Gustaf af Geijerstam
Karin Brandts Traum
Gustaf af Geijerstam

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Zweites Kapitel

Im folgenden Winter wurde Karin eingesegnet, und im Frühling ging sie in den Einsegnungsunterricht. Auf sie selbst hatte diese ganze Zeit wenig Einwirkung, und es sah manchmal fast aus, als wundere sie sich darüber, daß alle diese Zeiten der Belehrung und des Nachdenkens als etwas so Wichtiges und Feierliches ansahen. Ihre eigenen Gedanken waren zumeist damit beschäftigt, daß sie jetzt erwachsen wäre, und was für Veränderungen dadurch in ihrem Leben entstehen würden. Was der Pastor sagte, erschien Karin als etwas, was andere mindestens ebensoviel anging wie sie selber. Sie suchte etwas ganz anderes, etwas, was zu ihr ganz allein spräche. Die ganze Zeit über ging sie umher wie in Erwartung, und als das, was sie ersehnte, nicht kam, fühlte sie sich fast betrogen. Auch deuchte ihr, nie in ihrem ganzen Leben hätte sie etwas so Schweres erlebt, als wie sie vor dem Altar stand und vor der ganzen Gemeinde die Fragen beantworten mußte, die der Pastor an sie richtete. »Ja« antworten auf das Gelübde, das von ihr gefordert wurde, das tat sie aus vollstem Herzen. Denn kein Zweifel an dem, was die Religion sie gelehrt hatte, war in ihrer Seele. Aber als sie ihr Gelübde ablegte, kam es Karin vor, als wiederhole sie eigentlich nur, was sie früher einmal dem Vater gelobt hatte – nur jetzt mit gezwungenen, eingelernten Worten.

Wirklich von Andacht ergriffen fühlte sie sich erst, als sie am folgenden Sonntag, so wie einst die Schwester, zum Altar vortrat. Die Orgel spielte, und die Gemeinde sang, die Luft war voll von Tönen, und sie fühlte den Blick des Vaters auf sich ruhen. Magnus Brandt sah seiner Tochter nach mit dem Gefühl, daß jetzt seine zweite und letzte Pflicht erfüllt war. Und etwas von dem, was dieser Blick enthielt, fühlte auch die Tochter. Vom Altar klangen jetzt dazu die feierlichen Worte des Erlösers. Und all das überwältigte Karin. Sie weinte laut, in einem Gemisch von Freude und Schmerz, das sie selbst erschreckte. Es war, als käme etwas Neues ihr in ihrem Leben entgegen, als lege sie mit einem Male die frohe Sorglosigkeit, die ihre Kindheit erfüllt hatte, hinter sich.

So war denn auch Karin erwachsen. Aber das änderte in keiner Weise das Leben auf dem alten Hofe, wo nun zwei heiratsfähige Töchter jahraus, jahrein einsam bei einem Vater saßen, der mit der Einsamkeit zufrieden war und nichts anderes zu brauchen schien. Die kleine Szene, die nach Mamsell Agdas plötzlicher Abreise stattgehabt hatte, hatte Vater und Töchter im Grunde einander nicht näher geführt. Der Verkehr zwischen ihnen war ein leichterer geworden und hatte einen wärmeren Anstrich erhalten; aber näher waren sie einander nicht gekommen, und ein Vertrauen, wie spätere Zeiten es erzeugten, war damals zwischen Vater und Kindern selten. Darum gingen diese drei Menschen ihre eigenen Wege, ohne unter den Verhältnissen zu leiden, ohne eine Änderung ihrer Beziehungen zu einander zu wünschen, ohne überhaupt von etwas derartigem zu träumen. Mehr und mehr ging Magnus Brandt in der Arbeit, im Verwalten des Gutes, im Beaufsichtigen des Hüttenwerkes auf. Nicht ohne ein starkes Gefühl des Widerwillens tat er das; daß die Stunden, die er früher in seiner Bibliothek zuzubringen pflegte, mit den Jahren immer weniger und weniger wurden, erweckte in seiner Seele ein Gefühl der Bitterkeit, das immer mehr anwuchs. Er dachte unaufhörlich daran, daß die Arbeit, der er seine größte Kraft opfern mußte, nichts war als eine schwere Pflicht, die das Schicksal ihm gegen sein Wollen auferlegt hatte. In der Bibliothek, wo seltene Folianten viele Regale füllten, wo andere die besten Namen der schwedischen und französischen Literatur trugen, wo römische Dichter, Denker und Geschichtschreiber eine ganze Abteilung für sich hatten – da war Magnus Brandts wahre Heimat. Nutzlos hatte er – das fühlte er – sein Leben für das Gut geopfert, auf dem er wie ein Begrabener lebte. Nutzlos war es, nutzlos. Denn in einsamen Stunden, die er am liebsten zu vergessen suchte, erkannte Magnus Brandt, daß die ganze Lage des Gutes nicht mehr die war, die sie früher gewesen. Die Ursache war ihm rätselhaft. Aber im Innersten nagte an ihm der Zweifel, ob er selber auch wirklich der Mann dazu sei, an der Spitze eines Besitzes zu stehen, auf dessen Gedeihen das Wohl und Wehe von zweihundert Menschen beruhte.

Hätte ich doch einen Sohn! dachte Magnus Brandt in solchen Stunden, einen Sohn, der mir die Last von den Schultern nehmen, einen Sohn, dem ich die Früchte meiner Arbeit, der Arbeit des ganzen Geschlechts als Erbe hinterlassen könnte! Je älter er wurde, desto mehr beschäftigte ihn der Gedanke, daß mit ihm ein Zweig des großen Brandtschen Geschlechtes aussterben würde. Der, der einmal das Gut nach ihm erben würde, würde einen neuen Namen tragen. Mit ihm, dem jetzt noch Lebenden, würde die Geschichte der Brandts auf Skogaholm zu Ende sein. Zwei Töchter hatte er, aber keinen Sohn. Der Gedanke an eine neue Ehe, der ihn einst fast dazu gebracht hätte, dem einmal gefaßten Vorsatz untreu zu werden, war längst so fern in der Erinnerung versunken, daß er zum zweitenmal einen Mann, wie Magnus Brandt es geworden war, nicht versuchen konnte. Bei einem Besuch auf Elfshammar hatte er einst gehört, daß das Weib, das damals seine Liebe geweckt, sich mit einem Beamten in Stockholm verheiratet hatte. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte er die Nachricht angehört, und schon am folgenden Tage schenkte er ihr keinen Gedanken mehr.

So lebte Magnus Brandt. Und neben ihm ging seine älteste Tochter ihren Weg zwischen Küche, Speisekammer, Eßzimmer, Wäscheboden, Backofen und Vorratsraum. Ob Cäcilia im stillen sich fortsehnte vom Vater und von anderem als von des Haushalts Mühe und Einerlei träumte? Jedenfalls sprach sie nicht davon. Sie hatte sich frühzeitig zu einer mustergültigen Hausfrau entwickelt, und ihr Ruf war groß in der ganzen Gegend. Es hieß von ihr, sie erinnere an ihre Großmutter, die alte Gnädige auf Malmhütte, die noch jetzt, mit siebzig Jahren, nach ihres Mannes Tode Hof und Leute wie ein Mann regierte und nie einen Verwalter zwischen sich und ihre Untergebenen hatte kommen lassen. Über Cäcilias ganzes Wesen war etwas Gebieterisches gekommen, und ihre Art hatte etwas von der ruhigen Bestimmtheit, die man oft bei Leuten findet, die gewiß sein können, daß ihre Befehle befolgt werden.

