Gustaf af Geijerstam
Wald und See
Gustaf af Geijerstam

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Kristins Myrte

Kristin diente als Stallmagd auf Dalbyhof. Als sie die Stelle antrat, kam sie zum erstenmal in einen Dienst. Sie kam aus einem Käthnerhäuschen an der Küste von Småland, aus dem der Vater eben weggestorben war und in dem es viele Geschwister gab, und als sie sich auf dem Mietsbureau in Stockholm zeigte, in einem braunen Strohhut mit Sammetbändern und einem großkarierten Baumwollkleid, das ihre festen, vollen Formen prall umschloß, taxierte die Frau sie sofort auf ungeeignet für die Hauptstadt und stellte ihr die Vorteile einer guten, sichern Stelle auf dem Land vor. Und als Kristin das königliche Schloß gesehen hatte, und die Wachtparade und Berns Salon, wo die Leute rauchten und schrieen und tranken, und wo die Musik schrillte, daß ihr ganz wirr wurde, während die Tabakswolken sich um sie her wälzten, daß ihr die Augen tränten, da deuchte es Kristin, jetzt hätte sie Stockholm gesehen und hätte genug von der Stadt. Und um nicht, wenn ihr Geld zu Ende wäre, auf ein unbezahltes Vorderdecksbillett wieder heimkehren zu müssen und noch einmal seekrank zu werden, nahm Kristin, was das Vermietungsbureau ihr bot, bezahlte ihre schwere Gebühr und kam eines Sonnabend abends nach Norrtelje, wo der Stallknecht sie mit dem Milchwagen abholte. Als sie am Sonntagmorgen aufwachte und hinaustrat, fühlte sie sich erst ein bißchen beklemmt von all den großen Bäumen und dem Wald, der bis zur See hinunterging und wo der Ausblick wie durch einen Zauber zu Ende war. Kristin war nämlich gewohnt, die Ostsee vor sich zu sehen, blau und weitgestreckt, oder auch schwarz, mit hochgehenden Wellen. Mit einem Wort, Kristin war gewohnt, Horizont zu sehen, und darum fühlte sie sich klein und beklemmt, als sie nicht weiter sehen konnte, als bis zum Staket des Obstgartens oder dem Ende der Felder. Die See, die vom Herbstwind gekräuselt dalag, war rein gar nichts, dachte Kristin, und die alten Bäume schienen ihr so groß und dicht, daß sie sie beängstigten.

Aber als Kristin in den Stall kam, da wußte sie, daß es ihr hier gefallen würde. Nie hätte sie gedacht, daß es in einem Stall so rein und schmuck sein, oder daß es überhaupt so viele Kühe auf einem Fleck beisammen geben könnte. Alles da drin war schwarz, weiß und rot, und der Fußboden war wie eine Mauer, steinhart und eben, reinlich und glattgefegt. Sie konnte sich gar nicht genug verwundern über das viele Vieh, seine Farbe, sein Aussehen, und wenn es einem Menschen überhaupt irgendwo gefallen konnte, so mußte es ihm hier gefallen, so fein und vornehm, wie alles war. Nur deuchte ihr im Anfang, die Kühe wären eine Herrschaft, der sie aufwarten sollte. So fein hatten sie es.

Nach und nach jedoch ward ihr alles vertraut und gewohnt, und es gefiel Kristin. Die Arbeit paßte für sie, denn für alles was Vieh hieß, hatte sie immer eine gute Hand gehabt und es gern leiden mögen. Tiere und Kinder, das war Kristins Leben, und sie waren auch hinter ihr her, wohin sie nur kam. Kristin war ein bißchen schwerblütig und langsam und mochte nicht gern viel reden. Eben darum paßte es auch so gut für sie, Kühe um sich zu haben. Denn wenn sie saß und molk oder in den Ständen umherging und Ordnung schaffte und alles sauber machte, so brauchte sie nicht mehr zu reden, als sie wollte. Die Kühe verstanden sie auch so, und was ihnen geschah oder sie anging, das passierte, ohne daß man mit ihnen zu reden brauchte. Das Ärgste war, wenn der Baron in den Stall kam. Er kam mit der Zigarre im Mund, dem Stock mit der silbernen Krücke und aufgekrempelten Hosen, und ein paar große, gelbe Hunde liefen immer dicht hinter ihm drein. Ohne ein Wort zu sagen, ging er umher und blinzelte durch die schwarze Horneinfassung des Kneifers nach allen Seiten. Und Kristin war dann immer ganz außer sich vor Schreck und schwitzte den ganzen Rücken hinunter, wenn sie ihn nur sah.

Aber zuletzt gewöhnte sie sich auch an ihn; es war ja gut, daß er so selten etwas zu ihr sagte. So brauchte sie nicht zu antworten. Aber an die paarmal, die sie mit dem Baron gesprochen hatte, an die dachte Kristin ihr ganzes Leben lang, und sie hätte jederzeit erzählen können, was er zu ihr sagte, und was sie zur Antwort herausbrachte. Nein, da war's ganz anders, wenn die Baronin kam! Die konnte schwatzen und alles mögliche reden, daß es nur so schwirrte, und ein anderer brauchte bloß zuzuhören und Ja und Amen zu sagen, und alles ging wie geschmiert!

Am allerbesten aber gefiel es Kristin in ihrer Stube im linken Flügel; die hätte sie nicht um alles in der Welt gegen eine andere eingetauscht und wäre sie noch so fein gewesen. Die Stube war natürlich klein und man mußte durchs Waschhaus, um hin zu kommen.

Wenn große Wäsche war, und der Dampf dick durch die Fenster und bis in den Hof hinaus quoll, da kam freilich so ein bißchen Scheuergeruch auch in Kristins Kammer, wie fest sie auch die Tür verschlossen hielt. Aber große Wäsche war bloß zweimal im Jahr, sonst war der große Waschkessel nur im Gang, wenn Schlachterei war, oder wenn das Weihnachtsbier gebraut wurde. Jedenfalls hatte es Kristin ganz friedlich in ihrer einsamen Stube, wo niemand sie störte, und um keinen Preis hätte sie tauschen mögen, weder mit der Köchin noch mit dem Stubenmädchen, die sich nicht zu rühren getrauten, weil Mamsell über ihnen wohnte, die alte Eule, – nicht einmal mit der Kammerjungfer, die unterm Dach direkt über der Schlafstube der Herrschaft wohnte, wo keine Katze niesen durfte – so still mußte es sein. Nein, Kristins Stube war klein, aber sie lag abgelegen und friedlich, und sie hatte es sich schmuck gemacht mit der weißen Decke, die sie von daheim mitgebracht hatte, dem Tischtuch auf dem Tisch, den Photographierahmen um den Spiegel über der Kommode und den Pelargonien im Fenster.

Wollte man sich einen vergnügten Abend machen, wenn man nicht im Freien sein konnte, und Mamsell in der Küche gelöscht hatte, so kam man hinüber zu Kristin ins Flügelgebäude, – die Mädchen, die auf dem Herrenhof dienten, der Stallbursche und der Viehknecht, der Vorknecht, und alle, die im Hauptgebäude wohnten. Auch der Kutscher kam ab und zu; denn – wenn er auch verheiratet war – er lief den Mädchen doch nach, ohne daß die Frau das zu wissen brauchte, und zu Zeiten, wo die Herrschaft es großartig gab und einen Diener hielt, kam auch der. Da war denn Leben und Heiterkeit in der kleinen Stube, und es gab Platz für alle. Wenn die Stühle nicht ausreichten, saßen die Mädchen, nach vielem Drehen und Zieren, zuletzt auf den Knieen der Burschen. Der Vorknecht, der sich auf Musik verstand, spielte auf der Geige und der Diener sang Lieder, die er in Stockholm gehört hatte, wenn der Baron und die Baronin manchmal den Winter dort zubrachten.

