Adolf Gelber
Kalmückische Märchen
Adolf Gelber

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Die Legende vom Mitleid

Hierauf ging der Chansohn wie die vorigen Male hin und lud sich den Toten auf den Rücken und während ihrer Wanderung erzählte Siddhi-Kür abermals eine Geschichte.

»Früh vor Zeiten,« begann er, »lebte einmal in einem weit entlegenen Lande ein Brahmanensohn. Dieser verkaufte sein eigenes Vaterhaus um ein tüchtiges Stück Tuch, lud dasselbe auf einen Esel und zog in ein fremdes Land. Unterwegs begegnete er einer Schar Jungen, welche im Kreise herumsaßen und mit etwas spielten. Als er nähertrat und ihnen über die Schultern sah, gewahrte er, daß es eine kleine Maus war, mit welcher sie sich einen Spaß machten. Sie hatten ihr einen Strick um den Hals gebunden, steckten sie in einen Wassertümpel, der in der Mitte war und zerrten sie hin und her.

›Was tut ihr da,‹ rief er, aber sie hörten nicht auf ihn und da sie die Maus so quälten, konnte er es nicht länger mit ansehen.

›Ach ihr Jungen,‹ sagte er, ›habet ihr denn kein Mitleid. Die Sünde ist groß, lasset sie doch los!‹

Die Jungen lachten und sprachen:

›Seht da den Narren, mit einer Maus hat er Mitleid,‹ worauf er sagte:

›Aber was habet ihr denn davon? Was für einen Nutzen bringt es euch, ein Tier so zu quälen?‹ worauf sie antworteten:

›O je, was weißt du, was wir davon haben. Wir brauchen sie zu was besonderem und nur ein Narr kann es nicht verstehen, wozu wir sie brauchen.‹

Sagte er:

›Nun, wenn es nicht anders geht, was verlangt ihr dafür, daß ihr sie freilasset?‹

Darauf rief einer:

›Den dritten Teil von deinem Tuch, sonst werden wir sie nicht frei geben.‹

›Gut denn,‹ antwortete er, ›nehmet den dritten Teil.‹

Worauf er ihnen denselben abmaß. Da ließen sie das Tier frei.

Auf seinem weiteren Wege traf er abermals eine Schar Jungen, die einen jungen Affen festhielten und unter Faustschlägen zum Tanzen zwingen wollten. Da er jedoch, weil er nicht tanzen konnte, am ganzen Leibe zitterte und sie ihm mit dem Rufe: ›Wirst du gleich ordentlich tanzen,‹ immer wieder Faustschläge versetzten, ward der Brahmanensohn in seinem Herzen wieder tief bewegt. Da die Jungen jedoch trotz seiner Bitten, den Affen loszulassen, denselben nur weiter marterten, so gab er ihnen das zweite Drittel seines Tuches, nahm den Affen und ließ ihn in den Wald entlaufen. Als er von hier weiterging, traf er in der Nähe einer Stadt wieder eine Schar Jungen, die einen jungen Bären hatten, den sie wiederum, um mit ihm zu spielen, mit Stockhieben und Faustschlägen marterten. Er legte die Hand vor die Augen und sagte:

›Die Menschen haben gar kein Mitleid.‹

Dann gab er den Knaben um der Befreiung des Bären willen den letzten Rest von seinem Tuch und der Bär entschwand im Walde.

Da er nun mit seinem Tuch zu Ende war, so dachte er, seinen Esel vor sich hertreibend, auf dem Wege:

›Um mein Tuch zu verhandeln bin ich hierhergekommen und jetzt, da meine Waren dahin sind, stehe ich blank da. Was bleibt mir? Soll ich zum Dieb werden? Nichts habe ich mehr auf der Welt.‹

So denkend band er, da er in die Nähe einer Stadt kam, seinen Esel in einem dunklen Wald an, der sich nahe derselben dehnte und begab sich in die Stadt, um zu sehen, ob sich dort nicht etwas erarbeiten ließe. Da traf er einen Mann, der sagte:

›Du bist ein junger strammer Geselle mit breiten Schultern. Bist du ein Lastträger?‹

Er sagte ja. Der Mann fragte weiter:

›Möchtest du mir nachts etwas aus meinem Hause heraustragen helfen?‹

Und als er wiederum bejahte, nahm ihn der Mann, der aber ein verwegener Dieb war, mit sich und führte ihn, da es Nacht geworden war, in den Palast des Chans.

›Das ist ein großes Haus,‹ sagte der Brahmanensohn, ›gehört es Euch? Da müßt Ihr hübsch reich sein.‹

›Das bin ich auch,‹ erwiderte der Mann und führte ihn auf Umwegen in die Vorratskammer des Palastes, wo er ihm eine Last Seidenstoffe auflud. Aber wie sie wieder weg sollten, wurden sie von den Wachen erblickt, der Dieb enteilte und der Brahmanensohn wurde ergriffen.

›O, dieser Mensch hat aus dem Palaste gestohlen,‹ schrien sie und führten ihn gleich vor den Chan.

Wie erbittert dieser war, kann man sich vorstellen.

