Gustaf af Geijerstam
Karin Brandts Traum
Gustaf af Geijerstam

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Drittes Kapitel

Schnell schwinden die Tage, wenn Liebe sie mit ihrer Freude füllt, rasch werden sie zu Wochen, und die Wochen gleiten in Monate und Jahre. Still und süß vergeht die Zeit, und die, die lieben, vergessen ihren Gang. Rascher kommt da der Frühling, nicht unerwartet, sondern erwartet wie nie zuvor. Die Sonne wird wärmer, das Gras wird grüner, die Luft reiner, der Himmel blauer. Wenn der Kuckuck schreit, ist der Sommer nah, und wenn der Sommer kommt, blüht die ganze Erde.

Karin sitzt am Strande drunten beim See; durch ihre Finger rinnt der weiße Sand wie durch ein Stundenglas, das stets gedreht wird, eh' der Sand ausgeronnen ist. Sie denkt daran, daß sie vielleicht am nächsten Tage nicht mehr einsam hier zu sitzen braucht. Ein anderer wird bei ihr sein, ein anderer, dem sie all das zeigen kann, das sie seither immer einsam genossen hat, aber nie so wie jetzt. See und Wald, Wald und See, all das, was ihr gehört. Sachte geht sie dann heimwärts und denkt im Gehen, daß sie ja nur ausgegangen ist, weil er jeden Tag eine Weile schlafen und allein sein soll. Im Wäldchen bleibt sie stehen und pflückt die ersten Anemonen. Dann geht sie lächelnd weiter, die Blumen in der Hand.

Sie ist glücklich, glücklich, daß niemand sie stört, glücklich darüber, daß der Vater so oft verreist, glücklich, daß Cäcilia sie in Ruhe läßt und nicht einmal Fragen an sie stellt. Heute fährt die ältere Schwester nach dem Pfarrhof und besucht ihre Freundin. Und Karin bleibt allein daheim in dem großen Hause. Ganz still freut sie sich an allem, was ihr so fein und leicht entgegenlacht.

Als sie sich dem Hof nähert, hört sie einen Wagen fortrollen. Sie weiß, das ist Cäcilia, die da fährt, und als hätte sie nur darauf gewartet, beschleunigt sie ihre Schritte, springt leicht die Treppe hinauf und gleitet, ohne anzuklopfen, durch die Tür der grünen Gaststube.

Als sie drin ist, sieht sie, daß die Stube leer ist, und mit einem Gefühle der Enttäuschung bleibt sie stehen, als könne sie sich nicht entschließen, allein weiterzugehen. Dann tritt sie an den Tisch, stellt die Anemonen in ein Wasserglas und will wieder gehen.

Sie geht aber nicht. Als hielte etwas sie fest, so bleibt sie stehen. Vor ihr liegen ein paar Bücher, keine alten, gebundenen wie die, die sie sonst immer sah, sondern neue, geheftete, frisch aufgeschnittene. Karin nimmt die Bücher nacheinander in die Hand und sieht sie an. Fremde Namen und Worte. Dinge, die sie nicht weiß, die keiner weiß außer ihm. Da also steht alles das, was er ihr gesagt hat, von dem er so oft spricht, all das Verwunderliche, das in ein paar Wochen Karins ganze Welt verwandelt, sie so neu und so groß gemacht hat. Leise legt sie die Bücher wieder zurück. Was bedeuten Bücher jetzt? Was bedeutet die ganze Welt? Eine Insel ist sie geworden für Karin, eine Insel im weiten Raum, auf der es nur zwei Menschen gibt, sie und noch einen.

Karin setzt sich an den runden Tisch mit der grünen Decke; in diesem einen Augenblick werden ihr all die verflossenen Wochen lebendig; sie sieht sie an sich vorübergleiten, sieht nichts als einen einzigen Menschen, der ihr Leben groß und reich, licht und dunkel zugleich gemacht hat. Und sie freut sich, daß all das ihr gehört, ihr ganz allein. Niemand außer ihr weiß es. Niemand wird es je wissen.

Er hat ihr alles von sich erzählt, und alles, was er erzählte, war schön und gut. Nur eins ist da, was Karin gequält hat und immer quält, weil es so gefährlich ist, daß es sein Leben gelten kann. Sie weiß es, und sie wird sein Geheimnis nicht verraten, wird nie das Vertrauen täuschen, das er in sie gesetzt hat.

Wenn ich krank würde, denkt sie, so könnte ich ihn vielleicht im Fieber verraten. Oder wenn ich träume von ihm, könnte ich vielleicht im Schlafe sprechen.

Sie denkt weiter daran, daß er jetzt, nun er gesund ist, weit fortreisen wird, in ein fremdes Land. Nach Paris. Wie weit mag das wohl sein nach Paris? Und wer wird dort mit ihm reden? Aber reisen muß er, nun er wieder gesund ist.

Und während sie das denkt, drängen die Tränen sich in ihre Augen. Und zum erstenmal denkt sie: Was wird aus mir?

Immer bitterer fallen ihre Tränen, und mit auf den Tisch gelegtem Kopf weint sie einsam in der grünen Gaststube, die jetzt bald leer stehen wird.

Und drunten in der Wohnstube sitzt der junge Fähnrich im Lehnsessel neben dem langen Tisch aus dunkelpoliertem Ulmenholz. Seine Lippen sind fest geschlossen, sein Blick ist abwesend. Er träumt nicht mehr. Zum erstenmal nach langen Wochen beginnt er klar zu denken. Er weiß, daß er liebt, weiß, daß, wenn er noch länger bleibt, er es sagen muß, weil er nicht anders kann. Und sein Gewissen ist im Streit mit dieser Liebe, die seinen Willen und seine Vernunft lähmt. Er denkt an das Geschehnis, das sein ganzes Leben geändert und ihn gezwungen hat, sein eigenes Land zu verlassen und in die Fremde zu ziehen.

Er sieht sich selber vor sich an jenem unglückseligen Abend, wie er, vom Wein erhitzt, von Angesicht zu Angesicht dem Manne gegenüberstand, dem einzigen Mann, dem er hatte ausweichen müssen. Warum war dieser Mann ihm immer so zuwider gewesen? Weshalb mußten sie sich gerade da treffen? Das Blut stieg ihm in den Kopf bei der bloßen Erinnerung. Scharfe Worte fielen zwischen ihnen, zuletzt das Schimpfwort, das nur mit Blut abgewaschen werden konnte. Darauf kam das Duell. Der andere fällt, mitten durch die Stirn getroffen. Was war denn all dies? Wie war es möglich, daß es geschehen konnte? Es war auch nichts weiter, nicht schlimmer als so viele der totgeschwiegenen, vergessenen Geschichten, die die meisten Familien unter ihren heimlichen, nur von wenigen gekannten und nach ein paar Jahren vergessenen Erinnerungen bergen. Aber als er nachher seinem Vater, dem alten Oberst, gegenüberstand, sagte der: »Du bist ein Verbrecher. Ich kenne dich nicht mehr. Ich will dir forthelfen, meinetwillen und deiner Mutter willen und damit nicht Schande kommt über die geachtete Familie, aus der du ein Glied gemordet hast.«

Dann war alles aus gewesen. Andere hatten für ihn gehandelt. In einer dunklen Nacht war er im offenen Schlitten, unbehindert, ungesehen, aus Stockholm weggefahren, versehen mit einem Paß und einem Brief an ein Mitglied des französischen Generalstabs, mit dem der Vater während seines Aufenthalts in Paris als junger Militärattaché befreundet gewesen war. So war er ausgezogen, um sich im fremden Land ein Leben zu schaffen, vogelfrei, wenn auch dem Gesetz nach nicht verurteilt.

Ich bin ein Verbrecher, der dem Arm des Gesetzes entflohen ist, denkt er. Und ich stehe im Begriff, einen anderen Menschen ebenso ehrlos zu machen, wie ich es bin.

Und mit einem Male steht es dem jungen Fähnrich klar vor Augen, was er zu tun hat. Er muß den Zauber brechen, muß noch einmal fliehen, diesmal um sie zu retten, die er liebt.

Ich muß recht handeln, denkt er. Ich bin gesund jetzt. Und ohne Zögern geht er die Treppe hinauf, um seinen Koffer zu packen, um den Schmerz kurz zu machen, zu reisen, eh' etwas geschieht, das seinen Willen für immer bindet und seinen Entschluß fortbläst wie leere Luft.

Als er ins Zimmer tritt, sieht er Karin dasitzen, den Kopf in die Hände gelegt, die auf dem Tische ruhen. Rings um sie her verstreut liegen seine Bücher.