Bei diesen Zusammenkünften war eigentlich keiner, der sich besonders um Kristin kümmerte. Jedes der andern Mädchen hatte ihren Bräutigam, und wenn sie sich mit Kristin gut stellten, so geschah das eigentlich nur darum, weil sie sich in ihrer Stube vergnügen wollten, und sie nahmen vorlieb damit, weil es sich nun einmal nicht schickte, zu den Burschen hinaufzugehen. Und irgend welche sonstige Gelegenheit zum Umgang gab es nicht, außer natürlich im Sommer. Die einzige von allen, die keinen Burschen hatte, war Kristin. Das war so aus mancherlei Ursachen. Schön war sie ja nicht, das hätte keiner behaupten können, mit ihrem runden Gesicht, den kleinen Augen und dem fahlgelben Haar, das sich nie so legen wollte, wie es sollte. Aber manch eine hat doch einen Bräutigam, wenn sie auch häßlich ist. Also daran lag es nicht. Auch nicht daran, daß Kristin so wortkarg war. Denn im stillsten Wasser schwimmen die größten Fische. Dafür haben die Menschen meist einen Instinkt. Und Kristin war nicht diejenige, die nein gesagt hätte. Denn wenn abends Mondschein war, oder wenn der Frühling kam, und die Kälber losgelassen wurden, da flogen ihre Gedanken weit, während sie zwischen Stall und Küche, zwischen Küche und Flügelbau ab und zu ging, und wäre im rechten Moment ein Freier gekommen, so hätte Kristins Antlitz gestrahlt wie die Sonne, und ihr Herz hätte sich weit aufgetan. Denn Kristins Herz stand der Liebe offen, und sie hatte sich nach einem Freund gesehnt, so lang sie zurückdenken konnte.

Aber gerade darum, weil sie sich so sehnte, war Kristin nicht so, daß sie einen Mann fesseln konnte. Wenn einer versuchte, mit ihr zu sprechen, so saß sie meist mürrisch und stumpf da, wenn ihr auch das Herz in der Brust vor eitel Lust und Wonne hüpfte, und wenn ein Mann kam und mit ihr schön tun wollte, da war Kristin so glückselig, daß sie vor lauter Zufriedenheit purpurrot wurde und kein Wort erwidern konnte. Das zu verstehen, war nicht so leicht, und darum mußte Kristin lange seufzen.

Einmal fand sich jedoch ein junger Mann, der nicht an Kristin vorüberging. Er kam von Småland, wie sie, und hatte eine Stelle im Pferdestall gerade wie sie im Viehstall, und daß er sich von Kristins abstoßender Manier und mürrischen Mienen nicht täuschen ließ, kam vielleicht daher, daß sie beide Kinder derselben Gegend waren und einander darum leichter verstanden. Tatsache ist, daß er den richtigen Instinkt hatte in bezug auf die langsame Stallmagd, die stumm und stramm ihrer Arbeit nachging und nie lebhaft wurde, außer wenn sie mit kleinen Kindern spielte. Er nahm Kristin um die Schultern und flüsterte ihr ins Ohr, was er sich nicht laut zu sagen getraute, und Kristin traktierte ihn mit der Heugabel und riß ihn am Haar und gab ihm die ärgsten Scheltworte, so daß das Verhältnis zwischen den beiden von Anfang an das allerbeste und alles in schönster Ordnung und so war, wie es sein mußte. Kristin ging mit feuchten Augen umher und trug einen Monat lang täglich ein frisches baumwollenes Halstuch. Aber aus der Liebe wäre dennoch nichts geworden, wenn Blomkvist nicht Zug in die Geschichte gebracht und in einer schönen Frühlingsnacht, als Kristin schlief, das Fenster zu ihrer Kammer ausgehoben hätte. Als er das Fenster hatte, kletterte der Bursche hinein, ohne ein Wort zu sagen, setzte das Fenster wieder ein und hakte es fest.

Als Kristin dann endlich erwachte und schlaftrunken sah, was geschehen war, da wehrte sie sich nicht länger, hatte auch keine Scheltworte mehr zur Hand, sondern sie ergab sich, weil sie nicht anders konnte, und weinte vor Schreck und vor Rührung, erst, als sie Blomkvist sah, und dann, als er ging. Denn jetzt war der höchste Wunsch ihres Lebens erfüllt. Ohne daß sie sich damit zu quälen brauchte, ein Wort von all dem zu sagen, was in ihrem jungen Blut drängte und brannte, und wovon sie ums Leben nicht hätte reden können, vor lauter Scham und Erröten, hatte sie nun einen Freund, nach dem sie sich immer gesehnt hatte; jetzt brauchten die andern Mädchen nicht mehr scheel auf sie zu blicken. Denn jetzt wußte Kristin, was sie wußte, und jetzt war sie eben so gut, wie die, wenn sie auch in feinern Kleidern gingen, und feinere Arbeit hatten.

Der Frühling ging, und nach ihm kam der Sommer. Auch der Sommer ging. Es ward wieder Herbst mit Mondschein und Winter mit Schnee. Die ganze Zeit über hatte Kristin ihren Freund; ob es jemand wußte oder nicht – das kümmerte das liebende Mädchen nicht. Denn sie war niemand im Weg, das wußte sie, und ihre Arbeit tat sie so gut wie zuvor, eher noch besser. Denn jetzt brauchte sie nicht mehr zu warten und zu grübeln. Tagsüber sah Kristin Blomkvist fast nie, und wenn sie sich sahen, wußte sie nicht, was sie mit ihm reden sollte. Kam er und sagte etwas, so konnte es geschehen, daß Kristin wieder zu Heugabel und Haarzausen griff, wie damals, als sie sich zu verteidigen hatte. Aber Blomkvist mißverstand sie nie, und so oft er kommen mochte, kam er eben. Er brauchte jetzt auch das Fenster nicht mehr auszuheben. Denn Kristin war flink wie ein Fisch, immer wach und bereit zu öffnen, sobald er anklopfte, sie, die sonst geschlafen hatte wie ein Stein.

Kristin gewöhnte sich so an Blomkvist und war seiner so sicher, als hätte der Pastor sie längst zusammengesprochen; nie kam es ihr in den Sinn, daß Blomkvist sie verlassen könnte. Sie, die es so gut mit ihm meinte und es nie übers Herz gebracht hätte, ihm ein anderes Leid anzutun, als das, was nun einmal eben sein mußte, und außerdem nur gut gemeint war.

Aber als der Winter sich zu Ende neigte, kam Blomkvist eines Abends zeitiger als gewöhnlich. Und diesmal kam er zur Tür herein.

Nie in ihrem Leben war Kristin so verlegen gewesen. In ihrer Verwirrung wußte sie nichts anderes, als daß sie mit ihrer Schürze einen Stuhl abwischte und Blomkvist bat, sich zu setzen.

Auch Blomkvist fand die Situation peinlich. Er setzte sich auf den Stuhl, legte aber den Hut nicht aus der Hand. Er saß und wand sich und drehte sich und faßte in seinen roten Bocksbart. Kristin wurde immer verlegener, und zuletzt ward ihr so bang, daß es nicht mehr lang gedauert hätte, so hätte sie etwas gesagt.

Schließlich begann Blomkvist mit großer Anstrengung:

»Ich bin gekommen, weil ich dir doch Adieu sagen wollte. Ich habe dem Baron gekündigt. Und nächste Woche ziehe ich.«

»Wann hast du das getan?« fragte Kristin.

»Schon vor einer Weile,« sagte Blomkvist. »Aber ich hab' gedacht, es lohnte sich nicht, etwas zu sagen, eh es soweit war.«

Da saß nun Kristin und wunderte sich, wie in aller Welt so was möglich wäre. Aber sie gehörte nicht zu der Sorte Mädchen, von denen man schwer und mit Mühe loskommt. Wenn Blomkvist gehen wollte – Kristin konnte ihn nicht daran hindern. Wenn sie noch so gern wollte – sie konnte nicht. Und gleich mit Weinen anfangen und sich gehen lassen, das lag nicht in ihrer Art. Aber ihr schien, kein Mensch könnte so unglücklich sein, wie sie es jetzt war, und sie fühlte, daß sie sich gern einen Arm abhauen lassen würde, wenn nur Blomkvist bliebe.

