, ihre Erziehung in freier Luft haben können. – Auffallende, weniger schöne als chicke Frauenerscheinungen mit Blumenausstellungen auf den Hüten flanieren mit wiegendem Gange. Oft ein Hündchen auf dem Arm balancierend, das in Schleifen die Farbe seiner Herrin, genau mit deren Toilette übereinstimmend, trägt.

Die Pariser können ihre Zugehörigkeit zu ihrer Stadt nicht verleugnen. Mann wie Weib sind sofort zu erkennen. Was von ihrem Zuschnitt abweicht, was da so spähend neugierig, so interessiert, so eindrucksgewillt ›mittenmang‹ 'rumschlendert, sind die Fremden. – Das langzahnige, hüftenlose, plättbrettgleiche Albion; das bebrillte unmöglich bekleidete Amerika, – das überelegante, etwas unecht pariserisch sein wollende Rußland, kurz all die Typen, die so unverkennbar ihre Nation in der Fremde repräsentieren, sind vorhanden. – Über sie später mehr!

Nun noch einen schnellen Blick ins Gewühl, um meine Landsleute zu suchen. Natürlich, da sind sie! Ach Himmel, wie fühlt man sich ihnen verwandt, wie liebt man diese Deutschen, selbst wenn sie einem fremd sind. Kinder, wir sind hier in der Fremde, wir kennen uns nicht; aber wir sind alle – alle – Deutsche! Zu fein! Ein Vaterland, eine Sprache! – Eins muß man ja nun, ›noblens-knoblenz‹ zugestehen: Einen besonders tiefen Eindruck können wir, das Volk der Dichter und Denker, hier in Paris, zur Zeit der Weltausstellung, nun gerade nicht hervorrufen. – – Gesund, kräftig und ungeschminkt – und gepudert, das stimmt! Sehr häuslich, sehr solide, sehr selbstzufrieden! Das kann keiner leugnen! – – Alle Damen mit den üblichen Reisehütchen. Darauf ›ein Band‹, ›eine‹ Spielhahnfeder. Wir haben eine wahrhaft heilige Scheu vor anständig garnierten Hüten in der Fremde. Die üblichen Loden- oder Covercoatkostüme mit leichten Blousen, in der Hand ›den Regenschirm‹ und, immer unentwegt! – – den Fremdenführer. Die kleine Kouriertasche mit x x Dingen umgehängt. Unsere Herren ähnlich ausgerüstet. – Überhaupt, wenn ich mein Urteil zusammenfasse: Wir sind Prachtknöppe, solide, praktisch und sauber. Unsere großen Eigenschaften haben wir innerlich! Außen, so ›mittenmang Paris‹, pardon; aber der Wahrheit die Ehre, machen wir uns durchaus spießbürgerlich!

Genug, alle Einzelheiten in den nächsten Briefen, lieber Herr Bong! Heute nur der Gesamteindruck. Darum will ich mich 'mal den Dämmen der französischen Kapitale zuwenden. Donnerwetter, man ist paff! Als ich das erste Mal in Paris war, das war im Sommer 1897, da fand ich den Wagenverkehr im Juli so abnorm, so gewaltig wie bei uns drei Tage vor Weihnachten. Ist ja kein Wunder! Wir haben achttausend, die Pariser momentan fast zwanzigtausend Droschken. Und wie anständig sehen diese Gefährte aus; genau wie bei uns die Doktorcoupés. Ja, ja, mein Berlin, deine Taxameter mit den weißbecylinderten Kutschern gehen noch allenfalls! Aber deine ›zweiter Güte?‹ Diese bunten Jammerkasten mit den abgehottelten Schindmähren – – Schwamm drüber!

»Oho!« werden Sie sagen – »Aber, liebes Fräulein Bach, unsere Verbindungen sind viel besser als in Paris. Unsere elektrischen und Pferdebahnen großartig, unsere Omnibusse – –« Sie haben im Grunde recht. Wir haben vielleicht bessere Verbindungen und unstreitig viel sauberere Wagen als die Pariser. Dafür – – – a) unsere elektrischen Bahnen mit ihren riesenhohen Treppenstufen sind besonders für Turner und Bergbesteiger gebaut. Junge Damen kommen nur mit ›Anhops‹, ältere nur mit ›Ansprung‹ und unter zu Hilfenahme der Muskelkraft ihrer Arme und Hände hinauf, b) Innen riechen sie alle meist nach Säuren und reizen zum Husten, c) Die Füße kann man bei dem flachen Bau der Bänke nicht nach hinten halten. Man stemmt sie vorsorglich gegen die Randleiste und ist – – – den Tritten der nächsten Eintretenden beständig ausgesetzt! d) Oben kann man nicht hinauf, es giebt keine Verdeckplätze. Man schmort also innen e) Wenn man pünktlich am Ziele sein will, benutze man nie die elektrischen Straßenbahnen oder mache vorsichtiger Weise vorher Testament. Unterwegs lauert das Unheil: 1. Stauungen, 2. Kurzschluß, 3. Stromversagen, 4. Stichflamme, 5. Zusammenstoß, 6. das Überfahren von harmlosen Mitmenschen und Hunden. Sie lachen und schelten mich Pessimistin! Mein Wort darauf, ich habe alle fünf Fälle selbst mit erlebt oder gesehen!

Also lachen Sie nicht Hohn, sondern lassen Sie mich erzählen, wie es hier ist. – Schauen Sie, da sausen ein paar Automobile, Wagen und Dreiräder. Radau machen sie, häßlich sind sie in ihrer Plumpheit, ein bischen stinken sie stets, was thut's? Es geht schnell und sieht großstädtisch aus! Da, da, wieder welche! – – Hier sausen die prachtvollen Privatequipagen, dort im rasendsten Galopp die Droschken. Schwerfällig fahren die Lastwagen mit ihren merkwürdig gespannten Pferden – unter dem Krummholz, manchmal drei in einer Reihe, d. h. eins vor das andere gespannt. Die Riemen mit Glöckchen besetzt. Um den Lärm zu erhöhen, haben sich diese schändlichen Kutscher einen abscheulichen Tric angewöhnt. Die Polizei müßte dagegen einschreiten! Ich bin nicht nervös und habe mich entsetzlich erschreckt, denn diese Kerle knallen alle Minuten mit der Peitsche, daß man an das Abfeuern einer Kanone ober an eine Dynamitexplosion glaubt.

›Klinglingling‹ hotteln die meist mit drei Pferden bespannten Omnibusse vorüber und stauen sich an der › tête des lignes‹ oder vor den Dépôts. Über die Art der Billet- und Correspondancekäufe, die sonstigen Gebräuche hierorts später. Es könnt' mancher alte Zopf in dieser Beziehung abgeschnitten werden! Das kommt auch noch! So geht es nicht mehr lange weiter! – – Das luftige Verdeck, die ›Imperiale‹ stets gefüllt, auch von Damen guter Gesellschaftsklassen besetzt, fahren die Pferdebahnen vorüber. Ab und zu streicht tutend eine Dampfbahn mit Anhängewagen vorbei. Die Gürtelbahn, später auch die Stadtbahn ( métropolitain), die Seineboote und die zahllosen Drei- und Zweiräder vermitteln den imposanten Verkehr. – Dabei passieren in Paris statistisch nachgewiesen weniger Straßenunfälle als bei uns in Spreeathen. Ich weiß jetzt wohl, woran das liegt!

Bei uns ist das Publikum da, um durch schnelles Beiseitespringen oder durch rasendes Rennen den Kutschern und Radlern auszuweichen. Wer es nicht thut, wird mit Grobheiten überhäuft, gestoßen, fällt oder wird einfach überfahren. – In Paris sind die Kutscher von einer märchenhaften Geschicklichkeit. ›Sie‹ biegen zur Seite. ›Sie‹ weichen aus. ›Sie schonen das Publikum!‹ So, es freut mich, die Rohheit unserer Rosselenker und Radfahrer ›aller‹ Volksschichten bei diesem Vergleiche gebührend maßregeln zu können! – –

Sie wissen, wie Busch so schön sagt:

»Pietsch – – – klex:
Erleichtert flog das Vöglein fort.« –

Ich will fortfahren und mich einmal der Pariser Architektur zuwenden. Natürlich erfahren Sie alles Nähere noch ausführlich, verehrter Verleger! Ich spüre meine Berliner Kritik bereits stark in mir wühlen. Aber ich will doch gerecht sein und nur vom ersten Eindruck schreiben. Der wirkt nun verschieden, je nach Geschmack des Einzelnen! – Wer jetzt, bei gutem Wetter, hier ist, der muß von dieser wunderbaren Schönheit der Riesenstadt begeistert – futsch sein! Der historische Boden, die zahllosen Erinnerungen, der angenehme Sinnenkitzel: ›Menschenskind, du bist jetzt selbst in dem berühmten Sündenpfuhl, in dem berauschenden Hexenkessel!‹ benommen. Man geht wie im Traume herum! Man ist geradezu berauscht! – Ich habe beobachtet, daß dieser Rausch fast immer acht bis zehn Tage anhält! Wer nach dieser Frist abreist – schwärmt! Wer länger hierbleibt, Regen hat, viel Geld verbuttert, – schimpft! – Wer noch länger verweilt, studiert und vergleicht, der lobt und tadelt mit Vorbehalt! – Ich war schon zweimal in Paris, kenne es genau, sehr genau, weiß seine Schatten- und Lichtseiten, werde beide beleuchten und komme doch zu dem Resultat: ›Vorläufig ist dies Paris noch die Stadt der Städte! Es ist grandios!‹ Um das Verhältnis des alten, uralten Paris, das immer ein Centrum war, zu Berlin, dem jungen, aufstrebenden beneideten, zu geben, möchte ich sagen: ›Vorläufig verhält sich Paris zu Berlin, wie Berlin zu Stettin!‹

Wir werden sehr in die Höhe kommen, wir werden Seinebabel in vielem überholen. Dort leben nur die Reichen gut und bequem, während bei uns auch der kleine Bürger mit wenig Geld ein ganz behagliches Leben führen kann! Aber im großen und ganzen werden wir nie ein zweites Paris sein können! Das liegt auf der Hand, denn wir haben keinen Platz. Wo wir weiterbauen, stoßen wir auf Vororte, auf Sonderinteressen! Selbst für große Gebäude hat man keinen Raum, sondern baut eins erdrückend neben die andern. – Unsere Ausstellung schmeißt man in einen unmöglichen Vorort, damit man erst die ganze Stadt durchqueren muß, ehe man sie erreicht! – Unsere Bundesstaaten, unser elendes partikularistisches Intriguenspiel gönnt der schönen, blühenden Reichshauptstadt nichts. Daher fühlt sich Nürnberg und Kiel sofort bemüßigt, auch Ausstellungen zu haben, wenn Berlin sie hat. Und die Flaumacherei, die Preßtreiberei bei uns? – Die Zersplitterung?

Anders Paris! Ist dort eine Ausstellung, so arbeitet der letzte Dörfler im letzten Winkel Frankreichs für dies Unternehmen. Er ist darauf stolz, er begeistert sich dafür! – Macht ein Ausländer die Exposition schlecht, so steht die vorher noch so uneinige Presse einmütig wie ein Mann gegen die Fremden auf. Glückliches Land, das Du nicht all diese schwächenden Sonderinteressen, all diese Kleinstaaterei kennst! – Glückliches Paris mit Deinem gigantischen Grundboden. Du umfaßt siebentausend achthundert Hektar mit zwei und einer halben Million Einwohner. Dennoch bist Du imstande, mitten im Innern deines Häusermeeres eine Ausstellung aufzubauen, die eine Million achtzigtausend Quadratmeter umfaßt, von denen viermalhundert und sechzigtausend mit Gebäuden bedeckt sind! Du hast so viel Platz, daß deine schönen, öffentlichen Gebäude von allen vier Seiten sichtbar und wirkungsvoll sind! Du hast die Weihe einer riesigen Vergangenheit! – Das hat Paris vor uns voraus, und das können wir auch niemals erreichen!

