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Eine reichliche Bezahlung hatte den Rucksack mit Mundvorrat und Wein gefüllt. Das Nachtquartier wurde wie in einem guten Hotel entlohnt und mit Herrn George Écu ein Führerlohn vereinbart. Er war mehr als zufrieden.

Es war noch nicht hell, als die drei abmarschierten. Die Nacht war kalt, es hatte gefroren, es ging sich gut, so daß sie hofften, heut noch Autun zu erreichen. Schweigend setzten sie den Weg fort. Jeder fühlte sich von einer Sorge bedrückt. Auch Monsieur Écu. Von Zeit zu Zeit warf er heimlich beobachtende Blicke auf Reinhart, auch Marie-Anne musterte er mit Wohlgefallen. In seinen Blicken lag durchaus nichts Feindliches, eher Neugierde.

Krähen stiegen in ihrer Nähe auf und flogen einem Walde zu.

»Wer doch auch so fliegen, dem Kriegselend entrinnen könnte«, meinte George. Und da seine Weggenossen schwiegen, setzte er mit einem schweren Seufzer hinzu: »'s ist ein Elend.«

Lange konnte er nicht schweigen. »Wir gehen besser rechts ab, den Seitenpfad. Ist zwar ein Umweg nach Cussy von 'ner halben Stunde. Es geht sich aber besser. Man weicht auch hier Neugierigen und lästigen Fragern aus.«

»Was meinen Sie damit«, fragte Marie-Anne lässig.

»Kommen Sie etwas rascher – so – nun sind wir im Walde mitten drin und brauchen die dort nicht zu beachten.« Er zeigte auf die vierzig oder fünfzig Meter unter ihnen befindliche Landstraße, die sie vor einigen Minuten verlassen hatten. Zwei Gendarmen zu Pferde kamen von Cussy her, sie ritten im langsamen Schritt, rauchten und schienen sich gemütlich zu unterhalten. George drängte fort. »Ach ja, das sind mir die richtigen Kerle. Hyänen sind's, weiter nichts. Hab' sie im Felde beobachtet, die und die Sanitäter. O, Leichenräuber, schändlich. Ob es solche bei dem Feinde gibt? Möcht's nicht glauben. Die Gefangenen, à la bonne heure, nein, die wir gesehen haben, die sahen nicht aus wie Verbrecher. O, bei uns, – Räuber, nichts als Räuber.« Wieder Schweigen. Dann plötzlich:

»Gestern abend, ja, sapperlot, gestern war ich in unserm Wirtshaus auf ein Glas Roten. Nicht des Weines wegen. Mußte einen Bekannten sprechen, der mir eine Nachricht bringen wollte. War ein Lärm. Ist wieder große Jagd auf Boches. Die armen Burschen tun einem leid, nicht wahr? Sind Menschen, so gut wie wir. Auch von ihnen hat jeder eine Mutter. Und – zum Lachen ist's – o, was haben wir gestern abend gelacht – denken Sie! Hat da ein Maire oder Präfekt einem dieser Boches – o, man lacht sich krank – einen Paß ausgestellt, damit er leichter über die Grenze kann. Die Allemands sind so schlau – die kriegen alles fertig. Nun ist die Polizei hinterher, hinter dem Paß und seinem Besitzer.«

»Drollig, was Sie da sagen. Wie weiß man das aber?«

»Kann's nicht sagen, Madam, soll ausgeplaudert worden sein.«

Und um ihrer beider Verlegenheit zu verbergen, sagte Reinhart: »Ja, es passieren sonderbare Dinge.«

»Gewiß, nur muß man schlauer sein als die Polizei. Zu Ihnen habe ich Vertrauen, deshalb red' ich frei heraus und das tut gut, wenn man sich mal aussprechen kann. Sehen Sie – meine alte Mutter – zwei Söhne hat sie verloren. Nun soll ich dran. Geh' ich wieder hinaus, ich komm' bestimmt nicht zurück. O, es ist ein blutiges Ringen. Weshalb nur? Einer liebt sein Vaterland – gut. Er stirbt dafür. Sehr gut. Ich liebe meine Mutter mehr als alles in der Welt, mehr als Vaterland, mehr als Gott und Himmel und alles. Für sie, für mein gutes Mütterchen, will ich leben. Sie verstehen. Für sie will ich mich erhalten, will ich arbeiten. Sie hat niemand sonst als mich.«

»Und da wollen Sie – Sie deuteten es gestern schon an –.«

»Ja, Madam, ich – geh' über die Grenze. Wenn der Krieg vorüber ist, komm' ich zurück und bestell' den Acker wieder. Bis dahin weiß meine Mutter, daß sie noch einen Sohn hat.«

»Sie wollen in die Schweiz?« fragte Reinhart, – beinahe hätte er sich verschnappt und gefragt: Sie wollen ebenfalls in die Schweiz?

George sah ihm forschend in die Augen. »So ist es, vielleicht sehen wir uns unterwegs. Noch heut mach' ich fort. Ich komme ohne Paß hinüber, wie so viele Kameraden. Wir haben genug vom Sterben. Wenn ich Ihnen raten darf, verlassen Sie in Annecy den Zug.«

»Und dann?«

»Wär' ich dort, könnt' ich vielleicht nützen. Jedenfalls müssen Sie den Bahnhof – gleichviel wie – verlassen und in die Berge gehen. Bei Nacht wandern, bei Tag ruhen.«

Die beiden Männer sahen sich wieder in die Augen. Dann faßten sie sich an den Händen und schüttelten sie.

Marie-Anne traten Tränen in die Augen, als sie zu Reinhart sprach: »Wieder ein Mensch –.«

»O, ich weiß, was Sie damit sagen wollen. Sie meinen, obgleich ich ein Franzose bin, bin ich ein vertrauenswerter Mensch.«

»So ungefähr war der Gedanke, ich leugne es nicht. Es beglückt uns, mich und meinen künftigen Gemahl, in Ihnen einen edlen Menschen gefunden zu haben.«

»Sie sind mir beide sympathisch. Und in meiner Lage wär' mir eine von der Polizei ausgelobte Prämie nicht unwillkommen gewesen. Sie verstehen. Für mich war gestern abend alles klar. Ich will kein Sündengeld. Doch ich rate Ihnen, wie Sie sehen, damit Sie möglichst ungefährdet fortkommen. Nur hüten Sie sich vor den Gendarmen. Alles sonst könnte wohl gut gehen.«

Welch einen Sturm hatte die schlichte Mitteilung des Mannes in Reinharts Brust entfacht. Und Marie-Anne, die Arme, wagte er kaum anzusehen, so leid tat sie ihm. In was für ein trauriges Netz von Straftaten war sie mitverstrickt. Und das alles, weil sie ihn liebte.

