Gustaf af Geijerstam
Wald und See
Gustaf af Geijerstam

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Die alte Bibel

Ein alter Geistlicher und ein junger saßen zusammen in dem Studierzimmer des alten Geistlichen, von dessen Fenstern aus man die Westsee sich im Sonnenschein gegen waldlose Klippen und Schären brechen sah. Der junge Geistliche war auf Besuch zu dem alten gekommen, bei ihm Rat zu suchen und sich zu beklagen. Das hatte er getan, weil er erst kürzlich von der Universität ins Leben hinaus getreten war und die Wirklichkeit, der er begegnete, ihn um so mehr erschreckte, je tiefer er die Pflicht empfand, einzugreifen und zu bessern.

Der Alte und der Junge saßen einander gerade gegenüber. Sie sprachen von Land und Leuten, ihren Sitten und Unsitten. So lange sie sprachen, hörten sie nur ihre beiderseitigen Stimmen und die Worte, die jeder von ihnen dachte und aussprach. Sobald sie aber eine Weile schwiegen, klang in ihren Ohren das Rauschen des Meeres und das starke Brausen des Windes um den alten tiefliegenden Pfarrhof. Zuletzt war ihnen beiden, als säßen sie einsam draußen in der wilden Brandung und versuchten, sich im Glauben zu üben, um durch ihn die Mächte der Natur zur Ruhe zu zwingen. Die beiden Männer empfanden dies auf verschiedene Weise. Denn der eine von ihnen war alt und hatte seine Bücher fast vergessen. Statt dessen war er vertraut geworden mit den Wogen, die hoch um ihn gingen, im Menschenleben wie in der Natur, und er konnte über sich selber lächeln, wenn er der Zeit gedachte, da auch er das Unmögliche versucht hatte. Der andere dagegen war jung, und über ihn hatte das, was er in den Büchern las, solche Macht, daß er nicht einmal glauben wollte, daß die Natur so war, wie er selbst sie doch sah. Alles um ihn her erbitterte ihn, besonders die Ruhe, mit welcher der alte Pastor den Ausbruch seines geistlichen Zornes aufnahm.

Nun saßen die beiden schweigend, in ihre Gedanken versunken, der Junge darüber nachgrübelnd, was der andere ihm sagen würde, der Alte überlegend, ob er weiter sprechen oder es dem Leben überlassen sollte, dem neuen Geistlichen seine Lehren langsam und schwer beizubringen. Und während sie so saßen, lauschten beide mit verschiedenen Gefühlen dem Meere und sahen auf der Bucht einen Küstensegler, an dem eben das Großsegel fiel, hinter einer Klippe verschwinden.

»Es kommt Besuch,« sagte der Pastor. »Und dem Boot nach zu urteilen ist es einer von weit her. Ich glaube, es ist ein Norrösund-Boot.«

Der Junge stand auf, um zu gehen. Aber der Pastor winkte ihm, sitzen zu bleiben: »Du bist selbst Geistlicher und magst gern zugegen sein.«

So saßen die beiden Geistlichen einander gegenüber an dem großen schwarzen Schreibtisch und warteten. Der Adjunkt blickte hinaus über die Klippen, um die das Meer dunkel ging, der Pastor saß still und blickte gleichsam in sich hinein. Er dachte an die Bevölkerung, die ihm lieb geworden war, weil er sie verstand, und hatte das Gefühl, als müßte er sie gegen Angriffe und Schmähungen verteidigen. Es lag etwas in der Art des Jungen, über die Leute zu urteilen, das dem Alten dies Gefühl einflößte. Beide aber, der Alte und der Junge, warteten auf den Besuch, der kommen sollte, als gehörte er zu ihrem Gespräch, und sie lauschten gespannt auf jeden Laut, als könne ein so alltägliches Ereignis wie ein Besuch aus den Schären auf alle ausgesprochenen und unausgesprochenen Fragen Antwort erteilen. Und als sie endlich draußen auf der Matte des Vorzimmers Füße scharren und leises Klopfen an der Zimmertür hörten, taten beide auf einmal einen Atemzug der Erleichterung.

»Herein!« sagte der Pastor als Antwort auf das leise Klopfen.

Draußen hörte man ein Geräusch wie von Kleidern oder Stimmen, aber niemand öffnete. Da stand der Alte auf und öffnete selbst die Tür, der Junge aber blieb auf seinem Stuhl sitzen und sah den Eintretenden scharf entgegen.