Blomkvist fühlte sich auch gar nicht recht sicher auf seinem Stuhl; er war bang, Kristin könnte Einwendungen machen und ihn zwingen wollen, zu bleiben. Als sie dies jedoch nicht tat, fühlte er sich leichter und mutiger. Etwas mußte er aber doch sagen, dachte er, und so streckte er seine Hand aus und sagte:

»Ich dank' dir auch, Kristin, für diese ganze Zeit.«

»Danke!« antwortete Kristin, und tastete nach seiner Hand.

Aber sie fand sie nicht. Denn vor lauter Weinen sah sie nichts, und darum nahm sie statt dessen ihre Schürze vor die Augen und weinte in sie hinein.

Da hielt es Blomkvist nicht länger aus. Er stand auf und ging. Als er draußen war, fühlte er sich ruhig. Er hatte sich bei dieser Liebschaft nie etwas gedacht, und wenn er nicht bang gewesen wäre, an Kristin hängen zu bleiben, wäre er auch nicht gegangen. Jedenfalls tat es ihm jetzt doch leid um sie – obwohl ja kein Mensch verlangen konnte, daß er ihretwegen bliebe, er, der jung war und tüchtig und überall was Besseres kriegen konnte. Aber am letzten Sonnabend abend, eh er ging, kam er noch einmal vor Kristins Fenster hinter dem Fliederbusch und klopfte. Denn unfreundlich wollte Blomkvist nicht sein. Das sollte keiner von ihm sagen können. Und Kristin öffnete prompt und bereitwillig, wie immer. Sie hatte es wohl gewußt – Blomkvist war keiner von denen, die gehen, ohne Adieu zu sagen.

Aber am Tag darauf – als Blomkvist fort war, – da begann für Kristin ein neues Leben. Im Anfang wartete sie noch darauf, daß ihr Freund schreiben sollte, und im ersten Monat kam auch ein Brief. Viel stand nicht drin. Aber er war unterzeichnet mit »dein dich innig liebender Freund«. Und diese Worte machten Kristin auf lange Zeit hinaus froh. Sie versteckte, was sie bekommen hatte, zu unterst in ihrer obersten Kommodeschieblade, und wenn die Sehnsucht in ihr zu stark wurde, nahm sie den Brief hervor und las ihn.

Dann erhielt Kristin keine Briefe mehr, sie wußte auch nicht, wohin sie schreiben sollte; denn davon stand in dem Brief nichts; Blomkvist hatte auch nichts gesagt, als er in der letzten Sonnabendnacht von ihr gegangen war; und sie hatte vergessen zu fragen. Er hatte auch nicht versprochen, daß er wiederkommen, oder daß zwischen ihnen beiden je etwas weiteres sein würde. Aber Kristin glaubte viele Jahre lang daran; am stärksten war ihr Glaube, wenn es draußen dunkel wurde, oder wenn zeitig im Frühling der Kuckuck aus dem Wald rief. Es gibt Menschen, dachte Kristin, die nichts versprechen und doch Wort halten. So war Blomkvist immer zu ihr gewesen, und Kristin glaubte, er würde sich gleich bleiben, so, wie er immer gewesen war. Und wenn er ihr einmal schriebe, wenn er sich seßhaft gemacht hätte, – sie würde sicher kommen, wohin es auch sein mochte.

Das wußte Kristin gewiß. Aber Blomkvist kam nicht, und schließlich hörte Kristin auf, ihn zu erwarten. Schweigend und festen Trittes, wie immer, ging sie im Stall umher. Die Kühe brüllten, wenn sie ihren Schritt vernahmen, und die Schafe blökten. Mit den Jahren ward Kristin immer gesetzter und behäbiger und sie fühlte sich so daheim, wo sie war, daß ihr nie der Gedanke kam, sie könnte ihre Stelle aufgeben oder eine andere annehmen. Die ganze Gegend kannte sie, und weil sie so lang auf ein und derselben Stelle war, nannte man sie die alte Kristin, noch eh sie vierzig war. Kristin ließ sich den Namen gefallen. Denn was hatte ihre Jugend ihr gefrommt? Einen zweiten Freund hatte sie nicht gehabt, – sie hatte sich auch nie nach einem gesehnt!

Eins war Kristins Stolz: wenn es etwas zu tun gab, wozu nicht jeder zu brauchen war, sagten der Baron und die Baronin – und auch Mamsell – immer: »Geht zu Kristin!« Und wenn etwas fortkam, und niemand wußte, wo es war, hieß es gewiß: »Fragt Kristin!« Manches ward auf die Art getan und geordnet. Und in Kristin erwuchs nach und nach ein Selbstbewußtsein, so daß sie schließlich gar nicht mehr so erschrak und schwitzte, wenn der Baron in den Stall kam. Sie grüßte ihn, wie jeden andern, und machte keine Umstände. Kristin hatte jetzt auch ein Sparkassenbuch, und in ihrer Stube wurde es immer schöner. Eine neue bunte Matte lag auf dem Fußboden, und die Pelargonien im Fenster hatten Setzlinge getrieben und sich vermehrt. Und in ihrer Mitte erhob sich eine Riesenmyrte, die Kristins Augapfel war, und für die man ihr oft viel Geld angeboten hatte; sie hatte sie aber nie hergeben mögen. Sie hatte sie in einen kleinen Topf unter ein Glas gepflanzt, just in dem Jahr, als sie und Blomkvist ihre Zusammenkünfte hatten. Jetzt war sie groß geworden – ein kleiner Baum, den nie jemand beschnitten hatte.


Tief im Wald, da wo der Weg zu Ende ging, wohnte auf einem kleinen einsamen Gütchen ein großer, einsamer Bauer, der Jan Karlsson hieß. Jan Karlsson hatte den Hof mit Kartoffelland, Stall, einem Pferd namens Schwärzchen, zwei Kühen, ein paar kleinen Äckern, und dem Wald, der ringsum wuchs, von seinem Vater geerbt, der seinerzeit dorthin gezogen war, das Land gekauft und angebaut und sich so gemacht hatte.

Der Hof hieß ›die Zehe‹. Vielleicht hatte er seinen Namen daher, daß, wo die Zehe aufhört, auch der Mensch aufhört. Auf diesem Hof hatte Jan Karlsson sein Leben lang gewohnt, und obwohl er sich nie damit aussöhnen konnte, daß es fast eine halbe Meile zur nächsten Landstraße und daß der Boden schwer zu beackern und wenig fruchtbar war, so mußte er eben doch dort wohnen. Denn sein Eigentum einfach im Stich lassen, das konnte er doch nicht, und daß sich irgend jemand fände, der sich da oben im Wald ankaufen würde, das war kaum denkbar. Solang die Mutter lebte, ging es auch. Sie hielt das Haus in Ordnung und versorgte ihn, molk, solang sie es konnte, die Kühe, und half draußen im Feld. Jan Karlsson war schon über vierzig Jahre alt, als die Mutter starb, und noch immer unverheiratet; wer ihn kannte, nannte ihn nur Janne. Denn alle entsannen sich noch des Vaters, der Karlsson geheißen hatte, und der Sohn konnte doch nicht unter dem gleichen Namen gehen.

Es ward recht einsam für Janne nach dem Tod der Mutter. Freilich war es seine eigene Schuld, daß es so war. Er konnte ja, statt eine Magd zu halten, die Lohn beanspruchte, heiraten; und mehr als einmal hatte die Mutter davon gesprochen. Aber Janne hatte nie darauf eingehen mögen; wen die Mutter auch vorschlug – immer war etwas, was ihm nicht behagte. Die Mutter verstand wohl, daß der Sohn nicht die Last auf sich nehmen mochte, ein Weib im Haus zu haben, das er dann nie mehr los werden konnte. Aber als sie im Sterben lag, war es noch immer ihr größter Kummer, daß Janne gar nicht dran wollte, und noch zuletzt ordnete sie an, wie alles gemacht werden sollte.