Ihr ganzer Trost außer dem Hause war die enge Freundschaft, die sie mit Henrika, der ältesten Tochter des Pastors Stadius, einem stillen, frommen Mädchen ihres eigenen Alters, geschlossen hatte, mit der sie während der Konfirmationszeit bekannt geworden war, und an der sie seitdem treulich festgehalten hatte. Trotz des Vaters offen ausgesprochener Mißbilligung dieser Vertraulichkeit, die ihm zwischen seiner Tochter und einer Bürgerlichen nicht passend erschien, hatte Cäcilia mit der ruhigen Energie, die ihr eigen war, in diesem Punkt ihren Willen durchzusetzen verstanden, so daß das Verhältnis zwischen den beiden Freundinnen sich in Ruhe entwickeln konnte. Oft fuhr sie selber hinüber zum Pastorhaus, und da ihr viel daran lag, daß die Freundin nichts vom Widerstand des Vaters gegen ihre Vertraulichkeit ahnen sollte, setzte sie auch durch, daß Mamsell Henrika mehr als einmal auf dem Herrenhof eingeladen wurde, manchmal für einen Tag, manchmal, nach damaliger Sitte, für mehrere Tage oder sogar Wochen. Wenn die Freundinnen einander nicht sehen konnten, wechselten sie Briefe, lange, ernsthafte Briefe über die wichtigen Fragen des Lebens und die kleinen Kümmernisse des Alltags, über treue Freundschaft und Zweifel an der Freundschaft Dauer. Und immer enthielten sie auch das Gelöbnis, daß, was auch geschehen möge, niemals das Band reißen sollte, das zwei Freundinnen vereinte, die nichts Höheres vom Leben wünschten als eben diese reine Freundschaft, die durch nichts getrübt werden konnte. Durch Holzhacker und Bauernfuhrwerke, durch Kirchenbesucher und Erzwagen wurden diese Briefe befördert. Die Post benützten sie, des teuren Portos willen, niemals.

Es hieß allerdings, daß Karin der Schwester zur Hand gehe in den häuslichen Geschäften, und während der großen Arbeitswochen vor Weihnachten und Mittsommer, beim Schlachten oder vor den regelmäßig wiederkehrenden zwei großen Diners, die Brandt alljährlich den Honoratioren der Umgegend gab, lief sie auch äußerst geschäftig umher, ein Tuch ums Haar und eine gestreifte Schürze über das selbstgewebte Hauskleid gebunden. Wieviel sie dabei nutz war, mag dahingestellt bleiben, aber sicher ist, daß sie die anderen, die wirklich arbeiteten, bei guter Laune erhielt. Sie lief vom Boden zum Keller und vom Keller wieder hinauf zum Boden, sie war überall, sie freute sich über alles und war glücklich über alles, weil sie alle lieb hatte und selbst fühlte, daß man sie lieb hatte. Zwischen all den Jungen und Alten, die arbeiteten und hasteten, lief sie herum, nahm an allem teil, legte überall Hand mit an, richtete so gut wie nichts aus und war doch unentbehrlich.

Karin war es, die aus den Leuten ihre Geschichten herauslockte, mochten es nun alte Erzählungen aus längst vergangenen Zeiten sein oder Spukgeschichten, die sich am besten anhörten, wenn es dunkel war und die Talglichte in langen Streifen an den dunklen Wänden flackerten. Am liebsten aber lockte sie Lieder aus den anderen heraus; denn die liebte sie vor allem. Sie wußte, wer die alte Weise vom Hirten und von der kleinen Kerstin kannte, wer draußen im Wald am schönsten jodelte, und wer das Lied von Malcolm Sinclair mit den vielen Versen konnte. Wenn kein anderer singen wollte, so sang Karin selbst. Niemand hatte sie das gelehrt. Sie selbst hatte herausgefunden, daß sie eine Stimme hatte, und hatte sie brauchen gelernt. Sie konnte die Lieder der anderen und noch mehr als nur die. Auf dem niederen Mahagoniregal neben dem alten Spinett hatte sie Lieder gefunden, andere, als die in der Gegend gesungen wurden, und noch zu Mamsell Agdas Zeit hatte sie notdürftig Notenlesen und die Kunst, eine einfache Melodie auf dem Klavier zu spielen, gelernt. Wenn der Vater draußen auf der Hütte war und niemand sie hören konnte, saß Karin vor dem Spinett und suchte sich auf den Tasten die alten Weisen zusammen, die die Mutter einst gesungen hatte. Und so sang sie:

 

Oder auch:

Und viele andere Lieder konnte Karin noch. Am liebsten sang sie sie für sich selber, wenn sie einsam durch Feld und Wald streifte. Nie sang sie fröhlicher, als wenn niemand sie hören konnte. Das Leben, das sie führte, war ein Traumleben, mit einem frischen Zusatz von Freude an allem, was die Wirklichkeit ihr bot. Im Wald hatte sie ihre Pfade, die niemand außer ihr kannte. Am Bach hatte sie ihre Steine, und am See war ein langer, feiner Sandstrand, wo sie oft lag und aufs Wasser hinausblickte, während sie den Sand durch ihre weichen, sonnverbrannten Hände rinnen ließ. Tief im Wald lag der Eulenberg, und hob sich über die Spitzen der Tannen. Von seinem Gipfel sah man meilenweit hinaus über die Wälder, und der See war von dort aus ganz klein und eng, wie er so eingeklemmt zwischen Hügel und Wald da lag. Auch dort hatte Karin ihre eigene Kluft, in die sie hinabkroch, bis sie nichts mehr sah als den Berg und die Tannen. Waldesstill war es dort, unheimlich und wild, daß es das Blut in Wallung brachte. Wenn der Herbstwind durch die Bäume blies, saß Karin wohlgeborgen in ihrer Schlucht, und wenn sie dann wieder auf den Hof zurückkehrte, war ihr Haar voll Tannennadeln, und auf ihren Wangen lag eine frische Röte.

Auf solchen Spaziergängen sang sie nicht. Da war alles grau und unheimlich: Singen paßte da nicht. Sie sang aber auch nicht immer allein. Manchmal sang sie den Leuten im Hause vor oder der Schwester. Bloß wenn der Vater in die Nähe kam, verstummte sie. Aber unter dem Gesinde war ihr wohl, unter ihm hatte sie Freunde, unter den rußigen Schmieden und ihren Weibern und in den Waldhütten und ringsum in den kleinen Höfen, die über die weitgestreckten Felder zerstreut lagen. Mutter Vestlund, die einsam und grau in ihrem kleinen Häuschen hinter der Hütte wohnte, mit der großen Myrte im Fenster und den vielen buntfarbigen Blumen vor der Tür, gehörte dazu.

Sie war Witwe, die Kinder waren verheiratet oder tot, von keinem hörte sie mehr. Aber munter und fröhlich war sie immer und dabei alt, schrecklich alt, beinahe neunzig Jahre. Sie hatte unter sechs Königen gelebt, und zwei davon hatte sie auch gesehen, Gustaf III., als Krieg war und er auf einem Bauernkarren nach Dalarne hinauffuhr, um zu dem Volke zu reden, und Karl Johann, als er noch Kronprinz und jung war und einst vorüberritt in blauen Reithosen, die in langen Glanzlederstiefeln staken, und einem dreieckigen Hut auf dem Kopfe, begleitet von einer Schar Herren in silber- und goldblitzenden Uniformen. Auch den Fischer-Anders kannte Karin, der Fische auf den Hof brachte und mit der Post fuhr, der so viele Kinder hatte und so arm war. Auch mit der Landstreicher-Lotte war sie gut Freund. Aber die Freundschaft mußte geheim gehalten werden. Denn die Landstreicher-Lotte war eine schlechte Person. Sie war nämlich ein Zigeunerweib, das in allen Kirchspielen herumzog und bettelte und stahl. Kam der Hüttenherr auch nur von fern, so schlich Lotte sich fort, wer weiß wie schnell und wohin, und mehr als einmal hatte sie ihm, laut und leise, die schwarzen Verwünschungen ihres heimatlosen Volkes nachgeschickt. Denn der Hüttenbesitzer war ein strenger Herr, der der alten Lotte oft genug mit dem Schultheiß drohte. Aber das Fräulein war mild und gut. Sie sprach freundlich mit der Landstreicherin, und mehr als einmal steckte sie ihr ein bißchen Brot oder Pfannkuchen oder Wurst zu, die sie heimlich aus der Küche holte. Dann hatte sie auch Jon, den taubstummen Jon, der sich mit Holzhacken auf dem Herrenhof Kleidung und Essen verdiente. Er war der Narr aller, alle machten sie Unsinn mit ihm, weil es so lustig anzusehen war, wie er die Augen rollte, wenn er böse wurde, und wie er murmelte und schluckte, ohne ein Wort herauszukriegen, wenn er ihnen einmal seine Meinung sagen wollte. Wenn dann aber Karin kam, ihn beim Arme nahm und ihn von seinen Quälgeistern wegführte, wurde er sogleich fromm wie ein Lamm, lachte sein blödestes Lächeln und schob brummend seinen Holzkarren vor die Küchentreppe. Auch der Waldhüter, der in einem eigenen Häuschen wohnte und die Jagdhunde dressierte, war Karins Freund, der alte Tischler, der immer fluchte und schimpfte, ließ mit sich reden, wenn Fräulein Karin in die Werkstatt kam, und die alte Jonsa, die im Waschhause wohnte und eine große, schwarze Katze hatte, hatte oft Besuch vom kleinen Fräulein.