Welch heißes Glücksgefühl durchströmte ihn! Ihr Elternhaus hatte sie verlassen, ihr Vaterland war sie im Begriff zu verlassen, ja, noch mehr, es ganz aufzugeben. Ohne zu zögern war sie dem Mißhandelten, Verfolgten helfend beigesprungen, hatte ihn – ohne Furcht vor schweren Strafen – gepflegt und geschützt. Und nun, in seiner schlimmsten Not, blieb sie treu an seiner Seite und war entschlossen, Kerker und Tod mit ihm zu teilen.

Konnte Gott so viel Glück verleihen, um es im nämlichen Moment zu vertilgen? War Gott nicht gerecht und gütig?

»Auf dem Blättchen ist die Route mit Strichen verzeichnet, damit Sie nicht fehlgehen. Immer im Walde gehen, die Landstraße meiden, darauf ist zu achten. Haben Sie erst die Eisenbahn erreicht, dann gleich bis Genf, vor Genf den Zug verlassen. Leben Sie wohl.«

»Leben Sie wohl. Und auf Wiedersehen.«

»Um das Nest, dieses Cussy, im Bogen herumgehen, sagte er nicht so? Vorwärts, Schatz, der Freiheit entgegen.«

Arm in Arm zogen sie in dem unbekannten Gelände hin; den Menschen, die ihnen entgegen kamen, wichen sie aus.

*

Marie-Annes Verschwinden hatte die Dorfbewohner, wie ein Kanonenschuß eine Schar Spatzen, aufgescheucht. Das gab ein Raunen, ein Tuscheln, ein Geschwätz, das von Stunde zu Stunde vergrößert und vergröbert ward.

Polizei und Gendarmerie empfanden ihre Abreise wie einen gegen sie persönlich geführten Schlag, wie eine Schlappe, weil sie die dominierende Schlauheit der jungen Bäuerin, ihrer eigenen geistigen Beschränktheit als überlegen anerkennen mußten.

Die Polizei und ihre Hilfsorgane erkannten, daß man sie stets genasführt hatte, trotz ihres Postensstehens und Aufpassens bei Tag und Nacht. Ei, da soll doch gleich – –. Und dem Gesetz und allen angedrohten Strafen hatten die Leute, die Gérards, ein Schnippchen geschlagen. Sie hatten eine Menge Boches, wohl zwanzig und mehr, versteckt gehalten. Am Ende hat sie sie heimlich bewaffnet, um eine kleine Armee den Franzosen in den Rücken zu schicken? War das nicht Verrat? Wo war, wo blieb da die Heeresleitung?

Das war etwas für diejenigen, die bei solchen Gelegenheiten den ihnen sonst unbekannten Patriotismus zu pachten pflegten. Solch ein Subjekt war Callot, der von seinem Gönner, dem Dorfbader, über Fräulein Gérards Abreise unterrichtet wurde.

Der Verbrecher tobte. Der Vogel war entflogen, den er zu rupfen, das heißt, zu erpressen gehofft hatte.

Er begehrte vernommen zu werden.

Auf die Weise erhielt die Behörde davon Kenntnis. Und am Stammtisch schließlich auch der Leutnant Davannes, den nun Eifersucht und Rachbegierde trieb, das von ihm angeblich hochgeschätzte Mädchen unter Anklage zu bringen.

Durch ihn kam die Sache mit dem Paß an den Tag, als er andern Tags Herrn Sidi Lorrain einen Besuch machte. Beim Wein wurde der Vetter geschwätzig und bald wußte der eifersüchtige Leutnant, was er wissen wollte. War es wirklich ein Schweizer Kaufmann oder war es der verborgen gewesene Boche, für den Marie-Anne den Paß besorgt hatte, in jedem Falle war das schöne Mädchen für ihn verloren.

Jetzt lag kein Grund mehr zur Schonung vor. Im Gegenteil. Er fand, daß die charmante Kleine auch ihn übertölpelt hatte. Wie hatte sie ihn genasführt, mit welcher Sicherheit war sie ihm und seinen Soldaten entgegengetreten, daß er sich vor ihrer Schlagfertigkeit und Logik geschämt hatte.

Natürlich war sie eine kleine Verräterin, die er leidenschaftlich gern als Frau heimgeführt hätte.

Sein Bericht blieb bestehen, auch seine eidesstattliche Erklärung gegen Callot. Wenn er nicht völlig blamiert sein wollte, mußte er dabei bleiben. Sein Schmerz war also zweifach, da somit aus seiner Rache nichts werden konnte. – Aber ausplaudern mußte er die Paßgeschichte, weil sie gar zu köstlich war.

Die Behörden waren dem Gelächter preisgegeben, ein neuer Grund für sie, neue Fahndungen und Verfolgungen gegen die geflüchteten deutschen Gefangenen loszulassen.

Gleich einer Meute Bluthunde setzte sich die Polizei mit großen Posaunenstößen in Bewegung. Die Zeitungen waren voll davon. Als ob von den paar zu den Grenzen strebenden, halbverhungerten Kriegsgefangenen Leben und Untergang Frankreichs abhinge. Der französische Volkscharakter ist feig, die Nation ist völlig degeneriert. Der französische Bürger gerät in Todesangst, wenn seine Zeitung von Verrat spricht. Wenn jedoch ein deutscher Kriegsgefangener – dem Verhungern nahe – sich dem nächsten Gendarmerieposten stellt, wird in allen Zeitungen von der Umsicht, Tapferkeit, Klugheit und Wachsamkeit der Behörden in überschwänglichen Worten gefaselt, und daß das Vaterland von neuem gerettet wurde. Die französischen Zeitungen sind, soweit sie dem Kapitalismus dienstbar sind, bestechlich; sie lügen und betrügen das einfältige Volk und machen eine willfährige Maschine aus ihm, die – weil sie nicht denkt – zu allem von den Machthabern mißbraucht wird.

Nach ein paar Tagen war von dem »Verrat« durch deutsche Kriegsgefangene in den Zeitungen keine Rede mehr. Die Öffentlichkeit wurde mit andern Sensationen beschäftigt.

