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Das Haus des Bauern Gérard war das einzige im Dorf Semilly, das man von der Straße aus kaum bemerkte. Alte Lindenbäume standen wie ernste Riesen davor, die Wache hielten.

Die nüchterne Fassade hatte, wie alle französischen Bauernhäuser, keine Fenster nach der Straße, der Fenstersteuer wegen. Fenster waren nur an der Hinterfront, die auf den geräumigen Hof mit seinen Ställen und der Scheune ging.

Rechts lehnte sich eine hohe Mauer ans Haus, mit einem großen Tor, das sich nur für Pferd und Wagen auftat.

Wer ins Haus wollte, mußte die Tür an der linken Hausseite benutzen, einen anderen Zugang gab's von der Straße nicht. Hier bildete dichtes, hügelartig aufstrebendes Strauchwerk eine den Dachfirst überragende Grenzmauer.

Der große Hof war, im Gegensatz zu andern Bauernhöfen, sauber gehalten, trotz dem unvermeidlichen Misthaufen, den man, seit Marie-Anne Gérard wieder im Hause war, dicht bei den Ställen placiert hatte. Den vorderen Teil des Hofes hatte dann ihre Geschicklichkeit in einen kleinen Blumengarten umgewandelt, der sich von den wildaufstrebenden Büschen bis unter die Fenster des Hauses ausbreitete.

Marie-Anne stand an einem heißen Septembertag hoch oben, inmitten der Sträucher. Nur ihr schöner Kopf, aus dem ein paar prachtvoll-dunkle Augen ernst in die Welt blickten, war im Goldglanz der Sonne zu sehen. Hummeln umschwirrten sie und bunte Falter. Sie schien sie nicht zu sehen, ebensowenig wie die Blumenfülle, die sie umgab.

Wer das erstemal den mit Sträuchern und Blumen bedeckten Hügel sah, wunderte sich darüber, daß mitten im Gehöft dieser kleine Berg stand, in einer so völlig ebenen Gegend. Wer sich aber diesen »Hügel« genauer ansah, entdeckte die Überreste von Mauern eines vor länger als einem Jahrhundert zerstörten Schlosses. Die Trümmer waren nach und nach von Schutt und Erdreich bedeckt worden. Das übrige tat der Wind. Er hatte Gras- und Blumensamen hergetragen, und im Sommer blühte neues Leben aus den Ruinen. Blaßblaue Glockenblumen, rote Steinnelken, kleine Gänseblümchen, goldgelbe Butterblumen, duftender Thymian, feingliedrige Rispen und vor allem saftiggrünes Gras bildeten einen bunten Teppich, unter dem seit langer, langer Zeit erstorbenes Glück und sicherlich auch großes Leid begraben lagen. Einer der Vorbesitzer hatte dann den »Hügel« mit Beeren und Ziersträuchern bepflanzt, die dann verwildert waren und bis zum Gipfel eine dichte Hecke bildeten.

Als Marie-Anne nach dem Tode ihres Vaters wieder heimgekehrt war, hatte sie sich durch das Strauchgewirr einen Pfad gebahnt, weil sie Vergnügen an dem Ausguck fand, wenn die Aisne, durch aufgestiegene Nebelschwaden, ihr die Fernsicht nicht verdarb.

Heut war klares, heißes Wetter. Marie-Anne schien die drückende Hitze nicht zu spüren. Sie blickte die Dorfstraße von Semilly entlang, auf der gestern der traurige Zug der armen, deutschen Gefangenen an ihr vorübergeflutet war. Sie erschauerte, wenn sie an dieses Bild wie aus der Hölle dachte. Sie wollte sich zwingen, nicht daran zu denken. Und doch, immer und immer wieder tauchte dieses Übermaß von Elend vor ihr auf. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu diesen Unglücklichen zurück.

Besonders einer der Gefangenen, eine hohe Jünglingsgestalt, von dessen Blondhaar Blut über Stirn und Gesicht rieselte, blieb unvergessen in ihrer Erinnerung. Nach ihm besonders hatte der rasend gewordene Dorfpöbel mit Steinen, Unrat und Glasscherben geworfen, weil seine Miene Stolz und Verachtung ausdrückte. Der rohe Haufe wollte in seinem Haß ihn gerade demütigen, ihn in den Straßenkot niederzwingen.

Da stockte der Zug plötzlich, – weil ein paar der mißhandelten Gefangenen zusammengebrochen waren.

In diesem Augenblick wandte der Verwundete, der seine Mitgefangenen um Kopfeslänge überragte, ihr sein gramvolles Angesicht zu. Ihre Blicke trafen sich. Tiefstes Erbarmen las er in ihren Augen. Durch ein leichtes Neigen des Kopfes schien er ihr danken zu wollen. Und so lange der Zug, unter den Flüchen und Mißhandlungen der Tobenden hielt, solange wandte er den dankbaren Blick nicht von ihr.

Was dann folgte war so empörend, daß es ihr noch jetzt das Blut zum Herzen trieb. Ein großer Stein hatte den Stolzen am Kopf getroffen. Er wankte. Ein Freudengeheul erscholl. Doch energisch hielt er sich aufrecht.

»Nieder mit dem Boche, nieder mit dem Verräter«, brüllte die Menge. Und eine Rotte dieser Wilden überfiel den Wehrlosen und schlug ihn nieder, schlug ihn noch, als er leblos am Boden lag. Und der fanatisierte Pöbel raste vor Freude, ob dieses Heldenstücks.

Seit gestern haßte sie dieses Volk, dem sie durch Geburt und Sprache zugehörte.

Wie ein böser Spuk war dann alles vorbei. Aber seitdem war ihr Herz von Gram und Schmerz erfüllt. Sie litt mit diesen Leidenden und der Wunsch, ihnen zu helfen oder ihre Leiden zu mildern, hatte sie mit einem Male überwältigend gepackt.

Sie hatte niemanden, der ihr bei ihrem Vorhaben hätte raten oder helfen mögen. Ihr Vater war nach Kriegsausbruch einem Fieber erlegen. Ihr einziger Bruder stand als Soldat im Felde, wenigstens hoffte sie es, sie und ihre kränkliche Mutter. Eine Gewißheit, ob er gefangen oder gefallen war, konnten sie von der französischen Heeresleitung nicht erlangen. Seit zwei Jahren waren sie ohne Nachricht geblieben.

Pfarrer Grenelle sollte ihr helfen, sollte ihr schwerbedrücktes Gemüt durch seinen Zuspruch befreien. Sie erwartete den guten alten Mann, der jetzt, im dritten Kriegsjahre, in aufopfernder Weise die Seelsorge in mehreren Dörfern übernommen hatte, da viele seiner jüngeren Amtsbrüder an der Front wirken mußten. Die Last der Jahre schien ihm nichts anzuhaben. Immer war er unterwegs, die Kranken zu besuchen, die Trauernden zu trösten.