In der Türöffnung zeigte sich zuerst ein junger Mann in Südwester und Öljacke. Sein Gesicht war derb gehauen und gebräunt, die Augen blickten unter breiten Augenbrauen klar hervor, der Mund war voll und das Kinn von einem kurzen, hellen Bart bedeckt. Er blieb auf Socken an der Tür stehen und machte einen Kratzfuß. Die Wasserstiefel hatte er ausgezogen und neben die Treppe gestellt. Als er eingetreten war, sah er sich freimütig um, schien aber doch zaghaft. Er machte einen Versuch zum Lächeln, aber das Lächeln blieb in den Mundwinkeln stecken und die Augen blickten ernsthaft, wie zuvor. Hinter ihm stand ein Weib. Ihr Gesicht war unter dem Kopftuch versteckt, das tief über die Stirn gezogen war, und ihre Gestalt verhüllte ein langes Schaltuch, das sie mit beiden Händen zusammenhielt. So dicht als möglich hielt sie sich zu dem Mann und blickte nicht auf.

Der Pastor gab ihnen beiden die Hand. Darauf setzte er sich wieder an seinen Platz vor dem Schreibtisch und winkte dem Paar an der Tür, näher zu kommen. Sie gehorchten jedoch dem Wink nicht, sondern blieben stehen, und beständig hielt das Weib sich hinter dem Mann. Mehr als einmal mußte der Pastor sie nach ihrem Anliegen fragen, ehe er eine Antwort bekam.

»Die Sache ist die,« sagte der Mann endlich, »wir möchten heiraten.«

Der Pastor schlug sein Buch auf und suchte ihre Namen heraus. »Tritt vor, Johan Ersson,« sagte er.

Der Mann tat so.

»Du auch,« fuhr der Pastor, zu dem Weib an der Tür gewandt, fort.

Da trat auch sie vor. Während sie ging, strich sie das Kopftuch zurück und zeigte ein junges Gesicht mit tiefen Augen und reinen, schönen Zügen. Aber wie sie dastand und die Blicke der beiden fremden Männer auf sich ruhen fühlte, schlug sie die Augen nieder und errötete. Denn sie wußte, daß sich ihr Geheimnis nicht verbergen ließ, und daß ihre Gestalt sie verriet. Auch der junge Geistliche ward rot im Gesicht. Er machte eine heftige, mißbilligende Gebärde, als hätte er etwas Abstoßendes gesehen, und erhob sich. Aber der Alte sah ihn an und sagte gebieterisch und ruhig: »Sitz still und laß mich reden oder schweigen, wie ich will.« Damit wandte er sich zu dem Mann, der ernst geworden war und verlegen das Weib an seiner Seite betrachtete, als möchte er ihr irgendwie helfen und könnte doch nicht oder getraute sich nicht.

»Hast du soviel, daß du heiraten kannst?« fragte der Pastor.

»Ich habe Haus und Boot und Netze,« antwortete der Mann, »und schuldig bin ich nicht viel.«

»Hm!« meinte der Pastor. »Es sieht aus, als hättet ihr früher kommen sollen. Jetzt kommt die Taufe wohl recht bald auf die Trauung.«

Der Anflug eines Lächelns flog über die rauhen Züge des Mannes, und er blickte rasch zur Seite, auf das Weib, das noch immer zusammengeduckt dastand, mit einer Miene, als möchte sie eigentlich nichts hören und nichts verstehen. Dann blickte er dem Pastor fest ins Gesicht und antwortete: »Das hätten wir freilich. Aber wir haben keine Zeit gehabt.«

»Keine Zeit?«

»Nein! Es war gerade mitten in der Fischzeit. Und wir haben einen weiten Weg.« Er schwieg eine Weile, als besänne er sich. »Sonst wären wir schon früher gekommen,« fügte er dann bedächtig hinzu.

»Lebt sie mit dir?« fiel der Pastor hier ein.

»Ja,« antwortete der Mann. »Ich hab' jemand haben müssen, der mir mit den Netzen und im Hause hilft, jetzt, wo meine Mutter tot ist.«

»Und vorher habt ihr nicht daran gedacht, zu heiraten?«

»Nein.«

Der Pastor sagte nichts mehr, sondern stellte den Schein aus, rief darauf seinen Knecht als zweiten Zeugen herein und ließ Johan Ersson und seine Braut ihre Namen unterschreiben. In zierlicher Schulkinderhandschrift schrieb das junge Weib Anna Olsdotter neben den Namen des Bräutigams, knixte tief vor dem Pastor und wollte gehen. Aber der Pastor hielt sie zurück und gab die Feder dem Adjunkt, damit er seinen Namen als erster Zeuge unterzeichnen sollte.