Nach ihrem Tod ging Janne umher und grübelte darüber nach, wie er es nun halten sollte; und er ward übellaunig und ärgerlich, weil er keinen anderen Ausweg sah, als nach dem zwei Meilen entfernten Källvik zu fahren und dort um ein Mädchen zu freien, das im Ruf stand, einen Haushalt führen zu können. Jan Karlsson erhielt auch das Jawort, nachdem sich das Mädchen eine Weile bedacht hatte, und heiratete. Aber es war sein Unglück, daß er immer und ewig darüber nachsann, was in aller Welt er tun sollte, falls sein Weib und er nicht am gleichen Strang zögen. Ändern ließ sich dann die Sache doch nicht mehr. Der Pastor würde sich darein legen, das Weib würde zum Pastor halten, und der Mann saß fest. Aber wie er auch grübelte und grübelte, es ging zuletzt, wie es gehen mußte. Janne hielt, wie gesagt, Hochzeit in Källvik, denn die Erste, um die er freite, kriegte er auch. Es gab recht viele ledige Frauenzimmer im Kirchspiel, und alle strebten und rangen sie darnach, einen Mann zu kriegen, der sie versorgte.

Janne war groß und derb, tüchtig zur Arbeit, langsam und träg im Sprechen. Er hatte einen schwarzen Bart und braune Augen. Seine Frau dagegen war klein und zart, raschzüngig, blauäugig und lichthaarig. Jung war sie nicht gerade, das hätte Janne auch nur Furcht eingejagt. Denn junge Dirnen denken an so mancherlei und hier handelte es sich ja nicht um verliebtes Spiel, sondern um Mühe und Arbeit. Indessen war Janne zufrieden mit seiner Frau, so wie sie war. Sie konnte bei allem zugreifen, sie fürchtete sich vor keiner Arbeit, und im ganzen bereute er seine Heirat nicht. Es sah fast aus, als wäre er leichteren Sinnes geworden, seit er verheiratet war; er hatte es auch nicht mehr so einsam in seinem Wald. Aber in drei Jahren kriegte die Frau zwei Kinder. Das, meinte Janne, war doch zu viel, und er sagte es seiner Frau auch gerade heraus. Sie wich dem Mann aus und hielt ihre Laune aufrecht, so gut sie konnte. Aber eines Tages zerbrach sie sich den Rücken, als sie draußen im Wald war und ihrem Mann Holz tragen half. Von da an lag sie über ein Jahr lang zu Bett, ohne daß jemand zu sagen wußte, was für eine Krankheit es war. Dann starb sie, und Janne saß wieder allein da, diesmal aber mit zwei Kindern, von denen das jüngste nicht mehr als ein Jahr zählte.

Janne war nicht immer besonders sanftmütig gegen sein Weib gewesen, während sie krank lag und ihm nur zur Last war; aber als sie tot war, betrauerte er sie. Denn jetzt merkte er, daß er allein nicht fertig wurde. Und jetzt war es da oben im Wald zehnmal schlimmer, als je zuvor. Janne versuchte es mit einer Magd nach der andern. Aber mit keiner wollte es glücken. Entweder wollte die Magd nicht bleiben, oder Janne konnte sie nicht behalten. Bald ging das Gerücht, in Jannes Haus könne es niemand aushalten. Und Janne ging tagaus, tagein umher und dachte an nichts anderes, als – wenn er nicht geheiratet hätte, so erginge es ihm jetzt nicht so übel. So daß er unter diesen Umständen als Herr auch nicht gerade leicht zu haben war.

So wirtschaftete Janne zwischen seinem Stall und dem Haus umher, wo die Kinder zerlumpt und ohne Aufsicht herumsprangen. Er sah deutlich ein, daß dies irgendwie ein Ende haben mußte. Denn die Magd, die er jetzt im Haus hatte, tat nichts als faulenzen und dem Herrgott den Tag abstehlen. Aber Janne Karlsson wagte nicht, ihr etwas zu sagen. Denn wenn er das tat, so ging auch sie, und eine neue war jetzt nicht zu kriegen, so tief im Herbst, wie es schon war.

Da kam eines Tages ein Kätner aus einem der Dörfer, der ein Schaf kaufen wollte, und als der Handel abgeschlossen war und die beiden Männer bei der Schnapsflasche zusammenhockten, sagte Lars Anders:

»Du hast es gegenwärtig recht schwer, Janne, seit das Weib gestorben ist.«

»Ja freilich,« gab Janne zu.

»Mit dem Weibervolk ist nicht leicht auskommen,« meinte Lars Anders.

»Freilich nicht,« seufzte Janne.

»Es geht noch an, wenn's ein Weib ist,« meinte Lars Anders. »Die läuft nicht so leicht weg und sieht zu, daß das ihrige nicht zum Teufel geht.«

»Es ist auch darin ein Unterschied,« wandte Janne ein.

»Das ist so,« gab Lars Anders zu. »Aber mit den Mägden ist's rein unmöglich. Das sag' ich immer zu Brita Stina. Als Weib gehst du ja noch an, sag' ich. Aber der Kuckuck soll mich holen, wenn ich dich zur Magd haben möcht'. Das deine, freilich, auf das würdest du achten. Aber auf das meine nicht.«

»Die Mädchen sind nicht mehr das, was sie früher waren,« warf Janne ein.

»Zum Kuckuck, nein!« sagte Lars Anders. »Sie rennen nach der Kaffeekanne und in die Lotterie und auch nach der Schnapsflasche, wenn's sein muß. Verflucht will ich sein, wenn ich nicht Dirnen kenne, die einen bessern Zug haben als der stärkste Mann.«

»Aber die Arbeit scheuen sie,« meinte Janne.

»Da sagst du das wahre Wort,« antwortete Lars Anders. »Aber da gibt's nun einen Kniff. Man heiratet sie. Nimm dir erst ein Frauenzimmer als Magd und stell' sie auf die Probe. Will sie dann fort, so rück mit der Hochzeit heraus. Du sollst sehen, sie bleibt.«

Das deuchte Janne wohl geredet, und weil der Schnaps jetzt zu Ende war, drückte er den Kork in die Flasche.

»Weißt du jemand, der zu mir ziehen würde?« fragte er.

»Jawohl,« erwiderte Lars Anders. »Kristin vom Herrenhof. Sie ist über vierzig und ist seit zwanzig Jahren dort. Schön ist sie nicht, aber groß und stark, und es gibt gar keine Arbeit, vor der die sich scheut. Sie kommt, wenn du mit ihr sprichst, darauf wett' ich. Denn einmal will schließlich ein Frauenzimmer zu was Eigenem kommen, und einen Antrag hat sie nie gehabt. Das weiß ich. Und ich weiß auch, daß sie Geld auf der Sparkasse hat.«

Lange grübelte Janne hierüber nach. Aber eh sie auseinander gingen, wurde verabredet, daß Lars Anders, wenn er am Herrenhof vorbeikäme, auf einen Schwatz in den Stall gucken und so gleichsam im Vorübergehen zu Kristin ein Wort von Janne und seinen Wünschen fallen lassen sollte, um zu sehen, welche Wirkung es haben würde. Es gab nur eins, das gegen diesen Vorschlag sprach, und das war, daß Kristin im Nachbarkirchspiel eingetragen war.

»Es gibt hier einen solchen Haufen von ledigen Weibsleuten,« meinte Lars Anders, »und grade genug, die auf dich gerechnet haben, jetzt, wo du Witwer bist. Wenn du Kristin heiratest, so kriegt ihr alle beide vielleicht die Hölle ins Haus.«

Das gab Janne zu, aber er fand doch, wenn der Vorteil, Kristin zu heiraten, so groß wäre, wie der andere behauptete, so müßte man diese Schwierigkeit eben in Kauf zu nehmen versuchen.

»Hier im Wald hört man ja nicht, was die Leute in den Dörfern klatschen.«

»Nein, nein. Aber schließlich kommt's doch bis zu einem heraus,« antwortete Lars Anders. Und damit nahm er das Schaf, das er gekauft hatte, und ging.