Er mußte heute von Lessard, der Ferme, durch das nahe gelegene Tracy nach Semilly, um Kriegstrauungen vorzunehmen. Sie hatte ihn noch gestern abend durch ein paar Zeilen bitten lassen, doch bei ihr nicht vorüber zu gehen, ohne einen kleinen Imbiß einzunehmen.

»Seien Sie herzlich willkommen, Hochwürden«, sagte sie, als sie ihn jetzt vor der Tür begrüßte.

Auf seinen Wunsch wurde das Frühstück im Garten aufgetragen.

»Mir altem Mann ist die Sonne sehr recht und Ihnen wird sie den schönen Teint auch nicht verderben, nicht wahr? Ich sitz' gar zu gern im Freien. Und bei Ihnen, liebes Kind, hier inmitten der Blumen, ist's ein doppeltes Vergnügen.«

Marie-Anne trug selbst Wein, Brot und Schinken auf, und Jeanne, die Magd, brachte Spiegeleier.

Der Mutter Gérard hatte der Pfarrer vorher einen Krankenbesuch gemacht. Die alte Frau wurde von der Gicht geplagt, sie saß zumeist im Lehnstuhl und hatte das Hausregiment Marie-Anne überlassen.

Endlich saß Hochwürden im Sonnenschein und ließ es sich wohlschmecken.

»Sehen Sie,« nahm er nach einer Weile das Wort, »diese wohltuende Ruhe hier bei Ihnen ist's, die ich vermisse, seit Krieg ist. Unsereiner hat jetzt soviel Pflichten zu erfüllen, ist so abgehetzt tagsüber. Und wie oft muß ich des Nachts bei Regen und Kälte hinaus, dem einen die letzte Wegzehrung geben, die andern trösten oder raten und helfen, wann immer es verlangt wird. Aber leider kann man nicht immer helfen. Und die Not ist überall so groß. Und wie lange noch kann man überhaupt helfen? Der Feind rückt näher. Was dann, wenn er da ist? Dann wird der Hunger an alle Türen klopfen und in seinem Gefolge Krankheit und Tod. Wenn ich an meine Armen denke! Der Ernährer tot oder im Felde – alles ruiniert – und statt Geld kann ich ihnen nur Trost in Worten bringen.«

Mit einem Seufzer schloß er: »Wie gut wär's, wenn die Menschen endlich lernen wollten, sich zu vertragen und in Eintracht und Liebe miteinander auszukommen.«

Eine Pause entstand, in der anscheinend seine Gedanken in die Vergangenheit tauchten.

»Ja, ja, mein liebes Kind, so war's noch immer und Gott sei's geklagt – so wird's immer bleiben. Und wenn tausend oder hunderttausend Menschen friedlich sein und gottergeben leben wollten, ein einziger, ein schlechter Mensch wär' imstande, die Menge zu schlimmen Taten zu verführen.

Aber wir dürfen die Hoffnung niemals aufgeben und müssen allen mit gutem Beispiel vorangehen und beten, daß es besser wird.«

Dann ging er in einen andern Ton über und mit heiterem Gesicht sprach er: »Nun erzählen Sie. Wie ist's Ihnen in all den Jahren in der Schweiz ergangen? Haben Sie Ihr Herzchen dort verloren oder wieder unversehrt mitgebracht? Ich habe Sie eingesegnet und ich hoffe noch zu erleben, daß ich Sie am Altar einem tüchtigen Manne antrauen kann. Schütteln Sie nicht den Kopf. Sie sind jung und schön und da sollte sich nicht ein Freier finden? Lassen Sie nur erst unsere jungen Männer aus dem schrecklichen Krieg heimkehren, da werden sie zu Dutzenden bei Mutter Gérard um Sie anhalten.«

Marie-Annes Augen blickten feucht, als sie, seltsam beherrscht, sprach: »Hochwürden erinnern sich vielleicht, daß ich vor fünf Jahren auf Vaters Wunsch zu meiner Tante in die Schweiz mußte. Sie hatte in Veytaux ein solides Hotel und Pensionat. Dort arbeitete ich fleißig. Hab' auch was gespart. In den Jahren lernte ich viel Menschen kennen. Aus halb Europa kamen sie dahin. Ich war sehr verwundert, als ich die ersten Deutschen kennen lernte. In der Schule hatte man uns die › Allemands‹ als Barbaren, als wilde Tiere, als › sales Boches‹ geschildert. ›Weshalb belügt man die Kinder in Frankreich?‹ fragte ich mich oft. Mein Erstaunen wuchs, als ich, – mit den Jahren hatte ich deutsch sprechen gelernt – in der Unterhaltung sie als guterzogene, sehr gebildete Leute schätzen lernte.

Ja, Hochwürden, ich lernte sie achten. Mit jedem Tage erkannte ich mehr, daß man in Frankreich die deutschen Menschen verleumdete. Es sind gute, sanfte Leute, die niemandem ein Leid zufügen. Niemals sah ich sinnlos Betrunkene unter ihnen. Und meine Tante, die seit vierzig Jahren in der Schweiz lebt, hat mir bestätigt, daß sie niemals betrunkene Deutsche, dagegen jahraus, jahrein betrunkene Franzosen beobachtet hat.

Wo also ist Gesittung und Kultur besser vertreten? Seit Vaters Tode, also seit einem Jahr, bin ich wieder daheim. Ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie sehr ich mich von hier wieder fortsehne. Wenn der Krieg zu Ende und mein Bruder glücklich wieder zurück wäre, hielt es mich keine Stunde länger hier.«

Der Pfarrer blickte die schöne Sprecherin forschend an. Dahinter steckte mehr, als seine sparsam geübte Menschenkenntnis ergründen konnte. So hatte er noch nie eine Französin reden hören. Sie lobte den Landesfeind und tadelte die eigenen Landsleute.

»Sieh, sieh, mein liebes Pfarrkind setzt plötzlich die Heimat herab und begeistert sich für die Feinde. Ist es so, dann beklage ich Ihre Reise, weil Sie sich Frankreich entfremdet haben.«

»Nicht meiner Heimat habe ich mich entfremdet, hochwürdiger Herr, die Menschen hier sind mir fremd geworden, ja, noch mehr, seit gestern hasse und verachte ich sie.«

Der Pfarrer fuhr auf. »Oh, oh, nun, nun, – was sagen Sie da? Und unsern braven, guten Bauern gilt Ihr Haß? Ja, um Jesu Christi Willen, was ist denn nur geschehen? Weiß Ihre Frau Mutter darum? Ja? Und was sagt sie dazu? In der Tat, Sie haben mich erschreckt. Das kann Ihr Ernst nicht sein. Hat man Sie gekränkt, beleidigt?«

Statt aller Antwort fing Marie-Anne an haltlos zu weinen. Schmerz und Empörung, Haß, Verachtung, alle Empfindungen ihres seit gestern tief getroffenen Herzens, machten sich in dem befreienden Tränenstrom Luft.