Noch fühlt Sigfrid Björnram in sich den Schmerz des gefaßten Entschlusses. Aber wie er sie so sieht, aufgelöst in eine Verzweiflung, deren Ursache er nicht kennt, aber doch sogleich in Zusammenhang mit sich selber bringt, da vergißt er den Entschluß, den er eben erst gefaßt hat. Leise nähert er sich dem jungen Mädchen, beugt sich über sie und flüstert: »Warum weinen Sie?«

Karin fährt auf. Sie kann nichts antworten, sie kann ja nicht sagen, daß sie seinetwegen weint. Ratlos sitzt sie vor dem jungen Mann und findet keine Worte.

Da beugt er sich noch dichter über sie, und seine Hand streicht über ihr weiches, glänzendes Haar. Er weiß nicht, was er sagt, weiß kaum, was Karin antwortet. Aber das wenigstens weiß er jetzt, warum sie geweint hat, als er ins Zimmer kam.

»Um mich,« ruft er. »Weil ich fort muß!«

»Ja, ja,« sagt Karin und blickt zu ihm auf, als erwarte sie, daß er ihr aus dieser schrecklichen Not helfe.

Da beugt sich der junge Fähnrich nieder und küßt das weinende Mädchen.

»Willst du auf mich warten?« sagt er. »Willst du warten, bis ich schreibe: Jetzt kannst du kommen?«

Schwindelnd wie vor einer Tiefe, in die sie noch nie geschaut hat, schließt Karin die Augen.

»Ja, ja,« flüstert sie dann. »Ich warte auf dich, bis ich alt und grau bin. Ich warte auf dich, solange ich lebe. Dann bin ich nie mehr allein. Dann werd' ich nie mehr weinen.«

Wie licht alles plötzlich geworden ist! Wie glückselig! Und vor allem wie möglich! Nichts Schweres mehr, nichts, was sich nicht überwinden ließe!

Beide sind so erregt jetzt, daß sie nur noch stammeln können, keine Worte mehr finden. Tränen zittern in ihren Augen.

Nach einem langen Schweigen sagt Karin: »Wir sind allein zu Hause. Es ist niemand da als wir.«

Dann raffen sie sich auf und gehen glückselig hinunter zum Mittagessen, das auf sie wartet. Munter wie zwei verspielte Kinder werfen sie mit ihren Worten hin und her, um das Mädchen, das bedient, irrezuleiten. Und als das Essen vorüber ist, gehört der ganze Nachmittag ihnen. Sie gehen miteinander aus. Und im Wald, wo es still und einsam ist, gehen sie Arm in Arm. Karin zeigt ihm ihre Wege, den Stein am Bach, der in der Frühlingsflut dahinlärmt, den Strand drunten am See, wo der Sand wie ein weißer Rahmen liegt, den die Wellen liebkosen.

Als sie zurückkehren, ist es schon dunkel. Karin zündet die Lampe an; keins von ihnen begreift, wie die Zeit so schnell hat vergehen können. Aber vergangen ist sie, und als sie sich an der Treppe, die zu ihren Stuben führt, trennen, da brennen Karins Wangen. Flüsternd tauschen sie Küsse im Dunkeln, bis Karin sagt: »Nicht mehr. Ich fürchte mich.«

Lange sitzt sie dann noch wach in ihrem Zimmer, glücklich, weil die Schwester fort ist, glücklich, weil sie weiß, daß ein paar Schritte von ihrer Tür der ist, den sie liebt, glücklich über alles, was geschehen ist und noch geschehen kann, und am allerglücklichsten darüber, daß sie allein ist mit ihrem Glück.

Erst als sie schon im Bett liegt und das Licht gelöscht hat, fällt ihr etwas ein, was sie vergessen hat.

Nicht ein einziges Mal, denkt sie, hab' ich ihn bei seinem Namen genannt!

Und sie beschließt, daß sie ihn am nächsten Morgen, wenn sie sich sehen, ganz laut damit begrüßen will.

Der wunderbare Name, den sie nie hat aussprechen können!

Und lächelnd schläft sie ein.

Der junge Fähnrich aber ist noch nicht zu Bett. Ernsthaft sitzt er an seinem Tisch und denkt immer nur den einen Gedanken, wie reich und einfach das Leben plötzlich geworden ist, und wie klar und gerade der Weg vor ihm liegt, den er von diesem Tage an gehen muß.

 

Immer hat Karin ihr Leben angesehen als einen lächelnden Traum, für den sie nie eine Erklärung brauchte. Jetzt ist in diesem Traum eine Seligkeit wie noch nie. Aber auch jetzt fragt sie nicht. Auch jetzt kommt kein Warum auf ihre Lippen.

Je näher die Abschiedsstunde rückte, desto düsterer ward Sigfrid Björnram. Karin aber ging umher, als hätte ihr Glück sie hoch über die Sorgen des Daseins emporgetragen.

»Bist du nicht traurig, daß ich reise?« sagte er einmal.

»Nein,« antwortete Karin.

»Wirst du mich gar nicht vermissen?«

Sie antwortete nicht, sondern sah ihn nur an und lächelte.

»Du bist doch immer bei mir,« sagte sie dann. »Drinnen und draußen, Sommer und Winter. Wo ich gehe und stehe.«

Als diese Worte zwischen ihnen gewechselt wurden, waren sie miteinander auf dem Weg, der zum See hinunterführte.

Ringsum knospeten die Birken. Die Luft war voller Vogelsang. Der Mai war da, und schon lange war der Kranke wieder gesund.

Dann kam der Abend, an dem sie einander das letzte Lebewohl sagen mußten. Der Regen fiel in Strömen, und der Sturm heulte. Sie hatten sich hinunter in den Garten gestohlen, um ungestört beieinander zu sein. Drinnen in dem kleinen Gewächshaus hinter den Apfelbäumen standen sie jetzt; draußen vor den Glaswänden strömte der Regen nieder, so dicht und gewaltsam, daß es in dem engen Raum hinter den Blumentöpfen fast dunkel war.

»Sobald ich angekommen bin,« sagte Sigfrid Björnram, »schreibe ich und schicke dir meine Adresse.«

Karin nickte. Das war ja alles so klar und einfach.

»Ich werde deine Briefe aufbewahren,« fügte sie, »und sie jeden Tag lesen.«

»Du mußt auch oft schreiben,« erwiderte er.

Wieder nickte Karin.

Weiter war nichts zu sagen. Die Zeit war knapp. Droben warteten Magnus Brandt und seine älteste Tochter auf ihren Gast, der nicht kam, und auf Karin, von der niemand wußte, wo sie war.

»Wenn ich fort bin morgen,« sagte Sigfrid Björnram, »so geh' heimlich in meine Stube. Ich habe dort etwas hingelegt, was du haben sollst, wenn ich fort bin.«

»Danke!«

Karins Gedanken waren weit weg; sie hatte seine Worte kaum gehört.

»Denk', wenn du einmal wiederkommst und mich holst!« sagte sie und lächelte.

Der junge Mann vermochte nicht zu antworten; er zog das Mädchen nur an sich. Sein Herz war voll; aber er wollte ihr nicht zeigen, wie sein Herz litt. Da weinte Karin zum erstenmal; still und stumm weinte sie in seinem Arm. Weder Worte noch Liebkosungen konnten sie trösten.

Weiter geschah nichts. Wie ein Traum war es ihnen beiden, daß sie einander Lebewohl gesagt hatten und auseinander gegangen waren.

Als Karin allein ins Haus kam, saßen die anderen beim Abendbrot, und der Vater schalt, weil sie so spät kam. Als sie wieder aufsehen konnte, zwang sie sich zum Lächeln und wunderte sich nur darüber, daß alles um sie her ihr so fremd schien und daß sie plötzlich so weit weg war von allen und allem . . .

Früh am folgenden Morgen reiste Sigfrid Björnram. Karin lag in ihrem Bett und hörte den Wagen fortrollen. Sie wagte nicht aufzustehen, um sich nicht vor der Schwester zu verraten, die sie im äußeren Zimmer auf und ab gehen hörte. Sie schloß die Augen, damit niemand sehen sollte, daß sie wach war. Es schien ihr so unmöglich, daß sie auf einmal allein sein sollte. Bis sie die Schwester zur Tür hinaus- und die Treppe hinuntergehen hörte, lag sie so. Dann stand sie leise auf und ging barfuß über den Korridor bis zur Tür der Gaststube. Die stand offen, und drinnen war Sara damit beschäftigt, das Zimmer nach der Abreise des Gastes wieder aufzuräumen.

Karin sah, daß auf dem Tische vor dem Sofa ein Briefumschlag lag. Und sie begriff, daß das ihr gehörte, daß es sein Abschiedsgruß war für sie, von dem er gewollt hatte, daß sie ihn haben sollte, wenn sie allein wäre. Darum ging sie ruhig, als sähe sie Sara gar nicht, ins Zimmer, nahm das Kuvert und versteckte instinktiv die Hand und ihre Beute unter ihrem Nachthemd auf der Brust.