»Kann nicht jemand anders?« murmelte dieser. Widerwille spiegelte sich auf seinem schmalen, glattrasierten Gesicht.

»Schreib!« sagte der Pastor ruhig.

Der junge Geistliche schrieb, aber als er die Feder fortlegte, vermochte er nicht länger zu schweigen, sondern brach, indem er sich an das Paar vor ihm wandte, aus: »Aber wenn – wenn ihr nun keine Zeit mehr gehabt hättet, was dann?«

»Dann hätten wir freilich noch einen Monat warten müssen,« antwortete der Mann. »Aber dann hätte Anna mich wahrscheinlich überhaupt gar nicht mehr begleiten mögen.«

»Was sagt ihr?« fuhr der Junge auf, und seine Stimme bebte so, daß sie überschlug.

»Ich hab' sie überreden müssen, daß sie jetzt mitkam,« fuhr der Mann fort, und wieder fuhr der Schein eines Lächelns über seine Züge. »Sie schämte sich, daß sie sich so vor dem Pastor zeigen sollte. Das ist natürlich.«

Der junge Geistliche faßte sich mit beiden Händen an den Kopf und wollte noch mehr sagen. Aber der Alte gab ihm einen Wink, zu schweigen, hieß den Knecht, der jetzt auch unterschrieben hatte, gehen und wandte sich dann wieder an die beiden Verlobten. »Das ist recht, Johan Ersson,« sagte er, »daß du das Weib gezwungen hast, mit dir zu gehen. Ich wünsch euch beiden jetzt in Gottes Namen Glück! Und sorgt nur dafür, daß ihr über drei Sonntage Zeit habt, damit die Trauung stattfinden kann!« Darauf gab er erst dem Weib und dann dem Mann die Hand, klopfte ihnen beiden väterlich auf die Schulter und machte selbst die Tür hinter ihnen zu. Er stellte sich an das Fenster und sah sie im Sturm davongehen, der Mann voraus, das Weib schwer in seine Fußtapfen tretend. Keins von ihnen sagte ein Wort zum andern, während sie so gegen den heftigen Wind gingen.

Als sie verschwunden waren, wandte sich der alte Geistliche um und sah den jungen an. Der saß noch mit gegen den Kopf gedrückten Händen und den Ellbogen auf dem Tisch. Plötzlich hob er den Kopf und ließ seine Hand schwer auf den Tisch fallen. »Wie konntest du so zu ihnen sprechen, wie du's getan hast?« brach er aus. »Nicht Ein Wort über ihre Sünde! Nicht Ein Wort vom Lohn der Sünde, von . . .« Die Stimme blieb ihm im Halse stecken und er verstummte aus Furcht, sich einem älteren Manne gegenüber zu vergessen.

Der alte Geistliche stand eine Weile in Gedanken auf seinem Platz am Fenster still und ließ dem jungen Zeit, sich zu beruhigen. Darauf nahm er eine Pfeife aus dem Ständer, stopfte sie, zündete sie an und setzte sich im Schreibtischsessel zurecht.

»Sünde!« sagte er. »Ja, wir alle sündigen. Aber ich will dir eins sagen. Ich kenne viele aus dem Kreise der Gebildeten, die sich mit einem Weib in aller Anständigkeit vor dem Gesetz verheiraten und sie, ehe ein Jahr zu Ende ist, ihrem Schicksal überlassen, um einer anderen nachzulaufen. Das tut der Mann, den du eben hier gesehen hast, nicht. Ich kenne auch Frauen, die heiraten, um ohne selbst zu arbeiten in Ruhe von der Arbeit zu leben, die ihr Mann für zwei, nein, für alle tut, so groß auch die Familie werden mag! Das tut diese Frau nicht. Bis zum letzten wird sie ihren Mann im Boot auf die See hinaus begleiten, und wenn sie ihr Kind geboren hat, so dauert es nicht lang, bis sie ihn wieder begleitet. So ist das Leben dieser Menschen und so wird es sein, so lange sie leben. Sie werden ihr ganzes Leben hindurch arbeiten und ihre Kinder lehren, zu arbeiten, gleich ihnen. Das Fundament aber, auf dem sie ihr Leben aufbauen, ist, daß die Liebesfreude geheiligt wird durch das Kind. Rühr nicht an dieses Fundament! Auf ihm läßt sich viel Gutes aufbauen!«

Der Adjunkt lächelte. »Hat dir das jemand gesagt?« fragte er höhnisch.