Nach einer geraumen Weile begann sie dem aufhorchenden Seelsorger – erst in abgerissenen Sätzen, dann im Zusammenhang – zu erzählen.

»Bisher war ich von Stolz erfüllt, eine Französin zu sein. In Schule und Kirche – ja, auch in der Kirche, Hochwürden, – hatte man uns immer gesagt: Frankreich ist die erste, größte Nation der Welt – Frankreich allein gibt der ganzen Welt von seiner Kultur, weil Frankreich allein die beste, höchste Kultur besitzt. Jeder Franzose bis zum letzten Bauer und Tagelöhner, ist erfüllt von Humanismus, Ritterlichkeit und Menschenliebe. In diesen Tugenden werden die Franzosen von keinem Volk der Welt erreicht.

Wir jungen Menschen mußten natürlich das, was uns Lehrer und Priester tagaus, tagein sagten, glauben. Wir waren von der Richtigkeit, von der Treue des Gesagten völlig überzeugt.

Unser Stolz wurde mit jedem Jahr größer, bis er schließlich zum Hochmut wurde.

Wir waren auch durchaus überzeugt, daß die Deutschen schmutzige Schweine wären, – so nannten sie unsere Lehrer und in Zeitungen konnte man es zu allen Zeiten lesen, daß sie Barbaren seien und grausam, und ohne Kultur, und wie die Tiere lebten. Wir mußten es glauben, weil es Menschen sagten, die für uns Autoritäten waren, weil es Franzosen sagten, die unser kindliches Vertrauen besaßen und die wir verehrten.«

Jetzt hatte Marie-Anne ihre Fassung wiedergewonnen. Sie weinte nicht mehr. Nur ihrer Stimme war die große Erregung anzuhören, die fortdauernd zu wachsen schien.

»In der Fremde erst, in der Schweiz, fiel mir die Binde von den Augen, die man mir und vielen Millionen junger Landsleute in der Heimat künstlich vorgebunden hatte. Dort kam mir die wertvolle Erkenntnis, sehr spät, doch nicht zu spät, daß man in Frankreich die Jugend, aus Politik, systematisch belügt und andere Völker frivol verleumdet.

Und der gestrige Tag – mit Schaudern denke ich daran – brachte mir einen weiteren vollen Beweis, daß die Roheit und Gemeinheit in Frankreich heimisch ist.«

»Nicht weiter, kein Wort mehr, wie darf ich zugeben –.«

»Hören Sie mich zu Ende, Hochwürden. Sie haben die deutschen Gefangenen durch Semilly treiben sehen?«

Der Pfarrer nickte zustimmend.

»Nun gut, dann haben Sie auch gesehen, daß man die Unglücklichen schlimmer denn eine Viehherde behandelte. Man beschimpfte, bespie sie, bewarf sie mit Schmutz, Steinen, Flaschen, Glasscherben, man schlug sie mit Fäusten, mit Stöcken und Knüppeln blutig. Und als die Wehrlosen am Boden lagen, hörte man mit den schrecklichen Mißhandlungen selbst dann nicht auf. Ist das menschlich, christlich, ritterlich? Feig ist's, roh, niedrig und unmenschlich. Hochwürden, wär' ich kein schwaches Weib, wär' ich ein Mann, in meiner Gegenwart hätten sich solche Greuel nicht abspielen dürfen, dafür hätt' ich mein Leben eingesetzt.«

Marie-Anne hielt einen Augenblick inne. Den benutzte der Pfarrer. »Um Himmelswillen, was muß ich da hören? Was ist denn plötzlich aus meiner sanften, kleinen Freundin geworden? Hören Sie Ihren alten Pfarrer mal ruhig an. Ohne Vorbehalt sage ich also: ›Sie haben recht, vollkommen recht. Das Tun des rohen Pöbels‹ –.«

»Vorhin nannten Sie diesen Pöbel: unsere braven, guten Bauern«, rief Marie-Anne dazwischen.

»Auch darin mag ich unrecht geurteilt haben. Diese an Wehrlosen geübten Brutalitäten wird jeder rechtlich Denkende in Frankreich verdammen.«

»Gibt es viel davon, Hochwürden?«

Der Pfarrer stutzte.

»Ich meine nur,« fuhr die tapfere Verteidigerin unbekümmert fort, »weil wir in den neutralen Schweizer Blättern fast täglich von solchen Grausamkeiten, die in allen Städten und Dörfern Frankreichs gegen deutsche Kriegsgefangene verübt wurden, lesen konnten. Gestern – das Herz krampft sich mir zusammen, wenn ich an den großen, blonden Deutschen denke – das edle Gesicht – die traurigen Augen – –.«

Von Mitgefühl übermannt, schluchzte Marie-Anne, daß auch dem alten Priester die Tränen in die Augen traten.

»Nun, nun,« suchte er sie zu beruhigen, »man soll sich fremdem Leid nicht gar so hingeben; vielmehr bedacht sein, dem Übel abzuhelfen.«

»O, Hochwürden, das ist ein gutes Wort. Und zu rechter Zeit gesprochen. Helfen, ja helfen. Wenn das ginge. Und warum sollt' es nicht. Sie, Hochwürden, wären dazu imstande. Ihr Priesterkleid, Ihr Ansehen in der Gemeinde sind Empfehlung genug. Ich habe ein paar tausend Frank gespart, sie gehören Ihnen und Ihren Armen, – bis auf ein Teilchen, das Sie den armen Kriegsgefangenen bringen sollen.«

»Gott wird Ihre Guttat lohnen«, rief der Pfarrer freudig erregt. »Ihr edles Herz macht Frankreich Ehre.«

Marie-Anne machte eine abwehrende Bewegung. Der Pfarrer wußte sie nicht zu deuten. Lehnte sie die Ehre ab oder die Belohnung des Himmels? Doch nach einer kurzen Pause nahm sie etwas zögernd wieder das Wort.

»Die Gefangenen können noch nicht weit fortgebracht sein?«

»In's große Lager, zwischen Lessard und Soissons.«

»O, ein paar Meilen nur von hier? Und Sie werden beim Kommandanten ein gutes Wort für die Armen einlegen?«

»Das will ich ganz gewiß.«

»Und – Hochwürden – nicht wahr, hauptsächlich für die unglücklichen Leute, die man gestern so arg mißhandelt hat?«

»Sie können sich auf mich verlassen.«

»Wie danke ich Ihnen, Hochwürden. Ich hole gleich das Geld. Es sind fünftausend Frank. Sie werden am besten wissen, wie sie zu verteilen sind. Und, nicht wahr, Sie nehmen sich auch des einen an – wenn er noch am Leben ist. Er war der Größte im Zuge. Ach, Sie wissen gleich, wen ich meine, wenn Sie ihn sehen! Auf ihn hatten sie's am meisten abgesehen. Ihn, der schon verwundet war und blutete, hatten sie zu Boden geschlagen. Und Callot, der Trunkenbold, allen voran.