Nie zuvor war es Kristin geschehen, daß sie von einem Mann wußte, der daran dachte, sie zu heiraten, wenn sie ihm paßte. Es kam so rasch über sie, daß sie gar nicht Zeit fand, Muh oder Mäh zu sagen, sondern nur dastand und seufzte und an ihrem Halstuch zupfte und am hellen lichten Vormittag von ihrer Arbeit weg schnurstracks in ihre Stube lief. Da saß sie, stumm und mürrisch, am Fenster hinter den Pelargonien und der Myrte und dachte eigentlich an gar nichts, obgleich der Großknecht zur Milchsuppe läutete und die Leute zum Mittagessen über den Hof kamen. Dann wachte sie auf und folgte den andern. Aber sie konnte kaum schlucken, wie sie so dasaß. Das Essen blieb ihr fortwährend im Halse stecken. Wenn sie nur daran dachte, was ihr geschehen war, wurde sie den andern gegenüber ganz verwirrt, und so oft jemand zu ihr sprach, fuhr sie auf, als hätte sie etwas Böses getan.

Wie sie an diesem Nachmittag in den Stall gekommen war, wußte Kristin nicht. Es war noch ein Glück, daß sie gleich so viel zu tun hatte. Sonst wär es nie und nimmer gut gegangen. Aber alles, was am Vormittag liegen geblieben war, mußte jetzt nachgeholt werden, damit niemand etwas sagen konnte. Und Kristin wirtschaftete mit Eimern und Milchkannen und schaffte und rannte, daß ihr Gesicht brannte. Und dennoch konnte sie die neuen Gedanken nicht los werden, die in ihrem Kopf hämmerten und pochten, daß es ihr vor den Ohren sauste. Sie ging in den Ständen ab und zu, striegelte das Vieh, molk und versorgte es. Drin bei den Schafen stand sie lang, und ihre Hände zitterten so, als sie etwas hineintrug, daß sie glaubte, sie würde alles fallen lassen. So sehr fürchtete sich Kristin an diesem Abend vor allem, daß sie kaum wagte, dem Vieh in die Augen zu sehen. Denn sie fühlte, wie ihr dann die Tränen in den Hals stiegen. Und wenn sie erst damit anfing, das wußte Kristin, dann war's aus mit ihr, und sie wollte doch ums Leben nicht, daß jemand sehen sollte, wie es um sie stand.

Nie hätte Kristin geglaubt, daß es überhaupt so viele Gedanken gäbe, als alle die, die sie jetzt überfluteten. Sie war nie gewöhnt gewesen, viel zu denken, und nie vorher war ihr etwas begegnet, das sie dazu gezwungen hätte. Einmal wohl, freilich, als Blomkvist ging. Aber das war so lange her jetzt, als wär es nie gewesen, und dann war Kristin damals jung. Das war ein Unterschied. Das wußte sie jetzt, obwohl sie darüber nie viel nachgedacht hatte.

Die Zeiten waren längst vorüber, in denen Kristin sich nach einem Freund gesehnt hatte. Denn das hatte sie vom Leben gelernt und wußte es, daß Jugend vergeht, und daß die Freuden der Liebe kurz sind. Sich auf ein Mannsbild verlassen, das seinen Willen durchsetzen will, das kann man, wenn man jung ist und dumm und es einem noch Freude macht, zu spielen. Aber wenn man gelernt hat, daß die Bursche nach Belieben kommen und gehen, und daß niemand sie halten kann, so ist man froh, wenn man allein in seiner Stube mit seinen Möbeln und Blumen sitzt und weiß, daß man da bis zu seinem Tod bleiben darf und daß niemand einen stört.

Aber das war's eben, was Kristin nicht wußte, und mit jedem Jahr war ihr der Gedanke näher gerückt: »Wer kümmert sich um mich, wenn ich einmal alt bin und nicht mehr arbeiten kann?« Wenn sie nichts zu tun hatte, und nicht, wie früher, Liebesgedanken kamen und den mürrischen Ernst ihres runden Gesichtes erhellten, da begann statt ihrer der Gedanke in ihr aufzusteigen: »was soll aus mir werden, wenn ich nicht mehr arbeiten kann? Vater und Mutter sind tot, und die Verwandten, die ich noch habe, sind so weit fort, daß sie nicht wissen, ob ich lebe oder tot bin, so wenig, wie ich was von ihnen weiß. Ich bin hier in die Gemeinde eingetragen, und wenn es gut geht, komme ich einmal ins Armenhaus.« Kristin war im Armenhaus gewesen und hatte gesehen, wie es da war, eng und viele in einer Stube; traf es sich grade, alte Männer und Weiber zusammen; die Weiber keiften, die Männer waren unanständig. Kristin ward es ganz unheimlich zumut, wenn sie nur an das dachte, was sie da gesehen hatte, sie, die am liebsten allein sein und es wenigstens sauber haben mochte. Und war im Armenhaus kein Platz, so blieb nichts anderes übrig – dann fiel sie der Gemeinde zur Last, wie so viele andere, wurde von Hof zu Hof geschickt, ob es warm oder kalt war, Sommer oder Winter, herumgejagt mit ihrem Bündel Kleider und ihrer Kommode, wenn sie eine hatte, und mußte hören, wie die Leute Gott dankten, wenn sie sie wieder los wurden.

So war das Leben, das wußte Kristin, und so, das hatte sie oft gedacht, mußte es ihr zuletzt gehen. Aber all das war noch so fern gewesen. Es war gewesen, wie der Tod – etwas, was kommen mußte, aber an das sie nicht zu denken brauchte, solange sie gesund und kräftig war und ihre Arbeit hatte. Jetzt war all das ihr so merkwürdig nahe gerückt, jetzt, seit sie gehört hatte, daß es doch einen gab, der sie heiraten wollte, so daß sie zu etwas Eigenem kommen und es ihr erspart bleiben könnte, in fremdem Bett zu sterben.

Es vergingen Wochen und Monate, und Kristin begann während dieser Zeit immer mehr über sich selber nachzudenken und auch sich zu erkundigen. Was sie zu hören bekam, war nicht erfreulich. Auf Dalbyhof warteten die Leute darauf, daß der Baron den Hof verkaufen und nach der Stadt ziehen mußte, und wenn er das tat, so war keiner mehr auf seinem Platz sicher. Warum er das mußte, wußte niemand mit Sicherheit. Aber es gab ja gegenwärtig so viele, die gezwungen waren zu verkaufen, und es ging ja auch schrecklich ins Geld, all die Pferde und Wagen und feines Essen und Trinken jeden Tag, und Besuche aus Stockholm und Reisen ins Ausland. Und wenn dann ein Bauer kam und den Hof kaufte – man hatte das ja schon oft genug erlebt – da gab's keine Gnade. Bei einer Herrschaft dienen, das ging ja noch an, obwohl es auch schwer genug war. Aber wer bei einem Großbauern diente und sich da nicht von Morgen bis Abend schinden konnte, oder schon bei Jahren war, der konnte nur gleich einpacken. Das wußte Kristin. Und überhaupt, wenn ein Fremder kam, mochte er nun sein, wer er wollte, – bei dem hatte sie nicht über zwanzig Jahre gedient, und was kümmerte es den, wie lang sie bei einem andern gedient hatte!

All das dachte Kristin, nicht einmal, nein, jeder einzige Tag kam mit irgend einer neuen Grübelei im Schlepptau, und die Gedanken, die die Möglichkeit, zu etwas Eigenem zu kommen, in ihr erweckt hatte, kamen als etwas ganz Neues und Seltsames aus ihrem ungeordneten Innern heraus; sie hätte ja nie gewagt, so daran zu denken, wie jetzt, wenn nicht die Möglichkeit einer Rettung plötzlich wie ein Licht in der Nacht aufgeleuchtet und ihr alles gezeigt hätte, wie es war.

Nie zuvor hatte Kristin für sich selbst etwas entschieden. Als sie zum erstenmal nach Stockholm fuhr, war es die Mutter, die ihr gesagt hatte, sie solle reisen. Und so reiste sie. Als sie dann in den Stall auf Dalbyhof kam, war es die Frau vom Vermietungsbureau gewesen, die sie dorthin schickte. In nichts hatte sie jemals selber bestimmt, und als sie es jetzt versuchen mußte, war es ihr so ungewohnt, daß sie nicht wußte, wo anfangen und wo aufhören.