Die alte Jonsa war schon länger als alle anderen auf dem Hof. In ihrer Jugend war sie schön gewesen und stark wie ein Mannsbild. Ohne Beschwerde ging sie die Leiter zum Magazinboden hinauf mit einer Tonne Roggen auf dem Rücken. Sie hatte allerlei Beschäftigungen gehabt, je nachdem die Jahre sie verändert hatten. Aber ledig war und blieb sie. Das Gerücht behauptete, das käme daher, daß sie zu viele Bräutigame gehabt hätte und nie einen Mann hätte festhalten können, nachdem sie ihn gewonnen hatte. Wenn man aber der Sache auf den Grund ging, so war Jonsa auf ihre Art dennoch treu gewesen, nicht nur ihrer Herrschaft, sondern auch ihrer Liebe. Sie hatte nämlich immer den Stallknecht geliebt, und wären nicht die Stallknechte immer wieder gegangen und neue dafür gekommen, so hätte der Gegenstand von Jonsas Liebe höchstwahrscheinlich nie gewechselt. Nun wechselten aber eben die Stallknechte auf Skogaholm und mit ihnen Jonsas Liebe. Der größte Kummer ihres Lebens war, als »der Neue«, wie sie ihn selber nannte, Jonsa schließlich zu alt fand. Sie gab sich endlich zur Ruhe, und das unregelmäßige Leben, das sie geführt hatte, schien wenigstens ihrer Laune nicht geschadet zu haben. Noch im Alter war sie vergnügt von morgens bis abends, und so oft Karin in die kleine Stube im Waschhause guckte, hatte Jonsa einen Haufen von Liedern, Märchen und Schnurren für sie. Gespenstergeschichten wußte sie auch, und ihre allerbeste war die von der Frau auf Pintorp, die der Teufel in seine Krallen nahm, als sie starb, so daß alle Leute es sehen konnten. Schwarzgekleidet und elegant kam er gefahren, als die böse Frau auf dem Sterbebette lag, und als er wieder vom Hof wegfuhr, sprangen unter den Hufen der schwarzen Pferde die Funken auf, und im Schornstein war ein Lärm, als ob eine ganze Schar von kleinen Teufeln dort ihr Wesen trieb.

Sie alle und noch andere mehr waren Karins Freunde; mit ihnen lebte sie ihr eigentliches Leben. Unter ihnen war niemand, der sie schweigen hieß, wenn sie zu reden begann, niemand, der auf ihre Fragen antwortete, das verstehe sie noch nicht. Im Gegenteil – die wunderten sich alle darüber, wie klug und verständig das kleine Fräulein war. Das ermutigte Karin, und darum war sie mit ihnen freier und mehr sie selbst als daheim. Von ihnen erhielt sie Bescheid über manches, woran sie dem Vater und der Schwester gegenüber nicht zu rühren wagte, und im ganzen lernte sie von ihnen mehr als von Vater, Schwester, Pastor und Gouvernanten zusammengenommen. Ein wunderliches Gemisch war vielleicht diese Art Bildung, welche die kleine Karin sich auf solche Weise verschaffte – zusammengesetzt aus einem guten Teil Bauernweisheit, viel Aberglauben, aus Sagen, Märchen, Liedern und Schnurren. Aber über dem allem lag etwas menschlich Gesundes und Wahres, das sie freudig machte und tauglich für das Leben, das sie zwar nicht kannte, über das sie aber doch auf diesen Umwegen allerlei nicht zu verachtende Winke erhielt. Manches ward ihr anvertraut, einfach und naiv, von Jungen und Alten, was ihnen Freude oder Kummer machte in dem ereignisarmen Leben, in das die großen Gewalten Tod und Liebe doch auch hereinspielten. Lebendige Menschen sprachen zu ihr, wohlmeinend, direkt, und manches liebe Mal hatte Karin, wenn schon sie noch ein Kind war, Menschen beigestanden, wenn das Leid sie traf oder die große Freude kam. Und all das war bei ihr auf guten und fruchtbaren Boden gefallen, und so einsam sie auch war, war sie doch reicher, als sie selbst wußte.

Vor allen anderen aber hatte Karin einen Freund, der ihr in dieser Zeit der allerliebste war. Das war der alte Svedin. Er war ein alter Soldat und wohnte in einem Häuschen im Walde. Er war ganz allein und hatte nur noch ein Bein. Das andere hatte er in Finnland gelassen, wo es ihm im Lazarett abgenommen worden war. Der Alte fluchte noch, wenn er an die Schmerzen dachte. Der alte Svedin war nämlich auch in einem Eckchen mit bei dem letzten großen Krieg gewesen, als die Russen Finnland nahmen. Das war sein Stolz und sein Kummer, sein Harm und sein nie versiegender Gesprächsstoff. Wie er aus diesem Abenteuer, das ihn von Haus und Heim losgerissen hatte, wieder zurückgekommen war, das wußte er nicht. Denn mehrere Tage lang hatte er bewußtlos in dem verdammten Lazarett gelegen, und als er erwachte, befand er sich im Zwischendeck eines Schiffes und war seekrank. Aber heim kam er, und auf dem kleinen Gütchen durfte er bis zu seinem Tode bleiben. Das war ihm versprochen. Als er zurückkehrte, war seine Braut im Wochenbett gestorben; und er selber war Junggeselle. Svedin biß die Zähne zusammen und verschloß seine Trauer in sich. Sein Gewehr hatte er behalten dürfen, das hing an der Wand neben der Geige und dem Pulverhorn und einem bunten, eingerahmten Porträt von Karl XII. Anderen zur Last zu liegen, das paßte dem alten Svedin nicht. Bot man ihm etwas an, so antwortete er nur: »Danke, danke!« aber er nahm nichts. Darum war es in der ganzen Gegend zur Redensart geworden: »Ich danke, danke! sagt der alte Svedin.« Und je älter er wurde, desto borstiger wuchs ihm der steife Schnurrbart unter der Nase, und desto unzugänglicher ward er selbst.

Die einzige, die ihm ein Vierundzwanzig-Schillingstück oder ein bißchen frischbackenes Brot zustecken durfte, ohne daß er fluchte und spuckte, war Karin. Das kam daher, daß sie sich nicht abschrecken ließ, weder von dem borstigen Schnurrbart und der Adlernase, den dicken Brauen über den scharfen, argwöhnischen Augen, noch von der Schroffheit des Alten. Karin war es gewöhnt, daß jedermann ihr Freund war, und wußte gar nicht, was es heißen will, zurückgestoßen zu werden. Darum besiegte sie auch den alten Svedin. Sie ward seine Augenweide, seine Freude, sein Trost. Fast sah es aus, als lächelte er, wenn sie über seine Schwelle trat.