Also wohlgemerkt, verehrter Freund, die öffentlichen Gebäude und die Kirchen sind unglaublich schön und großartig. Schon daß man diese niederträchtigen, ärmlich aussehenden roten Ziegelbauten nicht zu sehen braucht, ist ein ästhetischer Genuß! – Was die Häuser, die privaten Wohnstätten oder die Kaufhäuser anbetrifft, so muß ich gestehen, daß mir diese hohen, langen, gleichförmigen Kasernen zu monoton sind. Die französische Architektur dieser Gebäude kennt keine Abwechslung. Keine Erker, keine Balkons, kein Stuck! Ein Haus wie das andere. Meist in gleicher Höhe gleiche Fensterreihen, an Zahl und Schnitt. Vor jedem unten ein niedriges goldenes oder schwarzes Gitter, an jedem rechts und links der nach außen aufgeklappte und befestigte Fensterladen. Ein einfaches Hausthor. Das ganze grau ober weiß gestrichen! Und fertig ist die Laube!

Die Monotonie mag ja sehr vornehm und sehr stilgerecht sein! Ich liebe sie nicht! Unsere Bauten mit ihrer regellosen Abwechslung, ihren heiteren Farben und Formen, ihrem oft geschmacklosen und billigen Schmuck an Balkons, Türmen, Stuccatur sind mir lieber. Das bietet dem Auge doch noch etwas, das lenkt ab von dem Alltäglichen. Und die Ausgeburten unserer Architekten-Phantasie sind mir, selbst wenn sie zuweilen danebenhauen, lieber als der ruhige, geregelte Stil der Herren Franzosen!

Haus – Straße – Damm und Publikum ganz im größten Umriß habe ich Ihnen nun gegeben. Parkanlagen, Innenräume, Fenster und Schaufenster, Kirchhöfe, Theater, Ausstellung, kurz tausend andere Dinge fehlen noch! Sie müssen vorlieb nehmen lernen, Verehrter! Nach und nach kommt alles an die Reihe! Entweder schreibe ich Ihnen direkt, oder ich verrate Ihnen die Briefe meiner Bekannten. Vielleicht erzähle ich Ihnen kleine Abenteuer sogleich in Form einer Geschichte, ohne den berühmten Anfang: Es war einmal! – Dann horche ich auch ab und zu nach rechts und links, schnappe anmutige oder abmutige Gespräche auf. Sie sollen sie hören, denn Sie sind mein Freund und Verleger, also so ein bischen Beichtvater, Vertrauensmann, Richter, Tyrann und Ernährer, Vater meiner Geistesprodukte u. s. w.

Morgen können Sie mehr verlangen, heute nicht! – Addio, Sie,

Ihre ergebene Lotte Bach.

2. Plauderbrief.

Verehrter Zeitgenosse und Verleger.

Habe ich Ihnen gestern mit vielen Drums und Drans berichtet, daß ich selbst noch ein wenig im Parisrausch stecke, so sollen Sie heute etwas übet L'Exposition Universelle, auf Deutsch: »Weltausstellung« vernehmen! Wenn nur nicht so ekelhaft viel zu sehen wäre. Die Reise nach Frankreich, um Paris kennen zu kennen, ist eine Arbeit, mit Vergnügen gemischt!

Die Reise nach Paris, um die Ausstellung gut zu sehen, ist eine Strapaze! Der Aufenthalt in der Ausstellung, um sie zu studieren, ist eine Tortur!

Da haben Sie es! Nun schelten Sie mich undankbar; denn schließlich ist manch einem schon etwas Schlimmeres passiert, als von seinem Verleger nach Paris geschickt zu werden! – Aber anstrengend, abspannend ist es hier, die reine Marienbader Kur. Den ganzen Tag rennt und schwitzt man. Wahrhaftig, das ist keine Kleinigkeit, denn diese Hallen haben eine Länge, diese Ausstellung eine Größe – – grauenhaft! Nebenbei muß man fortwährend sehen, sehen, in sich aufnehmen und zu behalten versuchen, loben oder schelten! Preisen oder vernichten! – Wenn ringsherum Gegend wäre, so sähe man sich behaglich die Landschaft an, photographierte sie und fertig! Aber hier?? Uff!

Die Ausstellung hat vier Hauptteile mit Vincennes, und ohne dieses sechzig Eingänge. Das Vorteilhafteste war also, sich sofort einen Plan zu machen und das Terrain nach diesem abzuweiden! Man orientiere sich vorher genau, denn die Beamten in der Ausstellung haben vorläufig noch keine Ahnung und können einen nur in den allergrößten Hauptsachen zurechtweisen. Die Führer sind mehr wohlgemeint als gut. Über die andern will ich nicht den Stab brechen; aber der meine von Paul Lindenberg bei Bruns, Minden erschienen = 1,25 Mk. ist durchaus noch unzureichend. Die sonst so geschätzte Firma hätte mit der Herausgabe entschieden noch warten sollen!

Na, und nun rennen Sie mal in dieser Riesenanlage herum, ohne genau Bescheid zu wissen! Der Menschenstrom, der Sie beständig umwogt, das Sprachgewirr, das Sie umbrandet, genügen, um Sie zu benehmen. Dazu brennt die strahlende Sonne auf den schneeweißen Gebäuden mit ihren goldenen Kuppeln und Zieraten, brandet auf dem hellen Kies, dem fließenden Strome – und blendet! Blendet, daß Ihnen die Augen übergehen! – Machen Sie es wie ich! Verzichten Sie, durch Ihre schönen Augen Aufsehen zu erregen, und tragen Sie ein schwarzes, blaues oder graues Pincenez, meinethalben Brille. Ich wäre ohne meinen dunklen Kneifer umgekommen. Meine Augen wären übergegangen. Am Ende hätte ich mich in eine einzige Thräne aufgelöst, und das wäre doch schade gewesen, nicht wahr? –

Kleiden Sie sich in recht leichte Sachen, nehmen Sie bequemes, festsohliges Schuhwerk, einen tüchtigen Schirm und eine eßbare Kleinigkeit. Seien es nun Bonbon, Pfefferminz und auch Schokoladentäfelchen! Was es auch sei! Wenn man so angestrengt ist, thut man gut, auch außerhalb der Hauptmahlzeiten etwas zu sich zu nehmen. Das erfrischt! – So, nun wollen wir einmal in die Weltausstellung wandern, Sie im Geiste neben mir, und Eindrücke sammeln. Selbstverständlich sind wir keine Führer oder Berichterstatter, sondern nur Bummler! Oberflächlich werden wir mit dem großen Strome ›mitfließen‹ und dann unser Urteil frisch, frei, froh und frech aussprechen! Wozu sind wir denn Berliner Range? Busch sagt:

»Ist der Ruf mal ruiniert,
Ist man gänzlich ungeniert!«

Ich stehe nun mal in dem entsetzlichen Ruf einer ›Range‹, also brauch ich mir ja Gott sei Dank keine Gêne auferlegen. Mein Dichterphilosoph sagte bei einer andern Stelle so schön:

»Tugend will ermuntert sein,
Bosheit kann man schon allein!«

Die ›kann‹ ich auch von selber, also en avant! Ich will nicht ungerecht tadeln oder die Berliner große Schna... schlagen. Nee, bloß die Wahrheit sagen. – Ich behaupte auch nicht, daß es bei uns in Treptow schöner war. So verblendet bin ich denn doch nicht! Unsere Ausstellung war ein großer Reinfall, besonders da Petrus fortwährend Regen schickte. Sie war verfehlt in der Anlage, stand auf dem ›denkbar ungünstigsten‹ Platz und wurde durch die ›denkbar ungünstigsten‹ Nebenumstände gehindert. Ihr fehlte die Protektion von ›oben‹ und einflußreichen Menschen, das Wohlwollen der Nation! Ach, wozu alte Wunden aufreißen?

Intriguen, Anfeindungen, Spekulationssucht und kleine Verfehltheiten giebt es in Paris auch! Auch da sind schwache Punkte! Ausstellungen sind vielleicht schon ein wenig überlebt. Dieser fehlt ein Riesenereignis, ein Clou, wie damals der Eiffelturm! Ihr fehlen gute Verbindungen innerhalb der Mauern, belebende Musikkapellen, Erfrischungsräume und manches andere mehr! –

Jedoch eins muß man ihr doch lassen: Die Pariser Weltausstellung ist ein grandioses Monument von genialstem Menschenkönnen und Wissen. Ein verkörperter Beweis von dem bewundernswertesten Fleiß aller Nationen! Daß Frankreich sie gerade jetzt ins Leben rief, sie mitten in sein pulsierendes Herz: sein Paris – verpflanzte, sie in solch vornehmer, großartiger Schönheit hinstellte, das ist der klügste, politische Schachzug unserer Erbfeinde! – Alle Welt schreit: »Frankreich ist in der Dekadence! Es ist aus der Mode, aus der ersten Reihe der Machthaber verdrängt! Es ist innen verrottet, verfault! Es steht vor einer gewaltigen politischen Umwälzung! Paris ist der Schauplatz, der Lebenspuls dieses niedergehenden Reiches!«

Und dieses Paris baut, inmitten der politischen Wirren, seine Ausstellung, ruft seine Gäste – – Alle, alle kommen! Ein Goldstrom wird dadurch in das Land geleitet. Alle bewundern und müssen es thun, trotz mancher Pinscher, die den Mond anbellen. Und wieder einmal liegt die Welt auf dem Bauche (verzeihen Sie den harten Ausdruck) und kriecht vor Dame Frankreich! – Sie wollte siegen und hat gesiegt! Der französische, aufgeblähte ›Hahn‹ kann kollern und flügelschlagen. Das muß ihm der stolze deutsche ›Reichsaar‹ lassen, der immer an seinen eigenen Flügelfedern beißt und sie krittelnd ausreißt!

Der Franzose hat die notwendige Kühnheit des Wagens und den Chick der Durchführung! – Der deutsche Michel würde erst tausend Bedenken äußern, sich tausendmal die Weltlage philosophierend überlegen, nach rechts und links knixsen und am Ende – – –, wenn der Entschluß gefaßt wäre – – – – – – – – Ob der Fürst von Reuß-Schleiz die Ausstellung besuchen würde? Ob nicht München zeterte, weil die Reichsfahne und nicht die bayrische auf dem Turm wehte? Und ob nicht Hamburg rasch selbst eine Ausstellung entrierte, damit dies ›Parvenu-Nest‹ Berlin nur ja nicht den Sieg davontragen kann?

Ach, man wird sehr bitter, wenn man es mit seinem deutschen Vaterlande so recht gut meint und hier ist! Sie lachten ja auch alle über uns! Und wir, die Sieger in drei Kriegen, wir ließen uns auslachen! – Was wären wir ohne unsere Hohenzollern und Bismarck und Moltke? Was wären wir, wenn wir nicht solch hochherzigen, stolzen, jungen Kaiser hätten, der noch eigene Initiative besitzt? – – Man sollte nur hören, wie sie hier unsern Herrscher bewundern oder fürchten oder hassen! Und alles drei: Bewunderung, Furcht und Haß gegen ihn, ist sein höchstes Lob und unser Glück! – Wir sind doch wenigstens eine Nation und kein Popanz mehr vor der Welt! –

So, verehrter Verleger, es mußte 'raus aus dem Lokale! Nun ist mir wohl! Ah! Eine Berliner Range hat doch schließlich auch eine politische Meinung! Und ich hasse und verachte die Menschen, die keine haben, ich, Lotte Bach! Basta!