Sara unterbrach ihre Arbeit und blieb einen Augenblick ganz still. Sie tat keine Frage. Aber als Karin aufschaute und den Blick aus diesem alten Gesicht sah, das plötzlich eiskalt und streng geworden war, da erschrak sie. Sie ging hastig auf die Alte zu, legte ihren freien Arm um deren Hals und sagte rasch: »Sag' nichts, alte Sara! Versprich mir das!«

Ängstlich blickte sie der Alten in die Augen. Da sah sie, daß die gar nicht böse war. Nur erschrocken sah sie aus, erschrocken, als wäre sie plötzlich auf ihre alten Tage in irgend etwas Unrechtes hineingeraten.

»Ich will nichts davon wissen,« sagte die alte Sara. »Merk' dir's!«

Erleichtert kehrte Karin in ihr Zimmer zurück. Aus Saras Worten und ganzer Art merkte sie, daß die Alte sie nicht verraten würde, was auch geschähe. Beruhigt öffnete sie das Kuvert. Es enthielt einen Brief, den Karin las und küßte. Und in dem Briefe lag ein schmaler Goldring mit einem kleinen eingefaßten blauen Stein. In dem Briefe stand:

»Der Ring hat meiner Mutter gehört. Ich habe ihn nach ihrem Tode bekommen. Einen anderen Ring habe ich nicht für dich. Aber den sollst du tragen und an mich denken; das will ich. Bewahre ihn wohl, daß ich ihn dereinst eintauschen kann, wenn ich dich vor der ganzen Welt zu meiner Braut mache.«

Karin probiert den Ring an; feierlich steckt sie ihn an den Ringfinger der linken Hand, und als sie es getan hat, faltet sie die Hände wie zum Gebet.

Jeden Abend, denkt sie, soll er da sitzen, und jeden Morgen, wenn ich aufwache, werde ich ihn sehen.

Darauf nimmt sie aus ihrer obersten Schieblade ein schmales Samtband. Daran befestigt sie den Ring und bindet sich dann das Band um den Hals. Versteckt will sie ihn tagsüber tragen, damit niemand ahnt, daß sie ein Geheimnis mit sich herumträgt.

Keine Braut, denkt sie, ward je schöner gebunden, und keine Seligkeit der ganzen Welt geht über die, fürs Leben gebunden zu sein.

 

Es hatte Magnus Brandt nicht geringe Überwindung gekostet, zu Fabian Skotte auf Elfshammar zu gehen und ihm zu gestehen, daß Skogaholm ohne Hilfe nicht länger in den Händen der Familie Brandt bleiben konnte. Seine Familie war älter als die der Skottes, und ihr Name war unauflöslich mit dem der Landschaft verknüpft. Von Kindheit auf hatten die Bewohner der Gegend sich die Ehrfurcht vor dem Brandtschen Namen von den alten und neuen Grabsteinen abbuchstabiert, die einen so großen Platz auf dem Torsbyer Kirchhof einnahmen. Und Magnus Brandt hatte das Gefühl, als müsse er sich schämen vor denen, die vor ihm hier lagen und warteten, bis der letzte, dem es nicht vergönnt war, den Namen weiterzupflanzen, sich auch zu ihnen gesellen würde. Aber im innersten empfand er es doch als eine große Erleichterung, daß er dem Rate gefolgt war, den ihm die Schwiegermutter, die alte Gnädige auf Erzhütte, zum Trost nach all den bitteren Pillen gegeben hatte, die er erst hatte hinunterschlucken müssen.

Nun fühlte sich Magnus Brandt jedesmal, wenn das Gig von Elfshammar auf den Hof zu Skogaholm fuhr, beklommen. Fabian Skotte war ein tüchtiger Mann und genoß den Ruf, ehrlich und gerecht zu sein wie wenige; aber man sagte auch, daß er streng und hart sei. Als seine scharfen Augen die Bücher durchforschten, die Magnus Brandt stets so viele harte Nüsse zum Knacken gegeben hatten, da fühlte dieser, daß er seinen Meister gefunden hatte. Und weil Fabian Skotte noch zögerte, einen bestimmten Bescheid zu geben, fühlte sich Brandt mehr und mehr gedemütigt.

Da geschah es eines Tages, daß Fabian Skotte wieder auf den Hof zu Skogaholm gefahren kam. Es war noch im Frühling, die Weiden blühten, und vor kurzem waren die ersten Schwalben gekommen. Fabian Skotte hatte etwas Heiteres und zugleich Feierliches heute. Er stellte die Peitsche im Vorzimmer ab, hängte den Mantel an den Kleiderständer und trat in die Stube des Hüttenherrn. Dort nahm er auf dem Sofa Platz, Magnus Brandt, der mit dem Rücken gegen den Schreibtisch in seinem abgenützten Lehnstuhl saß, gegenüber. Wie es seine Gewohnheit war, ging Fabian Skotte sogleich auf sein Ziel los und hielt ohne Umschweife, in achtungsvollen, wohlüberlegten Worten bei seinem geschätzten Freund um die Hand von dessen ältester Tochter, dem Fräulein Cäcilia, an.

Magnus Brandt saß und sah auf den Sprecher. In ihm kämpften allerhand widersprechende Gefühle. Fabian Skotte war ein Mann, der die Grenze der Vierzig schon überschritten hatte und bald in die Fünfziger kommen würde. Mehrere Jahre schon saß er als Witwer auf seinem Hof. Man sagte, seine kurze Ehe sei unglücklich gewesen, und die Erinnerung daran habe ihn davor zurückgeschreckt, eine neue zu schließen. Nach Cäcilia Brandts Einsegnung hatte der Besitzer von Elfshammar jedoch dem jungen Mädchen auffallende Aufmerksamkeit erwiesen; und Cäcilia hatte gar viele Tränen geweint, als sie anfing, es zu verstehen. Nicht einmal Magnus Brandt selber konnte die Sache entgehen, und mehr als einmal hatte ihm der Gedanke vorgeschwebt, daß in dieser Partie die Rettung für sie alle lag. Doch hatte er, vielleicht um sich nicht in eitle Hoffnungen einzuwiegen, die Möglichkeit immer wieder von sich geschoben, und als die wichtigen Worte, welche nicht nur das Geschick seiner Tochter, sondern auch sein eigenes entscheiden sollten, gefallen waren, da kam es ihm zuerst so vor, als wäre das eine Versuchung, der er unterliegen müßte.

Ernst, wie der Augenblick es gebot, saß Fabian Skotte auf seinem Platz in der Sofaecke. Er war ein wenig korpulent, aber seine Bewegungen waren lebhaft, und sein Blick schoß scharf und klar umher wie bei einem Manne, der weiß, was er will, und der gewöhnt ist, seinen Willen durchzusetzen. Wie ein ganz neuer Typus saß er da, wie der Mann der neuen Zeit, während Magnus Brandt schon der Vergangenheit angehörte – ein kraftvoller, willensstarker Sproß einer kraftvollen Familie, die im Begriff stand, das Brandtsche Geschlecht zu verschlingen, sich darüber hinweg auszubreiten, es zu beherrschen und einmal dessen Platz einzunehmen, wenn sich das letzte Grab, das auf dem Torsbyer Kirchhofe noch für einen Sproß der Familie Brandt frei war, gefüllt hatte.

Etwas Ähnliches schwebte dem alten Magnus Brandt vor, wie er so dasaß, und während er in verbindlichen Worten für die Ehre dankte, die seinem Hause durch diesen Antrag angetan wurde, strich er sich mit der linken Hand, die noch immer den abgenützten Verlobungsring trug, bedächtig über das glattrasierte Kinn und die Oberlippe. Das Gefühl, daß er nicht nein sagen konnte, auch wenn er es wollte, beherrschte ihn, aber auch die Freude darüber, daß alle Sorge so mit einem Schlage von seinen Schultern gehoben wurde, wollte sich nicht einstellen.

Vielleicht merkte Fabian Skotte etwas von dem Eindruck, den er gemacht hatte, und rechtlich denkend, wie er war, wollte er jeden Gedanken, als ob er einen Kauf vorschlüge, verscheuchen.