Nur die polizeilichen Kläffer in der Provinz hofften noch ihre mageren Einkünfte durch eine Fangprämie zu verbessern.

Sie visitierten die Schänken und verlassenen Gehöfte und ließen ihre Augen allenthalben umherschweifen. Doch nach kurzer Zeit schon ließ ihre Aufmerksamkeit nach und sie kehrten gern in den Trott der Langeweile ihres täglichen Dienstes zurück.

*

Als George Écu sich kurz vor Cussy von seinen neuen Freunden verabschiedet hatte, war er gerade auf den Ort zugegangen, während Reinhart und Marie-Anne im Bogen ihn umgingen. Es war bald Mittag, als sich der Himmel mit schweren Wolken bedeckte. Ein scharfer Wind blies aus Osten.

Besorgt sah Reinhart auf Marie-Anne. Die Kälte nahm zu und ihr Reisekleid war kein genügender Schutz dagegen. Auch ihre Schuhe schienen für eine lange Wanderung im Schnee nicht geeignet zu sein. Und die Bahnstation war noch viele Stunden weit.

Für sich selbst hatte er keine Sorge, er konnte jeden Grad Kälte ertragen. Wenn nur Marie-Anne nicht krank würde.

Sie näherten sich Lucenay, wenigstens konnten sie es von der Waldhöhe, auf der sie marschierten, in einer Talsenke liegen sehen.

Der nächste Ort war Igornay, der wieder hoch und inmitten dichter Wälder gelegen war. Von da ab führte ein ziemlich gerader Weg bergab zur Eisenbahn.

Reinhart hatte einen guten Überblick über die Straßen, die er noch wandern mußte. Die Umwege, dazu die endlos im Zickzack durch die Wälder laufenden Pfade, brachten sie nur langsam vorwärts.

Jetzt sah er das erste Ziel in der Ferne und neuer Mut belebte ihn. Ob er es noch vor Anbruch der Nacht erreichen würde?

Da gab's wieder einen Aufenthalt von einer halben Stunde: Der Körper verlangte sein Recht, es mußte Mittag gegessen werden. Abseits vom Wege, unter jungen Fichten, wurde gerastet.

Als sie aus dem grünen Versteck kamen, trieb der Ostwind starke Schneemassen vor sich her, so daß im Nu die Straßen unter Schnee verschwanden. Schwer war's, sich zu orientieren. Die dunkeln Linien der Wälder allein wiesen jetzt die Richtung.

Menschen begegneten sie kaum. Wurde einer von fern sichtbar, bogen sie tief in den Wald ab, um erst auf einem Umwege ihre Route wieder aufzunehmen.

Sie hatten, ganz benommen von der Kälte und dem Schneetreiben, mit einemmal wahrgenommen, daß sie auf einer weiten Fläche gingen. Der Wald, ihr Begleiter und Schützer, dem sie sich bisher anvertraut hatten, lag in einer Entfernung von ihnen. Sie gingen mitten über Felder, allen sichtbar.

»Wir müssen wieder zurück. Das kostet eine Viertelstunde. Bei diesem Hundewetter können wir's wohl wagen, am Waldrande nach Igornay zu gehen, da werden wir kaum jemandem begegnen. Zudem dunkelt's bereits, der Abend ist bald da. Haben wir erst das Nest hinter uns, wollen wir Dauerlauf versuchen. Der Weg führt bergab, das macht das Laufen erklärlich, nicht?«

Marie-Anne war einverstanden, sie fror, und ihre Füße schien sie vor Kälte kaum noch zu fühlen. Nur weiter, nur fort aus diesem Unwetter, das ihr den Atem abzuschnüren schien.

Der Weg bog jetzt nach rechts ab, das Schneetreiben ward hier nicht so arg empfunden. Doch machte das Ausschreiten Mühe, da sich der Schnee an ihre Sohlen heftete.

Marie-Anne ging hinter Reinhart. Sie war dadurch ein wenig vor Wind und Schnee geschützt; auch das Gehen wurde ihr leichter, da sie in seinen Fußstapfen ging. Sie setzte mechanisch die Füße. Und auch Reinhart fühlte sich sicher und geborgen. Er sah nicht auf den Weg. Es hätte auch nicht viel genutzt, Ausschau zu halten, da der Schnee ihm die Augen verschloß. Keine zehn Meter weit war ein Baum zu erkennen.

Plötzlich rannte Marie-Anne auf Reinhart auf, der unvermutet stehen geblieben war.

In einem kleinen Einschnitt des Waldes, eng an die jungen Tannen geschmiegt, stand ein Pferd und ein Mann saß darauf. Roß und Reiter waren mit Schnee überschüttet, so daß man an einen Weihnachtsspuk geglaubt hätte, wäre das Pferd nicht aus der Einengung heraus auf den Weg geschritten und hätte sich breit vor die Flüchtlinge gestellt.

Reinhart, auf den das Plötzliche der Erscheinung des Reiters einen Schrecken ausgeübt hatte, war in dem Augenblick wieder Herr seiner selbst, als er das Kritische der Lage übersah.

Dem Gendarm, dem die Plempe zur Seite hing und aus dessen Ledergurt ein Revolver protzig lugte, konnten sie nicht entrinnen. Rückwärts gab's kein Entlaufen, er hätte sie niedergeritten oder erschossen. An ihm konnten sie nicht vorbei, er sperrte mit dem Gaul die Breite des Weges. Der Weg, den Abhang hinunter, ins Tal, hätte sie den Dörflern in die Arme getrieben, die ihm zweifellos Beistand geleistet hätten, wenn er sie zur Hilfe aufgerufen hätte. Demnach war der Angriff die beste Verteidigung.

Marie-Anne kam ihm zuvor.

Sie ging unbefangen auf das Pferd zu, faßte es am Zügel und sagte in lachendem Tone:

»Guten Abend, Herr Gendarm. Ein Glas Glühwein in der warmen Stube ist besser, als solch ein Wetter.«

Da dem Mann auf dem Pferde der Mund zugefroren schien, rief sie:

»Komm, Schatz, der Gaul ist fromm, er schlägt nicht.«

Reinhart folgte der Aufforderung und kam an Marie-Annes Seite, so daß sie jetzt das Schneetreiben im Rücken hatten, während der Polizeimensch es ins Gesicht bekam.