Und kam sie einmal, so blieb sie immer lange da. Nirgends gab es so viel zu sehen wie beim alten Svedin. Da gab es geschnitzte Truhen und große mit Rosen und Schnörkeln bemalte Kisten, dreieckige Eckschränke und gerade Wandschränke. Denn als Svedin aus dem Krieg heimkam und nichts von anderen annehmen wollte, da griff er zu Pinsel und Farben und begann zu malen. Die Bauern kamen mit ihren Möbeln zu ihm, wenn diese alt oder beschädigt waren, oder wenn Hochzeit war und alte Sachen zu neuen gemacht werden sollten, damit man sie mit Ehren weggeben konnte. Alle kamen sie zum alten Svedin, und als er einmal bekannt war und Kunden hatte, fing er an, selber Möbel zu machen. Holz gab's ja, Gott sei Dank, im Walde, und damals wehrte noch niemand den Armen, ihren Bedarf zu holen. »Aber die Zeit kommt auch noch,« sagte der Alte. »Glaub's nur, die Zeit kommt auch noch. Wenn ich auch dann, Gott sei Dank, Staub und Erde sein werde!«

Drin in der niederen Stube saß der alte Svedin und malte auf einen Schenkschrank mit Aufsatz die Jahreszahl 1810. Auf die Türen malte er große Federbüsche, die aus Urnen herauswuchsen, Oberstück und Aufsatz verzierte er mit reichen Ornamenten. Rot, Grün und Blau waren seine Farben, wenn Farben verlangt wurden. Sonst hielt er sich an Braun, weil das billig, und an Weiß, weil das unentbehrlich war. Rosen, Lilien und Tulipanen malte er auch, und inwendig auf die Deckel der Truhen strich er in großen, steilen Buchstaben und Ziffern den Namen des Eigentümers und die Jahreszahl, umgeben von Ranken und Blättern.

In dieser Arbeit fand der Alte den Trost für des Lebens Mißrechnungen und Sorgen, den die Kunst jedem, auch dem Einfältigsten, bringt, wenn er die Sache ernst nimmt. Darüber vergaß er auch seine große Sünde, daß er ein Weib verlassen hatte, mit dem er nicht getraut gewesen war, und daß er das getan hatte, weil er sich jung und stark und für alles Glück geschaffen deuchte. Hätte er es nicht getan, so hätte sich wohl die Gemeinde ins Mittel gelegt, und es wäre anders gekommen, wie es kam.

Und in der Hütte des Soldaten saß jetzt Karin und betrachtete alles, was der Alte konnte. Alles fand sie schön, und für alles, was der Alte machte, hatte sie ein Wort der Bewunderung, das viel zu aufrichtig war, als daß sogar der barsche Soldat es für etwas anderes als die lautere Wahrheit hätte nehmen können. Natürlich prahlte der Alte ab und zu mit seinen Großtaten, und Karin war klug genug, das zu verstehen. Dabei erzählte er vom Krieg, nannte die Namen der Helden und berichtete von der Not Finnlands im letzten Krieg. Mit großen Augen lauschte das junge Mädchen. Wunderlich und fremd klang das alles, so fremd, daß es ihr eigentlich nie so recht nahe kam. Am besten verstand sie den Alten, wenn er von sich selber erzählte, wie er sich verheiratete und das Kind kam, wie der Krieg ausbrach und er fortgerissen wurde, und wie er dann daheim die Hütte leer fand. Weib und Kind waren beide an einer ansteckenden Krankheit gestorben, die damals umging, beide waren schon begraben, aber so viele waren zu jener Zeit gestorben, daß niemand mehr wußte, wo ihr Grab war.

So erzählte der Alte seine Geschichte; denn er scheute sich, vor dem Mädchen sein großes Unrecht einzugestehen. Bitter genug war das Ganze auch so. Karin erbebte, wenn sie es hörte; ihr war, als starre alles, was das Leben an Schmerz und Verzweiflung barg, ihr aus den grauen Augen über dem borstigen Schnurrbart entgegen, der bei der Erinnerung zuckte und zitterte. Einen Bruder hatte der alte Svedin auch gehabt; ihm hatte er Weib und Kind anvertraut, als er abkommandiert wurde. Aber der Bruder hinterging ihn; aus Furcht vor der Ansteckung wagte er das kranke Weib in ihrer Not nicht aufzusuchen. Darum starb sie und mit ihr das Kind, und darum vermochte Svedin, als er heimkam, nicht einmal ihr Grab zu finden. Das vergab der Alte dem Bruder nie, hatte ihn nie auch nur wiedersehen mögen. Jetzt war der Bruder längst tot; aber obwohl man den Alten mit einem Fuhrwerk hatte abholen wollen, war er nicht an das Sterbebett des Bruders gefahren. Einsam saß er, wie zuvor, und schickte in die ganze Gegend und weit über die Gegend hinaus seine Malereien, die derb waren und ungekünstelt wie er selbst.

Aber wenn der Alte auf seinen Bruder zu sprechen kam, da nahm Karin die Geige von der Wand. Und der Alte tat ihr den Willen und spielte. Singen konnte er nicht, dazu war seine Stimme zu rauh und heiser, er konnte auch keine Lieder. Aber die alten Tänze und Märsche fielen ihm ein. Es fiel ihm wieder ein, wie sie auf den Bauernhochzeiten zum Essen und zum Tanz aufspielten. Auch den Schnittermarsch konnte er, der jetzt längst vergessen ist. Wenn Karin recht schön bat, spielte er ihr den vor, und wenn er selber recht gut aufgelegt war, kam auch noch das Lied vom Neck und zuletzt lange, wunderliche Tongänge, von denen niemand recht wußte, wer sie gemacht hatte, von denen aber der Alte behauptete, der Wald hätte sie ihn gelehrt.

Wenn der alte Svedin so spielte, konnte es geschehen, daß Karin sich so vergaß, daß, wenn sie endlich gehen mußte, schon die Dämmerung über dem Tale lag und die Sterne über den Tannenwäldern leuchteten. Leichten Fußes sprang sie dann zurück, ganz daheim in dieser großen Stille, die sie nie geschreckt hatte.

So verging die Zeit, bis Karin ganz unvermerkt achtzehn Jahre alt geworden war. Cäcilia war volle zwanzig. Magnus Brandt leitete sein Gut, las in seinen Büchern und versank dazwischen in Grübelei und Bitterkeit über das Geschick, das ihn an den unrechten Platz im Leben gestellt hatte.

 

Eines Nachts im Februar fuhr ein Schlitten auf dem Weg an der Torsbyer Kirche vorbei. Die Nacht war bitter kalt und still, und über dem Schnee, der weiß und tief über Ort und Kirche, über Feldern und Hecken und fern überm Walde lag, blinkte ein Heer von Sternen. Es war ein kleiner, niedriger Schlitten, von der Art, die man früher »Russen« nannte. Auf dem Kutschbrett, die Füße dicht unter dem Schwanz des Pferdes, saß ein zusammengekauerter Fuhrbauer. Die Pelzmütze hatte er bis zu den Augen heruntergezogen, die Hände staken in ungeheuren Fäustlingen, und unaufhörlich schlug er sich abwechselnd mit der linken und der rechten Hand an die Brust, um die steifgefrorenen Finger zu beleben und das Blut wieder in Umlauf zu setzen.