Darum äußerte er auch in ganz ruhigem Tone, als verstehe sich das, was er jetzt sagte, ganz von selbst: »Ich habe schon längst daran gedacht und habe nie ein Geheimnis aus den Gefühlen gemacht, die Fräulein Cäcilia mir einflößt. Jedermann hat es sehen können, und wenn ich nun bei ihrem Vater um das Recht anhalte, sie in Zukunft bei einem trauteren Namen nennen zu dürfen, so bitte ich, daß kein Mißverständnis zwischen uns herrschen möge. Ich erkläre hiermit, daß Fräulein Cäcilia nur ihrem eigenen freien Willen folgen darf. Gezwungen will ich sie nicht besitzen. Daß ein Mann in meinen Jahren einem jungen Mädchen vielleicht nicht gefallen kann, darauf bin ich gefaßt. Ebensowenig will ich, daß, was wir früher hinsichtlich des Gutes und deiner Schwierigkeiten verhandelt haben, auch nur den geringsten Einfluß auf diese Sache und die Antwort, die ich erwarte, haben soll. Auch wenn diese Antwort verneinend ausfallen sollte, was mir eine große Enttäuschung wäre, verspreche ich, daß ich die besagten Schwierigkeiten, so wie ich es mir stets vorgenommen habe, ordnen will. Die Antwort auf meinen Antrag wird in dieser Sache auch nicht den geringsten Einfluß ausüben.«

Magnus Brandt konnte nicht anders, als bei sich selbst zugeben, daß das recht und ritterlich gesprochen war, wie er es auch immer von Fabian Skotte erwartet hatte. Und er fühlte sich durch diese Worte ganz wunderbar erleichtert. Zugleich aber war er auch fester gebunden als je zuvor. Dem Manne, der so redete und handelte, wollte und mußte er seine Tochter geben, und wenn die ganze Welt sich dagegen auflehnte. Er streckte die Hand aus und drückte die Fabian Skottes.

»Mein Jawort hast du, Bruder,« sagte er. »Und meine Tochter wird auch nicht nein sagen, wenn sie meinen Willen kennt.«

Die beiden Männer schüttelten sich die Hand. Sie waren beide bewegt. Beiden deuchte es, sie hätten in diesem Augenblick erreicht, was sie sich wünschten, und beide wußten im innersten, daß jedes Wort, das sie gesagt hatten, ehrlich gemeint war. Sie waren so alte Freunde, hatten als Nachbarn in Friede und Eintracht gelebt, und ihnen beiden war, als sei etwas Großes geschehen in dem Augenblick, da der Beschluß gefaßt wurde, daß in Zukunft auch ein verwandtschaftliches Band die beiden Familien vereinen sollte, die seit Generationen in allen Angelegenheiten des Kirchspiels um den ersten Platz gewetteifert hatten.

Denn daß Cäcilia, wenn auch nach einigem Zögern und Bedenken, schließlich ihr Jawort geben würde, daran zweifelte keiner von den beiden.

Magnus Brandt fühlte sich nur im Ungewissen über die Art, wie er der Tochter den Antrag am besten mitteilen könnte. Im übrigen war er zufrieden, daß die Worte, die eben gewechselt worden, nun ausgesprochen waren. In diesem Augenblick sah er die Zukunft wieder heller vor sich liegen. Er war weicher von Gemüt als Fabian Skotte, und seine Gefühle waren komplizierter. Darum stand er hastig auf und stellte sich ans Fenster; er mochte nicht sprechen über das, was er fühlte, und es auch nicht zeigen.

Auf den Rabatten draußen war das Tannenreis schon fortgenommen, die Perlhyazinthen begannen zu knospen, und die Schneeglöckchen waren bereits aufgeblüht. Über den Hof ging eben der Großknecht, um nach der frühen Mittagsrast die Leute zur Arbeit zu rufen, und gleich darauf läutete die Glocke munter vom Giebel des Magazinflügels, daß die Tauben, die in der Dachrinne Korn gepickt hatten, erschreckt aufflatterten.

Da dachte Magnus Brandt an alle, die beim Klang dieser Glocke zur Arbeit auf den alten Äckern ausziehen würden, und es deuchte ihm eine Beruhigung, zu wissen, daß er nicht mehr zu fürchten brauchte, er müßte vor ihnen eines Tages in Schande dastehen. Er fühlte sich voll Dankes, voll Dankes gegen Gott, der sein Schicksal gelenkt hatte. Und indem er sich umwandte, sagte er: »Den Tag vergessen wir beide nicht.«

Gleich darauf war ihm, als habe er zuviel gesagt. Und mit einem gewaltsamen Husten, als wolle er einen Anfall von unnötiger Gefühlsregung ersticken, wandte er sich wieder zum Fenster und fuhr fort, auf den alten Hof hinauszustarren, von dem durch die Hecken der Terrasse eine Steintreppe zum Garten hinabführte.

Fabian Skotte saß mittlerweile still in seiner Ecke. Er war in seiner Art nicht weniger erregt. Die kräftige Unterlippe war vorgeschoben, auf der Stirn lagen tiefe Falten. Er gedachte der Jahre, da er verheiratet gewesen war, an das kurze Glück des ersten Jahres und an die langen Jahre der Zwietracht, die darauf folgten, dachte daran, wie er mit lächelndem Gesicht unter den Menschen umhergegangen war und kaum in der Einsamkeit gewagt hatte, sich seinem Gram zu überlassen, aus Angst, daß die Hölle, die sein Haus barg, allen offenbar und von allen bemitleidet werden würde. Woher der Haß zwischen ihm und seiner Frau gekommen war, das begriff er nie und konnte es nie ergründen. Dunkel schwebte es ihm einmal vor, als ob seine Frau sich nach einem Kind gesehnt, und, weil das Kind ausgeblieben war, keinen Frieden gefunden hätte. Aber er hatte diese Erklärung für ihre ständige Zwietracht als unmöglich verworfen. Er selber hatte ja auch darüber getrauert, daß sie keine Kinder hatten. Aber kann daraus Haß entstehen?

Fabian Skotte hielt das für eine Unmöglichkeit; und wenn er an seine Ehe voller Szenen und böser Worte dachte, hatte er nur noch das Gefühl des Schreckens, des Entsetzens, das ihn erfüllt hatte, als er sehen mußte, wie die Frau, die er einst geliebt hatte, plötzlich zu einer ganz anderen ward.

Einsam, kinderlos hatte er seither gelebt. Und wenn er sich jetzt eine Frau suchte, so tat er das, weil er nun ein gereifter Mann war und wählen gelernt hatte. Er wollte noch einmal leben, sich seines Lebens freuen und ein Kind auf den Armen halten. Lange genug hatte er gearbeitet ohne Freude und ohne Lohn.

Es waren ungleiche Wege, die die Gedanken der beiden Männer gingen. Trotz des Altersunterschiedes hatten sie solange wie Gleichaltrige miteinander verkehrt, daß das Schweigen, das jetzt zwischen ihnen herrschte, schließlich beiden unangenehm wurde. Das Bewußtsein, daß sie jetzt in das Verhältnis von Schwiegervater und Schwiegersohn zueinander getreten waren, hatte sogar etwas Bedrückendes, an das sich jeder in seiner Art erst gewöhnen mußte. Es war deshalb für beide eine Erleichterung, daß Sara in diesem Augenblick hereinkam und meldete, das Mittagessen sei serviert.

Fabian Skotte erhob sich aus dem Sofa und trat zu Brandt, der noch immer am Fenster stand. »Kein Wort jetzt,« sagte er beinahe verlegen. »Man muß das Mädchen erst vorbereiten. Und wenn sie Bedenkzeit will, so mußt du ihr das nicht verargen.«

Und damit gingen die Herren miteinander hinauf in das Eßzimmer, wo Magnus Brandts Töchter auf sie warteten.

Das Essen ging langsam vorüber. Die Stimmung am Tische war gedrückt. Nicht ohne eine gewisse Verlegenheit sah Magnus Brandt, wie der alte Portwein, den er selber befohlen hatte und der nur bei festlichen Gelegenheiten auf den Tisch kam, vor ihn hingestellt wurde. Und als er zuletzt den kostbaren Trank einschenkte, fand er keine Worte, um diesen Luxus, der so gar nicht mit den Gewohnheiten des Hauses übereinstimmte, zu motivieren. So trank er denn nur schweigend mit seinem Gast und ermahnte die Töchter, ein gleiches zu tun.

Nur als Cäcilia den Rand ihres Glases vorsichtig gegen das Fabian Skottes klingen ließ, streifte Brandt die Tochter mit einem Blick, der ihr eine tiefe Röte ins Gesicht trieb. Karins Blicke gingen verständnislos von einem zum andern, als wage sie den Gedanken, den des Vaters Blick und der ganze Auftritt in ihr erweckt hatte, gar nicht auszudenken.

Stumm standen alle vom Tische auf, und als das Tischgebet gesprochen war, hatte Cäcilia ein notwendiges Geschäft draußen in der Küche und verschwand für den ganzen Nachmittag.

Die beiden Herren tauschten einen raschen Blick aus; es war deutlich zu merken, daß sie beide Cäcilias rasches Verschwinden als ein gutes Zeichen auffaßten.