So, inzwischen hält die Droschke vor dem Hauptportale der Ausstellung, auf der Place de la Concorde, diesem unstreitig schönsten und majestätischsten Platze der Welt! – – – Daß dieser wichtigste Eingang gerade schön ist, kann man nicht behaupten. Im Gegenteil! Er ist das Häßlichste und Geschmackloseste des ganzen Unternehmens. Bunt und aufdringlich wäre er mehr für eine Vogelwiese oder einen Kurpark im Badeort bei Kairo geeignet. Auf dem riesigen Mittelportal mußte sich der Erbauer: Herr Binet, eine fremde Gabe gefallen lassen. Denn Herr Moreau-Vauthier setzte eine Pariserin obenauf, die in Balltoilette, mit halboffenem Pelzmantel (bei ›die‹ Hitze) ihre Gäste empfängt. Wahrscheinlich hat ihm eine Dame aus Moulin-Rouge vom Montmartre dazu liebenswürdigst Modell gestanden. Er hat sie gut abkonterfeit, aber sie ist daher auch mehr Vertreterin der Pariser Halb- als Ganzwelt! Und obendrein hat sie keinen Chick, keine Grazie wie die erstere – – – diese steife, hölzerne Donna auf dem byzantinischen Bauwerk? ›Bouletten apart – Haare apart!‹ sagt der Berliner. Wozu orientalische Bauwerke mit moderner Demimonde gekrönt, inmitten einer Welt von Renaissancebauten? –

Oder dies Portal an den Trokaderoteil der Ausstellung versetzt, wo sich die fremden Völker und der fremde Tingeltangel in buntem Aufputz breit macht! Da gehörte es hin! –

Genug davon! Und nun: Rin ins Vajniegen! Parkwege mit schattigen Baumalleen und sinnreich verteilten Skulpturen führen bis zu der pompösen neuen Brücke, die nach dem Franzosenfreund ›Alexander dem Dritten‹ benannt ist. – Ein wahrhaft berückender Anblick bietet sich den staunenden Augen. Eine Schau in ein Märchenland an Schönheit!

Zur Rechten, mitten im Grün das große und kleine Kunstpalais. – – – Zur Linken die blendende Invalidenesplanade mit ihren monumentalen, langgestreckten Palästen nationaler und fremder Manufakturen. Als Hintergrund wie eine schöne Theaterkoulisse der massige Invalidendom, das Grabhaus des weltbeherrschenden, korsischen Advokatensohnes.

Vor uns wie ein flimmerndes Brillantband die Seine. Am linken Ufer die reizvolle, bunte Rue des Nations mit ihren vornehmen und bizarren Bauwerken. Wie aus dem Feenreich wirkt als dekorativ schönstes Haus – das italienische! – Venedig scheint wiedergeboren, und man wartet nur auf den Dogen und die Dogeressa, die aus diesem Zauberschlosse mit stattlichem Gefolge herausschreiten müssen! – Da grüßt uns der Turm des einfachen und innen so kostbaren Deutschen Hauses! – ›Lieb Vaterland!‹

Am rechten Ufer des Flusses die praktischen Hallen der Gartenbau-Landwirtschaft, das Palais der Stadt Paris, der Kongresse. – Und nach der Tiefe des Horizontes baut sich der Teil des Sinnverwirrenden – Bunten auf; abschließend in dem pittoresken Trokadero, links seitlich flankiert von dem graziösesten und anmutigsten Denkmal modernster Bautechnik, dem Eiffelturm, der ein feines Gewebe von eisernen Spitzen zu sein scheint!

So, das ist der erste Streich! Teurer Freund! Genießen Sie diesen Anblick wie ich in lachender Frühlingspracht, bei vollster Gesundheit, vergnügt, ausgeruht, satt, in angenehmer Gesellschaft, und – – – seien Sie einmal nich futsch! Ich war's, ich bin's! Ich werde stets futsch sein, wenn ich an diesen Eindruck, den ersten der Pariser Weltausstellung, zurückdenke!

Diesen Teil haben Sie nun gesehen und wollen mit mir weiter, um auch über die anderen urteilen zu können!? Ja; aber wie weiterkommen? Sie sind ja schon müde! Wollen wir die plate-forme mobile, die ›bewegliche Rundbahn‹ benutzen? Unter uns beiden, Teuerster, sie ist, wie wir daheim sagen, der »höhere Mumpitz«. Mehr Spielerei als praktisch! Denn dieser ewig, mit großem Radau kreisende Ring berührt nur Außenpunkte der Ausstellung. Man wird verwirrt, verliert den ins Auge gefaßten Plan, und irrt dann als ›verlorene Tochter‹, resp. ›verlorener Sohn‹ herum. Nebenbei aufgepaßt! Wenn wir nämlich nicht schnell von dem höheren, schnellerkreisenden auf das langsamere Rundbrett, und dann im richtigen Moment abspringen – – – so ist unsere Ausgangspforte verpaßt und dann muß man nochmal ganz 'rum. Na, ich danke für Obst und Südfrüchte! Drei Stunden war mir noch dreherig, als ich meine erste Rundtour hinter mir hatte.

Gott sei Dank, diese Maschinerie steht 'mal wieder. Die plate-forme mobile leidet wie der österreichische Reichstag an zeitweiligen Obstruktionen. Die elektrische Bahn, ebenso amüsant wie nutzlos, ist gerade heidi! Also klettern Sie nur wieder mit mir über die zahllosen Treppenwege, welche die Straßenüberführungen bilden, bis hinunter zur Seine! Sie sind schon müde? Ich glaub's, ich auch! – Diese noch nicht gewalzten Kieswege sind entschieden zu Gunsten von Hühneraugendoktoren subventioniert oder gar heimtückisch von ihnen angelegt.

Wie wäre es mit einem ›Fauteuil-roulant‹? Diese Sessel dürfen mit ihren Führern bis in die Paläste. Sie sind bequem, teuer; mehr kann doch der Mensch nicht verlangen! – Aber nich wahr, angenehm sind sie auch nur für Greise, Kranke oder Invaliden? Wir kommen uns in solchem geschobenen Rollstuhl doch zu deplaciert vor? So bleibt denn außer Schusters Rappen nichts wie das Seineboot übrig! Darum schnell in das kleine Dampferchen. Auf einige Treppen kommt es doch wahrhaftig nicht an. Wer lang hat, läßt lang hängen!

So nun säßen wir und glitten über die Seine dahin! Sehr klar und vertrauenerweckend schaut sie nicht aus. Darum auf das vorbeiziehende Panorama geblickt! Fein – was? Entzückend! – Bums, da wären wir bereits. Raus, rauf! Nur schnell, mehr als hundert Stufen sind es sicher nicht! Die Gebeine können sich daheim ausruhen! – Wir sind an der ›Jena‹-Brücke! Angenehme kleine Erinnerung für uns Preußen. Es ist gut, daß wir in Berlin einen ›Bellealliance‹-Platz haben, das tröstet doch ein wenig!

Jetzt sind wir auf dem berühmten Champ de Mars, dem Marsfeld. – Wieder ein großartiger Anblick! Nur etwas verwirrender, weil so sehr viel kleine Gebäude hier um den Eiffelturm herumliegen. Dort scheint das berühmte Wasserschloß zu sein! Wenn da erst alle Wassermassen sprudeln, steigen und zerstäubend herabfallen, wird's himmlisch! Vorläufig sind die Gefälle noch etwas spärlich! – Aber das muß man ihnen lassen: das Château d'Eau ist wieder ein genial ersonnenes Mittelstück für die seitlichen Riesenpaläste und das dahinterliegende Elektricitätsschloß, die Riesenhallen für Nahrungsmittel, Landwirtschaft und Ackerbau und den geschmackvollen, edlen Festsaal. – Im rechten Flügel hochinteressante Dinge über die Volksbildung, Wissenschaften, Künste und Chemie-Fortschritte, Instrumentenkunde u. s. w, – – – im linken alles, was mit Metall- und Schmiedewerk zusammenhängt. Und – oh Zauberwort für Damenohren – Gewebe, Stoffe, Spitzen, Kleider. Davon später!

Dies anmutige Barockschlößchen gehört nur den »Frauen«. – Da ist das originelle Palais der Optik! – Hier das Touristenklubhaus, der Pavillon von Siam, das märchenhaft bei Abend wirkende Palais Lumineux, das Schweizerhaus! – – Dort das Weltpanorama: »Tour du Monde«, das Kostümpalais – San Marino – der Alpenklub und x kleine – – –

Ich kann nicht mehr weiter! Hui! Es ist Mittag und heiß! Da – – da – – eine Art Konditorei! – –

»Kellner, einen Eiskaffee und Kuchen, viel Kuchen!«

Gott sei Dank, der Mann rast! Addio, verehrter Freund, morgen weiter! Noch Gruß und Handschlag

von Ihrer neun Zehntel toten
Lotte. Uff!

 

3. Plauderbrief.

Mon éditeur, mon ami !

Was 'n rechter Berliner is, läßt sich weder verblüffen, noch kleinkriegen! – Kaum hat man seine ermatteten Glieder geruht, seinen Magen besänftigt, so geht es lustig wieder auf die Wanderschaft. Sie sollen doch endlich eine, wenn auch nur ganz flüchtige Rundschau über die gesamte Weltausstellung erhalten. Wir waren auf dem Marsfelde stehen geblieben. – Kritiken oder ausführliche Beschreibungen des Inneren der Paläste soll ich Ihnen doch gar nicht geben? Dazu haben Sie Ihre berufenen Korrespondenten, und die Zeitungen haben ihre Berichterstatter hier am Platze. Neidlos sehe ich die betreffenden Herren sich hier abplagen und ihre Notizen machen. Ich wandere ja frei wie ein Spatz (bitte fügen Sie nicht ›frecher‹ hinzu) umher, beobachte und verdaue zwanglos und nach Belieben. – Ich glaube, wir waren mit dem Marsfelde ziemlich durch und schreiten über die Jena-Brücke nach dem rechten Seineufer hinüber.

Der Trokadero-Teil der Weltausstellung ist für uns »herumbummelnde Individubums« vielleicht der interessanteste! Da stehen die prachtvollen, algerischen Repräsentationsbauten. Hier liegt das eigenartige, algerische Dorf mit seinen winzigen, dunklen Gassen. Gellende Musik und Geschrei tönt aus all den Häuschen hervor, und die Händler preisen ihre Waren an und werden oft erschreckend aufdringlich. Was sie aber da an unechtem Schmuck, an Geweben und sonstigem Schund den Käufern anbieten, das ist für uns ganz echt und original. Es stammt wenigstens aus den deutschen und speziell Berliner Fabriken, die sich auf die Fabrikation von »billigem Schund« geworfen haben. –

Tunesien – der Sudan – Kambodscha – Annam – Tonking und andere französische Kolonien haben ihre Paläste und kleinen Ansiedlungen hier aufgebaut. – Nachdem man zuerst ihre Produkte, ihre Industrieerzeugnisse bewundert hat, kann man die kleinen Dörfer besuchen und ihre Originalbewohner bei der Arbeit und ihrem häuslichen Leben beobachten. – Kongo und Madagaskar, verschiedene Panoramen, das Privatunternehmen: Andalusien zur Zeit der Mauren – die Galerieen des Trokadero – die Vorführung der Bergwerksbetriebe, das alles nimmt wieder viele Stunden in Anspruch. – von all dem Französisch-Fremdartigen wenden wir uns jetzt dem Russisch-Eigenartigen zu.

Rechts vom Trokadero-Palast im Winkel steht der wuchtige, großartige Kreml-Palast, der ›sibirische‹ genannt, mit Mauern umgeben, und mit Türmen, Vorbauten und Portalen geschmückt. Wer dieses russisch-asiatische Bauwerk und sein Inneres betrachtet und nicht Sehnsucht nach dem wirklichen Moskauer Kreml bekommt, der kann mir leid thun! Dies winzige Teilchen ist schon so hochinteressant, wieviel mehr erst meine alte Schwärmerei: Der grandiose bunte Kreml, der »Mütterchen Moskau«, die altehrwürdige Zarenstadt, beherrscht. – Ein kleines russisches Dorf, die Ausstellung der transsibirischen Eisenbahn mit ihren Dioramen schließen sich dem Hauptbau würdig an.

China, Transvaal, Holländisch-Indien mit seinem Djandi-Saritempel, die englisch-indische, portugiesische, japanische, ceylonische Ausstellung, das Palais von Ägypten, das alles giebt ein so farbenfrohes und wechselndes Bild, daß man sich schwer trennt. Bei den zahllosen Verkaufshallen sieht man so verlockende, billige Gegenstände, daß man sich nur mit großer Mühe losreißt. Ich rate jedem, sich einen feierlichen Eid zu leisten, hier nichts zu kaufen. Man halte sein Portemonnaie fest; denn dieselben Waren sah ich später in den Läden von Paris bei weitem billiger. Und hören und staunen Sie, verehrter Verleger, bei uns in Berlin bekommen Sie die gleichen Dinge notorisch um die Hälfte des dort geforderten Preises.