Und den, Hochwürden, haben wir Ihnen zu danken. Sie haben uns diesen Strolch auf den Hof gebracht. Mein Vater sträubte sich, – ich weiß es noch wie heut – den Sträfling aufzunehmen –.«

Der Pfarrer unterbrach sie erregt:

»Ein Liebeswerk war's, das Ihr seliger Vater an dem unglücklichen Menschen tat. Das hab' ich ihm nie vergessen. Und das sollte seine Tochter als ein heiliges Vermächtnis heilig halten.«

»Gestern schlug er den wehrlosen Allemand tot oder fast tot, der ihm nichts zuleide tat. Und morgen, wenn er im Rausch ist, schlägt er meine Mutter oder mich nieder. Aber solch ein böses Tier muß man fortjagen, meine ich. Wir wollen das Schlimmste nicht erst abwarten. Der Elende kann von uns nimmermehr als ein ›heiliges Vermächtnis‹ angesehen werden.«

Der Pfarrer wollte es, dieses Raufboldes wegen, mit den wohlhabenden Gérards nicht verderben. Er wußte, wenn die Tochter so dachte, die das Regiment auf dem Bauernhof führte, würde die Mutter auch nicht anders denken.

Er hatte in seiner großen Gutmütigkeit sich vor vielen Jahren für Louis Callot verwendet. Er kannte ihn von klein auf, ihn und seine in Tracy angesessene Familie. Eines Tages kam die Nachricht ins Dorf, Louis Callot hätte in seiner Garnison seinen Korporal erstochen. Die schwere Insubordination sollte er mit dem Tode büßen. Auf besondere Verwendung des guten Pfarrers Grenelle und weil er geltend machte, daß Callot vorher arg gereizt worden war, wurde er auf Lebenszeit nach Cayenne verbannt. Die Strafe kam einem Todesurteil gleich, denn alle erlagen nach kurzer Zeit dem fürchterlichen Klima.

Louis Callot blieb am Leben. Und da er sich einwandfrei geführt hatte, ließ man ihn, auf die vielen Bittgesuche des Pfarrers hin, nach zwanzigjähriger Zuchthausstrafe frei.

Callot erschien also eines Tages wieder in Tracy und beim Pfarrer Grenelle. Der hatte ihm später in Semilly, beim Bauer Gérard eine Stelle als Knecht verschafft, da Callots Angehörige inzwischen ausgewandert waren. Er hatte seinem Beschützer geloben müssen, von jetzt ab brav zu bleiben und ihm und seiner empfehlenden Fürsprache keine Schande zu machen. Louis Callot hatte sein Versprechen gehalten. Nur den Trunk bezog er nicht mit in sein Gelöbnis. Er gab zu öffentlichem Ärgernis keinen Anlaß. Er betrank sich auf dem Hofe und schlief dann im Stall, oder auf dem Heuboden, seinen Rausch aus. Er sprach mit niemandem, kaum daß er dem Bauern, seinem Herrn, auf eine Frage mit einem Wort antwortete.

Der wußte, wie's mit ihm bestellt war und sah ihm manches nach, da er seine Arbeit tat. Schon mit Rücksicht auf den alten Pfarrer behielt er ihn.

Louis Callot verrichtete seine Arbeit wie eine Maschine. Er blieb schweigsam zu allen. Seine Miene blieb ernst und finster. Er mied jeglichen Verkehr mit den Menschen, ebenso wie die Menschen ihm aus dem Wege gingen, als ob er die Pest mit sich herumtrüge.

Was für ein Teufel war in diesen stillen Callot gefahren, daß er wie ein Tiger auf diesen Allemand eingehauen hatte? War's der Schnapsteufel allein?

Und daß Marie-Anne gerade die Blicke ihrer schönen Augen auf diesen selben Allemand fallen lassen mußte? Das waren Fragen, die den Pfarrer eine Weile beschäftigt hatten, ehe er sich Marie-Anne wieder zuwandte.

»Mein liebes Kind, Ihre Empörung gegen den Tunichtgut, diesen schlimmen Callot, ist nur zu begreiflich. Doch überlassen Sie den Schlingel mir. Ich werde mir ihn vornehmen, ihm gehörig den Kopf waschen und eine Strafe auferlegen. Eine Strafe muß er haben. Über das Wie und Wo überlege ich noch. Also, meine gute Marie-Anne, wir bleiben die alten Freunde. Und tausend Dank der schönen Wohltäterin im Namen meiner Armen.«

Sie drückten sich die Hände und Marie-Anne ging ins Haus, um das Geld zu holen.

Währenddessen ging der Pfarrer im Garten umher. Vor dem ansteigenden Sträucherdickicht blieb er stehen. Er sah zwar Callot aus dem Pferdestall kommen und dann in der Scheune verschwinden. Er wollte ihn aber jetzt nicht sprechen; er wußte auch noch nicht, welche Strafe er ihm auferlegen sollte!

Da war es ihm erwünscht, als Marie-Anne zu ihm trat.

»Immer von neuem«, sprach er, »wundre ich mich darüber, daß keiner Ihrer Vorfahren den Mut gehabt hat, auf die soliden und anscheinend gut erhaltenen Grundmauern ein oder zwei Stockwerke aufzusetzen. Ich sprach darüber mal mit Ihrem trefflichen Vater. Er fand den Plan nicht übel, hatte aber, der Kosten wegen, Bedenken. Und noch ein anderer Grund war's«, setzte lachend der Pfarrer hinzu, »der ihn von der Bauerei abhielt.«

Marie-Anne sah ihm fragend ins Gesicht.