Das war der Vorteil des klugen Stellungswechsels.

Mit einem »Gute Nacht, mein Herr«, waren sie im Begriff, sich davon zu machen, als ihnen ein: »Halloh, ihr da, hiergeblieben oder ich schieße«, in die Glieder fuhr.

Er war ihnen zwei Schritte nachgeritten, hatte den Revolver aus dem Leder genommen und entsichert. Erst nach einer Weile schob er ihn wieder ins Etui.

»Halloh, Herr Kommissar,« rief nun Marie-Anne, »was fällt Ihnen ein, was soll das heißen, friedliche Leute anzufallen und zu bedrohen?«

»Sie werden die Antwort erhalten, sobald ich weiß, mit wem ich's zu tun habe.«

»Das ist Ihr Recht und unsere Pflicht kennen wir. Das sagt man aber in gesitteter, höflicher Weise, verstehen Sie?«

»Ob ich das verstehe oder ob ich höflich bin, das zu beurteilen überlassen Sie mir. Sie können ja über mich Beschwerde führen, Sie nette Kleine mit dem losen Mund.«

Da polterte Reinhart dazwischen.

»Ich verbitte mir jede Flegelei und jede Beleidigung meiner Braut, sonst werden Sie's mit mir zu tun kriegen, aber gleich.«

Er tat einen Schritt auf den Reiter zu.

Doch Marie-Anne zog ihn am Arm zurück.

»Laß den Menschen gehen, woher soll er wissen, wie er mit Damen zu sprechen hat.«

»Das will ich Ihnen schon noch zeigen«, schnarrte der von seinem Pferde herab. Er strich sich den Schnurrbart vom Schnee frei und aus dem Gesicht, so daß man die hämische Fratze, die sicherlich im afrikanischen Dienst alle Laster eingesogen hatte, mit heftigem Widerwillen sehen konnte.

»Dazu werden Sie keine Gelegenheit und wir keine Zeit mehr haben. Wir lehnen auch jegliche Unterhaltung mit einem Beamten ab, der eine simple Frage mit der Pistole in der Hand erzwingen will. Das tut ein Wegelagerer.«

»Nun ist's genug«, brüllte der Gendarm. »Legitimieren Sie sich sofort oder – –.«

»Was oder? Wollen Sie immer noch schießen? Tun Sie's, wenn Sie dürfen.«

Und Marie-Anne trat dicht an den Gaul heran.

Um die Unterhaltung in eine ruhigere Bahn zu leiten, sagte Reinhart: »Was soll das alles heißen? Wir sind hier nicht auf einem Pariser Boulevard, auch gibt es keinen Sonnenschein, der uns veranlassen könnte uns länger hier aufzuhalten als nötig ist.

Hier, Herr Kommissar, sind unsere Pässe, die Sie einzusehen wünschen. Wir wollen Sie nicht länger aufhalten.«

Soweit war Rede und Abwehr ganz gut. Und wenn das schauerliche Schneegestöber nicht gewesen wäre, hätte sie der Gendarm vielleicht laufen lassen, wenn ihn nicht die Fangprämie gereizt hätte, die er zu verdienen hoffte.

Noch mehr aber reizte ihn die Person Marie-Annes, die er als Freibeuter gewaltsam zu gewinnen hoffte.

Wie aber ließen sich beide Ziele für ihn vereinigen? Er überlegte und konnte sich so schnell für keinen Plan entscheiden, der in seinem schwarzen Herzen auftauchte.

Er hielt die ihm überreichten Papiere in der Hand, tat, als lese er darin, obgleich die Dunkelheit keinen Buchstaben erkennen ließ. Dann schob er sie in seine Manteltasche.

»Gut also. Wir werden sehen, wenn wir in Autun sind. Wir müssen zur Gendarmeriewache. Ein paar Tage werden wir Sie bei uns einquartieren, bis die Antworten zurück sind. Ist alles richtig, was in den Pässen steht, sind Sie frei, und wir haben Sie als höfliche Leute um Entschuldigung wegen des Aufenthalts zu bitten. Das ist alles.«

»Um so besser, dann kommen wir endlich in warmes Quartier«, sagte Marie-Anne aufgeräumt.

»Wie weit ist's noch, Herr Kommissar, bis zu Ihrer Wache?

»Ja, mein schönes Kind, das hängt ganz davon ab, ob wir gehen oder reiten. Würde der Musjöh hier sich allein hinfinden – wenn man ihm trauen könnte – brauchte er etwa zwei Stunden. Während wir – wollten Sie bei mir hinten aufsitzen – in vierzig Minuten dort wären.«

Er war nach diesen sonderbaren Worten vom Pferde gesprungen, hatte sich Marie-Anne genähert und leise zu ihr gesprochen: »Wenn Sie mir ein wenig gut sein könnten, würde ich Sie laufen lassen, auf Ehrenwort. Und Ihrem Begleiter will ich nichts tun, wenn er mir nicht feindselig begegnet. Was sagen Sie zu meinem Vorschlag?«

»Ich sage, daß Sie ein nichtswürdiger Schuft sind, dem ich ins Gesicht schlagen würde, wenn – –.«

»Schweigen Sie«, schrie der Kerl, »oder Sie bereuen jedes weitere Wort.«

Er schwang sich aufs Pferd und ersuchte Reinhart zu ihm zu treten.

»Ihre rechte Hand.«

»Was wollen Sie damit?«

»Sie sollen mir Ihre Hand geben.«

Reinhart reichte sie ihm. Blitzschnell warf der Gendarm eine Schlinge darum und zog sie fest.

»So, Ihrer bin ich nun sicher. Ich könnte die Fessel nun an den Sattel binden und dem Pferd die Sporen geben. Sie würden sich etwas warm laufen und außer Atem kommen. Ich muß aber davon absehen, weil ich das kleine Fräulein noch zu transportieren und Rücksicht auf ihre Konstitution zu nehmen habe.«

»Auf mich nehmen Sie nur keine Rücksicht. Ich bin auch außerstande zu laufen, meine Füße schmerzen. Ich bleibe, wo ich bin. Oder Sie schaffen mir einen Wagen.«

»Ich denke«, sprach der Kommissar plötzlich in einem andern Tone, »wir haben nun genug gescherzt und uns Grobheiten genug gesagt. Alles nur Scherze, natürlich«, wiederholte er mit Betonung, um sich gegen etwaige Anklagen zu salvieren.