Das Pferd war klein und mager und stolperte nur widerwillig weiter, als fände es den Weg lang und beschwerlich. Über seinem Rücken stand der Dampf wie ein Hauch, und das Fell an den Lenden glänzte von Frost. Soweit der Bauer sehen konnte, schien nirgends ein Licht. Dunkel hob sich die Kirche hinter nackten, hohen Bäumen, undeutlich schimmerten um sie Kreuze und Grabsteine. Ringsum schlief der ganze Ort, von dem niederen Pastorat mit den hohen, spitzen Dächern, das in einer Masse von überschneiten Sträuchern, Hecken und Obstbäumen eingebettet lag, bis zu dem kleinen Bauernhäuschen am Rand der Äcker, das einem großen, schlafenden, im Schnee festgefrorenen Tiere glich. Überschneit, stumm, mit dunklen, öden Fenstern lagen die Höfe, an denen der Schlitten vorbeifuhr, gleich dunklen Linien liefen die tiefen, ausgetretenen Wege durch den Schnee. Die Pumpenschwengel zogen schiefe Querstriche über den Himmel, und kalt war es, so kalt, daß der Schnee unter den Hufen des Pferdes und den Schlittenkufen knirschte und krachte, so kalt, daß selbst die Sterne zu frieren schienen; sie zitterten und bebten am Firmament, und die Milchstraße zog einen zartweißen Riesengürtel von kleinen, funkelnden, unzähligen Lichtern über das dunkle Blau.

Zusammengekauert saß der Fuhrbauer auf seinem Sitz und blickte im Vorüberfahren auf die dunklen, leeren Fenster, als warte er darauf, irgendwo ein Licht aufblinken zu sehen. Es war noch weit bis zur nächsten Fuhrstation. Dann wandte er sich um und warf einen unruhigen Blick in den Schlitten hinter sich. Seine Augen, die an das Dunkel gewöhnt waren, sahen ein leichenblasses Gesicht, umgeben von feinem, schwarzem Pelzwerk, für das der Bauer keinen Namen hatte. Ob der Mann, der da lag, die Augen geschlossen hatte oder nicht, das konnte der Fuhrbauer nicht sehen.

»Schläft der Herr?« fragte er schließlich langsam und vorsichtig.

Da keine Antwort kam, kroch er wieder hinter seinem Pferde zusammen. Langsam, wie zuvor, ging der Schlitten weiter.

Sie kamen jetzt in den Tannenwald. Der Schnee lag festgefroren auf den Zweigen. Lang war der Weg durch den Wald, und lang ist die Winternacht. Die Morgendämmerung kommt spät, und wenn der Tag naht, wird die Kälte schärfer.

Der Fuhrbauer hielt das Pferd an, stieg vorsichtig aus dem Schlitten, und nachdem er den einen Fäustling abgezogen und die Hand, so gut es ging, in seinem Wams gewärmt hatte, legte er seine groben Finger auf die Wange des Herrn. Er merkte, daß sie brennend heiß war.

Im selben Augenblick schlug der Schläfer die Augen auf und murmelte etwas, was der Bauer nicht verstand. Ratlos blieb er neben dem Schlitten stehen und sah sich um, als warte er auf Hilfe.

Da sagte der Reisende leise, aber deutlich: »Ich habe Fieber.« Darauf fielen ihm die Augen wieder zu, und er stöhnte wie in großen Schmerzen.

Der Fuhrbauer Matts Ersson wußte nicht, was er tun sollte. Das Pferd war müde, und bis zur nächsten Fuhrstation war es noch weit. Er kannte den Reisenden auch nicht weiter als so viele andere, die er gefahren hatte, wenn gerade an ihm die Reihe war, diese schwere Pflicht gegen die Krone zu erfüllen. Im Dunkeln und mitten im Walde kam ihm plötzlich die Angst, der Schlafende könne sterben, und er müsse dann vielleicht in der Nacht mit einer Leiche fahren, vielleicht sogar – das schwebte ihm nur dunkel vor – würde man für das Geschehene Rechenschaft von ihm fordern. Rings um ihn her war alles still wie zuvor. Unter den Tannen war es schwarz, nur der Weg zog sich, dunkel ausgetreten zwischen den weißen Schneewehen, deutlich erkennbar vor ihm hin.

Matts Ersson wußte sich keinen Rat, weder wohin er fahren, noch was er überhaupt tun sollte. In der Gegend, in der er sich jetzt befand, kannte er niemand. Wie er endlich aus dem Walde kam, gewahrte er auf der anderen Seite des Sees den Hügel und darauf den dichten Baumklumpen, der die Hofgebäude von Skogaholm umgab. Wie der Ort hieß, wußte er nicht. Aber den Namen des Hüttenherrn hatte er schon gehört, und daß der ein mächtiger Mann war, das war in der ganzen Gegend bekannt. Ihm kam der Gedanke, daß der Hüttenherr den Reisenden vielleicht kennen könnte. Matts Ersson war nämlich der Meinung, vornehme Leute, die ja doch in der Minderzahl sind, müßten einander alle kennen und müßten zueinander halten, und da er eben auch an den Winterweg kam, der über das Eis gerade auf den Herrenhof zuführte, so lenkte er das Pferd den Abhang hinunter und schlug diesen neuen Weg ein. Wenn ich nur bis zum Herrenhof komme, dachte er – dort wird man schon weiter sehen.

Es ging gegen Morgen. Aber noch war es zu früh, als daß im Herrschaftsgebäude jemand auf sein konnte. Aber als der Schlitten des Fuhrbauern sich der Allee näherte, schlug sogleich der Kettenhund an, und gleich darauf sah Matts Ersson ein Licht, das von einer Laterne herrühren mußte und sich langsam durch das Dunkel gegen den Weg zu bewegte. Näher und näher kam das Licht. Es war auch wirklich eine Laterne, die der Stallknecht, der so früh aufgestanden war, um die Pferde zu füttern, in der Hand trug. Als die Laterne gerade vor ihm war, hielt Matts Ersson an. Zwischen den beiden Männern entspann sich ein langes, umständliches Gespräch. Die Worte kamen in Zwischenräumen, zäh und langgezogen, und erörterten die Frage, ob man den Hüttenherrn aus dem Schlafe wecken oder den Kranken vorläufig in die Gesindestube tragen sollte, bis es Tag würde. Dafür mochte aber doch keiner von ihnen die Verantwortung übernehmen. Denn mittlerweile konnte der Reisende sterben, und dann wurde von ihnen Rechenschaft verlangt. Endlich entschloß sich der Knecht, Sara zu wecken, die am längsten beim Hüttenherrn in Dienst war und unter dem Gesinde die unbestrittene Autorität genoß, die in alten Zeiten das Vertrauen des Hausherrn unfehlbar verlieh.

 

Während der Knecht um das Herrschaftshaus herumging, um Sara mit so wenig Geräusch als möglich wachzuklopfen, fuhr Matts Ersson auf den großen Hofplatz. Bis zur Steintreppe wagte er sich nicht, sondern er ließ sein Fuhrwerk am Inspektorflügel halten und stellte sich daneben auf, sehr befriedigt in der Hoffnung, endlich die drückende Verantwortung loszuwerden.

 

Auf der anderen Seite des Herrschaftshauses stand Sara halb angekleidet auf der Küchentreppe und hörte schlaftrunken auf den Bericht des Knechtes. Kaum hatte sie jedoch erfaßt, um was es sich handelte, als sie auch schon kräftig über die Dummheit der Leute schimpfte, die lieber einen Fremden dem Tode preisgäben, als daß sie einen Menschen zu wecken wagten. Damit schlug sie die Tür zu und nahm die Sache ohne Zweifel und Zaudern in die Hand.

Vom Hofe aus konnte der Fuhrbauer jetzt sehen, daß der Herrenhof zu erwachen begann. Erst wurde hinter einem Fenster auf der Hofseite Licht angezündet, dann erschien ein zweites Licht, das von Fenster zu Fenster glitt, einen Augenblick durch die halbrunde Scheibe über dem Tore schien und gleich darauf gedämpft durch die niedergelassenen Gardinen auf der anderen Seite leuchtete. Nicht lange dauerte es, so öffnete sich das große Haustor weit, ein scharfer Lichtschein fiel über den Hofplatz, und eine gebieterische Stimme rief in das Dunkel hinaus: »Fahr' vor, Bauer!«

Der Fuhrbauer zuckte auf und führte gehorsam den Schlitten vor, während er selbst im tiefen Schnee daneben herlief.