»Ich hatte ihm auseinandergesetzt, wie wertvoll die Aufführung eines größeren Hauses für ihn und seine Landwirtschaft wäre. Es brauchte ja nicht den Umfang zu haben, wie zu Zeiten des verewigten Marquis de Roy anno 1789. Es wäre doch aber vorteilhaft für das Ganze gewesen, wenn die Familie – auch wenn Ihr Bruder und Sie geheiratet hätten – zusammen geblieben wäre. Dazu brauchten Sie ein größeres Haus, in dem mehrere Familien bequem hätten hausen können. Und es wären kaum fremde Arbeitskräfte auf dem Hofe nötig gewesen. Aber Ihr Vater lehnte ab. Er meinte, man wüßte nicht, wie sich die Angeheirateten untereinander vertragen würden. Und da hatte er auch recht. Das kann man vorher nicht wissen.«

»Ich entsinne mich, wir sprachen oft davon. ›Das einzige‹ meinte der Vater, ›was man – ohne Geldkosten – aus der Ruine an Nutzen herausholen könnte, wären die Kellerräume.‹ Die sollen zum Teil noch leidlich erhalten sein. Der größte Teil soll aber verfallen, verschüttet sein. Mein Großvater hatte, als die Preußen 1870 im Lande waren, sein Silber dort versteckt.«

»Ja, ich weiß, er hat es mir damals erzählt. Er hat auch später, als wieder Ruhe im Lande war, den Versuch gemacht, nach vergrabenen Schätzen in den Kellergewölben zu suchen. Er vermutete, daß der Marquis vor hundert Jahren eine solche Freude für ihn angelegt hätte. Aber damals blieb dem armen Mann keine Zeit zur Flucht, geschweige denn, seine Kostbarkeiten zu vergraben. Ach, der plündernde Mob enthob ihn der Mühe. Das hat aber Neugierige nicht abgehalten, ab und zu nachzugraben. Von allen Seiten waren sie wie die Maulwürfe eingedrungen. Aber keiner hat was gefunden.«

»Ja, und wir hatten dann die Arbeit, alle Löcher und Gänge der Ruine wieder zuzuschütten.«

Damit war das Thema erschöpft.

Der Pfarrer gedachte noch der großen Hitze, sagte auch für den Abend ein Gewitter voraus und bat Marie-Anne, sie möge ihm doch Callot morgen nach Lessard schicken. Und möchte sich auf ihn – den Pfarrer – verlassen. Er würde für die Allemands, die armen Kriegsgefangenen, tun, was in seinen schwachen Kräften stünde.

Sie händigte ihm die versprochene Summe ein. Dann schied er mit Segenswünschen von ihr.

*

In Semilly ging es an diesem Tage hoch her. Die Kirche war festlich mit Blumen geschmückt und Topfgewächse waren von allen Seiten zusammengetragen worden, um die Trauung der beiden Paare würdig zu gestalten. Aus der Umgegend waren die Leute, aus Gevatterschaft und Freundschaft bestehend, zahlreich erschienen. Auch wer nicht dazu gehörte und im Hochzeitshause einsprach, war einer gastfreien Aufnahme sicher.

Zwei reiche Schwestern heirateten zwei wohlhabende Bauernsöhne, das war Grund genug, den Wein in Strömen fließen zu lassen. Das war für alle trinkfesten Männer, die vom Kriegsdienst verschont oder zufällig auf Urlaub waren, ein Anlaß, sich einmal einen ordentlichen Rausch zu holen, zumal er umsonst zu haben war.

Lüstern umstand die Menge das Festhaus, aus dem verführerische Bratendüfte strömten.

Bis Pfarrer Grenelle mit der Trauung fertig war, bis die Schmauserei begann, konnten noch ein bis zwei Stunden vergehen. Die Geladenen hatten es nicht eilig, – sie waren vom reichlich genossenen Frühstück noch satt. Umso mehr sehnten die andern, denen, in Erwartung der Genüsse, das Wasser im Munde zusammenlief, eine Beendigung der kirchlichen Zeremonie herbei.

Und die große Hitze erhöhte ihren Durst, den sie keineswegs gesonnen waren, mit simplem Wasser zu löschen. Wein, kühlender Wein sollte es sein, Hochzeitswein.

Die Temperatur war drückend. Der Himmel hatte sich mit Wolken überzogen. Aber kein Lüftchen rührte sich. Und so war der ersehnte Gewitterregen noch in weiter Ferne.

Marie-Anne hatte die Einladung zu dieser Hochzeit abgelehnt. Die Krankheit der Mutter, die Trauer um den Vater, die fürchterliche Ungewißheit über das Schicksal ihres Bruders, – das waren Gründe genug für die Ablehnung. Aber sie wollte wenigstens die ihr befreundeten Brautpaare sehen.

Sie war also in die Kirche gegangen und wartete, bis die Feier aus war. Dann ließ sie den Hochzeitszug an sich vorüberziehen und ging dann stracks nach Hause.

Als es dunkel geworden war, schloß sie die Haustür ab und überzeugte sich auch, daß das Tor zur Einfahrt verschlossen war.

Sie wollte Callot damit zwingen, auf den Rausch zu verzichten; damit aber auch auf die unausbleiblichen Folgen des Alkoholgenusses: wie Rauferei und am folgenden Tag Arbeitsunfähigkeit.

Der große Hof, die Bestellung der Felder, wurde jetzt von einer Magd und Callot besorgt; sie half dabei so gut sie konnte. Die jungen Leute arbeiteten in den Munitionsfabriken oder waren im Schützengraben. Es hielt schwer, in dieser Zeit Arbeitskräfte zu bekommen. Sollte das Anwesen nicht noch mehr Schaden leiden, dann mußte sie ihr Augenmerk jetzt darauf richten, daß dieser Callot als Arbeitskraft intakt blieb.

Sie fand ihn im Stall, bei der Fütterung der Tiere.

»Es wird ein Gewitter kommen, Callot«, redete ihn Marie-Anne an. »Hoffentlich bewahrt uns der Himmel vor Blitzschlag. Sie sind der einzige Mann auf dem Hofe, wenn etwas passiert. Ich möchte Sie ersuchen, zu Haus zu bleiben. Schon in Ihrem Interesse. Sie verstehen.«

Callot antwortete nichts. Er tat, als hätte er nichts gehört.

»Ich kann mir denken, daß es Sie, des Weines wegen, zur Hochzeit hinzieht. Ich will Ihnen, als Ersatz, zwei Flaschen Roten spendieren. Sie können ihn drüben bei uns trinken.«

»Nein«, knurrte er.

»Was, nein? Wollen Sie ihn lieber auf ihrer Stube trinken? Soll Jeanne die Flaschen bringen?«

Ein Kopfschütteln war die Antwort. Sie kannte seine wortkarge Art.

Seine »Stube« war nichts weiter, als ein Bretterverschlag im Pferdestall. Hinter der Bretterwand, die den unsagbar schmutzigen Winkel in Manneshöhe rechtwinklig umfaßte, stand ein Bettkasten mit ein paar elenden Federkissen auf einem Strohsack. Eine Holzpritsche vor einem kleinen rohgefügten Tisch, eine primitive Holzkiste, machte die Stube nicht wohnlicher. Auf dem Tisch stand eine leere Flasche, in der ein heruntergebranntes Talglicht steckte. An der Wand klebte ein Heiligenbild, das, wie die ganze Wandfläche, mit Fliegen bedeckt war. Ratten huschten ein und aus. Der atembeklemmende Dunst des Stallaromas erfüllte den Raum, aus dem man sich nur fortsehnen konnte.