»Nun wollen wir uns im Ernst verständigen. Hören Sie gut zu. Sie folgen mir zur Wache, ohne sich zu widersetzen. Ich verspreche, die Fessel dem Herrn nicht mehr anzuziehen, als nötig ist, damit er mir nicht entwischt. Auch will ich nicht im Galopp reiten. Das Fräulein sitzt hinter mir auf. Vielleicht werden wir noch gute Freunde.«

»Einverstanden«, sprach Reinhart. »Wenn Sie so reden, ist eine Verständigung nicht völlig ausgeschlossen. Trotzdem sind Sie unser Feind. Noch mehr, unser Todfeind, dem ich am liebsten die Augen auskratzen möchte.«

»Weil ich Sie zu einem Verhör führe?«

»Nein, in Gefangenschaft, Herr. Sie berauben uns unserer Freiheit. Wer das tut, ist unser Feind, den wir beseitigen müssen, wenn es möglich ist.«

»Wenn es möglich ist, ja, ja«, wiederholte er lässig.

Reinhart hob Marie-Anne jetzt aufs Pferd, da der Gendarm drängte.

»Halten Sie sich an mir fest, je fester, um so besser«, setzte er scherzend hinzu.

»Wenn es Ihnen nur nicht noch lästig wird.«

»Keineswegs, ich bin ein galanter Mann.«

»Dann werde ich mich an Ihre Schultern anklammern.«

»Auch an meinem Halse, wenn's beliebt. Von so zarten Händen – –.«

»Wünschen Sie sich das nicht, ich führe eine feste Hand.«

Der Trupp setzte sich in Bewegung. Reinhart ging links vom Pferde. Seine Rechte war an langem Lederriemen gefesselt, jedoch so lose, daß er sie völlig frei nach oben und unten bewegen konnte.

Der Schneefall schien eher stärker zu werden.

»Wir biegen in den Wald hier ein, – er zeigte auf eine Schneise – dadurch schneiden wir ein gut Stück des Weges ab.«

Es war völlig finster geworden, nur der Schnee leuchtete und warf seine bleichen Reflexe auf die nachtschwarzen Bäume. Schweigen herrschte ringsum. Nur der Wind heulte durch die Wipfel.

Das Pferd tat einen Satz. Marie-Anne rief erschreckt: »Bald wär' ich heruntergefallen«, sie winkte dabei Reinhart bedeutungsvoll mit dem Kopfe.

Er seinerseits nickte ihr zu und hob seine Hand zum Zeichen, daß er sie verstanden hätte.

Jetzt oder nie war der Moment ihrer Befreiung gekommen. Sie preßte plötzlich ihre Hände vor die Augen des Gendarmen.

»O, meine Liebe, nicht so kräftig, ich verstehe und – o, das schmerzt ja – ich merke, Sie haben sich besonnen – Sakrebleu, lassen Sie los oder –.«

Marie-Anne hatte mit aller ihr zu Gebote stehenden Kraft auf die Augen des Feindes gedrückt. Als er unter Schmerzen aufschrie und sie durch eine heftige Bewegung vom Gaul stieß, hatte sich gleichzeitig auch Reinhart losgerissen. Da der Gendarm die Fessel um seine eigene Hand gewickelt hatte, wurde er durch den heftigen Ruck vom Pferde heruntergerissen, hing aber noch mit einem Fuße im Steigbügel.

Die Augen tränten und schmerzten, der Wind trieb ihm die Schneekristalle unaufhörlich hinein, sobald er sie öffnete.

»Hunde,« schrie er, »ich ermorde euch, elendes Pack.«

»Ein Schuß erschütterte die Stille, ein zweiter – er hatte geschossen und sein Pferd getroffen, das zusammenbrach. Dann versuchte er, sich zu erheben, torkelte aber, seiner Augen nicht mächtig und schoß drauf los, wo er Reinhart und Marie-Anne vermutete.

Da schlug Reinhart ihm wuchtig auf die Hand, daß zwar noch ein Schuß losging, die Waffe aber in den Schnee fiel.

Dann ließ er seinen Knüppel auf ihn niederfallen, erbarmungslos, bis der Menschenjäger betäubt hinfiel.

Dem armen Gaul gab Reinhart den Gnadenschuß, dann warf er die Waffe fort.

Es wäre leicht gewesen, den Gendarmen zu töten, – ein Franzose hätte das sicher getan.

Reinhart wollte ihn nur zur Verfolgung unschädlich machen. Zu dem Zweck band er ihm die Hände auf den Rücken und fesselte ihm die Füße, so daß er für die nächsten Stunden an den Platz im Walde gebannt war. Er war warm bekleidet, der fallende Schnee gab eine warme Decke; es konnte ihm nicht viel passieren. Vielleicht blieb ihm ein tüchtiger Schnupfen zur Erinnerung an die Begegnung im Walde.

Die Pässe fand er in der Manteltasche. Er nahm sie an sich. Vielleicht konnten sie ihnen noch von Nutzen sein.

Nun fort! Zurück auf den Pfad, der sie, am Walde entlang, hierher geführt hatte.

Dann jagten sie bergab, als wären die Erynnien hinter ihnen her. Reinhart immer weit voraus, Marie-Anne keuchte langsam nach.

So konnte das nicht weiter gehen, das war klar. Oder ihre Gesundheit nahm ernsthaft Schaden.

Ratlos sah er sich um, ob nicht ein Wagen, ein Schlitten für sie aufzutreiben wäre. Ringsum kein lebendes Wesen, kein Laut. Nur Schnee, tiefer Schnee. Und mehr, immer mehr rieselte es schier endlos vom Himmel, als sollte die sündige Erde unter dem Leichentuch begraben werden.

Als Marie-Anne herangekommen war, nahm er sie in die Arme, legte ihr mattes Köpfchen an seine Brust und sprach:

»Armes, liebes Kind, wie matt du bist. Hier, nimm und trink, der Wein wird dich beleben und stärken. Daß wir in all der Aufregung nicht daran gedacht haben. Nicht wahr, er wärmt auch gut? Siehst du. Und das iß, während ich dich trage. Bitte, widersprich nicht. Glaub', es ist am besten so. Wir kommen auch am raschesten weiter.«

Er kauerte nieder, Marie-Anne legte die Arme um seinen Hals, dann trug er sie Huckepack, wie man ein Kind auf dem Rücken zu tragen pflegt, und rannte, fröhlich wie ein Kind, den hügeligen Weg zu Tal.