Fabian Skotte blieb auch nicht mehr lange. Allen Einwänden seines Wirtes zum Trotz gab er schon früh am Nachmittag den Befehl, daß sein Gig vorfahren sollte. Und nachdem er Brandt gebeten hatte, ihn bei den Damen zu entschuldigen, fuhr er vom Hofe weg. Der Tag hatte ihn angestrengt, und er hatte das Bedürfnis, allein zu sein mit seinen Gedanken an die Zukunft, die der Anblick des jungen Mädchens viel stärker in ihm lebendig gemacht hatte als das entscheidende Gespräch am Vormittag.

Magnus Brandt aber ging einsam in seinem Zimmer auf und ab, und das Gefühl der Dankbarkeit gegen Gott und der Ruhe seinem eigenen Geschick gegenüber, das ihn am Vormittag fast überwältigt hatte, kehrte ihm jetzt mit verdoppelter Kraft zurück. Es war, als seien ihm alle Sorgen plötzlich von den Schultern genommen. Was ihm schwer geworden wäre, von einem Fremden anzunehmen, das konnte er ruhig und als etwas Selbstverständliches von seinem Schwiegersohn annehmen. Seit langen Jahren hatte Magnus Brandt nicht so vertrauensvoll in die Zukunft geblickt wie diesen Abend.

Einsam ging er in seiner Stube auf und ab, länger als eine Stunde, und genoß die Ruhe, die nach Jahren der Unruhe und des Kampfes ihm endlich beschert war. Er fühlte geradezu ein Bedürfnis, solange wie möglich in Ruhe diese Stille auszukosten, die nun gekommen war, gerade da er sie am heißesten ersehnte, und er unterbrach diese Stille auch nicht, ehe das Läuten der Vesperglocke durch den ruhigen Frühlingsabend verkündete, daß die Arbeit für heute beendet war.

Da ließ Magnus Brandt seine älteste Tochter zu sich rufen, sagte ihr in ruhigen, fast warmen Worten, was geschehen war, und bat sie, sich die Sache zu überlegen. Er verschwieg ihr nichts. In dem Augenblicke, in dem Cäcilia, wie er meinte, im Begriff stand, die Stellung des jungen Mädchens in seinem Hause gegen die eines jungen Weibes auszutauschen, das bald Gattin und Mutter sein sollte, durfte seine eigene Lage der Tochter kein Geheimnis mehr sein. Und ihr Glück würde doppelt sein, wenn sie wußte, daß sie nicht nur sich selbst ein Heim gründete, sondern auch ihrem Vater ein ruhiges Alter bereitete.

Cäcilia saß in des Vaters Sofa, auf dem Platze, wo am Vormittag Fabian Skotte gesessen hatte. Ihr Gesicht, das sie auf die Hand gestützt hatte, ward bleich, während der Vater sprach.

Als er geendet hatte, sagte sie nur: »Steht es wirklich so schlimm mit uns?«

Sie sprach leise und demütig, aber in ihrer Stimme lag etwas von der Bitterkeit, die sie darüber empfand, daß dies Unglück, das der Vater solange verschwiegen hatte, ihr gerade jetzt erzählt wurde, wo es ihren Schmerz nur noch erhöhen mußte.

Magnus Brandt fuhr bei ihren Worten zusammen. »Soll das, was du da sagst, ein Vorwurf sein?« fragte er scharf.

Cäcilia schüttelte den Kopf. Sie strich sich mit beiden Händen über das gescheitelte Haar, als ob sie es glätten wolle. Es war eine mechanische Bewegung, und es wurde auch nichts weiter gesprochen. Aber gerade in diesem unnahbaren Schweigen, in dem die Tochter beharrte, fühlte Magnus Brandt einen Widerstand, der ihn aus der harmonischen Ruhe, über die er sich noch eben gefreut hatte, zu reißen drohte.

Es lag ihm auf der Zunge, eine Erklärung zu fordern; aber instinktiv begriff er, daß er vorsichtig vorgehen mußte. Darum schluckte er den Zorn, den er in sich aufsteigen fühlte, hinunter, stellte sich vor die Tochter hin und sagte in einem Tone, der kühler klang, als eigentlich beabsichtigt war: »Der treffliche Mann, der dir die Ehre erwiesen hat, bei mir um deine Hand anzuhalten, hat mich selbst gebeten, dir zu sagen, daß er bereit ist, dir Bedenkzeit zu lassen. Du brauchst also nicht jetzt zu antworten.«

Cäcilia erhob sich. »Danke,« sagte sie fest und ruhig. »Das habe ich von Herrn Skotte und von meinem Vater nicht anders erwartet.«

Und da der Vater hierauf nichts erwiderte, verließ sie das Zimmer, ohne daß noch ein Wort gesprochen wurde.

In der Halle wartete Karin. Aus dem wenigen, was sie gesehen und gehört hatte, war es dem jungen Mädchen klar geworden, daß etwas Wichtiges vorging, und ihr Instinkt sagte ihr, daß die Unterredung im Zimmer des Vaters sich um das künftige Geschick der Schwester drehte. Und so saß sie jetzt dicht vor der geschlossenen Tür, mit Augen, die vor Zärtlichkeit und Mitgefühl leuchteten, und wartete darauf, daß die Schwester ihr um den Hals fallen und ihr alles sagen würde.

Aber mit Augen, die nichts zu sehen schienen, ging Cäcilia an der Schwester vorüber und lief die Treppe hinauf nach ihrer Stube, in der sie sich einschloß. Stumm und einsam stand Karin in der großen Halle, in der die Dämmerung sank. Sie dachte an ihr eigenes Geheimnis; und als sie die Hand an die Brust legte, fühlte sie den Druck des dünnen Goldreifs, der, an ein schmales Sammetband gebunden, unter dem Hemde auf ihrem Busen lag.

 

Mehrere Tage vergingen. Cäcilia behielt ihren Kummer für sich. Karin litt darunter, litt doppelt, weil sie verstand, woher die Verschwiegenheit der Schwester kam.

Zwischen den zwei Schwestern war, seit Karins Liebesbeziehung zu dem jungen Fähnrich begonnen hatte, ein ganz neues Verhältnis entstanden. Ob Cäcilia etwas ahnte oder nicht, das erfuhr Karin nicht. Sie fühlte nur eins: sie konnte sich der Schwester nicht mehr nähern wie früher, und die Tür zwischen den beiden Mädchenzimmern, die sonst immer offen gestanden hatte, war jetzt meist geschlossen.

Karin erinnerte sich noch recht gut an das erste Mal, daß dies geschehen war; und darum fühlte sie, daß die Schuld an dem Mißklang, der in ihr Verhältnis gekommen war, an ihr lag. Und doch konnte sie nichts dagegen tun, nichts daran ändern. Ihr Geheimnis einem anderen anvertrauen, das erschien ihr als etwas ganz Unmögliches. Ihr allein gehörte dies Geheimnis, tief in ihrer Seele hatte es sich eine Welt für sich geschaffen, die anders war als alles auf Erden. Und ehe Karin die Blicke eines Dritten, und wären es auch die einer Schwester, auf diesen verborgenen Schatz hätte fallen lassen, wäre sie lieber gestorben.

Und doch hätte sie sich so herzlich gern der Schwester genähert; sie sah den Schmerz, der Cäcilia betroffen hatte, vielleicht für größer an, als er wirklich war. Sie wünschte so sehr, sie dürfte die Schwester zärtlich liebkosen, ihr die Bürde abnehmen. Aber jedesmal, wenn sie sich Cäcilia nähern wollte, fand sie den Weg verschlossen, und alle zaghaften Versuche, die Karin machte, schien die ältere Schwester gar nicht sehen zu wollen.

Inzwischen wurden mit jedem Tage die Nächte länger und heller. Mittsommer rückte näher.

Die alten Bäume im Garten standen in dichtem Laub, der Garten selbst erglänzte weiß, wie besteckt mit Riesensträußen weißer Blumen, die Obstbäume schmückten sich mit ihrem vergänglichen, wundervollen Frühsommergewand, und die Fliederbüsche hingen voll schwellender Knospen.

Da, eines Tages, erhielt Karin ihren ersten Brief aus Paris. Auf Umwegen gelangte er in ihre Hände, und welchen Weg ihr Held gewählt hatte, um ihn zu befördern, erfuhr sie nicht. Sie grübelte auch nicht darüber nach. Wie einen heimlichen Schatz trug sie den unerbrochenen Brief in der Kleidertasche, und erst am Nachmittag stahl sie sich hinauf in ihr Stübchen, schloß die Tür und las ihren ersten Liebesbrief.

Versunken war alles außer dem unnennbaren, heimlichen Quell, der ihr ganzes Leben umgestaltet hatte. Still und langsam las sie den langen Brief, der ihr von einem fremden Lande erzählte, von der großen Weltstadt, von neuen, wundervollen Gedanken, von dem Kampf dort in der Ferne, dem Kampf um neue Gedanken und neue Menschenschicksale. Und dazwischen fand sie Worte, die von ihr selbst sprachen, warme, glühende Worte, die ihr Herz klopfen machten, Hoffnungen auf eine Zukunft, das Gelübde, daß er dereinst kommen würde und sie holen, sie, die auf ihn wartete, die nie von ihm lassen würde, die ihn so über alles liebte.