Von den Ausstellungen fremder Erdteile fort, geht es jetzt weiter an der Seine entlang. Drüben das Gebäude für Jagd und Fischerei lassen wir unbeachtet und wenden uns nach dem großen Sonderunternehmen von ›Alt-Paris‹. – Hier kann ich endlich ehrlich hohnlachen! Denn unser Alt-Berlin, damals in Treptow, war ungleich schöner und echter, einfach gar nicht zu vergleichen.

Das Werk des Herrn Robida ist ja sehr nett über die 6000 qm verteilt. Aber ich kann mir nun einmal nicht helfen. Ich hatte doch den Eindruck: als ob einer gerne möchte und nicht kann! Alles hat einen so pauvren, zusammengestoppelten Zuschnitt. Nichts wie Verkaufsbuden und fliegende Händler überall! Und die Alt-Pariser und -Pariserinnen in den bei Tage etwas plundrigen, historischen Kostümen erwecken keine Sehnsucht, aus dem modernen Seinebabel in das verlorengegangene sich zurückzuwünschen. Während man drüben im modernen Paris den Charme und die, wenn auch zurechtgemachte Anmut der eingeborenen Damen und Dämchen, ihre chicken Toilettenkünste bewundert, erwecken die verlebten, nervösen Gesichter unter den geschichtlichen Kopfbekleidungen nur Widerwillen!

Speisen und Getränke sind nicht gut. Alles kostet doppelt soviel wie in der Hauptausstellung – Nur eine Darbietung ist künstlerisch, und das sind die Konzerte der berühmten Colonne. Ich bedauerte den Meister, der seine große Kunst in diesem, pardon, Schwindelunternehmen, in einem halbleeren Saale entwürdigen mußte! – – Sonst wäre überhaupt nur noch die Messe in der Eglise St. Julien des Ménétriers, die einer geschickten Theaterdekoration gleicht, erwähnenswert.

Fort aus dem langweiligen Vieux-Paris in die moderne Rue de Paris! »Aujusteken, des wäre so'n Särgeken for dir!« sagte ein zärtlicher Vater zu seinem blühenden Sohn vor dem Schaufenster eines Sargmagazins. Ich wage aus Respekt vor meinem Verleger nicht, Ihnen diese »Pariser Straße« der Ausstellung zu empfehlen. Verehrter! Aber, Sie sollten einmal mit mir beobachten, wie sich die in den Ausstellungspalästen abgehetzten, müden Menschen beleben und erhellen, wenn sie in diese breite, schattige Allee eintreten. – Dort hat man was für den Verstand, hier etwas fürs Herz!

Die ›Pariser Straße‹ ist der Montmartre, in die Exposition überführt, ein Vergnügungspark, der mächtige Anziehungskraft ausübt! Ein kleines Theaterchen, ein Tingeltangelchen neben dem andern. Besonders des Abends ist es hier famos, wenn man, von Freunden geschützt und begleitet, sich langsam von dem vorwärtsstoßenden Menschenstrome weiterschieben läßt. – – Alle Bäume sind mit bunten Flämmchen und Glühbirnen geschmückt. Elektrisierende Musik allenthalben. Die kleinen, oft ganz burlesken Bauwerke hellbeleuchtet. – Ein Drängen und Schubsen! Die Menge hält. Meinethalben gerade vor dem Théâtre de la Roulette. Ein bunt maskiertes, gellendes Orchester verstummt grade. Auf einer an der Fassade liegenden, winzigen Bühne erscheinen einige Schauspieler. Einige kleine, frech drollige Scenen, die darin gipfeln, daß alle Menschen eintreten müßten, denn etwas so eigenartiges, so zum Lachen reizendes »gebe es in der Welt nicht mehr!« – Und nun flutet ein Gästestrom in das kleine Entree. Die Vorstellung ist chick, gemein und hat den Vorzug, nicht lange zu dauern. Bald eilt man wieder der nächsten Vergnügungsstätte zu. Wieder rufen Clowns oder Sänger die gewagtesten Scherze und die Aufforderung in das Publikum, doch der Vorstellung beizuwohnen. Einige Witzbolde antworten. Wer da im Französischen recht taktfest ist, der kann was erleben! – »Wir Wilden sind doch bessere Menschen.« Denn vorläufig müssen wir wenigstens die auch uns innewohnende Wildheit noch hinter Schloß und Mauern verbergen! Hier darf sich das Laster gar zu sehr auf der Straße breit machen. Dafür sind das die Franzosen, und wir nur » les barbares là-bas!« Ces Prussiens sont trop bêtes! Weil wir die Unverschämtheit besaßen, die Bande tüchtig zu verkloppen? Ach, wie gut that ihnen das! Noch ein zweites Mal, dann hätten sie Respekt vor uns, den Barbaren!

Das » Théâtre des Bonshommes Guillaume hat eine ganz allerliebste, übermütig bemalte Fassade außen und launige Marionetten-Aufführungen drinnen. Das » Maison du Rire«, das » Grand Guignol«, das » Palais de Danse« und andere Darbietungen versprechen durch ihre Marktschreier vielleicht mehr, als sie halten. Aber dem Hungrigen schmeckt sogar Trockenbrot. Und wer 'mal bei Stimmung ist, der lacht auch über den blühendsten Blech! Den giebt es dort in Hülle und Fülle! – Selbstverständlich kostet alles Extraentree und – – die Garderobenfeen lassen dem Eintretenden zwar seine Sachen, verstehen aber dennoch, ihm eine ganze Menge für die Programme abzuknöpfen. Vom Stamme »Nimm solang es geht« sind die guten Leutchen hier alle. Na, das verstehen sie und verstanden sie bei uns auch. Der Fremde muß eben gerupft werden. Je mehr und je länger, je lieber!

Die »Plaisiervergnügen« der Pariser Straße sind nicht weiter anstrengend, ebenso wenig das Durchwandern der Garten- und Obstbau-Paläste. Donnerwetter, was giebt's da zu riechen! Das Wasser läuft einem im Munde zusammen, wenn man die Früchte so appetitlich aufgehäuft liegen sieht. Und die Augen kommen bei der Farbenpracht der Blüten auch zu ihrem Recht.

Draußen an der Seine entlang, haben die Herren Gärtner ihre Baumschulenkünste zur Schau gepflanzt. Ich hatte ordentlich Mitleid mit den lieben Bäumen, die da als ›Körbe‹ – ›Kronen‹ – ›Teller‹ – ›Tiere‹ – ›Möbel‹ ihr zurechtgestutztes, sorglich an Holzgestellen entlang gezogenes Dasein fristen müssen. Ich kann mir nicht helfen, man soll aber dem lieben Gott nicht ins Handwerk pfuschen und künstliche Unnatur züchten. All die verdreht gewordenen Wipfel kamen mir wie verzierte, falsch erzogene Kinder vor, denen eine verrückte Erziehung ihre kindliche Frische geraubt und sie zu Drahtpuppen gemacht hat! Ich glaube, Sie, Verehrter, würden ebenso empfinden. Nich' wa – –?

Bongchen, wir sind 'rum! Hurra! Von dem Pont d'Alexandre III sind wir bei unserm hastigen Umgang ausgegangen. Und jetzt noch über die Notbrücke da, noch ein paar hundert Meterchen, nun noch ein paar – – – – nun, stehen wir wieder auf dem gleichen Fleck, von dem wir den ersten Eindruck mitnahmen? – Sagen Sie mal selbst, es ist doch eine famose Kiste – – diese Weltausstellung? Wozu da mäkeln und kritteln und aburteilen? – Und nun, wenn wir erst so ins Einzelne gehen werden, dann müssen Sie mir recht geben! Es ist Großartiges geleistet worden! Man kann viel, sehr viel lernen und seinen ›Gripskasten‹ mächtig erweitern! – Ich kann mir nicht helfen, ich muß es noch einmal betonen: Am imposantesten finde ich, daß die Leute, die Pariser, das Unternehmen so mitten in das Herz ihrer Stadt verpflanzt haben! Man braucht keine Wüsten zu durchqueren, keine Vororte abzuklappern. Wo man auch die Umzäumung verläßt, betritt man das Pariser Pflaster und ist – – – frei nach dem ›Rixdorfer‹ – mitten mang das Publikum. Das ist erstaunlich, genial und spitzbübisch schlau!

Wissen Sie was! Eben fällt mir unsere letzte Unterhaltung in Ihrem kleinen Privatsalon ein. Ich entsinne mich noch ganz deutlich Ihrer Marschordre. Sie sagten: »Nun merken Sie sich eins, Fräulein Range, ich will von Ihnen um des Himmels willen keinen Führer, keine kritischen Begleitworte, weder durch die Weltausstellung noch durch Paris. Das verstehen Bädeker, Grieben und Goldschmidt doch besser als Sie! Dazu gebe ich als Schluß meines ›Neunzehnten Jahrhunderts in Wort und Bild‹ den vierten Band: ›Die Pariser Weltausstellung in Wort und Bild‹ heraus. – Da werden berufene Fachmänner zu Wort und Bild kommen!

»Sie sollen weiter nichts thun, als mit offenen Augen durch Seinebabel gondeln und die lustige Stimme des Berliner Publikums darstellen! Amüsieren Sie sich, halten Sie Umschau, und wo Ihnen etwas auffällt, da setzen Sie sich hin und schreiben Sie mir einen Ihrer lustigen, schnoddrigen Briefe. Geben Sie uns nebenbei einen guten Wink, so sind wir ihnen ganz dankbar, und nun glücklichen Rutsch!«

Nicht wahr, Herr Bong, so war es doch? Ich bin ja so gehorsam! Sie ahnen es nicht! Der Bureaukrat thut seine Pflicht von früh bis spät, mehr kann er nicht! So schließe ich denn heute meinen ›Schreibebrief‹. Fortsetzung folgt. – Ich drücke ergebenst Ihre Verlegerrechte und bin mit Gruß ohne Kuß Ihre nie verlegene

Lotte!

 

4. Plauderbrief.

Verehrter Verleger und Mitmensch!

Reuter sagt so richtig: »Was dem einen sein Uhl, ist dem andern sein Nachtigall!« Wenn man zum Beispiel nach der Schweiz reisen will und fragt nach einem geeigneten Ort, so empfehlen Ihnen von hundert Menschen sicher neunundneunzig einen verschiedenen. Ähnlich ist es hier in Paris. Da sitzen wir, um es Ihnen klar zu beweisen, in unserer geliebten, traulichen Pension Pernotte in der Rue Notre Dame des Champs 117 neben dem entzückenden Luxembourg-Park beim Diner! – Wir sind sechs Nationen an der Tafel. Da liegt man sich ja schon sowieso beständig in den Haaren. – Nun kommt das Gespräch auf die Magenfragen, auf das Essen. Der Kernpunkt: »Wie und wo speist man in Paris?« wird zur stürmischen Debatte.

Jeder bildet sich natürlich ein, daß es zwar daheim des Sonn- und Feiertags am besten schmeckt, und daß sein ›Huster ober Dressel‹ doch am vorzüglichsten kocht. Aber schließlich verstummt doch alles. Unser feiner, liebenswürdiger Wirt erklärt mit dem ihm eigenen, ganz unauffälligen Aplomb, daß die ›französische Küche‹ doch nun einmal die unbestritten beste sei! Beweis dafür: a) daß in allen wahrhaft vornehmen Hotels und Restaurants und privaten Gesellschaften im Auslande là-bas und là-bas und überall là-bas französische Köche verlangt würden; b) daß alle Speisekarten là-bas in französischer Sprache abgefaßt seien; c) alle Welt strömte nach Paris und sei – – – begeistert!

Siehste, da haste de Kiste! Alles verstummt und scheint überzeugt! Ich fühle wieder, daß sich meine Borsten regen und mein Gefieder langsam sträubt. Und dies mit einem gewissen Recht, hochgeehrter Herr Bong! Erstens bin ich außerordentlich für einen gediegenen Happen-Pappen. Ich esse gern gut und habe einen gefürchtet guten Geschmack. Zweitens kenne ich eine ganze Menge von der Welt und habe schon die diversesten »Futterproben« gemacht. Also richte ich mich ganz kaltblütig auf und öffne den Strom meiner Beredsamkeit. Ich beweise, daß an unserm Hofe die Menukarten: ›Speisenfolgen‹ genannt und die Gerichte in deutscher Sprache aufgezählt werden. Ich berichte von meinen und Freund Richards erfolgreichen und erfolglosen Wanderungen durch die »Eßgelegenheiten« der schönen Seinestadt und seiner Ausstellung. Schwelge in der Rückerinnerung an die unvergleichlichen, wenn auch etwas schwer verdaulichen russischen Tafelfreuden! Erglühe für kulinarische Genüsse in Dänemark, Skandinavien, Österreich, Ungarn. Und zuguterletzt führe ich die fabelhafte Billigkeit von Berliner Restaurants, als Hauptgeschütz unsern Aschinger – ins Feld. Den andern klingt es wie ein Märchen, daß wir das Service, die Kartoffeln und das dazugehörige Brot nicht extra berappen müssen!