Und schneller, immer schneller ging's, bis er mit einem Male durch den tiefen Schnee der Dorfstraße stapfte. Waren sie in Igornay oder schon aus der Ortschaft heraus? Ein Hund, der aus einem Hause stürmte und sie bellend anfiel, konnte es ihnen nicht sagen. Aber ein Stück weiterhin stand ein Schlitten und ein Mensch stand davor, und als beide jetzt darauf zu rannten, sahen sie eine Pelzmütze mitten im Schlitten, von Schnee überschüttet. Und daß zur Pelzmütze ein Kopf gehörte, merkten sie jetzt erst, als sie, schweratmend vom raschen Laufen, am Schlitten standen und den Besitzer des Kopfes und der Mütze anstaunten und anlachten, obgleich ihnen im Herzen kaum danach zumute war.

Denn hinter ihnen drohte das Verhängnis in Gestalt des Gendarmen. Wenn er aus seiner Ohnmacht erwacht und der Fesseln sich entledigt hat, – denn allzu fest konnten sie in der Eile nicht angebracht werden – dann war ihr Schicksal besiegelt. Telegramm und Telephon würden sie einholen, trotz allen Vorsprungs.

»Sieh da,« hörte Reinhart ein dünnes Stimmchen sagen, »hat das hübsche Frauchen noch keinen Arzt im Schnee gesehen? Habe Eile, Madam. Wenn Sie mit nach Autun wollen, steigen Sie rasch ein.«

»Gern, sehr gern, Herr Doktor. Aber der da –.«

»Ah, Ihr Gemahl, der kann beim Kutscher stehen. Pierre, alles fertig? Dann fix drauf, der Gaul soll laufen.«

War das nicht die lebendig-gütige Vorsehung, die ihnen einen Wink gab?

Lustig sauste der Schlitten zu Tal, während Marie-Annes Lachen und Plaudern wie Himmelsmusik klang, als Reinhart auf einer Kufe beim Kutscher angeklammert stand und die Stadt näherkommen sah.

Wird sich hier schon ihr Schicksal entscheiden? War der Gefesselte schon seiner Bande frei?

O, nur jetzt keine Rückkehr ins Gefängnis, das wäre sicherer Tod. Jetzt, wo die Freiheit nahe, fast gewonnen ist. Und was würde aus ihr werden, die er noch mehr als die Freiheit, als das Leben liebte, aus Marie-Anne?

Der Schlitten fuhr durch Straßen, die beleuchtet waren, in denen Fuhrwerke fuhren, geschäftige Menschen gingen. War das wieder ein Stück der Kultur, die er seit langem nicht mehr kannte?

Das da waren Poilus, französische Infanteristen, was taten die hier? Auf der Suche nach ihm, fuhr es ihm durch den Sinn, und er erschrak und wandte den Blick, als ob er sich damit von ihnen entfernen und ihnen entgehen könnte.

Und er redete sich ein, dem Kutscher käm' er verdächtig vor, er hätte ihm mehrmals von der Seite Blicke zugeworfen. Der Schlitten fuhr auch langsamer. Das hatte doch einen Grund – –.

Gewiß hatte es den, aber nicht den schlimmen, der in Reinharts Hirn bohrte. Eben wollte er Marie-Anne seinen Verdacht mitteilen, als er sie rufen hörte:

»Mein Freund, wir sind am Bahnhof, danke dem Herrn Doktor. Ich habe bereits gedankt.«

Welch Glücksgefühl. Nun waren sie am Platz, am Bahnhof. Er drückte sich in eine Ecke, an der Kasse war ein Polizist, und schon brachte die Holde, Mutige zwei Fahrkarten bis Genf. Endlich.

Der alte Herr an der Kasse hatte ihr gesagt: in Chalons sur Saone müßte sie umsteigen, Paßrevision sei unterwegs.

Wo, habe sie gefragt. Das wüßte niemand als der Kontrolleur, hätte er geantwortet und gelächelt.

Ganz recht, hatte sie mechanisch geantwortet und dann einem Polizeimenschen Platz gemacht, der mit dem Kassierer noch eifrig sprach.

Vielleicht sprachen die beiden von gleichgültigen Dingen, vielleicht. Vielleicht kam ihnen das Pärchen verdächtig vor. O, das alte Wort: wer Butter auf dem Kopfe trägt, fürchtet die Sonne.

»Komm, komm, – vielleicht ist der Zug schon da? Vielleicht können wir schon Platz nehmen?«

Ach, dieses Vielleicht, diese Ungewißheit, die zur nagenden Sorge wird und wächst und keinen ruhigen Herzschlag zuläßt und keinen freien, tiefen Atemzug.

Unruhig trippelten sie durch die Bahnhofshalle, dann zurück auf die Straße, um endlich im überfüllten Wartesaal Platz zu nehmen. Reinhart zog die Mütze tief über sein verdachterregendes Blondhaar und – stellte sich schlafend, während ihre schönen Augen wachten.

Doch endlich war auch der Zug da. Und das nervenzermarternde Opfer an Geduld hatte ein Ende.

Sie saßen im Zug, doch nicht beieinander. Sie taten fremd zueinander, um nicht aufzufallen. Reinhart markierte wieder den Schlafenden und nun rollten sie auf freier Strecke.

Ihre Sorgen wuchsen jedoch, als sie die Reden der Mitfahrenden vernahmen.

Die Strecke soll nicht frei sein, wer weiß, ob sie bis Chegny kommen würden.

Und Chalon? Das scheint ausgeschlossen. Man denke an die Schneemassen.

Aber überall wären doch Menschen, die die Hindernisse fortschaffen könnten, meinte einer.

O, lala, dieser Optimismus. Wir sind doch in Frankreich, im Frankreich der Rentiers, der Faulenzer.

Da lachten viele.

Es ist so in allem Ernst. Bei uns in Frankreich gibt's so viele Nichtstuer, wie nirgend sonst in der Welt. Diese Nichtstuerei haben sie zu einem Beruf gestempelt. Sie lachen noch immer?

Alle lachten. Und einer fragte lachend, ob am Ende die Nichtstuer den Krieg angefangen hätten?