»Nein,« antwortete der Pastor. »So etwas können diese Menschen nicht sagen. Aber sie fühlen es. Ich verstand es im Anfang nicht. Aber ich habe mich zum Verständnis durchgelebt. Ich habe mein Herz gebeugt, um ihrem Herzen näher zu kommen, so nahe, daß ich sein Schlagen zu deuten wußte. Lebe mit ihnen und beuge dein Herz auch du! Dann wirst du aufhören, zu richten. Denn wer dies heilige Fundament eines großen Teils unsres Volkslebens schmäht, der denkt niedrig von unserem Volk. Und der ist noch zu hochmütig, um zu verstehen.«

Der andere schwieg, schüttelte aber den Kopf. Denn er war in dem Gedankengang der Gebildeten, Studierten und Frommen befangen und zu hochmütig, um zu lernen.

Der Pastor saß eine Weile still und sah den anderen an, und fühlte Mitleid mit ihm, weil er sich erinnerte, daß auch er selbst einst streng auf die Menschen geblickt hatte, wo man mild blicken muß, und nachsichtig gewesen war, wo man streng sein muß. Dann ging ein Lächeln über sein Gesicht. Er legte die Pfeife weg und trat zu dem großen Bücherständer, der die ganze Wand bedeckte und sich zu beiden Seiten des Sofas fortsetzte. Dort nahm er ein Buch herab und gab es dem jungen Geistlichen. Der nahm das Buch und öffnete es verwundert. Es war ein großes Buch, voller Bilder, die Deckel waren in Gold gepreßt und durch breite Messingspangen zusammengehalten. »Das ist ja eine Bibel,« sagte er.

»Ja,« sagte der alte Geistliche. »Behalte sie! Und wenn du zum ersten Mal hier außen ein Paar traust, das auf dem Weg zur Heiligung seines Bundes geht, den du forderst, so gib sie ihnen zur Erinnerung von dir und von mir.«

Der junge Geistliche sträubte sich, das Geschenk anzunehmen; er ahnte, daß eine Lehre darin lag, und die wollte er nicht hinnehmen. Aber der Pastor nötigte ihn so, daß er schließlich das Geschenk behalten mußte. Damit schieden die beiden.

Der Adjunkt wanderte auf einem schmalen Fußpfad über die Klippen nach seiner Wohnung, das Buch hielt er an seine Brust gedrückt, während er durch den Sturm vorwärtsstrebte. –

Viele Jahre vergingen. Der alte Geistliche war gestorben und der junge hatte nach ihm das Pastorat erhalten. Fünfzehn Jahre lang behielt er, nach der Versicherung glaubhafter Männer, die alte Bibel, ohne je in die Lage zu kommen, sie verschenken zu können. Da verheirateten sich eines Tages der Knecht vom Pfarrhof, der Sohn eines Fischers, mit des Pastors Magd, die von Kindheit an in der Familie des Geistlichen wie ein Kind gehalten worden war. Der junge Geistliche begann seinerseits alt zu werden und war längst verheiratet, aber seine Ehe war kinderlos. Der Pastor und seine Frau hatten stets ein seltsam einsames Leben in der Gemeinde geführt, der gegenüber sie sich beide fremd fühlten. Aber für das junge Paar richtete die Pastorin selbst die Hochzeit aus, und ihm schenkte der Pastor nach der Trauung die schöne Bibel mit den goldgepreßten Deckeln und den Messingspangen. Denn diese beiden kannten er und seine Frau und wußten, daß sie sich auf sie verlassen konnten, wie auf sich selber. Drei Monate danach mußte jedoch der Pastor das erste Kind des Paares taufen, und seit dem Tag sprach niemand mehr von der alten Bibel, am wenigsten die, die sie als Tugendgabe empfangen hatten.

Als aber der Geistliche zur Taufe geholt wurde, erschrak er. Denn ihm war fast, als ginge der alte Pastor um und spukte. Dies Ereignis war ein schwerer Kummer für den neuen Pastor. Er wurde nämlich sein Leben lang »der Neue« genannt, zum Unterschied von dem alten, der längst tot war, aber nicht vergessen. »Der Neue« konnte nie so recht erfassen, was geschehen war, und stieg ins Grab, ohne es erfaßt zu haben. Es war eine Kluft zwischen ihm und der Bevölkerung, über die er nicht hinwegkam.

 


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