Die Tafelrunde schaut »freudvoll – leidvoll – neidvoll« drein. Deutschland hat wieder 'mal gesiegt! Mein Freund Richard kneift mich vor Vergnügen in den Arm. Monsieur zuckt die Achseln und gesteht, über Berlin nicht mitreden zu können. »Ja, ja, uns kann keiner!«

Als Richard und ich eine Stunde später ›Leineziehen‹, kommen wir zwar einträchtig darin überein, daß ich mächtig durch eine rosa Brille geschaut und »Aufschnitt« gratis gegeben hätte. Was thut es? Die Ehre ist gerettet! Die Fremden brauchen doch nichts von unserer »allgemeinen, hundsgemeinen deutschen Reichstunke,« von Ragouts, die gedrängte Wochenübersicht der Fleischreste, von manchem »Miauhasen« – »Hottehühwürstchen« oder »Sperlingstäubchen« zu ahnen! Was man nicht weiß, macht nicht heiß. Und die Hauptsache ist, daß einem – – – nicht – – – schlimm wird! »Hihi – grinste das Scheusal!«

Wie ißt man nun wirklich in Paris?! – Herr A. und Herr B. haben zehn Jahre hier gelebt. Der erstere behauptet: »Man lebt am besten, wenn man die Mahlzeiten zum prix fixe, d. h. zum festen Preise nimmt, Getränk inbegriffen.« – Herr B. hohnlacht und meint: »Nur à la carte speisen!« – Beide kommen darin überein, daß man jedenfalls in Paris vorzüglich essen könne!

Nach wochenlangem Ausprobieren in allen Arten von Restaurants, in allen Stadtgegenden, trete ich dem nun entschieden entgegen! Man speist im allgemeinen hier nicht besonders, und man ist nie ganz satt, sondern immer nur oberflächlich gesättigt. Das soll zwar besonders nobel sein, aber ich bin nicht dafür! – Immer gediegen! – Ich befürworte wieder: Paris ist für reiche Leute ein Eldorado. Auch im Essen! Wer in die allerfeinsten, teuersten Hôtels und Restaurants geht und so von acht bis vierzig, fünfzig Francs »schmeißen« kann, der hat das beste Teil erwählt und so recht wie nur möglich!

Bei Cubat – Gaudin – im Maison Dorée, Café Anglais, Continental etc. wird man sich außer über die Höhe der Preise über nichts zu beklagen haben. Auf der Ausstellung imponierte uns das Essen im Rumänischen Hause (uff, teuer!) und im sibirischen Pavillon auf dem Kreml von der Internationalen Schlafwagen-Gesellschaft, das merkwürdig mäßig berechnet ist! – Meiner Erfahrung gemäß kann ich nur sagen, daß man bei dem Essen à la carte viel teurer fortkommt! Ich bin meinerseits entschieden für prix fixe. Wir haben in der Ausstellung, im ›Diner de Paris‹, in den Restaurants, im Palais Royal, bei den ›Hallen‹ immer für drei, fünf bis acht Francs ganz gut gegessen. Wenn man alsdann bei dem Wein mehr auf die Qualität als Quantität sieht und lieber eine halbe Flasche besserer, als eine ganze schlechterer Marke nimmt, so kommt man ganz gut fort. Denn man hat dann meist nur etwas leichtes Magenbrennen, während man sonst sich auf anständiges Kneifen gefaßt machen kann! –

Aber – – aber – – – wie oft habe ich nicht sehnsuchtsvolle Seufzer nach unserm Aschinger, Hefter, den vielen behaglichen Konditoreien ausgestoßen! – Die vielen kleinen ›Bars‹ auf der Ausstellung sind mehr für die Arbeiter und unteren Angestellten berechnet. Nebenbei sind die Waren mäßig. So ist denn das Ganze nichts für meiner Mutter jüngste Tochter! Die Bäckereien und Patisserieen sind sonnendurchglüht und nichts; denn sie hatten bis zu meiner Abreise keine Sitzplätze.

»Halt!« höre ich die Parisschwärmer wüten: – Sie vergessen die zahllosen Cafés, die Maisons Duval, Bouillons, Crêmerieen, Laiterieen, die Patisserieen, Brasserieen, Comestibles, Cabarets und so weiter! »Nur Geduld, ich will sie ja all, der Reihe nach vornehmen!«

Da preist man nun so fürchterlich die Maisons Duval, mit ihren kastanienroten Schildern leicht erkenntlich. Na ja, sie gehen ja, auch weil das Publikum sehr anständig ist, weil anständige Kellnerinnen bedienen. Die Preise sind mäßig, ebenso das Essen. Unangenehm ist nur eins, und das sind die winzig kleinen Portionen! Ein halbwegs guter Magen kann daher eine ganze Menge solcher Schüsselchen verzehren, und das kostet dann nach und nach eine nette Summe! – Unser weißblauer Aschinger mit seinen Niederlagen ist mir lieber! – Wir wandern also weiter und halten vor einem Schaufenster, in dem Schalen mit Früchten und ein Haufen weißer Servietten aufgestapelt ist.

Wanderer, hemme deinen Lauf! Die Auslage beweist, daß wir vor einem billigen Speisehaus stehen, das von einem › marchand de vin‹ geführt wird. Oder vor einer der vielen Studenten- und Kommiskneipen, auch kühnlich ›Bouillon‹ benannt. Tritt ein! Ein oder zwei Tische in einer, höchstens zwei Stuben. Oder eine Tafel einfach vor der Thür auf der Straße, von einer Marquise gegen Sonne und Regen geschützt. – Der Ton ist urgemütlich. Das Essen dafür schlecht und billig. Das Tischtuch und die Servietten – – – pfui Deibel! Fliegenschmutz giebt's gratis. Als Nebenvergnügen umschnurrt dich ein Kater, siehlt sich auf, sage und schreibe, auf dem Speisetisch eine fette, faule Katze – – – äx!

Ein anderes Mal waren wir sehr hungrig und entschlossen uns, in einer Crêmerie einzukehren. Die freundliche Wirtin machte uns in aller Eile Spiegeleier, bot uns aber auch Kaffee oder Schokolade, sogar Kotelettes an. Da man aber nicht immer zu solch soliden Dingen aufgelegt ist, haben wir als ›Zwischenmahlzeit‹ – oft in den Patisserieen: Kuchen, Pastetchen oder schnell ein süßes Getränk genommen. – Man stelle sich aber diese, unsere Konditoreien ersetzenden Läden nicht etwa sehr gemütlich vor. Dort giebt es keine Extrazimmer oder Zeitungen. Man setzt sich in den Verkaufsraum oder verzehrt stehend sein Bestelltes.

Seit den letzten Jahren haben die Franzosen doch eine Menge von den so verhaßten Deutschen gelernt! Die Brauereien sind kolossal im Aufschwunge und das bière allemande, besonders bière de Munich, ist sehr beliebt. Ja, diese deutschen Etablissements fangen sogar an, den Kaffeehäusern Abbruch zu thun.

Die Pariser Pflastertreter, die männlichen Drohnen, die Raucher und die Geschäftsleute wohnten früher beinah ausschließlich in den Cafés. In den Wohnungen, die nicht ein Extra-Rauchzimmer, ein › fumoir‹ haben, wird gar nicht geraucht. – So sieht man dann die Männer in den Cafés vor ihrem Absinth sitzen und rauchen; stundenlang hocken sie da und glotzen auf die Straßen. – – Die Tischchen und Stühle stehen bis zum Damme, nur schmale Gäßchen werden den Vorübergehenden freigelassen. Abends sind diese Sitze kaum zu erwischen, denn der Ausblick ist hochinteressant. Das ganze Boulevardleben spielt sich in unmittelbarer Nähe ab. Oft erlebt man sehr amüsante Scenen. Solovorträge, musikalische Darbietungen, Anpreisungen der fliegenden Händler, alles direkt vor den Sitzenden. Sehr belästigend sind die fortwährenden Betteleien von Krüppeln, Taubstummen und manchmal grauenerregenden Bittstellern.

Solange es Tag ist, werden die Lesekabinette benutzt, und die kleinen Rundtische sind von Kaufleuten umdrängt; Geschäfte werden entriert und abgeschlossen. Eine Börse im kleinen Maßstabe! – Manchmal wird schon im hellen Sonnenschein im Café gejeut. Die Billardtische, die Schach- und Damenbretter sind stets in Benutzung. Viele scheinen auch ihre Korrespondenz so auf der Straße zu erledigen. – Am Abend ändert sich das Bild doch!

Je nach der Gegend, der Vornehmheit des Cafés kann man eine veränderte Scenerie erblicken. Von der höchsten Eleganz der oberen Zehntausend, die einem Konzert innerhalb des Cafés lauschen, bis zu den schamlosesten Auftritten widerlicher Männer und Weiber kann man alles erleben! Positiv alles! – Auf dem Boulevard St. Michel, im Quartier Latin und oben auf dem Montmartre geht es entsetzlich her! Daneben aber stehen ruhig und kalt die Schutzleute. Sie schreiten erst dann ein, wenn es zum Blutvergießen kommt. Bis dahin sind sie blind und taub! – Gott sei Dank, ist es bei uns anders! O, daß es ewig so bliebe! – – Für die Passanten, besonders für anständige Passantinnen, ist dies öffentliche Caféleben sehr belästigend und peinlich.

Wer aber Paris studieren will, der gehe von dem widerlichen Café d'Harcourt aufwärts bis zu dem bezaubernden Café d'Erménonville im Bois de Boulogne. Eine Skala von sozialen Unterschieden, von Ansprüchen und Ausdrucksfähigkeit des Benehmens wird er sehen, die zu denken veranlaßt. Und da muß ich denn von meinem unmaßgeblichen Standpunkt aus sagen: »Wenn es schon in der Welt soviel Niedres und Häßliches giebt, dann ist mir das Widrige unter einer schönen Hülle, versteckt durch Bildung und Umgangsformen, immer noch lieber als in seiner brutalen, schlecht verhüllten Nacktheit.« Doch das hängt vom Geschmack ab, und die Sünde bleibt Sünde, ob in Seide oder Kattun!

Verzeihen Sie diese private Randbemerkung, Verleger meiniges! Die Quintessenz dieses Plauderbriefes ist folgende: In der ganzen Welt ist es wie in Paris. Und in Paris wie in der ganzen Welt! – – Je mehr Geld man hat, je besser kann man speisen. Für den Mittelstand und das Proletariat ist hier nicht besser gesorgt als wo anders. Ich glaube sogar eher das Gegenteil!

Wünsche Ihnen wohl gespeist zu haben!
Ergebenst
Lotte.

 

5. Plauderbrief.

Wertgeschätztester!

Jeden Morgen findet in dem gemütlichen Speisezimmer der Pension Pernotte an der – Deutschen Ecke – wichtige Beratung statt. Das Tagesprogramm wird entworfen. Jetzt, wo wir besonders der Ausstellung wegen hier sind, geht es schon vor neun Uhr morgens in das Gelände, wo man bis abends verbleibt. Aber es giebt doch Tage, die wir Paris – und Abende, die wir seinen Theatern und Bumslokalen widmen! Da ich kein Führer bin, enthalte ich mich weiterer Schilderungen. Ich plaudere Ihnen nur eben ein bischen was vor!