Sie wartete darauf, daß Janne von sich hören lassen sollte, und jeden Abend wunderte sie sich darüber, daß er nicht kam. Kristin hatte Lars Anders nichts Bestimmtes geantwortet, sondern hatte nur verlegen und linkisch vor ihm gestanden. Aber das wußte sie selber nicht, sie glaubte, der andere müßte es ihr angesehen haben, daß sie gern wollte, und sie begriff nicht, daß sie, statt bloß dazustehen und zu zimpern, gleich hätte zuschnappen und grad heraus sagen müssen, so und so wolle sie es haben. Aber Woche um Woche verging, und eines schönen Tages, als Kristin auf den Hof trat, – es war noch dunkler Wintermorgen, – sank sie bis hoch hinauf in Schnee. Der Sturm raste um sie her, die alten Bäume auf dem Hof klapperten mit den nackten Ästen, und nur aus dem Küchenfenster leuchtete ein einsam zitterndes Licht über das Weiß der Erde.

Da wurde es Kristin klar, daß etwas geschehen mußte. Sie war ratlos und hatte niemand, den sie fragen oder um Hilfe bitten konnte. Allein mit sich selber lief sie umher, und nie hätte sie gedacht, daß sie Mut haben könnte zu dem, was sie jetzt tat. Kristin ging nämlich ganz auf eigene Faust geradeswegs zum Baron selber und klopfte an seine Tür, was sie in all den Jahren, seit sie seine Kühe molk und seine Schafe versorgte, nie getan hatte; und als sie hineinkam und der Herr verwundert fragte, was sie wolle, da war ihr, als müsse sie sich die Augen aus dem Kopfe schämen. Ums Leben nicht hätte sie ihm sagen können, was es war, das sie eigentlich wollte. Sie bat nur um Urlaub auf zwei Tage, und log, sie hatte eine Verwandte, die krank wäre, und die sie besuchen möchte.

Kristin durfte gehen, und zeitig am nächsten Morgen machte sie sich auf den Weg. Es war viel Schnee gefallen, und im Wald sah man keine Bahn mehr. Manches Pferd wäre da zurückgescheut, wo Kristin jetzt ging. Aber Kristin scheute nicht zurück. Sie ging den Weg, den sie gehen mußte. Denn sie wußte, es galt das Leben, und in ihr Blut war der Schrecken gefahren, der, von dem die armen Leute sprechen, und der den Menschen dazu treibt, das Unmögliche zu tun. Bei jedem Schritt, den sie machte, sank sie bis zu den Knieen ein, und der Weg, den sie zu gehen hatte, war lang und schwer und führte meist durch Wald. Nach dem Schneefall war Frost eingetreten, und der Schnee lag fest auf den Tannen. Wie eine weiße Decke dehnte er sich rein und dicht unter den gesenkten Baumzweigen hin, so weit das Auge reichte, und aus dem Dunkel des Dickichts klang es wie Seufzen und Rascheln; der Schnee fiel mit schwerem Fall und schlug Löcher in die weiße Decke, der Sturm heulte durch die Föhren, und die kleinen Wachholderbüsche bogen sich unter dem schweren Weiß, das sie niederzog.

Ein einziger Gedanke trieb Kristin vorwärts, der Gedanke, lieber alles auf sich zu nehmen als der Gemeinde zur Last zu fallen. So schwer war es, zu gehen, und so hart mußte sie arbeiten, um vorwärts zu kommen, daß sie gar nicht mehr daran dachte, was für eine Schande es war, in eines Mannes Haus zu gehen, dessen Frau gestorben war, und der ihrer jetzt auf eine Zeitlang begehrte, weil er sehen wollte, ob er Lust hatte, sie zu behalten. »Es kommt nichts dabei heraus als Elend,« dachte Kristin im Gehen. »Jung bin ich nicht mehr, und halten kann ich ihn nicht, wenn er nicht selber will. Er nimmt mich für eine Weile, und dann findet er eine andere, die ihm besser paßt. Es gibt so viele, die dem Schlimmsten im Leben entgehen möchten, daß er immer eine andere findet. Dann wirft er mich weg und nimmt die, und ich muß wieder gehen, vor allen Menschen verschimpfiert und verachtet.« So dachte Kristin. Und dennoch ging sie. Denn die Hoffnung trieb sie vorwärts, die Hoffnung, daß Janne sie doch behalten und sie nicht unglücklich machen würde, sie, die zeitlebens ein ehrbares Leben gelebt hatte.

Stunde um Stunde ging Kristin so. Ihre Füße begannen vor Kälte zu schmerzen, bei jedem Schritt, den sie tat, kam sie tief in den Schnee, am ganzen Körper war sie naß, sie fror auch, und doch tropfte ihr der Schweiß von der Stirn. Aber sie ging weiter und weiter; der Schreck trieb sie, der Schrecken, der im Blut brennt, und von dem sie zuvor nichts gewußt hatte, der erst wach geworden war an dem Tag, da ihr die Möglichkeit aufgegangen war, es besser zu bekommen. Es waren keine Gedanken mehr, die ihr durch den Kopf gingen. Es waren Fetzen von Gedanken, losgerissene Worte von alldem, was sie je in ihrem Leben vergeblich versucht hatte zusammenzureimen. In ihrem Gehirn spukte das Armenhaus, und zu gleicher Zeit sah sie den Gemeindekarren, der sie selbst und ihre Habseligkeiten von Tür zu Tür schleppte. Es kam ihr auch wie eine Schande vor, daß sie, die bei Jahren war, sich ohne Liebe einem Manne geben sollte. Vielleicht war es auch eine Sünde? Der Katechismus fiel ihr wieder ein, und was der Pastor gesagt hatte, vor langer Zeit, als sie jung war und schwarzgekleidet im Kirchengang daheim stand. Dann kam eine große Lebensmüdigkeit über sie und ertränkte alle Erinnerungen. Wieder dachte sie an nichts anderes, als an den Schnee, der unter ihren Schritten nachgab. Der Flügelschlag eines einsamen Vogels, der durch den Tannenwald raschelte, ließ sie zusammenschrecken. Sie sah sich selber als alt, und ihr war, als müsse sie bald sterben. Aber aufs neue arbeitete sich die Furcht in ihr empor, die Furcht, wieder heimzumüssen ohne etwas ausgerichtet zu haben. Sie dachte an Janne und sein Gütchen und war neugierig darauf, wie alles sein würde. Immer weiter durch den Wald ging Kristin, und zuletzt dachte sie nichts mehr, als daß sie weiter mußte, ja, nicht einmal mehr das.

Endlich sah Kristin durch den Wald, der sich lichtete, einen kleinen, offenen Platz. Auf diesem Platz standen zwei Gebäude, und aus den Fenstern des einen schimmerte Licht, das Streifen über den Schnee warf. Das andere lag dunkel und klein hinter dem Waldrand, über dem es wie ein goldrotes Band leuchtete. »Das ist der Stall,« dachte Kristin; sie seufzte, als sie sah, wie klein er war, und daß der Weg dorthin nur ausgetreten war, nicht geschaufelt. Kristin stand draußen in der Dämmerung und sah sich um. Als sie die Treppe hinaufstieg und sich den dicksten Schnee von den Füßen trat, steckte es in ihr wie ein Gefühl von Groll darüber, daß der Stall so klein und der Weg so schlecht war. Und noch als sie die Tür öffnete und eintrat, verfolgte sie dieser Gedanke.

Aus der Stube schlugen ihr Feuerschein und Wärme so stark entgegen, daß ihr ganz schwindlig wurde, und als sie gegen das Licht geblinzelt hatte und ihre Augen wieder klar sahen, erblickte sie Janne, der groß und breit wie ein dunkler Schatten über eine Arbeit gebückt am Herd saß. Was er trieb, sah Kristin nicht, denn ihre Augen waren noch zu müde zum Sehen. Unaufgefordert trat sie vor und setzte sich, und der Mann, der am Herd saß, bot ihr keinen Willkomm. Er sah auf seine Arbeit nieder; es war, als hätte er niemand erwartet.

Schließlich legte Janne das, was er in Händen hielt, weg, drehte sich um und sah das wartende Weib scharf an.

»Das ist Kristin, vermut' ich, die da gekommen ist!« sagte er endlich.