Kein Wunder, daß selbst dem ehemaligen Cayenne-Sträfling eine solche Wohnung nicht behagen mochte, und daß er es vorzog, lieber auf dem Heuboden zu schlafen und den zu seiner Wohnung zu machen.

Marie-Anne wußte das, drückte aber ein Auge zu und ließ es geschehen, zumal er – einmal zur Rede gestellt – beteuert hatte, im Finstern, und gewißlich ohne Licht, auf den Heuboden zu schlüpfen.

Es war nicht sicher, daß Callot den Aufenthalt auf dem Heuboden aus hygienischen Gründen der Stallwohnung vorzog. Er war sein Lebtag nichts Besseres gewöhnt. Und in Cayenne hatte er ein luxuriöses Schlafgemach oder andere Annehmlichkeiten des Lebens auch nicht kennen gelernt.

Er hatte die Gewohnheit eines scheuen Tieres angenommen, das sich erst in einem Versteck sicher und wohl fühlt, zu dem man nicht ungesehen und ohne weiteres gelangen konnte. Er entzog sich auf diese Weise einer Kontrolle, die er zu scheuen hatte.

Die Flaschen Wein akzeptierte er; wann hätte er je den Sorgenzerstörer ausgeschlagen. Aber kein Mensch sollte ihn hindern, ins Dorf zu gehen, wo es bei Geigenklang viel Wein gab, der nicht einen Sou kostete. Der kleinen Marie-Anne wollte er ein Schnippchen schlagen. O, was doch das schöne Mädchen naiv war. Er hatte sie die Tür verschließen sehen. Was das ihm ausmachte. Gar nichts. So einem Türschloß war er schon gewachsen.

Allerdings mußte er das Tor der Wageneinfahrt öffnen. Mit einem Nachschlüssel versteht sich. Die Haustür war der Wohnstube zu nahe, das würde Marie-Anne hören, die bei einem Gewitter nie schlafen ging.

Wenn nur das Tor in den verrosteten Angeln nicht gar so kreischen würde.

Er konnte auch den rückwärtigen Weg ins Freie nehmen. Das war aber sehr umständlich und eine starke Zumutung an seine Gelenkigkeit. Damit war es nicht mehr weit her. Der Alkohol hatte sie vernichtet.

Da war noch eine hohe, mit Glasscherben bespickte Mauer zu überklettern. Ein Sprung mußte gewagt werden. Und dann war er erst auf dem Gartengrundstück des Nachbarn, in dem bei Tag und Nacht Hunde patrouillierten und einen Mordsspektakel machten, wenn sich jemand blicken ließ.

Er beschloß, lieber durch das knarrende Einfahrtstor zu entschlüpfen. Mochte dann kommen, was da wollte.

*

Marie-Anne war bei ihrer Mutter. Sie besprach mit ihr alles, was der Tag gebracht hatte, durfte ihr dann aus dem Evangelium vorlesen und betete inbrünstig zu Gott für alle, die Schmerzen litten.

Sie gedachte dabei ihrer geliebten Mutter, ihres vielleicht kriegsgefangenen oder verwundeten Bruders und der vielen Opfer des grausamen Krieges.

Ihrer Mutter war es ein inniger Trost, von Christi Leiden zu hören. Seine Geduld und göttliche Ergebung stärkten sie im Ertragen ihres eigenen, schmerzhaften und hartnäckigen Leidens.

Als sie eingeschlummert war, verließ Marie-Anne leise die Stube. Sie stieg die Treppe hinunter, schickte Jeanne schlafen und hörte von ihr mit Befriedigung, daß Callot auf dem Hof und in seiner »Stube« war.

Sie trat für einen Augenblick in den Garten, um nach dem Wetter zu schauen. Ein scharfer Windstoß fuhr durch die Bäume. Der Himmel war schwarz, kein Stern zu sehen. Das Unwetter war im Anzuge.

In der Stube, deren beide Fenster auf den Garten gingen, machte sie sich's gemütlich. Sie zündete die Lampe an, stellte sie auf den Tisch, um noch eine Weile zu lesen. Dann ließ sie das Rouleau bei einem Fenster herunter, beim andern gelang es ihr nicht. Die Schnur riß, der Vorhang samt der Stange fiel zu Boden. Außerdem war noch ein Haken, auf dem die Stange ruhte, aus der Mauer gebrochen. Das mochte sie heut nicht mehr instand setzen, morgen war auch noch ein Tag.

Der Wind war stärker geworden, Blitze zuckten, der Donner begann zu rollen. Immer häufiger und stärker dröhnten die Donnerschläge. Endlich begann der Regen niederzuprasseln. Mit ihm kam eine starke Abkühlung, die ständig zunahm.

Marie-Anne schien von dem Witterungsumschlag nichts zu merken. Sie saß am Tisch im Schein der Lampe und las. Nur beim Krachen des Donners fuhr sie zusammen. Dann saß sie wohl eine Weile sinnend, starrte wie abwesend vor sich hin, bis sie – durch einen grellen Blitzstrahl erschreckt – wieder aus der Träumerei zur Wirklichkeit zurückfand.

Das Gewitter schien jetzt nachzulassen, doch der Regen strömte nach wie vor. Ein kalter Nordwestwind peitschte das Wasser an die Fenster. Ein schauerlicher Abend war auf den schönen Tag gefolgt.

Sie war dabei, die Leidensgeschichte des Menschensohnes noch einmal zu lesen. Die Worte des Apostels taten ihrem Herzen so wohl. Sie konnte sich die Melancholie nicht erklären, die seit gestern ihr Gemüt wie in einen schweren Nebel einschloß.

War sie denn krank? Eigentlich nicht. Nur eine ihr unerklärliche Bangigkeit und Müdigkeit beherrschte, lähmte ihre Tatkraft und machte sie zu jeder Arbeit unlustig.

Sie sann und sann und konnte sich die Veränderung, die mit ihr vorging, nicht deuten. Was mochte die Ursache sein? Sie litt, und wußte doch nicht weshalb. Sie hätte weinen mögen und zergrübelte sich das Hirn nach dem Grunde ihrer Trauer.

Und der Regen strömte weiter, nun schon einige Stunden. Sie war mit ihren Gedanken bei dem Heiland. Sie litt mit ihm. Nie war er ihr so erbarmungswürdig vorgekommen, als da sie jetzt die Stelle las: Sie nahmen aber Jesus und führten ihn hin, und er trug sein Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißet Golgatha, das ist Schädelstätte.