Dann kam das traurige Thema an die Reihe. Da war's mit allem Lachen vorbei. Die Meinungen platzten scharf aufeinander, sie stritten, ereiferten sich, zankten, wurden grob, schließlich bedrohten sie sich und dann schwiegen alle, um von neuem den Streit zu beginnen.

Doch die Zeit verging und die Kontrolleure schienen das Unwetter und die Kälte zu scheuen, es verlangte niemand nach einem Paß.

In Chalon kam der Zug mit starker Verspätung an. Die Sorge um den Anschluß nach Genf hatte alle Reisenden erfaßt. Aber der französische Schlendrian hatte unbeabsichtigt einen Ausgleich geschaffen. Der Zug nach Genf war noch nicht fort, weil das Zugpersonal noch vergnügt zechend beisammen saß – –.

Um Mitternacht war man zur Abfahrt bereit. Doch da fehlte noch der Kontrolleur, den der Inspektor noch einmal aus dem Wagen geholt hatte. Er war mit ihm zum Polizeibureau gegangen.

Es verging noch eine endlos währende Viertelstunde bis die Beamten zurückkamen und der Zug losgelassen werden konnte.

Man erging sich in Vermutungen. Der Kontrolleur, ach was, mit dem würde man reden. Heutzutage nehme jeder Geld. Gar in Frankreich. Wären da nicht fast alle Beamten bestechlich? Nur ruhig Blut.

Aber da die Polizei mitspricht –.

Nimmt die etwa nichts? Die erst recht.

Doch da muß ein Kapitalverbrechen passiert sein, wenn die sich bemüht – –.

Ah bah, man wird ja sehen – –.

So gingen die Reden und einer musterte im stillen den andern, ob er ihm etwa einen Mord oder die Defraudation einer Riesensumme zutrauen könne.

Der Zug hatte durchgehende Wagen. Man musterte bei dem flackernden, schwachen Schein der Wagenlampe jeden, der im Gang ging oder stehen blieb.

Eine Weile unterhielten sich die vom Zufall zusammengeführten Menschen damit. Dann ließ sich der Schaffner die Fahrkarten zeigen und dann begannen etliche sich zum Schlummer zurechtzusetzen.

Der Zug eilte durch die Nacht und vom Geratter eingewiegt, begannen die meisten einzuschlafen.

Im Gang draußen stand einer, der unablässig in das Abteil sah. Marie-Anne hatte George Écu erkannt. Er legte einen Finger an seinen Mund. Das hieß, sie solle schweigen. Zu ihm gesellte sich noch ein älterer Mann. Sie sprachen miteinander.

Dann hielt der Zug in Boury fünf Minuten. Nun winkte er ihr und machte sie mit dem Alten bekannt.

Und sie gab Reinhart ein Zeichen. Sobald der Zug wieder in Bewegung war, verließ auch er seinen Sitz und folgte George.

»Sobald der Zug hält, rasch hinaus. Wir bleiben solange hier.« Er öffnete die Tür zum Toilettenraum.

»Und meine –.«

»Die bringt unser Freund zur Station.«

Und in aller Geschwindigkeit erzählte ihm George, daß der Aufenthalt in Chalon durch ein Telegramm der Polizei hervorgerufen war. Der stark bezechte Kontrolleur habe es den Bahnbeamten erzählt. Und sein alter Freund hätte es ihm gleich gesteckt. Man hätte einen Gendarm überfallen und geknebelt, sein Pferd erschossen. Er hätte einer Übermacht weichen müssen.

Er hätte ihn und Madam längst bemerkt, doch sich jetzt erst gezeigt, wo er vielleicht nützen könne. Er brauche keine Angst zu haben.

Der Alte sei ein Verwandter von ihm, ein Onkel, mit dessen Hilfe er hier sei. In La Cluse müßten sie aus dem Zuge, denn schon in der nächsten Station würde revidiert.

»Da – hören Sie – die Bremsen?«

Der Zug hielt. George war mit einem Satze in der Dunkelheit untergetaucht. Reinhart folgte ihm. Und der Zug rollte weiter. Zuletzt sah er noch die roten Lichter der Laternen.

Ein leiser Pfiff – und zu den beiden traten ein Mann und – Marie-Anne. Reinhart atmete auf, als sie wieder beieinander waren.

Die vier tappten nicht zum Ausgang, sondern zur entgegengesetzten Seite des Bahnhofs. Der Fremde führte.

Der Zaun war leicht passiert. Wer weiß, seit wie langer Zeit die Latten darin fehlten.

Durch tiefen Schnee ging's eine steile Böschung hinauf, dann auf einer verschneiten Fahrstraße, die anstieg, wohl ein paar Stunden lang, bis sie vor einem kleinen Häuschen hielten. Der Führer klopfte. Dann tat sich die Tür für die Freiheitsucher auf. Aber waren sie schon aus aller Gefahr?

*

Wie die Toten hätten sie geschlafen, versicherten Reinhart und Marie-Anne, als sie andern Tags um die Mittagszeit beim Frühstück saßen.

Mit ihren freundlichen Wirten waren sie allein, denn George Écu, ihr Freund und Helfer, war bereits auf und davon. Er hatte Aussicht in einer Fabrik anzukommen, er müsse aber noch vor Weihnacht zur Stelle sein. Die Nachricht besiegelte seine Freude über die gelungene Desertion.

»Du nennst ihn Deserteur?« fragte zweifelnd Marie-Anne.

»Wie soll ich ihn sonst nennen? Uns hat er freundlich genützt, wir bleiben ihm dankbar verpflichtet. Wir haben auch kein Recht, ihn zur Rede zu stellen. Das sollen seine Landsleute tun, seine vorgesetzte Behörde.

Die Gründe für seine Fahnenflucht darf ich als ehrenhafter Mann nicht billigen. Wenn die zur Verteidigung ihres Vaterlandes bestimmten Männer sich erst das Recht anmaßen wollen, selbst zu bestimmen, ob ihre Anwesenheit an der Front erwünscht sei oder nicht, dann bricht eben alles zusammen. Dann fluten die Feinde über die Grenzen, morden, rauben und verwüsten alles und vernichten alle Errungenschaften der Kultur. Dann ist der Urzustand der Natur wieder da, wo nichts Schutz findet, nichts mehr heilig ist, jede Gesittung in Blut ertränkt wird.

Gründe, ja, Gründe, um zuhause zu bleiben, Gründe zur Fahnenflucht wird so ein Mensch stets zur Hand haben. Hier will er sich seiner Mutter erhalten, dort dem Vater, der Frau, den Kindern zuliebe und so fort.