»Was ist das für eine Trödelei? Warum hast du mich nicht eher geweckt?« klang dieselbe gebieterische Stimme wieder.

Der Bauer strich seine Mütze vom Kopfe und stand barhaupt, furchtsam in der Kälte. Vor sich erblickte er Brandts aufgebrachtes Gesicht, und das erschreckte ihn so, daß er kein Wort herausbrachte.

»Setz' die Mütze auf,« befahl die Stimme. »Willst du dir etwa auch noch den Tod holen?«

Brandt trat jetzt an den Schlitten und schob seine Hand unter den Rock des Reisenden. »Er lebt noch,« fuhr er erbarmungslos fort. »Das ist mehr Glück als Verstand! Das muß ich schon sagen!« Dann wandte er sich an Sara: »Mach' drin bei mir in Ordnung. Reine Laken. Er muß sofort ins Bett. Und schicke Leute zum Helfen. Der Mann ist bewußtlos. Dann laß im grünen Gastzimmer heizen. Aber schnell!«

Sara verschwand, und Magnus Brandt blieb beim Schlitten zurück. »Erzähle jetzt,« sagte er kurz. »Ich beiße dich nicht.«

Gehorsam berichtete der Bauer das wenige, was er wußte. Es war nicht viel und bald gesagt.

»Was hast du zu fordern?« fragte der Hüttenherr.

Der Bauer nannte die Summe, und Brandt nickte. »Es wird dir in die Küche geschickt. Das Pferd kannst du in den Stall stellen. Aber denk' daran – wenn das da gut abläuft, so kannst du deinem Herrgott danken!« Damit wandte er sich ungeduldig um und rief ins Haus: »Kommt denn niemand in's Kuckucks Namen?«

Wenn etwas Unerwartetes geschieht, so scheint es manchmal fast, als ob die Menschen es sogar im Schlaf ahnten. Ohne daß jemand hätte erklären können, wie es zuging, kam jetzt der Inspektor vom Flügel her, zwei Knechte kamen aus der Gesindestube gerannt, und aus der Küche erschienen die Mädchen. In einem Nu drängte sich alles um den Schlitten, der klein und unansehnlich aussah, wie er da vor der großen Steinstaffel stand. Und binnen wenigen Minuten waren mehr als genug Leute da, die helfen konnten, den Kranken hineinzuschaffen.

 

Fräulein Cäcilie gehörte natürlich zu denen, die ordentlich geweckt worden waren. Sara hatte zu ihr hineingeguckt, als sie mit der Holztrage in der Hand an der Tür zum Fräuleinzimmer vorüberstürzte, um im grünen Gastzimmer zu heizen. Eilig, aber doch mit Sorgfalt kleidete Cäcilie sich an. Sie bewegte sich vorsichtig, um die Schwester nicht zu wecken. Aber von dem Geschehnis im Schlaf beunruhigt, wachte Karin doch auf, und als sie die Schwester wach und fast vollständig angekleidet sah, sprang sie aus dem Bette und fragte hastig, was es gäbe.

 

Cäcilie sagte ihr in wenigen Worten, was sie selbst wußte. Sie sah ernsthaft aus im Gedanken an den kranken Mann, der als ein Fremdling in ihr Haus kam, vielleicht um da zu sterben. Mit verschlafenen Augen hörte Karin zu, und ehe die Schwester noch geendet hatte, eilte sie an ihr vorüber und schlich sich auf nackten Füßen bis zur Treppe. Nur in ihr langes Nachthemd gehüllt, stand sie dort und beugte sich über das Geländer.

Drunten ist es fast dunkel. Plötzlich sieht sie eine Laterne und in ihrem Schein Männer, die etwas hereintragen. In dem unsicheren Licht der Laterne unterscheidet sie dann das Antlitz eines jungen Mannes; der Körper ist in Pelze gehüllt. Das Antlitz ist sehr blaß, die Stirn unter dem braunen Haar wohlgeformt, und der helle Schnurrbart hängt ungeordnet über einen Mund, der, gleich den Augen, geschlossen ist. All dies sieht Karin. Im Handumdrehen ist das Bild vorübergeglitten, die Tür schließt sich hinter dem Kranken, und das Ganze ist verschwunden wie eine Erscheinung. Immer noch steht Karin im Dunkeln. Sie hört Stimmen unter sich. Wieder kommt etwas Schweres und wird drunten an der Treppe abgestellt. Darauf wird etwas Großes, Weiches niedergelegt und etwas, das klirrt. Wieder blinkt drunten die Laterne auf, und Karin sieht einen Uniformmantel und einen Degen. Aber sie weiß nicht, was sie sieht. Sie sieht nur das scharfe Gesicht mit den geschlossenen Augen und der bleichen Stirn, und so steht sie im Dunkeln an der kalten Treppe, bis Cäcilias Stimme fragt: »Stehst du noch da?«

Karin fährt zusammen; ohne zu antworten, gleitet sie an der Schwester vorbei in ihr Zimmer und beginnt mit fieberhafter Hast sich anzukleiden. Aber als sie fertig ist, sitzt sie ganz still und horcht auf jeden Laut. Sie wagt nicht hinunterzugehen. Die Furcht vor dem Unbekannten hält sie gebunden.

 

Der junge Offizier liegt im Bett unter dem grünen Betthimmel. Im Zimmer, in dem er ruht, herrscht Dämmerung. Fräulein Cäcilie sitzt ernsthaft am Fenster und wartet geduldig darauf, daß der Kranke erwachen soll. Johann hat schon längst den schnellsten Renner vor den Schlitten gespannt und ist nach dem Doktor gefahren. Der Hüttenherr geht drunten in seinem Zimmer auf und ab und raucht nachdenklich seine Pfeife. Karin hat Rappo gelockt und ist ausgegangen – ihren Weg durch die Hecken in den Wald, wo der Bach zugefroren ist und der Schnee auf beiden Seiten des Pfades hoch liegt. Im ganzen Hause herrscht Schweigen; sogar in der Küche wird die Unterhaltung nur in Form von Geflüster geführt. Ein Kranker ist im Hause, ein Fremder, ein Reisender, der von weither kommt, ein Herr, der ihnen allen unbekannt ist. So etwas ist hier noch nie geschehen, nicht einmal die alte Jonsa, die im Waschhause wohnt, kann sich an so etwas erinnern.

Der Doktor kommt. Nachdem er den Kranken untersucht hat, findet drin beim Hüttenherrn ein längeres Gespräch statt. Was gesprochen wird, erfährt niemand. Der Doktor bleibt über Mittag, macht am Nachmittag noch einen Besuch im Krankenzimmer, schreibt zwei Rezepte, und um vier Uhr hält Johann wieder in Pelzrock und hoher schwarzer Pelzmütze mit dem Schlitten vor der großen Treppe. Der Doktor fährt fort, und am Abend kommt die alte Lovise vom Hüttenwerk drunten mit dem Schröpfglas. Wichtig und selbstbewußt, eifrig und dienstwillig verschwindet die kleine Alte in der grünen Gaststube. Mit großer Sicherheit, fest überzeugt vom Nutzen der Operation, führt sie ihre einfachen Handgriffe nach allen Regeln der Kunst aus. Aber ihr Gesicht wird noch runzeliger als sonst, während sie sich nachher über den Kranken beugt und ihm den Puls fühlt. Kopfschüttelnd und vor sich hinmurmelnd geht sie wieder.