Old-England und Amerika geht zu Studienzwecken in seine ›Gilde‹, ein Seminar, wo die Damen ein merkwürdig fehlerfreies und dennoch sonderbares Französisch lernen. Die bezaubernd elegante Sprache bekommt etwas halb Zerquetschtes und halb Zerkautes, jedenfalls wird sie nicht schöner! Die Französinnen und Herren eilen auf die Sorbonne, in die Kunstschulen, Kontore, Kliniken. Wir Deutschen, die zu Sehzwecken hier sind, ziehen vergnügt ab. Es sind der Nürnberger Richard, ein betagtes Malweib, die den Anstandsbau markiert, der ewig schreibhungrige Ernst Georgy und ich, Ihre Range. Unser Quartett hält fest zusammen und trennt sich sorglich von den Vertretern anderer Nationen, die sich gleich uns auf Entdeckungsreisen begeben.

Unterwegs sehen und hören, erleben oder erfinden wir oft die dollsten Geschichten, teils Komödien, teils Tragödien. Die tischen wir Ihnen nach dem sechsten Plauderbrief als einzelne Humoresken auf. Oft sind wir selbst der Held, oft nicht! Je nachdem!

Greifen wir 'mal so'n xbeliebigen Tag heraus. Also den Donnerstag! – Um halb neun Uhr holen wir uns aus dem Omnibusbureau unsere numerierten Pappkärtchen. Mit diesen pflanzen wir uns an der Haltestelle auf. Die erste Bahn trägt das Schild: › Complet!‹ und rasselt ›besetzt‹ vorüber. Die zweite hält an. Die Aussteigenden sind fort. Ein uniformierter Beamter ist zu dem Kondukteur getreten und fragt ihn, wie viel Plätze frei sind. Dieser antwortet, und nun werden die Nummern der Reihe nach aufgerufen. Dies Verfahren ist zwar sehr gerecht, aber langweilig und bei Regen, Kälte und Sonnenbrand nicht gerade erheiternd. Jedenfalls ist der Ansturm, den wir an den Haltestellen kennen, vermieden! – Wir sitzen auf der Impériale oben, wo es weit schöner ist, als in den nicht sehr sauberen, heißen Wagen.

Richard, der Schatzmeister, mit dem abends ›Abrechnung‹ gehalten wird, nimmt vier ›Correspondances‹ à 30 Centimes, die zum einmaligen Umsteigen berechtigen. Braucht man das nicht, so zahlt man unten für jede Fahrt 30 c., oben nur 15 c., ohne ein Billet zu erhalten. Übrigens sind die Kondukteure prächtige Menschen. Man schmiert ihnen nämlich sofort das falsche Geld wieder an, das man am Tage zuvor selbst angedreht erhielt. – Nun geht es los! Unterwegs plaudert man mit seinen Nachbarn und erregt sich mit diesen über jeden Unfall auf der Straße! Die Pariser sind unglaublich beweglich und neugierig. Ein gefallener Droschkengaul entzückt sie maßlos, und ein Auflauf ist das Höchste für sie. Dabei sind sie äußerst höflich und liebenswürdig und können sogar schon die deutsche Sprache sprechen hören, ohne wild zu werden. – Besonders imponierte uns stets die Höflichkeit oder besser Aufmerksamkeit, mit denen jeder noch so ärmliche, vorüberkommende Sarg von beiden Geschlechtern gegrüßt wird!

Auf den Straßen kann man 'was sehen, ich danke! Bei schönem Wetter scheint es, als ob in entlegenen Gegenden alles Tagewerk ›vor‹ der Thür verrichtet würde. – Da stopfen zwei alte Megären eine Matratze! – Dort hobelt ein Tischler, hämmert ein Schmied! – Hier schneidert ein Mann! Da malt einer auf Lederabschnitten!

Am › Jardin des Plantes‹ vertauschen wir die Pferdebahn mit dem Omnibus. An Bahnhöfen, Arsenalen, Krankenhäusern vorbei, hotteln wir durch eine armselige, schmutzige, häßliche Gegend. Überall kleine Karren und Gefährte, die Marktwaren vertreiben. Sie und ihre Führer, wie die Käufer gleich verlumpt und herabgekommen. Hier macht sich schon das Elend der Großstadt breit, das oben in Belleville und auf dem Montmartre seinen Gipfel erreicht. Unglaubliche Gerüche parfümieren die Luft! – – – Endlich halten wir vor dem Père-Lachaise-Kirchhof. Durch herrliche, schattige Baumalleen steigen wir hügelan zur Kapelle empor. Das neue, den Toten gewidmete Denkmal, dessen oberer Teil sehr schön ist, während die beiden vom Engel zu neuem Leben erweckten Leichen eines Ehepaares, über denen quer ihr auf dem Leib ruhendes Kind liegt, von affenartiger Häßlichkeit sind, bleibt unter uns.

Ein wundervoller Ausblick auf Paris bietet sich dar!

Wenig, fast gar keine Grabhügel auf dem Kirchhofe. Meist winzige Kapellen, ein oder mehrerer Familien, unter denen die Särge in ausgemauerten Grüften übereinandergeschichtet sind. – Scheußlich sind die Perlen- und Strohblumenkränze. Frische Blumen sieht man nur in spärlichen Bouquets an den Kapellenthüren eingehängt. – Wir besuchen die Gräber der Berühmtheiten und sind entsetzt, wie versteckt sie meist liegen und in welchem verwahrlosten Zustande sich zum Beispiel das des Götterlieblings ›Chopin‹ – befindet! – – Überhaupt charakterisiert dieser uralte, schattige Kirchhof die Franzosen. »Oben hui – unten pfui!« Die Hauptwege sauber gehalten, entferntliegende Seitenalleen mit ihren Monumenten in erschreckendem Verfall! – Nachdem wir noch bei der Abälard- und Heloisenkapelle einzelne Liebespaare aufgescheucht haben, verlassen wir diese gigantische, stille Welt.

Eine Droschke führt uns durch noch wüstere Gegenden in die Parkanlagen der » Buttes-Chaumont«, für die heute ein Haupttag ist. Aus rohen Steinbrüchen hat Napoleon III. im Jahre 1866 eine großartig schöne Gebirgslandschaft mit Tropfsteingrotten und Wasserfällen hervorzaubern lassen. Man glaubt im Harz zu sein! – Alles haben doch die Könige und Kaiser für Paris gethan! Unter der Republik ist verhältnismäßig nichts geschehen. Das neue Rathaus ist weder außen noch innen sehr hervorragend. Es giebt wohl kaum ein Volk, das mit mehr Vandalismus seine Monumente zerstört hat wie diese Pariser bei ihren vielen Revolutionen und Revolutiönchen. Wie gut thäte ihnen auch jetzt ein strenger, vernünftiger Herrscher! –

Die Nachkommen der wüsten ›Petroleusen‹ und ›Communards‹ glaubt man hier in den Buttes-Chaumont zu sehen. Wahre Räuber- und Lumpenbanden durchziehen den entzückenden Park, den ich am Tage nicht allein, und abends nicht mit zehn Herren durchstreifen würde. Was an anständigeren Arbeiterfamilien da herumsitzt und lagert, ist auch nicht sehr vertrauenerweckend! In allen Seitenwegen und in den Felsen sieht man – äx –! riecht man – pfui Deibel! Darin haben die Franzosen einen gesegneten ›Kehrmichnichtdran‹. – Überall, sogar neben den feinsten Kaffeehäusern. Und nicht etwa gedeckte Rotunden! Nein, einfach meterhohe Blechbänder. Gêne giebt's nicht! Zum Lohne dafür hat auch Ganz-Paris einen ganz besonderen, eigenartigen Duft, wenn es schwül ist oder etwas regnet!

Wir sind schließlich froh, als wir wieder in civilisierten Gegenden sitzen. In der Nähe des Louvre wird das Dejeuner eingenommen. Danach geht es in die achtzehn Sammlungen dieses unglaublich reichhaltigen Museums! Das ist eine Arbeit, die nur zu durchgehen, davon ahnt ja keiner was! Man kann sich beständig verlaufen. Die Herren Galeriediener können auch nicht so recht Bescheid sagen. – Aber herrliche Schätze sind da, einzig! Wir tauchen in Begeisterung unter! Doch Kritiken wollen Sie ja gar nicht haben, lieber Verleger! Der unglaubliche Ernst Georgy hatte wieder noch massenbach Zeit, das Publikum zu studieren.

Er behauptet, daß aus den Reihen der oft sehr elend und ärmlich dreinpinselnden, zahllosen Malerscharen, die hier kopieren, sich reine Romane à la Zola und Prévost erraten ließen! Ich weiß das nicht! Mich störten die ewigen Schnattereien und das Hinundhergelaufe von einer Staffelei zur andern mächtig beim Kunstgenuß! Man sollte diese Scharen von der Direktion aus ein wenig besser disziplinieren. – Georgy meint: was an Parisern 'rumliefe, quatschte monströsen Blech vor den Gemälden, hätte doch aber Interesse, während die Fremdenherden, die von den Führern wie Hammel durch die Säle getrieben würden, am schlimmsten wären. An Unverständnis allen andern voran die Yankee-Doodles! – – Gewöhnlich ist aber im Louvre eine große Leere, und die wenigen Schritte auf den kalten Steinfliesen klingen ganz graulich!

Um halb fünf Uhr tranken wir im Café Riche etwas Erfrischendes und fuhren dann nach der Notre-Dame-Kathedrale. Die ist imposant, erstens von wegen der historischen Erinnerungen und Viktor Hugos Roman. Dann wegen der kühlen Dunkelheit innen in dem Riesenbau. Das Licht fällt nur ganz gedämpft durch die amethystfarbenen Fenster in die Schiffe. – Um den gotischen Wunderbau herum wanderten wir zur Morgue. – – – – – Ein niedriges, langgestrecktes Gebäude mit zwei Thoren. Darüber das unvermeidliche: » Liberté–Egalité–Fraternité.« Beinah lachhaft, das überall anzubringen, sogar dort, wo noch die Wappenschilder mit den königlichen Lilien oder dem » N« – Napoleons prangen.

Uns schüttelt ein geheimnisvolles Gruseln. Der Fuß stockt. »Wollen wir? oder lassen wir's?« – Wozu diese Nerventortur? Der Tod ist auch zu erhaben zum Schauspiel für das Volk! Noch stehen wir zögernd da. Ein Trupp Dienstmädchen mit Körben am Arm hastet lachend an uns vorüber. Zwei Bonnen mit Häubchen auf dem Kopfe und kleinen Kindern an der Hand eilen über den Damm. Arbeiter, Bürger, Männer und Frauen, alle sehen wir schwatzend und fröhlich in das rechte Thor des Totenhauses eintreten und nach einem Weilchen ebenso vergnügt herauskommen. Sie alle sind daran gewöhnt und betrachten die gefundenen Leichen in der Morgue als einen schuldigen Tribut der Stadt für ihre Sensationslust.

Mehrere Droschken bringen Fremde, welche gleichfalls diesen Anblick genießen wollen. – Wir fassen unsern Entschluß und betreten die düstere Stätte, ernst und beinah gerührt. – Drei männliche, eine weibliche Leiche ruhen auf dem Steinlager hinter der Glaswand, grünlich beleuchtet. Ihre Sachen als Erkennungszeichen neben jedem Toten.

Dieses Bild der vier Schläfer hat nichts Abstoßendes! Sie sehen friedlich aus nach dem Kampfe mit dem Dasein. – Unangenehm sind nur die Witze des verrohten Publikums über die Entseelten, die brutalen Bemerkungen! Hier werden einem die Pariser so ekelhaft, wie wenn man die Geschichte ihrer Aufstände liest. Das leichtherzige, liebenswürdige Völkchen läßt die Maske sinken: die Bestie kommt zum Vorschein.

Vom Tode fort ins brandende Leben der Markthallen. Jetzt gegen Abend sehen sie märchenhaft schmutzig aus. Froh, den frechen Bemerkungen der Hallendamen entgangen zu sein, schwingen wir uns in eine weitere Droschke. Nach dem Häßlichen – das Schöne! Wir fahren durch die Prachtstraßen in den entzückenden Park Monceau und von dort noch vor die Sühnekapelle auf dem Boulevard Hausmann. Ludwig XVIII. errichtete sie den hingemordeten Herrschern Ludwig XVI. und Marie Antoinette. – Diese beiden Opfer verzeihe ich den Franzosen nicht, ebenso wenig die Charakterlosigkeit, mit der sie seit 1800 siebenmal die Regierungsform gewechselt haben!