All das kam zu Karin, während die Sommerwiesen grün standen und die Sonne die Erde wärmte und die Blumen färbte. Und die Gewißheit kam mit, die Gewißheit, daß sie hoffen und harren durfte. Zugleich aber öffnete dieser Brief ihr gleichsam die ganze Welt. Wie ein neues Wunder schien es ihr, die sich so klein und unbedeutend fühlte, daß jemand, der mitten in all dem Großen und Herrlichen lebte, das sie sich in der Welt träumte, an sie denken, ihr einen Platz bei sich einräumen, mit all seiner Sehnsucht zu ihr kommen und sie vielleicht eines Tages auf starken Armen forttragen sollte, dahin, wo alles Lebens Fülle so üppig wuchs, daß schon die bloße Ahnung dieser Fülle einen erschreckte.

All dies und mehr noch strömte von den blauen Linien des dünnen Briefpapiers über Karin hin, und aus allem, was sie fühlte, barg sie als Köstlichstes die Stille, die geboren wird aus der Gewißheit, geliebt zu sein.

Mit ihrem Brief in der Hand blickte sie durch das offene Fenster durch die Zweige der Ulmen hinaus in den Garten, und wie ein unsagbares Glück erschien es ihr, daß sie so auf ihn warten durfte.

Plötzlich hörte Karin, daß Cäcilia in das Zimmer nebenan kam. Hastig faltete sie den Brief zusammen, schob ihn in den Umschlag und verbarg ihren Schatz in der obersten Kommodenschieblade unter den weißen, schlichten Hemden, die sie selber gewebt und genäht hatte und die nach Lavendel und Nelken dufteten. Dann schloß sie die Schieblade und zog zum erstenmal in ihrem Leben den Schlüssel aus dem Schloß. Hastig öffnete sie hierauf die Tür, um durch Cäcilias Zimmer hinauszugehen, voll Furcht, sie könnte mit einer Miene ihr Glück verraten.

Als Karin hereinkam, saß die Schwester vor der ausgezogenen Klappe eines kleinen Mahagonisekretärs und schrieb an etwas, das aussah wie ein Brief. Karin, die Angst vor jeder Frage hatte, wollte ohne weiteres an ihr vorbeieilen, um nur fortzukommen, einerlei wohin.

Doch Cäcilia schien das nicht zulassen zu wollen. »Wohin gehst du?« fragte sie.

»Nirgendshin,« antwortete Karin kurz, noch mit der Hand auf der Türklinke.

Da hörte sie Cäcilia wieder sprechen – trocken, kalt und bitter: »Hast du nicht einen kleinen Augenblick Zeit für mich übrig?«

In der Stimme der Schwester lag ein so maßlos schmerzlicher Klang, daß Karin ganz erschreckt zurückfuhr. Es schnitt durch ihre Freude, als ob ein scharfes Eisen ihr Innerstes verwundet hätte. Hastig trat sie näher: »Ich möchte ja so gern mit dir reden,« sagte sie. »Aber du willst ja immer nicht.«

Da brach zu Karins Überraschung die sonst so ruhige und beherrschte Schwester, zu der sie immer emporgeblickt und die sie, solange sie zurückdenken konnte, nie in einer solchen Verfassung gesehen hatte, plötzlich aus, als habe sie ihr etwas zuleide getan.

»Du siehst ja nichts, niemand sieht etwas. Keinen hab' ich, zu dem ich gehen kann!«

Cäcilia zog die jüngere Schwester zu sich nieder auf das kleine Sofa; sie mußte sich Gewalt antun, um nicht in Tränen auszubrechen.

»Vater will mich zwingen, daß ich Fabian Skotte auf Elfshammar heiraten soll,« sagte sie. »Ich kenne ihn nicht. Ich will nicht. Ich tu es nicht.«

Karin fühlte, wie alles, was noch eben so jubelnd hell gewesen war, plötzlich in Dunkel versank. Also war es wahr, was sie geahnt und immer von sich geschoben hatte, weil es so bitter war und so schwer? Wahr, wahr, wahr!

Cäcilia fuhr fort: »Vater hat kein Geld mehr. Er hat mir alles gesagt. Und wenn ich mich mit dem reichen Manne verheirate, so rettet er Vater.«

Wie aus einem Nebel heraus ward es Karin auf einmal klar, daß das, was hier vor sich ging, eine Wirklichkeit härterer und gleichsam zwingenderer Art in sich trug, als ihr selbst je entgegengetreten war.

Sie setzte sich der Schwester gegenüber, und zum erstenmal sah sie, daß Cäcilia in der kurzen Zeit eine ganz andere geworden war, älter im Wesen und Aussehen.

Sobald Cäcilia der Schwester Blick auf sich ruhen sah, wurde sie ruhiger. Und dann begann sie zu erzählen. Kurz und klar berichtete sie nun alles, was geschehen war.

»Ich kann Vater nicht den Willen tun darin,« sagte sie. »Mich mit einem Manne verheiraten, der mir zuwider ist, das ist mir unmöglich. Ich tu' es nicht.«

Karins Wangen glühten. Sie fühlte, wie ihr eigenes Geheimnis, das ihr bis zu dieser Stunde ein ungetrübtes Glück gewesen war, plötzlich zu brennen und schmerzen begann, als hätte sich ein glühendes Eisen in ihre Brust eingebrannt.

»Was willst du tun?« fragte sie atemlos. »An wen schreibst du?«

Ruhig begegnete Cäcilia dem Blick der Schwester.

»An Großmutter,« sagte sie.

»Weiß Vater das?«

»Nein. Was kümmert er sich denn um mich!«

All das erschien Karin so unheimlich und unergründlich.

»Ich habe geglaubt, du schreibest an jemand, den du vielleicht – lieb hättest,« sagte sie und errötete im selben Augenblicke über ihre eigenen Worte.

Cäcilia lächelte.

»Lieb haben?« sagte sie bitter. »Wen gibt es denn hier, den man lieb haben könnte? Den Inspektor vielleicht? Oder Vaters Kutscher? Es gibt ja Märchen, in denen so was vorkommt! Kindskopf!«

Sie erhob sich und ging ein paarmal durchs Zimmer, kräftig, gut gebaut, ein reifes Weib, das seine Kindheit weit hinter sich gelassen hatte.

Karin verstand das und fühlte sich kleiner als je.

»Was willst du von Großmutter?« fragte sie schüchtern.

Für Karin war die Großmutter der Inbegriff der Strenge, des unbestechlichen Gebotes der Unterwürfigkeit und des Gehorsams. Großmutter war wie die barsche Stiefmutter im Märchen, vor der alle erschrocken schweigen, der sich niemand zu widersetzen wagt. Persönlich hatte Karin an Großmutter die Erinnerung, daß sie vor ihrem Blick gezittert und sich vor ihrem Schelten gefürchtet hatte.

»Großmutter ist eine tüchtige Frau,« sagte Cäcilia. »Sie wird verstehen, wie allein ich hier stehe, und wie schwer alles für mich ist, weil ich keine Mutter gehabt habe. Und darum schreibe ich an sie. Wenn sie mir nicht helfen kann, so kann niemand mir helfen.«

»Und Vater?« sagte Karin. »Wie wird es mit Vater?«

»Fabian Skotte übernimmt Skogaholm in Pacht oder kauft den Hof, einerlei, was ich antworte. So ist Vater auf jeden Fall gerettet. Fabian Skotte hat sein Wort gegeben, und das hält er. Es ist ja nicht, um sich vor der Not zu retten, daß Vater mich opfern will. Es ist um seiner Ehre willen, weil er mich ihm zugesagt hat, daß er das Opfer von mir verlangt. Vater selber glaubt es ja, aber er täuscht sich. Er würde nicht versuchen, mich zu zwingen, wenn er sich nicht in den Kopf gesetzt hätte, daß Skogaholm durch mich in der Familie bleiben soll. Und dann wäre es für ihn auch leichter, einem Schwiegersohn verpflichtet zu sein, als einem, der nicht verwandt ist. Seinem Hochmut will er mich opfern. In meinem Herzen ist nichts, das mir gebietet, diesmal zu gehorchen.«

Damit setzte Cäcilia sich wieder an den Schreibtisch.

»Geh' jetzt!« sagte sie. »Der Brief muß einmal fertig werden, sonst hab' ich keine Ruhe.«

Karin ging. Sie ging durch das Wäldchen hinunter zum Strande, wo der weiße Sand lag und die Wellen neben ihren Füßen ans Land spülten. Da setzte sie sich und blickte gedankenvoll über das Wasser, in dem sich die Sommerwolken spiegelten, bis ein Windstoß kam und das Bild auseinander blies.