›Hat man das schon gehört,‹ rief er, ›in meinem eigenen Palaste hat der Geselle gestohlen!‹

Und die Minister sagten:

›Ein Kerl, der sich, um zu stehlen, sogar in das Haus des Chans hineinwagt, verdient keine Gnade, und leugnen tut er auch noch! . . . Natürlich ein Brahmanensohn ist er und ließe sich lieber die Hand abhacken, als daß er einen Diebstahl begehen sollte!‹

Darauf erklärten sie, daß gerade dieses Leugnen die allergrößte Frechheit sei und daß er darum doppelt schwer bestraft werden müßte. Demnach holte man einen großen Kasten, legte ihn hinein, vernagelte den Kasten mit eisernen Nägeln und warf ihn ins Wasser hinein.

Der Wind aber trieb den Kasten an einen mitten im Wasser emporragenden Baum, an welchem er hängen blieb. Der Jüngling seufzte und war, weil das Atmen im verschlossenen Kasten so beengt war, fast schon dem Tode nahe. Da horch, begann etwas an der Außenseite des Kastens zu zerren und zu nagen; und als der Nagel ein wenig nachgegeben hatte, sodaß der Jüngling durchblicken konnte, war es die früher von ihm losgekaufte und freigelassene Maus.

›Du bist es, Maus?‹ sagte er, ›kommst du, um zu sehen, wie grausam die Menschen sein können?‹

Sie aber sagte:

›Warte nur, sei ruhig, ich will die andern zwei Gefährten rufen, gleich werden wir wieder da sein.‹

Damit eilte sie davon, zum Affen hin, um es ihm zu melden: und bald war auch der zur Stelle und erweiterte den Spalt im Kasten. Dann kam auch der Bär, der das Gehäuse vollends zertrümmerte und den Jüngling aus dem Wasser zog und zu einem geräumigen Werder im Flusse hintrug. Dann brachten sie ihm Obst und anderes.

Auf einmal, wie er sich umsah, erblickte er einen Lichtschein: der rührte von einem Edelstein her, der war so groß, wie das Ei des Vogels Tomi und die Maus sagte:

›Willst du nicht hingehen, nach dem Edelstein zu sehen? Ein Edelstein ist ja das beste auf der Welt.‹

Worauf er sagte:

›Ach, meine Freunde, die ihr mich gerettet habt, Treue ist das beste.‹

Da sprachen sie:

›Du irrst dich in uns, wir sind nicht Bär, Affe und Maus. Und wisse, daß dieser Stein ein Talisman ist. Wer ihn hat, dem schafft er, wenn er es will, gleich eine ganze Stadt und darin eine Burg mit Pferden und Reisigen und allem Reichtum, den er sich wünscht. Tausend Menschen sind auf seinen Wink tot und wem er befiehlt, der muß gehorchen.‹

Da sagte der Brahmanensohn:

›Das wünsche ich mir nicht‹ und als sie ihn zum Talisman führten, sagte er, es möchten ringsherum Bäume allerlei Arten hervorsprossen und Quellen vom heiligen Wasser strömen. Sofort sproßten früchtebeladene Bäume verschiedener Art hervor. Mancherlei Vögel ließen ihre Stimmen ertönen. Von Blumen verschiedener Art war eine Fülle vorhanden und ebenso von Häuschen, an denen man sich nicht satt sehen konnte. In der Mitte erhob sich aber ein besonders schönes Haus, wohin die drei Freunde ihn führten, indem sie sagten:

›Hier sollst du wohnen.‹

Da sprach der Brahmanensohn:

›Wohl sehe ich, daß dies ein Wunderstein ist. Aber ach, wenn doch aus dem Reiche der Götter eine Brahmanentochter erschiene und meine Gemahlin würde, dann wäre ich glücklich!‹

Kaum hatte er den Wunsch ausgesprochen, da kam ein junges Mädchen in leichtem Kleide daher, sie hatte einen Stab in der Hand und sah aus, wie die Tochter armer Leute.

›Wer ist das?‹ fragte der Jüngling. ›So arm sieht sie aus!‹

Die Maus antwortete: ›Und ist doch eine Brahmanentochter, rein und gut!‹

Damit verschwanden die drei Freunde und der Brahmanensohn lebte lange und glücklich.«

»Solch ein hochbeglückter Jüngling war das,« sagte der Chansohn und erschrak, weil er sich das Wort wieder hatte entschlüpfen lassen und fürchtete, daß ihm der Leichnam nun wieder davoneilen werde. Aber Siddhi-Kür versetzte: »So ist es, recht hast du! Ganz recht, mein Chan!«

*

Und siehe auf einmal war Nagarguna, der Meister, der siegreich Vollendete, da und sagte: »Noch ist es trüb auf der Welt, noch hast du das Glück der Gesamtheit der Bewohner auf Gambudvipa nicht befördert: und noch ist es wahr, daß in der Welt nicht sein, gut ist. Aber weil du in eigener Person so vielemale, um zu büßen, den Leichnam geholt, auf deinem Rücken ihn getragen und wieder ihn geholt hast und weil kund ist, daß du dich Eins weißt mit allem und dich schuldig fühlst, darum soll deine Buße angenommen sein und kein König, wer er auch sei, sich besser dünken als du, mein Chansohn.«

Buchschmuck

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