Der Tag ist lang. Wir nehmen im Palais Royal das Diner, d. h. in den Kolonnaden, lauschen dem Militärkonzert und bummeln durch die Straßen, bis abends das Theater beginnt!

So sind wir tagtäglich fleißig auf den Beinen und studieren Paris. Jeden Tag eine andere Kirche, einen neuen Park, Kirchhof, neue Gebäude und interessante Punkte besichtigt. Nur die Museen sehen uns oft in ihren ›heiligen‹ Hallen wieder. – Selbstverständlich klappern wir die großen Kaufhäuser auch ab. Der »Printemps« – die »Samaritaine« und das Magazin des »Louvre« imponieren uns sehr. – Sehr enttäuscht sind wir von dem »Bon Marché«. Wertheims Bazar ist bei weitem vorzuziehen!! – Erstens könnte dies sozialistisch geleitete Geschäft weit eher » Cher Marché« (teurer Markt) genannt werden. Zweitens sind die Waren meist Schund, erstaunlich oft zerrissen und beschmutzt. Das ist auch kein Wunder, denn »jeder« Mensch hier hat das Recht, sie in die Hand zu nehmen und zu zerknautschen. Pfotenbearbeitung »vieler« Menschen hat noch keinem Kleide wohlgethan! So großartig diese kommunistisch betriebene Firma dasteht, so sehr sie ein Beweis für die Durchführbarkeit sozialdemokratischer Ideen zu sein scheint, so wenig hat sie uns überzeugt. Im Gegenteil, das große Publikum der Käufer, die Verkäufer, das Personal – alle kommen besser fort, wenn ein oder zwei tüchtige Leiter an der Spitze des Unternehmens stehen!

Etwas enttäuschend sind die Schaufenster in Paris. Entschieden wird bei uns in Berlin mehr auf die geschmackvolle Auslage der Ware gegeben. – Lassen Sie sich da keinen blauen Dunst vormachen, verehrter Verleger! Es giebt eben Leute, die einen Kattunlappen in Paris schöner finden als eine spitzenbedeckte Seidenrobe bei uns. Ich spreche auch nicht von vereinzelten Geschäften in den Hauptstraßen, sondern von der großen Masse. Z. B.: in den Spielwaren-, Blumen-, Band- und Spitzenläden habe ich diese Beobachtung hundertmal gemacht! – Man stapelt die herrlichsten Dinge bunt nebeneinander auf, man stellt die wunderbarsten Blüten locker in eine Vase. – Man arrangiert sie nicht wie bei uns zu einladenden Dekorationen. Unser ›Söhlke‹ und viele andere stellen ganze Scenen aus dem Leben durch Puppen in den Schaufenstern dar. Die vereinigten Nürnberger Spielwarenhändler haben auf der Ausstellung die entzückendsten Aufbaue errichtet. – Das kennt man hier kaum! Ein Fabrikant im Industriepalais sagte mir selbst, daß die durch ihren Chick so berühmten Franzosen in dieser Beziehung von uns lernen könnten! – So was freut mich toll!

Bei Garderobegeschäften sehen Sie gewöhnlich anstatt der wirklichen Kleider die Modelle in buntfarbiger Gaze, vollständig besetzt in den Vitrinen stehen. Und vor vielen Handlungen, besonders Bazaren, auch dem Bon Marché, sind ganze Verkaufstische auf die Straße gebaut. Staub und Schmutz kann ruhig auf die Gegenstände fallen, das geniert große Geister nicht! Diese Art des Verkaufes erinnert aber doch sehr an Jahrmärkte und ist uns ordentlichen Berliner Barbaren nicht sympathisch!

Genug für heute, barbarischer Freund und Gönner!

Es grüßt Sie die Pariser Pflastertreterin

Lotte Bach.

 

6. Plauderbrief.

Hochgeehrter Herr!

Wütend bin ich!

Diese Ekels wollen mich zu ihren Zügen durch das nächtliche Paris entschieden nicht mitnehmen! Nur in stubenreine Kaffeehäuser oder Theater darf ich mit. Dabei war ich doch in der Rue de Paris in der Ausstellung? So'ne Unverschämtheit! Aber sie behaupten: eine ›Berliner Range‹ dürfe manches thun; aber das Studium des Pariser Nachtlebens sei nicht notwendig! Eigentlich haben diese drei ja recht! – ›Soviel‹ mache ich mir auch gar nicht aus dem Klimbim. Muß ja eklig sein! Ein paar solche Sachen sah ich schon in fliegender Eile, wenn wir aus den Theatern kamen. Herrje, 'mal gesehen hätte ich's aber auch gern! Na, wenn ich heirate oder 'ne alte Dame bin, dann mache ich solche »Zicken«, wie wir daheim sagen, »studienhalber«!

Ernst Georgy läßt sich Ihnen empfehlen und Ihnen sagen: Alles, was ins Bekannte, Pikante schlüge, all »sowas« würde er übernehmen und Ihnen mitteilen. Ein Gemütsmensch! Nun, seine männlich empfindende Seele kann's vertragen, nich wa – –? – Seien Sie also unbesorgt! Auf die Weise hören Sie ja alles!

Ich beschränke mich auf die anständigen Theater, Konzerte und einen Empfangsabend in unserer Pension. Ist Ihnen das so recht? Ich höre Herrn Bong im Geiste » bon« sagen und lege los:

 

»Es war einmal ein mächtig großartiges Gebäude. Das stand in Paris an schönster Stelle und kostete im Bau die Kleinigkeit von sechsunddreißig Millionen Francs. Im Innern war ein Treppenhaus aus Marmor mit Onyxgeländer, das blendete den Beschauer ebenso wie die Pracht in den Foyers oder den ersten Rängen. – Im vierten Range aber, wohin nicht gerade die Millionäre zu gehen pflegen, war der Boden aus schlechten Holzbohlen, die Sitze schäbig und die Beleuchtung elend. Und das war die weltberühmte »Pariser Oper«! – Regelrechte Garderoben wie bei uns giebt es nicht. Zwei Frauen nehmen einem die Sachen ab, wursteln sie mit Strippen zusammen, quetschen sie in einen häßlichen, staubigen Raum, » Vestiaire« benamset, und geben sie einem später, nicht »besser« geworden, wieder. Wer zufällig Privatbesorgungen zu erledigen hat und dazu geheime Kabinette benutzen muß, der wird entsetzt sein, wie diese in dem Prunkbau der stolzen Oper vom zweiten Rang an aufwärts gehalten sind. Das ist überhaupt die Achillesferse von ganz Paris! – Dafür stehen unten stolze Schweizer, und hinter einem Tisch sitzen drei befrackte [bald hätte ich Fatzkes gesagt; aber ih, wo wer' ick denn], befrackte Herren mit Schleifen und markieren bei einer Anfrage mit königlichen Handbewegungen wahnwitzige Vornehmheit. Sitzt man endlich auf seinem richtig » Stalle« bezeichneten Platz, für den wir anstatt der vorgeschriebenen drei – sieben Francs bezahlen mußten (beim Händler), so geht der Kummer erst los! Alle Damen behalten die Hüte auf und verdecken oft die Aussicht auf die Bühne mit ihren »Monstreveranstaltungen« an Blumen, Spitzen, Federn. – Ununterbrochen klappen die Sitze und erheben sich die Menschen, wir mit ihnen. Denn – – – bis zum dritten Akte kamen noch Nachzügler in die Tannhäuser-Vorstellung des jetzigen Modekomponisten: »Unseres Wagners!«

Die Vorstellung war ausgezeichnet, das Orchester gut, die Inscenesetzung famos!

In den Zwischenpausen riefen einige Burschen – Abendzeitungen aus, und es begann der Sturm auf das Büffet. Erst seit einiger Zeit ruft ein elektrisches Glockenzeichen nach der Pause in den Theatersaal. Wieder erneutes Klappen, Pschtrufen und Zuspätkommen. – Ein Bumsen mit einer Holzkeule, es geht los! – Ich kann mir nicht helfen; aber ›innen‹ finde ich die Oper mit dem häßlichen goldgelbbräunlichen Ton nicht sehr vornehm, und vor allem lenkt der Eindruck des Gebäudes von der Bühne durch seinen unruhigen Geschmack ab. Das ist meine Privatmeinung, die ich keinem aufdrängen will! Sie haben mir freies Urteil gestattet, Verehrter! Voilà, hier haben Sie es! Streiten thu' ich nicht, und überzeugen will ich keinen! Bumms fallera!

Faul sind die Leutchen hier, denn nur drei, höchstens viermal wird in der Woche gespielt. Die Billete sind schwer zu erlangen. Und kauft man sie mit hohem Aufschlage beim Händler oder in den Agenturen, so betrachtet er das obendrein als Gnade, die uns armen Sterblichen von ihm zufällt.

Jetzt zur Hochsaison und wahrscheinlich für die ganze Ausstellungszeit zeigt sich die Oper in der Balltoilette einer ersten Besetzung. Als ich vor drei Jahren in Paris war, da war das, was ich in: »Faust – Hugenotten – Aida« zu sehen und hören bekam, im Négligé. Denn damals spielte und sang wohl die fünfzehnte Besetzung! Das Orchester war elend, die Sänger ungefähr auf der Höhe von der Kottbuser Hofoper! Na, das war jetzt wettgemacht worden. Die Range dokumentiert hiermit ihre allerhöchste Zufriedenheit! – Die ist doch auch was wert?

Ich sehe Sie schon ungeduldig werden und weiß warum! Sarah Bernhardt? Nicht wahr, die alte, ewige Sarah mit ihrer unverwüstlichen Anziehungskraft auf das Ausland, dieser »Clou« von Paris fehlt Ihnen. Geduld, Sie sollen von dieser Virtuosin der Bühne, der Reklamekunst, auch hören! – Früher ›machte‹ die Bernhardt in Preußenhaß, in gestohlenen Schätzen, in körperlichen An-, Zu- und Unfällen beständig von sich reden. Sie erhielt ihr Paris in Atem und versteht es noch heute! Denn die große Schauspielerin hat jetzt in der Ausstellung Bronzestatuetten zur Schau gestellt, die von einer ravissanten Grazie sind. A la bonne heure, wenn sie die Dingerchen wirklich selbst gemacht hat! Weeß mer's denn? – So zeigt sie jetzt eine neue Seite ihrer in der That genialen Begabung, und man hat von neuem Gesprächsstoff! Sie ist jetzt Theaterdirektorin und hat ihr großes, schönes Gebäude an der Place de Châtelet, von dem des Abends ihr Name in flammenden Gaslettern verkündet: ›Hier spiele ich! Ich bin sehenswert genug! Kommt!‹ – Alle Fremden strömen natürlich hin. Und da sie besonders aus uns Deutsche räsonniert hat, so rennen wir zu allererst hin, anstatt uns solidarisch von dieser Chauvinistin fernzuhalten. Aber wie in Rom den Papst, so muß man in Paris – die Sarah gesehen haben!

Vor noch nicht allzu langer Zeit eroberte der Dichter Rostand mit seiner frisch-reizenden Dichtung: › Cyrano de Bergerac‹ die Bühnen aller Kulturländer. Die Franzosen begrüßten in ihm die Wiedergeburt ihrer dramatischen Poesie. Desto größer war aller Enttäuschung, als sein neuestes Werk: » L'Aiglon« (Das Adlerchen) mit der Bernhardt in der Titelrolle erschien. Trotzdem es allabendlich die Häuser füllt, sah man doch die großen Schwächen der Rostandschen Schöpfung. – Die Sprache ist in leicht dahingleitenden Versen von großer Schönheit. Einige Scenen sind ungeheuer packend. Aber im allgemeinen ist das Stück von einer so starken Effekthascherei, daß der Meister der Knalleffekte, Sardou, noch bei weitem übertroffen wird! – Ich konnte das rührselige, vor Patriotismus triefende Machwerk kaum durch die sechs langen Akte ertragen. Die Verherrlichung Napoleons des Ersten wäre mir nur begreiflich; aber die seines unglücklichen Sohnes, des schwindsüchtigen Herzogs von Reichstadt, die Seitenhiebe auf Österreich und uns, das ewige Gewimmer und Gezeter da unten, vor allem der sentimentale, unwahre Schluß, die große Verlogenheit des Ganzen war mir qualvoll!