Sie sah ihn in Gedanken leibhaftig. Sie sah auch die rohen römischen Soldknechte, wie sie ihm über den Kopf schlugen, daß das Blut die edle Stirn überrieselte. Und dann nahm das um die Schuld der Menschheit büßende Antlitz allmählich vor ihrem geistigen Auge die Züge des armen Gefangenen an, den unmenschliche Roheit brutal mißhandelt hatte und der doch den Stempel des Adels auf der Stirn trug.

Ihr Herz begann schneller zu klopfen. Und mit einemmal wußte sie den Grund ihres Leides. Ja, sie litt um jenen gefangenen Deutschen, den der Pöbel, wie Christus, verhöhnt und gestäubt hatte.

Von Mitleid, großem Mitleid war ihr Herz erfüllt.

Und jetzt in dieser nächtlichen Stunde dachte sie wieder seiner in christlicher Nächstenliebe – wie sie denn – das mußte sie sich gestehen – nicht aufgehört hatte, seinem Schicksal nachzudenken.

Ach, auch eine stille Freude begann leise in ihrem Herzen Wurzel zu fassen. Pfarrer Grenelle wird seine Leiden – und die seiner Brüder, setzte sie in Gedanken rasch hinzu – lindern. Geld vermag viel, und – – –.

Sie hielt plötzlich inne. Sie wollte daran nicht mehr denken. Das Denken an diese Unglücklichen hatte sie schon ganz krank gemacht. Und eifrig begann sie weiter zu lesen.

Und der Sturm rüttelte an Tür und Tor und heulte schauerlich im Kamin, während unablässig eine wahre Sintflut vom Himmel herniederstürzte.

Marie-Anne las und dachte noch immer nicht daran, zu Bett zu gehen.

Mit einem Male war es ihr, als ob sie Schritte im Hausflur hörte. Die Mutter konnte es nicht sein. In ihrem kranken Zustande konnte sie sich keinen Schritt fortbewegen.

Sie horchte – hörte aber nur das Heulen des Sturmes und das gleichmäßige Niedergehen des Regens.

Sollte Callot – –, sie wagte den Gedanken nicht weiter zu spinnen. Aber dem rohen Gesellen, der schon einen Mord begangen hatte, sollte dem nicht noch einer zuzutrauen sein?

Wieder horchte sie gespannt. Es war nichts zu hören, bis auf den strömenden Regen.

Es war nun spät genug, um endlich zu Bett zu gehen. Das sagte sie sich zwar, blieb aber, wie von unsichtbaren Fäden gehalten, sitzen. War das Furcht, die sie auf ihrem Platz festgebannt hielt? Törichter Gedanke, das Gefühl war ihr fremd. Sie sträubte sich dagegen. Dennoch war sie, ohne Grund, voller Unruhe.

Sie versuchte sich Rechenschaft darüber zu geben, fand aber keine Erklärung dafür. Gut denn, sagte sie zu sich, ich habe an allerlei gedacht, das wird meine Gedanken erregt und unruhig gemacht haben. Ich will mich ruhig lesen. Noch fünf Minuten, dann ist's für heut genug.

Sie begann zu lesen.

Wenn sie aber einen Satz gelesen hatte, mußte sie ihn nochmals lesen, weil sie den Sinn nicht erfaßt hatte.

Und hatte sie sich endlich den Inhalt des einen Satzes zu eigen gemacht, ging es ihr beim nächsten wieder so.

Ihre Unruhe schien sogar zu wachsen, wenigstens glaubte sie das aus dem heftigen Pochen ihres Herzens zu entnehmen.

Und wie von Geisterhänden geleitet, mußte sie ihren Kopf vom Buche fortwenden. Ihre Augen schweiften in der Stube umher, ihre Blicke suchten die Finsternis zu durchdringen, die in den Winkeln lauernd brütete.

Da war es ihr mit einem Male, als ob sie jemand ansähe, als ob ein paar glühende Augen sie anstarrten.

Ihr Herz klopfte schneller, kalter Schweiß trat auf ihre Stirn. Jetzt wußte sie, was Furcht ist.

Und mit unwiderstehlicher Gewalt wurden ihre Blicke zum Fenster gezogen, das, wie ein unbewegliches Auge, totenschwarz sie anstarrte. Und da – allmächtiger Gott! – starrte ein Gesicht mit weit geöffneten Augen durch die Fensterscheibe.

Sie wollte rufen, schreien! Der furchtbare Schreck schnürte ihr die Kehle zu.

Wollte man sie überfallen, töten?

Sie sprang auf, aufs Fenster zu. Ihr Leben war bedroht. Sie wollte um Hilfe rufen.

Hinter dem Fenster schauerte die schwarze Nacht, prasselte der Regen. Das Gesicht, das sie mit Entsetzen erblickt hatte, war verschwunden.

Sie atmete etwas auf.

Es war doch keine Einbildung ihrer erregten Sinne? Sie hatte die großen Augen, das bleiche Gesicht deutlich gesehen; ihr schien es mit Blut befleckt, das bleiche Gesicht, das sich in der Finsternis scharf abgehoben hatte.

Und wie sie zweifelnd und grübelnd dastand und sich nach einer Verteidigungswaffe umsah und keine finden konnte, wurden ihre Augen wieder zum Fenster gelenkt.

Beim lebendigen Gott, da war das bleiche Gesicht wieder, das einem Manne gehörte, der jetzt vernehmlich an die Scheibe klopfte.

Was sollte sie tun? Sollte sie öffnen oder nicht? Ja, sie wollte wissen, wer so kühn war, um Mitternacht in ihr Haus einzudringen. Wo war der Hund geblieben, der, des Nachts von der Kette losgebunden, im Hofe frei umherlaufen konnte? Wie kam der Mann durch verschlossene Türen?

Ihre Neugierde war größer als ihre Furcht. Sie riß das Fenster auf, trat dann zwei Schritte zurück und rief laut:

»Was wollen Sie? Was suchen Sie hier? Wie kommen Sie hierher? Rühren Sie sich nicht, sonst ruf' ich um Hilfe.«

Der nächtliche Gast trat furchtlos vor das offene Fenster. Er streckte die Hände flehend nach Marie-Anne aus. Und mit vor Kälte zitternder Stimme sprach er auf französisch:

»Helfen Sie, bitte, um der Menschlichkeit willen.«

An seinem Akzent merkte sie, daß er kein Franzose war.

»Sie sind ein Allemand

»Ja, Madam.«

»Sprechen Sie ruhig deutsch, ich verstehe Ihre Sprache. Wie kommen Sie hierher? Reden Sie die Wahrheit.«

»Bitte, verraten Sie mich nicht«, bat er erregt in abgerissenen Sätzen. »Ich bin geflohen. Aus dem großen Lager bei Soissons. Vier Meilen oder mehr. Im Regen. Der Weg nach Westen war nicht zu verfehlen. Eine halbe Stunde nur – dann will ich weiter.«

»Nach der Schweiz? Nach Luxemburg?«

»Nach Luxemburg, Madam, von da ist's näher zur deutschen Grenze.«

Beide schwiegen. Nur der Regen strömte nach wie vor.