Zum erstenmal war in Karins unmittelbarer Nähe etwas geschehen, das gleichsam den luftigen Schleier von Glück und Traum hob, den ihre Jugend über Leben und Wirklichkeit gebreitet hatte. Vor der ruhigen Entschlossenheit und dem zielbewußten Mut, mit dem die Schwester zu Werke ging, stand Karin wie vor etwas Fremdem. Sie verstand diese Eigenschaften an der Schwester nicht. So kraftvoll und sicher zu handeln, ganz auf eigene Faust, ohne einen Menschen zu fragen! Es schien Karin wie ein Wunder, unerklärlicher als alles, was sie je in ihrem Leben erfahren hatte.

Als sie dann an den Vater zu denken versuchte, schnürte sich ihr das Herz zusammen. Er tut einem so leid, dachte Karin, daß die eigene Tochter ihm entgegenhandelt und sich um Hilfe wider den Vater an Fremde wendet! Und das Schlimmste war, daß sie, Karin, ohne ihr Wollen in die Pläne eingeweiht war.

So saß Karin den Juniabend durch am Strande. Zuletzt fand sie doch einen Trost für ihre kummervollen Gedanken in dem Umstande, daß nicht sie es war, die an eine Ehe mit einem langweiligen Manne denken mußte, sondern die Schwester. Und bei diesem Gedanken erwachte ihre Sehnsucht nach dem Briefe, der in ihrer obersten Schieblade versteckt lag. Sie stand auf und ging heim.

Um sie her fielen die Schatten der Birken leicht aufs Gras, die Abendsonne sank, und ganz nahe im Wäldchen rief der Kuckuck klingend und hell. Die Sorgen flogen fort, und Karin ging heimwärts, voll von ihrer heimlichen Freude, und sang leise vor sich hin.

Auf der Treppe zum Hofe hinauf begegnete sie der alten Jonsa, die mit einem Sack Kartoffeln auf dem Rücken nach dem Waschhaus ging.

»Ich glaube gar, man singt,« sagte Jonsa und stellte ihren Sack nieder.

Karin nickte.

»Warum singt man denn, wenn man fragen darf?« fuhr die Alte fort.

»Das weiß man selber nicht,« antwortete Karin.

»Ei ja, wol weiß man das!« meinte die Alte.

An welchen von ihren ehemaligen Schätzen sie in diesem Augenblick dachte, ist schwer zu sagen. Aber als Karin schon an ihr vorüber und durch die große Haustür verschwunden war, stand die Alte noch immer da und lächelte ihr bedeutungsvolles Lächeln im Abendsonnenschein. Schließlich nahm sie ihren Kartoffelsack wieder auf den Rücken und ging schnaufend heim.

Cäcilia aber saß einsam in ihrer Stube und schrieb. Ihr Brief wurde lang, und mehr als einmal mußte sie wieder von vorn anfangen. Denn die Augen, die da lesen sollten, was sie geschrieben hatte, waren gar scharf und genau und gewöhnt, Fehler zu entdecken.

Zuletzt aber lag der Brief doch fertig da, in klaren, bestimmten Worten abgefaßt und mit einer sicheren, deutlichen Handschrift geschrieben. Wie er jetzt war, konnte er bleiben. Und als nächstesmal die Posttasche abging, ging Cäcilia selber hinunter an den Strand und schob den Brief heimlich dem Fischer-Anders in die Hand, der schon zum Abstoßen bereit im Boot stand, um die Posttasche auf die andere Seite des Sees hinüberzurudern, wo die Landpost sie abholen sollte.

 

Fischer-Anders hatte in dieser Zeit doppelte Heimlichkeiten zu hüten; er machte sich wohl auch seine Gedanken, wenn er die verschiedenen Briefe in Empfang nahm oder auslieferte. Aber er sagte sich, daß ein kleiner Nebenverdienst nicht so übel ist, besonders einer, den man heimlich kriegt. Da brauchte seine Alte nicht so zu rechnen und zu keifen wie bei dem, was er für die Fische bekam. Etwas mußte ein rechtschaffener Mensch doch auch für einen Schnaps oder ein bißchen Tabak haben. Daß in dieser Heimlichtuerei eine Gefahr für ihn liegen könnte, ahnte Fischer-Anders wohl; und damit er nichts zu wissen brauchte, stellte er lieber keine Fragen, sondern nahm nur die Briefe und das Geld und tat, wie ihm befohlen war. Dadurch, daß die Post so selten ging, war ja der Verdienst überhaupt nicht groß, und ein Extratrinkgeld setzte es nicht alle Tage.

Mit dem seltenen Kommen der Post ging es auch Hand in Hand, daß, wer damals einen Brief erhielt, sich reichlich Zeit nahm, ehe er ihn wieder beantwortete. Die Blätter der Bäume wurden gelb, und auf den Feldern stand der Hafer in Garben, ehe die alte Gnädige auf Erzhütte irgend jemand auf Skogaholm ahnen ließ, daß ihr der Brief der Enkelin zu Händen gekommen war.

Die Sache war außerdem die, daß die alte Frau es recht schwierig fand, den Brief zu beantworten. »Man soll sich nicht in die Heiraten anderer Leute mischen; da erntet man bloß Undank und kommt in allerhand Verdruß und noch schlimmere Kalamitäten.« Das war ein Grundsatz, den sie oft geäußert und auch ihr Leben lang unverbrüchlich befolgt hatte. Daß sie sich jetzt, auf ihre alten Tage hin, zwischen Stamm und Rinde drängen sollte, kam ihr sehr ungelegen.

Anderseits aber sagte sie sich auch, daß sie ja doch des Mädchens Großmutter sei, und über die Heiraten ihrer Kinder, der Söhne sowohl als der Töchter, hatte sie stets ohne Rücksicht auf die erwähnte goldene Lebensregel bestimmt. Der einzige, dem es seinerzeit gelungen war, ihre Macht zu besiegen, war – und das vergaß sie nie – eben Magnus Brandt gewesen, der sich sehr gegen den Willen der Alten mit ihrer ältesten Tochter verheiratet hatte. Darum waren er und seine Kinder ihr immer etwas Fremdes gewesen, und aus diesem Gefühl heraus betrachtete sie sie fast als Nebenpersonen der Familie, mit denen sie sich – besonders da ja ihre Tochter tot war – streng genommen nicht zu befassen brauchte.

Aber die alte Frau hatte in allen Dingen ihren Kopf für sich; im voraus zu sagen, wie sie in einem gewissen gegebenen Fall handeln würde, gehörte zu den Unmöglichkeiten. Viele hatten es versucht, aber keinem war es bis jetzt gelungen. Zahllos waren die Geschichten von Überraschungen, die sie in solchen Fällen der Familie bereitet hatte.

Cäcilias Brief hatte der Alten gefallen. Der klare, einfache Ton, der frei war von aller Übertreibung und von allem, was man Sentimentalität hätte nennen können, hatte einen Widerhall geweckt bei der Großmutter, der man es sonst nicht leicht recht machen konnte. Daß das Mädchen sich so resolut an sie wandte, erweckte in der alten Frau die Überzeugung, daß Cäcilia ein Weib von Verstand und Urteil war. Schon daß sie gewagt hatte, auf eigene Faust zu schreiben und noch dazu an sie zu schreiben, schlug als etwas ungewöhnlich Tapferes und Mutiges bei der Großmutter ein. Das durfte man nicht ganz außer acht lassen, wenn die Antwort abgefaßt wurde.

Darum zögerte die alte Gnädige auf Erzhütte lange, ehe sie irgend einen Entschluß faßte. Umständlich und genau wurde erwogen, wie sie handeln und antworten sollte. So Hals über Kopf wird die Hochzeit ja nicht sein, überlegte die Gnädige, und warten lernen ist für die Jugend nützlich.

Als endlich der ersehnte Brief abgesandt wurde, war er freundlich und kurz und erwähnte klugerweise weder, daß Cäcilia geschrieben noch was ihr Brief enthalten hatte. Die Großmutter schickte der Enkelin nur eine dringende Einladung, sie sobald wie möglich auf Erzhütte zu besuchen und einige Zeit dort zu bleiben, und schloß mit freundlichen, formellen Grüßen an den lieben Vater und die Schwester, die dann eben ein paar Wochen lang Cäcilias Gesellschaft und Hilfe in der Haushaltung entbehren müßten.