Nun zu der Bernhardt! Männerrollen von Frauen dargestellt, mag ich an und für sich nicht! Eitle Unnatur! – Aber die Bernhardt mit ihren geschmeidigen, nicht etwa mageren, jedoch aalglatten Körperformen eignet sich wirklich noch am allerersten dafür. Ihre tannenschlanke Erscheinung, ihr längliches Gesicht repräsentiert den dekadenten, jungen Fürsten mit dem Tod in der Brust durchaus! Bei ihrem vorgeschrittenen Alter ist ihre Beweglichkeit und Frische erstaunlich. – Ihre berühmte Stimme ist nicht mehr auf der Höhe, sondern schon etwas brüchig. Sie bewegt sich stets zwischen denselben Tönen und hat ewig ein kehliges Schluchzen, das auf die Dauer martert. Besonders wenn sie Begeisterung oder laute Schmerzen glaubhaft machen will, läßt ihr liebliches Organ sie im Stich. Dabei muß sie im l'Aiglon beständig brüllen! – Und dies Stück spielt die alternde Frau, die Großmutter einer ganz erwachsenen Enkelin, täglich abends und oft noch zwei- bis dreimal wöchentlich des Nachmittags. Dieser Fleiß ist erstaunlich. – Doch nun zu ihrem Spiel! Ich wage es auszusprechen, daß die alte Bernhardt mir entsetzlich mißfällt, weil sie nichts weiter wie eine große Poseuse ist, die geschickte Mätzchen macht und während ihres Spieles unablässig das Publikum beobachtet und die Klaque dirigiert.

Ich betrachte es fast wie ein Glück, daß das alte, berühmte Théâtre Français ausgebrannt ist! Leider wird der alte Kasten aus lauter Pietät in dem gleichen Stil wiedererrichtet! Die Franzosen können ihren Königen die Köpfe abschlagen. Ja! Aber trotzdem sie Republikaner sind, spielen sie noch heute ihre klassischen Kothurndramen mit den nämlichen steifen Armbewegungen und mit dem gleichen »Gemecker« in der Stimme wie zu Zeiten Ludwig des Vierzehnten! Hohngelächter! – Die Sühnekapelle für den sechszehnten Louis und sein Weib will man niederreißen; aber mit der Aufräumung des verstaubten Zopfes im Theater Français wagt man nicht den Anfang zu machen!

Hoffentlich zieht mit dem neuen Ausbau des Hauses ein neuer Geist in dieses ein. Die Direktion entschließt sich dann vielleicht, auch die früheren Tragödien ebenso gut darzustellen wie die modernen Lustspiele und Konversationsstücke. – Der Respekt vor dieser Musterbühne ist traditionell eingeimpft. Dennoch stehen das Kleine Theater in Moskau – das Burgtheater in Wien – das Deutsche Theater in Berlin – turmhoch über dieser ersten Pariser Bühne, die in ihren Erinnerungen an einst zur starren Mumie geworden! – – Alle » Racines« und » Corneilles« haben sie mir beinah lächerlich gemacht; aber der » Gendre de Monsieur Poiriet« war vortrefflich. Ist das nicht schon ein Hohn?

Für das Moderne und seinen Einzug in Paris sorgen Monsieur Antoine und vielleicht die ausgezeichnete Madame Réjane. Sonst bieten die hiesigen Theater nicht viel. – Nur im » Gymnase« und in dem prächtigen Neubau der Opéra Comique kann man noch gute Sachen sehen, wenn man nicht gerade wie ich mit dem Repertoir Pech hat.

Gute Konzerte hat Paris genug. Die Musiker überschwemmen auch hier die Musikliebhaber mit ihren Leistungen. Im › Concert du Conservatoire‹ und im › Cirque d'Hiver‹, im Salle ›Erard‹ ›Herz‹ kann man die größten Meister hören. Die Colonne- und früher die Lamoureaux-Konzerte zogen die Musikfreunde der guten Klassen ebenso an, wie die Militärkapellen in den öffentlichen Parkanlagen das untere Volk.

Es ist ein besonders liebenswürdiger Gedanke unseres Monarchen, daß er seinen Berlinern diese Freude jetzt auch verschafft hat. Und wie wächst die Liebe zu unserm Militär, wenn wir seine musikalischen Darbietungen erst umsonst genießen werden. Solche Ständchen im Freien erleichtern das Steuerzahlen sicher! Das wußten die klugen Franzosen, daher – – – Spiritus, merkst Du was?

Wenig bekannt ist das einfache Café Rouge in der Rue de Tournon. Und doch haben wir dort ernste, musikalische Genüsse gehabt. Die Künstler sind alle Musterschüler des Konservatoriums, die diesen Extraverdienst brauchen. Man kann für 1,25 frcs. dort etwas verzehren. Die Herren rauchen. Die Damen sitzen behaglich da, und ein wunderschönes Programm wird von dem gut geleiteten Orchester zum Besten gegeben. Was will der Mensch mehr?

So, verehrter Freund, nun haben Sie die anständigen Abendvergnügungen für die Fremden ungefähr aufgezählt bekommen. Von den Landpartieen in die Umgegend, von Seinefahrten im Mondenschein, kann ich hier nicht sprechen, das würde zu viel Platz brauchen. Glauben Sie mir das eine: Wer sich in Paris amüsieren will, hat dazu unglaublich viel Gelegenheit und dito Auswahl! Nun gar noch die Herrenwelt!

 

Am Freitag und Sonntag haben Herr und Frau Pernotte, unsere liebenswürdigen Pensionseltern, ihre Empfangsabende. In Paris strengt man sich, außer bei direkten Einladungen zu Diners oder Bällen, mit der Aufwartung nicht sehr an. Überhaupt kennt man hier weder die märchenhafte Gastlichkeit der Russen, noch die der Engländer! Auch der deutschen Gemütlichkeit ist man hier abhold!

Bei vielen: › Réceptions‹ wird mit »interessanten Menschen, Luft und Licht« aufgewartet. Bei uns in der Rue Notre Dame giebt es um halb elf Uhr Thee, Schokolade, Cakes und wirklichen Kuchen. Das ist für Paris enorm anständig! – Während des Diners im Speisesaal hört man ein gewaltiges Rumpeln jenseits des Korridors. Die Mädchen schieben die zusammenklappbaren Wände ineinander. Aus den zwei Salons wird ein Saal! Nach der Mahlzeit wird noch etwas geschwatzt oder gearbeitet, dann geht man an die Toilette.

Aus den Zimmern der Amerikanerinnen ertönt aufgeregtes Geplauder und hastiges Hinundhergelaufe. Die Mädels sind unglaublich! Ich bin sicher, daß die Soireen für sie den Hauptreiz des Hauses ausmachen. Da kommen ja Herren, richtige junge Herren! Da können die freien Dämlein der neuen Welt kokettieren und nach Herzenslust flirten. Das verstehen sie aus dem ›FF‹, behaupten dabei kühnlich, daß sie mit dem andern Geschlecht nur als gute Kameraden verkehren. Ich danke, Herr Franke! Sie angeln nach einem Gatten so gewaltig, wie nur die kühnste Europäerin! – Und die Franzosen wissen das! Sie machen Amerika den Hof, tanzen, geben sich Rendezvous; aber zur Ehe führen diese »Flirts« wohl selten. Vielleicht wenn es sich um reiche Erbinnen handelt. Aber leider ist nicht jedes American girl ein Goldfischchen!

Fräulein Marie, die Gute, holt mich in den Salon. Ich klemme mich in eine entfernte Beobachtungsecke. Tanzen will ich nicht und plaudern auch nicht, nur sehen. Georgy setzt sich zu mir, und nun tauschen wir beide unsere stillen Bemerkungen aus: mehr oder weniger giftig; aber geruddelt muß werden! Auf Leben und Tod! Wir beide kennen uns, da schadet das nichts!

Truppweise, nach Kliquen zusammengehörig, erscheinen die männlichen und weiblichen Pensionäre. Die Damen hell gekleidet, Blumen im Haar. Die Herren im Gehrock oder Frack. Große Begrunzung mit den bereits anwesenden Gästen erfolgt. Aus dem Chaos sondern sich einzelne Pärchen in die Ecken oder hinter die lauschig beleuchteten Tischchen ab. – Neue Eintretende – Vorstellung – Beschnupperung! Zu uns setzt sich ein netter alter Onkel aus Paris und versichert uns herablassend, daß Berlin en effet (wirklich) eine jolie ville sei. – Daß die Deutschen vraiment (wahrhaftig) sehr liebenswürdig sein könnten! [könnten! Bande!] – Daß er schon seine Vorurteile überwunden habe, seitdem er so oft geschäftlich zu uns müßte! Allerdings sei ja der Deutsche vollkommen der Abklatsch der Franzosen, von französischer Kultur imprägniert, trotzdem er sein Vorbild noch nicht ganz erreicht habe! [Das ist uns für unsere widerliche, jahrhundertlange Nachäfferei des Französischen recht!]

Ich grinse bei der Erklärung unserer Unselbständigkeit sauersüß und erwidere hohngiftig, als ein sich hinzugesellender, junger Arzt behauptet: ›Er habe gehört, daß es in Berlin là-bas sehr gute Ärzte gäbe. Wie überhaupt die Deutschen wissenschaftlich hochständen!‹ – Der Kreis um uns wird größer. Die Debatte steigert sich. Eine bodenlose Unkenntnis in der Geographie, in unserer Litteratur verblüfft mich. Ich erhitze mich für die gerade den Namen nach bekannten Goethe und Schiller; da wird glücklicherweise um Ruhe gebeten.

Die anmutige junge Komponistin Hermine S. aus Polen spielt ihre eignen Kompositionen vor. Gesangsvorträge folgen. Richard geigt gut auf einer schlechten geliehenen Geige! – »Musik ist schön zu allen Stunden, nur ist sie mit Geräusch verbunden!« meint Busch so richtig.

Nach den Vorträgen beginnt der Lancier (unser Contre) und löst sich zuletzt in Rundtänze auf. Ich widme mich einigen Ausländern, die nicht französisch sprechen und plaudere mit ihnen englisch. Wieder bilden sich flirtende Gruppen. Die wahnsinniglange Miss W. läßt ihren neuesten Fund, den unseligen Mr. G. aus San Franzisko, nicht los. Langsam mit staunenswertem Ernst drehen sie sich wohl zum zwanzigsten Mal durch den Saal. Es ist zum Schießen; aber das Paar kostet uns Lachthränen! – Das hüpft wie wahnsinnig gewordene Spatzen oder schleicht wie Schnecken beim Tanzen!

Eine alte aufgetakelte Dame hat den Wirt als Opferlamm vor sich. Sie schwatzt ununterbrochen in ihn hinein, fächelt sich und lockt mit der Rechten kosend ihre Warzenhaare. Äx! Aber alle hier lieben diese langen Locken in den Warzen oder stellen die Haare wie Kreuzspinnenbeute um das Mittelstück auf. Es ist eine greuliche Geschmacksverirrung, mit Schönheitsfehlern solche Allotria zu treiben! – Aber wer weiß, wie lange noch und unsere Landsleute machen auch diese Mode nach! – Zu uns kommt ja dies alles unfehlbar!

Weil der gräfliche Rowdy Christiani dem Präsidenten Loubet den Cylinder eingeschlagen hat, tragen ja auch unsere Damen aus lauter Aufmerksamkeit Hüte mit zerknautschten, verrückten Kopfformen! – Es wäre zum heulen, wenn es nicht gar so läppisch und lächerlich wäre! Oh, deutscher Michel!

Die Aufwartung wird gebracht. Ich bin so todmüde von meiner heutigen Ausstellungsstrapaze, daß ich mich heimlich in die Büsche schlage. – Schade, es gäbe soviel Interessantes noch zu plaudern, soviel kleine Lächerlichkeiten noch zu beobachten! Aber so etwas muß man selbst gesehen haben, um es zu würdigen! – Jedenfalls sind die Empfänge sehr amüsant und sehr anregend!

Gute Nacht, Verehrter, schlafen Sie wohl!

Dies wünscht sich, daher auch Ihnen,
Ihre Lotte.


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