Kristin vermochte nichts zu antworten, als Ja. Unglücklich saß sie da und sah sich in dem halbdunkeln Raum um. Alles war unordentlich, die Möbel standen schief, und gescheuert war sicher schon lang nicht mehr worden. In der fernsten Ecke zwischen den Fenstern stand ein ungemachtes Bett ohne Laken, in dem sich etwas regte.

Dorthin starrte Kristin lange, und als ihre Augen sich an die Dämmerung gewöhnt hatten, sah sie, daß es zwei schlafende Kinder waren, die unter einer alten Decke lagen.

»Es sieht nicht besonders schmuck aus,« bemerkte Janne, der ihrem Blick gefolgt war.

»Es muß gescheuert werden,« sagte Kristin.

»Ja,« antwortete Janne. »Wird wohl so sein. Aber das ist nicht meine Sache. Das wäre dann die deine. Und der Stall. Und die Kinder. Und das Essen. Essen ist da. Aber niemand, der kochen kann.«

»Hast du keine Magd?« brachte Kristin heraus.

»Nein. Sie ist gestern gegangen,« sagte Janne. »Die wissen nicht, was sie wollen, heutzutage.«

Es war wie eine Befreiung, dachte Kristin, daß die Magd fort war, so daß außer ihr kein Frauenzimmer im Hause war. Schrecklich war es auch so. Aber wenn sie nun schon hier bei Janne war, so war es ebenso gut, wenn nicht immer eine herumlief, zuhörte, was sie beide sprachen. Sie stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, und Janne, der es hörte, verstand sie. Aber zugleich dachte er: »Jetzt denkt sie, ich sei hilflos, und wird sich aufs hohe Roß setzen.« Aber dann sah er Kristin an und bemerkte, wie harmlos und gutmütig sie aussah. Da er aber doch fürchtete, ihr gleichsam die Oberhand zu lassen, wollte er nicht gleich von Anfang an etwas Bestimmtes sagen, um sich nicht zu übereilen.

»Du bist weit gegangen, scheint mir,« sagte er also.

»Ich bin den ganzen Weg gegangen,« gab sie zurück.

Hm! So! dachte Janne. Den ganzen Weg ist sie gegangen? Er hatte geglaubt, sie wäre wenigstens so weit die Landstraße ging gefahren.

»Haben sie so wenig Pferde auf dem Herrenhof?« fragte er.

»Ich habe nicht sagen mögen, wohin ich wollte,« antwortete Kristin und sah zu Boden.

»Nein, nein! Natürlich nicht!« sagte Janne.

Bei sich aber dachte er: »Ist sie den weiten Weg im Schnee gegangen, so ist ihr viel daran gelegen, und dann hab' ich die Oberhand.«

»Du willst vielleicht gleich ganz hier bleiben?« sagte er darum rasch.

»Nein,« antwortete Kristin. »Man muß es sich doch erst überlegen, denk' ich.«

Janne saß und sah Kristin an, und je länger er sie ansah mit ihrem soliden Körper, den großen, groben Händen, die von der Arbeit mit der Milch weich geworden waren, ihrem runden, vollen Gesicht und der etwas aufgestülpten Nase, desto mehr fand er, daß Kristin ein Frauenzimmer nach seinem Sinn war. Aber noch wollte er nichts Entscheidendes sagen. Er holte etwas zu essen und bot es ihr an. Es waren Kartoffeln und Brot. Sonst hatte er nichts. Kaffee mußte Kristin sich selber kochen.

Und wie sie nun so umherging und sich selber ihr Essen besorgte, überkam es sie seltsam schwer, daß sie nun ihr Lebenlang so hier umhergehen sollte. Und doch versuchte sie, alles im besten Licht zu sehen. Janne sah gutmütig aus, schien es ihr. Mit ihm war es sicher nicht schlimm. Wenn er sprach, machte er gar keinen bösen Eindruck, und mit ihr selber war auch nicht schwer auskommen, das wußte sie.

Als sie gegessen hatte, öffnete Janne die Tür zur Kammer und zeigte ihr, wo sie schlafen sollte. – »Sonst schläft da niemand,« sagte er kurz.

Kristin ging in die Kammer und begann Ordnung zu schaffen. Es war hübsch und sauber drinnen, und es schien, als hätte lang niemand mehr da gewohnt. Möbel gab es auch, und eine Wanduhr, die tickte. Als sie das sah, ward es Kristin leichter ums Herz; die ganze Zeit über sah sie Janne wie einen großen, dunkeln Schatten am Herd sitzen, wo das Feuer brannte. Er sagte nichts und Kristin sagte nichts. Beide fühlten bei sich, daß in der Hauptsache alles in Ordnung war, und beide hatten das Gefühl, das über Menschen kommt, die einander brauchen. Sie waren weich und freundlich gestimmt, und jeder wollte dem andern gern so weit als möglich entgegenkommen.

Aber als Kristin in ihrem Bett lag und alles still war, und sie nichts mehr hörte als das Ticken der Wanduhr, da durchfuhr sie ein kalter Gedanke:

– Wenn er mich schließlich nicht heiratet, sondern mich wieder gehen läßt, dann komm' ich doch ins Armenhaus.

So müde sie war – der Gedanke hielt sie wach; noch im Schlaf quälte er sie, und als sie aufwachte, saß er noch in ihrem Gehirn und bohrte und schmerzte. Als wäre sie schon hier daheim, stand Kristin vor Janne auf, machte Feuer im Herd und setzte den Kaffeetopf auf. Als dann der Tag kam und sie sah, wie alles aussah, wollte sie schier verzweifeln. Aber das Ärgste mußte sie doch wegschaffen. Sie nahm die Kinder, wusch sie nacheinander und half ihnen beim Ankleiden. Hierauf legte sie sich ungeheißen auf den Fußboden und begann zu scheuern. Die ganze Zeit über, während sie das tat, dachte Kristin: »Er soll sehen, daß ich tun will, was ich nur kann. Dann läßt er sich vielleicht erweichen und behält mich.« Ein dunkler Drang sich einzuschmeicheln, überkam Kristin zum erstenmal in ihrem Leben; die Not war es, die diesen Instinkt hervorrief. Denn nie zuvor hatte sie sich in solcher Not gefühlt, und sie war hineingeraten, ohne daß etwas geschehen war, nur weil sie, so gut sie es eben konnte und verstand, angefangen hatte zu denken.

Janne ging die ganze Zeit über aus und ein und sah zu, und er konnte bei sich wirklich nicht leugnen, daß Kristin aussah, als wäre sie von anderem Schlag als die Weibsleute, die er in letzter Zeit im Hause gehabt hatte. Darum ward sein Herz weich und er versuchte, sich recht freundlich zu erweisen. Er müsse so wie so einer Besorgung wegen nach Källvik hinunter und darum das Pferd einspannen. Da könne Kristin mit ihm fahren, so weit sie denselben Weg hätten; auf die Weise wäre der Weg doch weniger schlimm für sie. So saß denn Kristin mit Janne auf dem Holzschlitten, und Schritt für Schritt ging das Pferd denselben Weg durch den Schnee, den sie kurz vorher gegangen war. Das Herz schlug ihr die ganze Zeit über bis in den Hals, – sie wartete darauf, daß Janne von dem sprechen sollte, was sie hören wollte. Aber Janne saß groß und breit da und zog an den Zügeln. Dann und wann sagte er ein Wort über die Kühe und das Wassertragen und das Holz und den Haushalt. Aber wie es mit ihnen beiden werden würde, darüber sagte er kein Wort. Nur einmal fragte er sie etwas; seine Worte lauteten:

»Einen Bräutigam hast du doch nicht?«

»Nein,« antwortete Kristin.

»Und hast auch nie einen gehabt?«

»Das ist so lang her, daß es längst vergessen ist,« antwortete Kristin und biß die Zähne zusammen.