»Wie kamen Sie auf den Hof?«

»Das Tor stand weit offen.«

»Callot, der Lump,« murmelte sie, – »er hat das Türschloß gewaltsam geöffnet – ist dann seiner Wege gegangen. Und der Hund ist ihm natürlich nachgelaufen.«

Sie überlegte eine Weile, dann fragte sie:

»Und was wollen Sie hier? Was soll ich bei Ihrer Flucht tun? Wenn man Sie hier findet, könnte ich böse Unannehmlichkeiten haben und schwer bestraft werden.«

»Ich will nicht, daß Sie durch meine Anwesenheit Verdruß haben. Gleich gehe ich wieder. Bin total erschöpft. Bedenken Sie, habe drei Tage oder vier nichts gegessen. Die Franzosen gaben uns nichts. Dazu marschieren. Gestern hat man mich fast tot geprügelt. Heute wieder schlimm mißhandelt. Vier meiner Kameraden sind daran gestorben. Eine Menge – ich weiß nicht wieviel – liegen schwer verwundet. Die Franzosen sind keine Menschen. Teufel sind's. Konnt's nicht mehr ertragen. Lieber sterben. Das Unwetter kam mir gelegen. Bin eine zähe Natur.

Wir liegen im Freien – hinter Stacheldraht – auf verfaultem Stroh – – –.«

»Wie? Auch bei dem entsetzlichen Wetter im Freien?«

»Ja, Madam. Der Regen hatte den Drahtzaun unterwaschen. Ich krieche durch. Dann auf alle vieren durch Schlamm und Wasser. Wachtposten sah ich nicht. Auf der Landstraße raste ich fort – immer gerade aus – oft stürzte ich – ich lief bis ich hinfiel und lief weiter, wenn mich der Regen wieder aufpeitschte.

Dann kam ich hier vorüber – sah den Torweg offen – und sah Sie, Madam, durchs Fenster. Sie haben ein so gütiges Gesicht – nicht wahr – Sie werden einen armen Kriegsgefangenen nicht verraten? Nur ein Stück Brot – –.«

Eine Sekunde lang sah Marie-Anne dem Armen in die Augen. Dann kam über sie eine plötzliche Ruhe, und mit ihr ein seliges Gefühl des Glücks. Unsagbares Mitleid erfüllte ihr hilfsbereites Herz und nur ein Gedanke beherrschte sie völlig: dem Unglücklichen zu helfen, zu helfen um jeden Preis.

Und es war ihr Allemand, ihr Gefangener, der schon seit gestern ihr Gemüt beschäftigte, für den sie den guten Pfarrer interessiert und ihre Ersparnisse hergegeben hatte. Für seine leidenden Kameraden auch, gewiß, aber für ihn zuerst, der – als der Zug der Gefangenen gestern vorüberkam – ihr so stolz und stark erschienen war. Er war's und kein anderer. Ihre Augen sagten es ihr. Oder verriet es ihr klopfendes Herz?

O, sie hätte vor Freude weinen mögen. Was daraus werden könnte, – an das wollte oder konnte sie jetzt nicht denken. Nur helfen wollte sie, Schmerzen lindern.

»Kommen Sie herein, mein Herr, ich öffne die Tür«, rief sie entschlossen.

Sie machte das Fenster zu. Dann leuchtete sie dem Eintretenden entgegen, der zaghaft, scheu in den Hausflur getreten war.

»Bleiben Sie. So naß wie Sie sind, können Sie nicht ins Zimmer.«

Sie sagte das in gedämpftem Ton, stellte die Lampe auf eine Treppenstufe und verschwand wieder in der Stube.

Bald kam sie mit einigen Wäsche- und Kleidungsstücken zurück, stellte auch etliche Stiefel hin und legte einige Socken dazu.

»Probieren Sie,« sprach sie jetzt leise, »es sind Sachen von meinem seligen Vater, der nicht ganz ihre Statur hatte. Die Hauptsache ist, daß Sie aus dem nassen Zeug herauskommen und sich nicht erkälten. Wenn Sie sich umgezogen haben, treten Sie hier ein. Und noch eins. Beeilen Sie sich so sehr Sie können. Der Lichtschein muß vom Hof verschwinden. Der Knecht darf Sie nicht sehen.

Und aus Ihren nassen Sachen machen Sie ein Bündel, das aus dem Hause muß, – wenn Sie keinen Wert mehr darauf legen.«

Der Flüchtling schüttelte verneinend den Kopf.

»Ich denke, daß Ihnen die Zivilkleidung auf der Flucht nützlicher sein wird als Ihre Uniform.«

Fort war sie.

In wenigen Minuten hatte er die vor Nässe und Schmutz triefenden Gewänder, mit den knappsitzenden, sauberen Kleidern des Bauern Gérard vertauscht. Die Stiefel schienen etwas bequem zu sein. Den Fehler hatte er rasch abgestellt, indem er über das eine Paar Socken noch ein zweites Paar zog.

Als er an die Tür klopfte, trat ihm Marie-Anne mit einem Körbchen entgegen, aus dem ihm Essen und Trinken entgegenlachten. Auch einige Decken trug sie über der Schulter.

»Nehmen Sie Ihre nasse Garderobe und folgen Sie mir. Treten Sie behutsam auf.« Marie-Anne ging voran, eine Blendlaterne in der Hand.

Sie stiegen die Treppe hinauf. Von hier ging es einen kleinen Korridor entlang, an dessen Ende eine schmale, steile Treppe weiter in die Höhe führte. Sie waren auf dem Boden angelangt.

»Ihr altes Zeug verstecken Sie gleich dort oben, zwischen dem Gebälk. So.«

Dann öffnete sie eine Tür mit einem Schlüssel. Beim Schein der Lampe sah man in einen abgeschrägten Raum, der mit Sachen aller Art angefüllt war.

»Hier müssen Sie bis morgen aushalten. Licht dürfen Sie hier unter keiner Bedingung haben. Die Laterne nehme ich mit. Morgen sehe ich nach Ihnen. Und als Kopfkissen wird Ihnen einer von den alten Reitsätteln, die Sie dort sehen, dienen. Mit den Decken müssen Sie auszukommen suchen. Hier ist Wein, Brot und etwas Fleisch. Gute Nacht.«

Sie nickte ihm zu, zog die Tür hinter sich zu und verschloß sie. Das alles ging so schnell, daß er, verblüfft von dem plötzlich eingetretenen Wechsel in seiner abenteuerlichen Lage, erstaunt über die Sicherheit ihres Auftretens und ihre Schönheit keine Dankesworte finden konnte.


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