Sara sitzt jetzt am Kopfende des Bettes. Sie ist vom Hüttenherrn zur Pflegerin des Fremden ausersehen. Sara ist mit der seligen gnädigen Frau ins Haus gekommen, in deren Familie sie gedient hat, und ist über fünfzig Jahre alt. Sie weiß von den alten Zeiten auf Erzhütte zu erzählen, wo ihr Pflegling aufgewachsen ist. Was einst zu ihrem eigenen Leben gehört hat, hat sie fast alles vergessen. So ganz ist sie mit der Brandtschen Familie und mit Skogaholm zusammengewachsen. Darüber hinaus weiß sie nichts, liebt sie nichts, begehrt sie nichts. Aber alles, was auf Erzhütte sich ereignet hat, wo sie früher war, und auf Skogaholm, wo sie später hinkam, weiß sie. Aber sie hat auch schweigen gelernt. Zu all dem, was einst geschehen ist, kommt jetzt etwas Neues, etwas, was sich dereinst auch zu den Erinnerungen gesellen wird, die sie so treulich wahrt. Der Hüttenherr hat gesagt, daß sie den Kranken pflegen soll. Denn Sara versteht sich darauf. Als die gnädige Frau krank war, hat Sara sie gepflegt, und als sie starb, saß Sara an ihrem Bett. Und während sie am Bett des blassen Fremdlings sitzt, denkt Sara an jene Zeit, und es kommt über sie wie eine Ahnung, daß sich hier etwas ereignen wird, was nicht zum besten ist.

Wie sie das denkt, öffnet sich lautlos die Tür und Karin schleicht herein. Karin ist Saras Liebling, wie der so mancher anderen, und gewöhnt, alles zu tun, was sie will. »Still!« flüstert das junge Mädchen und gleitet leise bis an das Bett.

»Was willst du?« flüstert die Alte.

»Ich will bloß sehen, ob er lebt,« flüstert Karin zurück. Reglos steht sie vor dem Bett. Sie sieht im Schatten der Vorhänge nichts als eine Männerhand und ein Gesicht, das im Fieber glüht, und hört ein hastiges Atmen. Alles sieht sie und hört sie. Dann flüstert sie hastig und kurz: »Glaubst du, daß er stirbt, Sara?«

»Das kann niemand wissen als Gott,« antwortet ebenso leise die Alte.

»Sag' nicht, daß ich hier gewesen bin,« flüstert Karin wieder. Und lautlos, wie sie gekommen war, verschwindet sie durch die Tür. Der Alten bleibt nicht einmal so viel Zeit, sich über ihr Kommen zu verwundern. Denn während die Tür sich schließt, schlägt der Kranke die Augen auf. »Ist jemand dagewesen?« fragt er.

»Niemand,« versichert Sara. »Niemand außer mir.«

Der Kranke schließt die Augen wieder und fängt an, hastige, zusammenhanglose Worte zu reden. Er redet von jemand, der ihm ein Leid antun will und ihn verfolgt, von einem großen schwarzen Vogel, den er sieht, von einem wilden Tumult, in dem sein Leben bedroht ist, er ruft nach seinem Degen, flüstert unverständliche Worte und klagt, daß er gebunden liegt und nicht aufstehen kann. Ruhig hört Sara ihm zu, ruhig erneuert sie die kalten Umschläge auf seiner Stirn. Sie ist an Kranke gewöhnt; die Worte eines Fiebernden schrecken sie nicht.

Aber die ganze Zeit über denkt sie an Karin, die da gekommen und gegangen ist, Karin, die so scheu ist vor Fremden; und ihre Lippen schließen sich fest über dem Neuen, das keiner außer ihr zu wissen braucht.

Der Tag ist lang gewesen, weil er so früh begonnen und so viel sich ereignet hat. Jetzt neigt er sich zu Ende. Magnus Brandt sitzt im Wohnzimmer und legt Patience. In der Eßstube ist Cäcilie am Teetisch beschäftigt. Karin sitzt neben dem Vater und ihre Augen verfolgen die Karten in der »Maskerade«, bei der es drauf ankommt, daß alle Bilder zu oberst liegen. Die ganze Zeit über denkt sie an das eine, was sie heute beschäftigt hat; schließlich fragt sie: »Wie heißt er?«

Im selben Augenblick wird sie ganz rot, und das Herz steht ihr fast still in der Brust, daß sie sich das getraut hat. Der Vater schiebt die Unterlippe vor. Er ist gerade mitten in seiner Patience und hat für nichts sonst Gedanken.

»Sigfrid Björnram,« antwortet er mechanisch, »Fähnrich bei den Smaland-Husaren, und auf dem Wege ins Ausland.«

Karin schweigt wieder. Vor ihren Augen verschwimmen die Farben der Karten und verfließen zu einer großen, fleckigen, unruhigen Fläche. Zuletzt sagt sie: »Bleibt er lang?«

Und im gleichen abwesenden Ton erwidert der Vater: »Bis er gesund ist. Und das kann lang dauern. Gut, daß er noch zur rechten Zeit zu uns gekommen ist.«

Damit schiebt er die Karten ärgerlich zusammen. Die Patience ist nicht aufgegangen. Er muß noch einmal anfangen.

Karin aber hat die Wange in die Hand gestützt. Sie denkt nur an zwei Dinge: daß er noch lang bleiben wird und was für ein seltsam volltönender, schöner Name Sigfrid ist. So neu und seltsam.

 

Die Krankheit des jungen Offiziers dauerte lange. Er schwebte zwischen Leben und Tod, und mehr als einmal sah es aus, als sollte es weder der Geschicklichkeit des alten Doktors, dem Schröpfglas der alten Lovise, noch der sorgsamen Pflege Saras gelingen, ihn wieder ins Leben zurückzurufen. Wohl schien es zuzeiten, als wolle die Jugend des Kranken die Krankheit alles Ernstes überwinden; aber nach ein paar Tagen kam das Fieber aufs neue und stets mit derselben Heftigkeit zurück. Jedesmal, wenn diese Krisen wiederkehrten, ward es auf Skogaholm ungewöhnlich still, und die Nachrichten aus dem Krankenzimmer wurden erwartet und entgegengenommen, als handle es sich um ein eigenes Familienmitglied.

So vergingen zwei unruhige Wochen. Die Bewohner des Herrenhofes nahmen ihre regelmäßigen Arbeits- und Ruhegewohnheiten wieder auf. Wer nach Skogaholm kam, wurde immer so angesehen, als gehöre er auf die eine oder andere Weise dorthin. So verlangte es alte Sitte und Ordnung, und diese Sitte war so tief eingewurzelt, daß nichts, was sie mit sich brachte, als Druck oder Zwang empfunden ward. Wenn ein Fremder zu Besuch kam, war das immer eine Quelle der Freude. Mochte er lang oder kurz bleiben, davon sprach niemand; und so stark war das Gefühl der Pflicht dem gegenüber, der im Hause Schutz gesucht und gefunden hatte, daß weder Arbeit noch Mühe oder Kosten bei solcher Gelegenheit jemals erwähnt oder gerechnet wurden. Ruhig, als wär' er daheim, sollte der Gast leben; niemand durfte ihn über seine Angelegenheiten ausfragen, niemand argwöhnte etwas Böses oder Erniedrigendes, ehe ein Anlaß dazu vorhanden war. Das forderte die Ehre. Skogaholm lag tief in den großen Wäldern; man wußte dort nichts von der Weltklugheit, die über eine solche Anschauungsweise lächelt. Und vom Herrn ging diese Denkweise über auf das Gesinde. Darum fuhr der Kutscher nach dem Arzt, bereitete die Köchin Krankenkost, holte der Knecht Eis, wachte Sara Nacht für Nacht – alle in dem gemeinschaftlichen Gefühl, daß sie eine Pflicht erfüllten, die zu des Hauses Ehre und Ordnung gehörte.