Damit hatte das Fragen ein Ende, und Schwärzchen ging mit dem Schlitten weiter durch den Wald. Schließlich hielt Janne an der Landstraße an und sagte:

»Jetzt sind wir an deinem Weg. Meiner geht rechts.«

Da blieb Kristin nichts weiter übrig, als auszusteigen und sich zu bedanken, daß er sie hergefahren hatte. Das tat sie auch. Aber sie sah so unglücklich und verwirrt aus, wie sie da stand, daß sogar Janne es sehen mußte. Und als ob er sich plötzlich an etwas erinnere, was er bisher vergessen hatte, sagte er bedächtig: »Ja, über das andere müssen wir wohl noch reden, wenn du kommst.« Damit zog er die Zügel an und ließ das Pferd weiter trotten. Janne war froh, daß er nichts weiter hatte zu sagen brauchen. Die ganze Zeit über hatte er gefürchtet, Kristin würde mit Forderungen kommen, und dann hätte er wohl oder übel in den sauern Apfel beißen und gleich das Aufgebot bestellen müssen. Denn das sah er wohl, Kristin war keine von denen, die man gehen läßt. Wenn er aber noch warten konnte, so war das doch besser, und Janne fuhr guten Muts und mit seinem Dasein zufrieden nach dem Dorf.

Kristin aber sah dem Schlitten und der Pelzmütze des Bauern nach, die hinter dem beschneiten Kieferngestrüpp verschwanden. Da fuhr nun Janne von ihr fort und mit sich nahm er die Antwort, die sie nicht erhalten hatte auf die Frage, die sie nicht gestellt hatte. Alles, was sie gedacht und getan hatte, ward unklar für sie, und wie sie nun so dahinging, wußte sie eigentlich ebenso wenig, wie zuvor. Aber immerhin hatte sie Janne gesehen, und so hatte sie doch die Katze nicht ganz im Sack gekauft.

Es wurde Kristin schwer, von Dalbyhof, an das sie sich so gewöhnt hatte und wo sie so lange gewesen war, wegzugehen. Es war schwer, von allem zu scheiden, das stand fest. Von den Kühen, den Schafen, den Kälbern, den Kindern, von allem, was zu ihr gehalten hatte, um das sie beschäftigt gewesen war, mit dem sie tagaus, tagein geredet hatte. Aber noch schlimmer war es mit der kleinen Stube hinter dem Waschhaus. So friedlich und für sich, wie sie es da gehabt hatte, so kriegte sie es nie mehr. Das wußte Kristin. Es war gut, daß sie die Kommode, die Matte auf dem Fußboden, die Pelargonien und andere Kleinigkeiten, die ihr gehörten, mitnehmen konnte. Denn das war ihr ehrliches Eigentum. Vielleicht würde ihr auch die Herrschaft etwas schenken, wenn sie ging, so lang, wie sie auf dem Hof gedient hatte. Kristin dachte auch, falls sie etwas mitbrächte, wenn sie käme, so würde das in der Hauptfrage wohl auch etwas zur Sache tun. Am seltsamsten war es, daß sie mit einer Myrte kam, und daß sie die so lange aufgespart hatte, obgleich man ihr Geld dafür geboten hatte. Das hatte doch sicher etwas zu bedeuten.

Kristin dachte nun nicht mehr länger nach, denn sie war nicht daran gewöhnt und hielt es nicht lange aus. Was geschehen war, war eben geschehen, und wo sie hin sollte, da sollte sie eben hin. Aber das Ärgste hatte sie noch auszustehen, als sie mit dem Baron sprechen mußte. Es ging nicht, länger damit hinter dem Berg zu halten. Denn Janne hatte gesagt, wenn sie kommen wollte, müßte sie bald kommen. »Es waren mehrere Angebote,« hatte er gesagt, »und der Platz könnte besetzt sein.« Ob das nun wahr war oder nicht, das wußte Kristin nicht, aber möglich war es immerhin, und das begriff auch sie, – es war besser, in die Sache hineinzuspringen, als zu kriechen.

Darum ging Kristin zum Baron hinein, ohne zu wissen, was sie eigentlich zu ihm sagen sollte. So über und über rot im Gesicht und heiß am ganzen Leib hatte Kristin sich in ihrem ganzen Leben nicht gefühlt, wie jetzt, als der Baron vor ihr stand und sie durch den Kneifer mit der Horneinfassung ansah. Jetzt durfte sie nicht mehr mit Ausflüchten kommen. Jetzt mußte sie alles sagen, wie es war, mit klaren Worten. Freundlich war der Baron, freilich, und es ließ sich wohl mit ihm reden, das konnte Kristin nicht anders sagen. Aber er fragte so nach allem, und dann redete er über die Sache. Kristin verstand nicht viel von dem, was sie zu hören bekam. Mit knapper Not hörte sie überhaupt, was er sagte. Sie schämte sich so, wie sie da stand, schämte sich ihrer selbst, ihres ganzen, armen Lebens so, daß sie mit beiden Händen nach dem Stuhl greifen mußte, der vor ihr stand. Aber sie hielt die ganze Zeit über an sich. »Sonst – wer weiß, wie es geht? Sonst komm' ich zuletzt doch noch ins Armenhaus!« Daran hielt sie fest, als an dem Felsen, worauf ihr Glaube gebaut war. Und endlich kam sie wieder heraus und hatte die Erlaubnis, zum ersten März zu gehen, obgleich es vor dem Ziel war.

Kristin war aber auch wie aus dem Wasser gezogen. Und als sie am Abend in ihrer Stube saß, da fühlte sie, jetzt, nachdem sie gekündigt hatte, gehörte sie nicht länger zum Hof; jetzt hatte sie niemand mehr auf der ganzen Welt als Janne. Sie hätte ihm schreiben und ihm sagen mögen, wie es war. Aber auch das konnte sie nicht. Denn sie wußte ja seinen Vatersnamen nicht. So saß sie denn und versuchte statt dessen ein bißchen an ihn zu denken. Doch nicht einmal das wollte gelingen. Sie konnte sich nicht darauf besinnen, ob er einen Bart hatte.

So kam Kristin aus ihrer Armut in Småland auf das Mietsbureau in Stockholm, vom Mietsbureau auf den Herrenhof und vom Herrenhof zu Janne, der tief im Wald auf Tån wohnte. Bei ihm blieb Kristin ihrer Lebtage, versorgte ihn, seine Kinder und sein Haus und zog nicht mehr weiter. Einmal mußte sie den Bogen straff spannen, und das war, als sie dachte, Janne zögere zu lang mit der Hochzeit. Kristin hatte es selber kaum von sich geglaubt, daß sie es wagen würde, so von der Leber weg zu reden, wie sie es jetzt tat. Aber sie sah, daß es wirkte, und war froh. Denn nun brauchte niemand mehr etwas zu sagen, und nun wußte sie, daß Janne sie auch nicht mehr abschütteln konnte.

Es ward Hochzeit gehalten in der Kirche, und Kristin schnitt zum Fest ihre Myrte ab. Einen dickeren, solideren Brautkranz hatten nicht viele gehabt, das sah Kristin wohl, und sie war sehr zufrieden. Die ganze Kirche war voller Leute, der Küster spielte und sang, und der Pastor redete erbaulich und schön. Feuerrot im Gesicht hörte Kristin ihm zu und dachte an ihre Myrte, und daß sie jetzt vor der ganzen Versammlung hier stand und ehrlich getraut wurde mit einem rechtschaffenen Mann. Die ganze Zeit über liefen ihr die Tränen über die Backen, und als sie, nach den Worten des Pastors, sagen sollte »Hiermit nehme ich dich, Jan Karlsson, zu meinem Ehemann,« war sie so überwältigt von Stolz und Rührung, daß sie die Worte kaum herausbrachte.

Im ganzen war sie so befriedigt von diesem Tag und auch nachher, wie ein Mensch im Leben nur sein kann, und als sie von der Kirche heimkam und ihren Hochzeitsstaat abgelegt hatte, hätte sie Janne gern gedankt, daß er so rechtschaffen an ihr gehandelt hatte. Aber sie brachte es nicht zustande, denn viele Worte machen, das war nie Kristins starke Seite gewesen. Statt dessen dachte sie an ihre Jugend und an Blomkvist, wie seltsam es ihr ergangen und wie gut alles endlich geworden war. Was sie jetzt hatte, das konnte ihr keiner nehmen, und an die Einsamkeit im Wald war sie so gewöhnt, daß sie sie nicht einmal mehr merkte.

 


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