Als Cäcilia diesen Brief erhielt, hellte sich zum erstenmal seit langer Zeit ihr Gesicht wieder auf. Kein Wort stand da, das sie auch nur für die Andeutung eines Versprechens hätte nehmen können. Sie konnte ebensogut denken, daß die Großmutter nur so geschrieben habe, um sich eine Gelegenheit zu verschaffen, auf sie einzuwirken und sie dem Willen des Vaters gefügig zu machen. Aber das las Cäcilia nicht aus dem Briefe heraus. Schon in seinem ganzen Ton lag etwas, was sie beruhigte, etwas derb Freundliches und zugleich auch fast Mütterliches. Und Cäcilia hatte beim Lesen des Briefes das Gefühl, als ob eine starke Hand die ihre fasse und ihr gelobe, sie zu stützen. Ihr Instinkt sagte ihr auch, daß gerade das, daß die Großmutter sie so lange hatte warten lassen und mit keinem Wort ihr eigenes Schreiben erwähnt hatte, ein gutes Zeichen sei.

Magnus Brandt erhielt den Brief noch am selben Abend zum Lesen, als er und die Töchter beim Nachtessen saßen. Er setzte die Brille auf, die er sich in den letzten Jahren hatte anschaffen müssen, weil die Augen schwach wurden, und las bedächtig das Ganze einmal durch. Als er es ein zweites Mal gelesen hatte, schob er das Papier wieder zur Tochter hinüber, beendete rasch seine Mahlzeit und erhob sich. Erst als der Vater in seiner Stube war, ließ Cäcilia die Schwester lesen, was die Großmutter geschrieben hatte.

Voll von den widersprechendsten Gedanken las Karin diesen Brief, der so lange hatte auf sich warten lassen und der jetzt, da er gekommen war, etwas so ganz anderes enthielt, als die Schwestern hatten ahnen können. »Glaubst du, Vater läßt dich reisen?« sagte Karin nachdenklich.

»Vater kann doch nicht nein sagen,« erwiderte Cäcilia lächelnd. Sie lächelte, weil sie gut wußte, wie mächtig die Großmutter war, und daß niemand in der ganzen Familie sich so leicht ihrem Willen widersetzte. Doch lag in ihrer Stimme nichts von Triumph, nichts, als freue sie sich, daß sie mit weiblicher List den Vater besiegt hatte. Ihr Gesichtsausdruck war bloß ruhig und fest wie bei einem Menschen, der den ersten Schritt auf seinem eigenen Wege getan hat und entschlossen ist, weiterzugehen.

»Kommst du nie wieder nach Hause?« war Karins zweite Frage.

»Was weiß ich?« antwortete Cäcilia. »Hat mich jemand gefragt, was ich will oder was geschehen soll? Ich reise, weil ich nicht anders kann. Selber über mich bestimmen darf ich ja doch nie.«

Das war mehr, als Karin fassen konnte, und zum erstenmal in ihrem Leben kam ihr eine Ahnung davon, wie ungleich die Naturen der Menschen sind und wie ungleiche Wege sie darum gehen müssen. Das Gefühl, wie stark sie selber gebunden war und wie glücklich das sie machte, überkam sie. Still fragte sie: »Ist das das Beste, was du weißt – über sich selber bestimmen zu können?«

Cäcilia mußte die Schwester ansehen, als sie diese Worte aussprach. So warm und still klang ihre Stimme, so ein scheuer Glanz kam plötzlich über ihre Züge, als würde das ganze Gesicht erleuchtet von einem Licht von innen heraus. Nachdenklich und verwundert strich sie Karin über das Haar. »Du träumst noch,« sagte sie.

Und Karin wußte der Schwester nichts zu antworten.

 

Die Folge des Briefes war, daß Cäcilia ein paar Tage darauf, versehen mit einem wohlgepackten Reisekoffer, der all die Kleider und den weiblichen Putz enthielt, die daheim so selten gebraucht wurden, und mit einer Reisekasse, die für Trinkgelder und kleinere Ausgaben bestimmt war, an einem Herbstmorgen im Oktober abreiste, um die Großmutter zu besuchen, die sie seit ihrer Kinderzeit nicht mehr gesehen hatte.

Magnus Brandt freute sich darüber, und beim Abschied sagte er zu der Tochter: »Vergiß nicht, daß du mit deiner Großmutter alles besprechen kannst, was du willst. Sie hat das Herz auf dem rechten Fleck; man muß sie nur verstehen. Warum sie dich gerade jetzt eingeladen hat, weiß ich nicht. Aber ich habe eine Ahnung, daß sie etwas von den Plänen gehört hat, die sich auf deine Zukunft beziehen. Höre darum auf ihren Rat. Und komm' mit dem Willen und dem Mut, das Rechte zu tun, zurück. Dann wird alles gut gehen.«

Cäcilia hörte die Worte des Vaters und bestrebte sich vergeblich, ruhig zu erscheinen. Sie war immer davor zurückgescheut, Zärtlichkeit zu geben oder zu empfangen. Und sie empfand das in diesem Augenblick wie ein Unglück, ja fast wie ein Gebrechen. Während der Vater sprach, war sie Karins Blick begegnet, und weil sie darin etwas zu lesen glaubte, das einem Vorwurf glich, kam es ihr mit einem Male schwer und bitter zum Bewußtsein, daß sie nun hier stand, um Lebewohl zu sagen – vielleicht auf eine ganz andere Weise, als der Vater ahnte oder je erfahren würde. Das Gefühl für den Vater, das ihr Höchstes gewesen war, dies eingewurzelte Ehrfurchtsgefühl, mit dem sie so schwer und so einsam gerungen hatte, ehe ihr Entschluß reifte, kam mit solcher Gewalt über sie, daß sie sich am liebsten dem Vater um den Hals geworfen, sich bei ihm ausgeweint und ihm alles gesagt hätte.

Aber sie konnte es nicht. Die Wärme, die gefesselt in ihr lag, ward nicht so leicht frei, und auch der Selbsterhaltungstrieb gebot ihr, jetzt hart zu sein, um nicht später einmal ganz zu verhärten.

In unterdrückter Bewegung reichte sie dem Vater die Hand und sagte wehmutsvoll: »Ich möchte tun, was recht ist, Vater. Das möchte ich. Wenn man es nur immer wüßte!«

Magnus Brandt faßte die Tochter an beiden Armen und sah ihr ins Gesicht. »Nun, nun!« erwiderte er mit einem Versuch zu scherzen. »Wir gehen ja wohl nicht fürs ganze Leben auseinander.«

»Nein, nein,« antwortete die Tochter und sprang hastig in den alten Deckwagen, der auf sie wartete. Karin saß schon drinnen, um die Schwester bis zur großen Landstraße, wo die Felder aufhörten, zu begleiten . . .

So fuhr Cäcilia Brandt von ihres Vaters Hof, von dem Ort, wo sie es so schlimm gehabt hatte und so gut, dem einzigen Ort auf der ganzen Erde, den sie wirklich kannte. Sie fühlte sich gewaltsam losgerissen und in die Welt hinausgestoßen. Keinen Menschen hatte sie, dem sie sich anvertrauen konnte, als eine Schwester, die sie gewöhnt war als Kind zu betrachten, und nicht einmal ihr konnte sie sich so anvertrauen, wie sie es gern wollte. Als der Wagen jetzt an das Tor am Ende der Allee kam, wandte sie sich um und sah in einem letzten Blick ihre Heimat hinter der langen Reihe der entlaubten Bäume liegen. Im selben Augenblick begann es zu regnen, und Johann mußte vom Bock herunterklettern, um das Verdeck aufzuschlagen.

Als glaubte sie, sie wäre allein, kroch Cäcilia in ihrer Ecke zusammen und schloß die Augen. Als Karin eine Weile später ihre Hand auf die der Schwester legte, um Abschied zu nehmen, fuhr Cäcilia zusammen, als erwache sie aus tiefem Schlaf. Wortlos küßte sie die Schwester, und Karin, die am Grabenrande stehen blieb, sah nur noch den Wagen durch den Regen fortrollen, der immer heftiger auf die durchweichten Stoppelfelder herabrauschte und wie eine Wolke über den Wald hinfegte, wo eben der Wagen verschwand. Kein einziges Mal beugte sich Cäcilia aus dem Verdeck, um Lebewohl zu winken.

In ihren dicken Mantel gehüllt, ging Karin langsam nach Hause . . . Noch immer wollte die trübe Morgendämmerung nicht weichen.

Als der Regen ihre jungen Wangen näßte, war ihr leichter zumute, und zum zweitenmal dachte sie daran, wie gut es doch war, daß Fabian Skottes Wahl auf die Schwester gefallen war und nicht auf sie, auf sie, die nicht wußte, wen sie am höchsten liebte, den Vater oder den Mann, dem sie ihr Herz geschenkt hatte. Und während Karin so sann, lächelte sie und dachte: So grausam kann Gott nicht sein, daß er einen Menschen vor solch eine Wahl stellt.

 


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