Sein Vaterland muß er über alles lieben, und es bis zum letzten Blutstropfen verteidigen. Denn damit verteidigt er den heimischen Herd, an dem seine Lieben, voll Vertrauen auf seinen Schutz, seiner siegreichen Heimkehr warten.

Der Fahne hatte er sich angelobt und einen Eid darauf geleistet, ihr treu zu bleiben. Bricht er den Eid, flieht er die Fahne, nennt ihn jeder Deserteur, schimpft ihn Lump und ehrlos.

Auf Fahnenflucht steht der Tod – –.«

»Das wird«, fiel hier der Wirt ein, »wohl auch der Grund sein, weshalb er sich schon nach kurzer Rast auf die Socken gemacht hat. Denn seitdem Krieg ist, wimmeln überall französische Agenten längs der Grenzen, um Fahnenflüchtige aufzugreifen –.«

»Hier in der Schweiz?«

»Es ist, wie ich sage. Wo kein Kläger, ist kein Richter. Was kann einer gegen drei oder mehr? Sie schleppen ihn nach Frankreich zurück oder – falls er sich widersetzt – knallen sie ihn nieder. Darauf muß jeder, der den Schritt tut, gefaßt sein.

Drum wär's am besten, Sie mieden den Tag und marschierten bei Nacht, da Sie, mein Herr, wie ich hörte, nicht viel Wert darauf legen, mit den Franzosen zusammen zu treffen.«

»Wir besitzen aber Pässe, Einreisepässe in die Schweiz«, warf Marie-Anne etwas pikiert dazwischen, »wir möchten mit einem Deserteur wirklich nicht in einen Topf geworfen werden.«

»Geschieht auch nicht, Madam, wirklich nicht. Ich sagte es nur, um Sie zur Vorsicht zu mahnen. Ich stehe übrigens ganz auf Ihrer Seite. Wer die Fahne verläßt, ist ein Lump, der verrät sein Vaterland. Mit dem wollen ehrliche Leute nichts zu tun haben. Das war und wird, solange die Welt stehen und es Wahrheit, Treue und Recht geben wird, immer die Meinung aller ehrlich Denkenden sein. Basta.

Und damit Sie auch wissen, wie ich zum alten Écu stehe, dem Onkel des jungen George, so will ich Ihnen sagen: Der alte Écu hat mir einst mal einen großen Dienst erwiesen, ohne daß ich Gelegenheit fand, ihm meine Dankbarkeit beweisen zu können.

Er blieb drüben, ich fand hier auf Schweizer Boden einen Posten, der mir gefällt. Ich bin Wegebau-Aufseher, habe meine kleine Hütte, unter deren Dach Sie gut geschlafen haben und möchte mit keinem Fürsten tauschen.

Nun kam eines Tages Écu senior und erinnerte mich an meine Dankesschuld. Da konnte ich nicht anders und versprach, den kleinen Liebesdienst dem Neffen zu erweisen.

Jeder trägt seinen Kopf zum Markt. Mag jeder sehen, daß er nicht strauchle und falle.«

*

Ein strahlend blauer Himmel, eine warme Sonne und die friedlich-bläuliche Wasserfläche des Genfer Sees. Kein scharfer, kalter Wind, frisch, doch lau die Luft.

Und Weihnacht vor der Tür und Freiheit und Glück im Herzen. Aus den Augen glühte die Freude, die Freude an der herrlichen Natur, am Leben überhaupt.

So kamen sie endlich vom Rhonetal zum alten Schloß Chillon, in dessen Felsenkerker einst Männer nach Freiheit gelechzt hatten.

Und dann ein Stück nach Glion hinauf, zu dem rebenumwachsenen Hause, in dem der Friede zu wohnen schien.

Auf der Terrasse saß eine alte Dame in der Sonne. Im Dezember? O gewiß, hier war die Zeit, wo schon die Veilchen blühen.

Marie-Anne eilte voraus und im Nu hing sie an ihrem Halse und erzählte und weinte und die Tante half ihr treulich dabei und so lange, bis dem müden, hungrigen Reinhart es endlich einfiel, die Treppe hinauf zu steigen und »Guten Tag« zu sagen.

Der neue Neffe wurde voll Herzlichkeit begrüßt, und die Sonne war längst untergegangen und noch immer saßen die drei Menschen traulich beieinander und freuten sich ihres Lebens, ihrer Freiheit, ihres Glückes.

Eine Nachricht ging an Mutter Gérard ab, daß alles gut wäre und sie bei der Tante wohne.

Nach Neujahr fuhren die drei nach Bern. Dort hatte Reinhart beim deutschen Gesandten zu tun. Es gab auch noch für die beiden Frauen Besorgungen in Kleider- und Wäschemagazinen genug.

Nach zwei Monaten kam ein Brief aus Frankreich mit der Mitteilung: sie habe das Gut in Semilly an den Vetter Lorrain für 400 000 Frank verkauft. »Er hat es etwas reichlich bezahlt, er hat ja auch reichlich viel in der Kriegszeit verdient«, setzte sie sarkastisch hinzu. »Was soll ich mit all dem Geld? Zunächst hat es die Genfer Bank, Rue du Commerce 4, auf meinen Namen übernommen. Ich will es aber lieber auf Deinen Namen, meine liebe Tochter, übertragen lassen und zu dem Zwecke nach Genf kommen.

Wollt Ihr mich dann bei Euch behalten, so werdet Ihr die größte Freude bereiten Eurer Euch liebenden Mutter – – –.«

Frühlings Anfang gab's eine stille Hochzeit, Reinhart und Marie-Anne von Frundsberg hatten sich ehelich verbunden.

Seinen Urlaub hatte die deutsche Militärbehörde bis Mitte April verlängert. Dann trat er bei seinem Regiment wieder ein. Diesmal kam er nach Rußland.

Nach einer schweren Verwundung im Nahkampf schied er von der Kampffront ganz aus. Auf Umwegen kam er nach der Schweiz, wo er von seinen Lieben gesund gepflegt wurde.

Als Halbinvalide humpelt er durch den Garten seines Hauses und denkt oft an die schlimmen Zeiten der Vergangenheit, in der er so hart um Freiheit und Leben gekämpft hat.

 

* * *

 

 

Gedruckt bei A. W. Hahn's Erben, Potsdam.

 


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