So oft der Kranke fieberfrei war, besuchte ihn Magnus Brandt; nicht aus Neugier oder um ihn mit Fragen zu quälen, sondern weil er es den Kranken fühlen lassen wollte, daß er als ein geehrter Gast behandelt wurde. Ruhig und heiter saß er am Krankenbett, als wäre er der Wirt bei einem Fest. Viele Worte wurden anfangs nicht gewechselt zwischen dem Fähnrich und seinem Wirt. Dazu war der Zustand des Patienten zu bedenklich. Aber auch als sein Befinden sich besserte und das Fieber wich, war der junge Offizier karg in allen seinen Mitteilungen, die ihn selbst berührten. Man konnte es als eine Abneigung deuten, die ein feiner Mensch davor empfindet, Fremde an seinen Privatangelegenheiten teilnehmen zu lassen. Es konnte aber manchmal auch aussehen, als hätte er ein Geheimnis, das er aus dem einen oder anderen Grund nicht preisgeben wollte. Magnus Brandt ließ beide Gründe gelten. Und wenn der Fremde im Fieber etwas verriet, so begrub Sara dies wie so viele andere wohlgehütete Geheimnisse hinter ihren festgeschlossenen Lippen.

Magnus Brandt hatte zudem in dieser Zeit gar vieles, was ihn beschäftigte und ihm zu denken gab, und er konnte sich seinem jungen Gast nicht in der Weise widmen, wie er es wünschte und wie seine Pflicht als Wirt es verlangte. Wenn er in dem grünen Lehnstuhl von Birkenholz gegenüber dem Bett saß, so beklagte er das mehr als einmal in den zierlichen Wendungen jener alten Tage.

»Die Geschäfte,« sagte er, »nehmen gerade in diesem Winter meine Zeit mehr, als ich wünschen möchte, in Anspruch.«

Die Augen blickten dann scharf gradaus, als bemühe er sich, so unbefangen und heiter wie möglich auszusehen. Und wenn er das gesagt hat, beugt er sich zu dem Angeredeten hinüber und hat nichts weiter hinzuzufügen.

Der Kranke streckt die Hand aus und drückt die des Hüttenherrn. Es war eine weiße, abgezehrte Hand, an deren Zeigefinger ein Siegelring mit einem grünen Stein saß, in den ein Adelswappen geschnitten war. Die Hand sah aus, als wäre sie einst recht kraftvoll gewesen. Jetzt aber war ihr Druck schwach und lahm, und sie fiel mit einer unfreiwilligen, müden Bewegung auf die Decke zurück, die den Hüttenherrn jedesmal veranlaßte, seinen Besuch so rasch wie möglich abzubrechen und den Gast der Ruhe und Saras Pflege zu überlassen.

Er war es ganz zufrieden, wenn er sich unverzüglich wieder in die Einsamkeit zurückziehen konnte, die ihm in den letzten Jahren mehr und mehr nicht nur zur Gewohnheit, sondern auch zum unabweisbaren Bedürfnis geworden war. Hatte er dann die Tür seines Zimmers fest hinter sich geschlossen, so setzte er sich meist in den großen Lehnstuhl vor seinem Schreibtisch, legte die Geschäftsbücher aufgeschlagen vor sich hin, ließ den Finger über die Zahlenreihen gleiten und rechnete halblaut. Bis tief in die Nächte konnte er so sitzen; wenn er fertig war, legte er die Bücher sorgfältig wieder zusammen und ging lange auf dem abgenutzten Läufer hin und her, in tiefem Grübeln über das Rätsel, das ihn Tag für Tag mehr beschäftigte: warum in seiner Buchführung die Debetseite ständig stieg, während die Kreditseite mit jedem Jahre tiefer sank. Was er an Wald, Wasser, Materialien, Höfen und Grundstücken besaß, wußte er eigentlich gar nicht, hatte es nie ausgerechnet, nie darüber nachgegrübelt. Als Edelmann, der er von Geburt und seiner ganzen Veranlagung nach war, verachtete er das Geld. Seine Bildung, auf die er stolz war, hatte dies Gefühl noch verstärkt, wie sie zugleich auch seinen Widerwillen davor vermehrt hatte, sich mit Dingen zu beschäftigen, die er selber für trivial hielt. Das Gut mit Eisenwerk und Grundstücken war für Magnus Brandt nichts weiter als eine Maschinerie, die er hatte arbeiten lassen, weil die Pflicht ihm das nun einmal befahl. Aber Sinn hatte er eigentlich nie dafür gehabt. Wenn er in seiner Jugend mit der Büchse durch den Wald gegangen war und dem Balzen der Auerhähne gelauscht hatte, während die Sonne über dem Waldrand emporstieg, oder wenn er auf dem Anstand gestanden und auf das laute Gebell der Hunde gehorcht hatte, während er jeden Augenblick darauf wartete, den Hasen vorbeischießen zu sehen, so waren dies eigentlich die einzigen Gelegenheiten gewesen, bei denen Magnus Brandt sich darüber gefreut hatte, daß er als Gutsbesitzer geboren war. Da war der Wald sein, und er selber fühlte sich als König, der über sein Reich herrscht. Jetzt hing das alte Gewehr seit vielen Jahren über den Fuchsfellen auf der Kanzlei und das Jagdhorn daneben. Keine hellen Signale waren in all den Jahren mehr aus dem blanken Metall gekommen.

Auch wenn Magnus Brandt durch den Hammer und über die Äcker wanderte und sah, wie die Arbeit ihren gewohnten Gang ging, oder wenn seine Leute zu ihm kamen, über ihre kleinen und großen Kümmernisse zu klagen, empfand er die Freude und das Glück, herrschen, leiten und helfen zu können. Dann war er auf seinem Platz. Da war er der Mann dazu wie kein zweiter. Aber wenn er vor seinen Büchern saß und über Zahlen herrschen sollte, da begann Magnus Brandt mit jedem Jahr deutlicher zu merken, daß ihn hier seine Fähigkeiten im Stich ließen. Nie würde er Herr über die Zahlen werden – nie war er das gewesen. Vor ihnen ward er klein und armselig, wie der Mensch es wird vor dem, was er nicht versteht. Es war auch so viel des Neuen dazugekommen: Banken, Diskonto, Hypotheken, laufende Wechsel. Mit dem Kredit war es nicht mehr wie in den alten Tagen, wo ein ehrlicher Name und ein redlicher Wille genügten. Jetzt gab es nur noch Darlehen gegen Sicherheit, Bürgschaft und Pfandverschreibung. Und wenn auch alles aussah, als wär' es in der schönsten Ordnung – es half ja doch nichts. Auf der Bank saß ein kluger Mann, der sich aufs Rechnen verstand, ein Mann, der ein Papier so lange hin und her drehte und wandte, bis er es glücklich kassiert hatte, ohne daß man wußte, wieso und weshalb. Die Bankleute fürchtete Magnus Brandt; er grollte ihnen auch. Wo er sich hinwandte, standen sie im Wege und waren ihm hinderlich. Wo er sich hinwandte, wurden die Forderungen größer und größer, während die Möglichkeit, sich bar Geld zu verschaffen, immer geringer ward.

Von all dem hatte Magnus Brandt nichts bemerkt, als seine Frau noch lebte. Als ob ihre kleine weiche Hand ihn gestützt hätte. Und weil ihm die Schwierigkeiten damals immer gering erschienen, hatte er sie auch ohne weiteres überwunden. Als sie starb, da war es, als ob mehr als nur das Glück aus seinem Leben entschwunden wäre. Auch die Kraft, im Lebenskampf zu gewinnen, verließ ihn und ward mit ihr begraben. Und zehn Jahre lang hatte er jetzt gesehen, wie die Schwierigkeiten sich häuften, immer näher kamen, drohten, ihn zu Boden zu drücken, ihn hilflos und vereinsamt mit einem entehrten Namen liegen zu lassen.

Während Magnus Brandt nach Mitteln suchte, die ihm helfen sollten, das Schlimmste zu überstehen, dachte er vor allem an seine Töchter und wie er vor ihnen Rechenschaft ablegen sollte. Aber in letzter Zeit war es so weit gekommen, daß er nicht mehr an sie und nicht mehr an sich selber dachte. Jetzt dachte er nur noch an die Leute, an seine Leute, von denen er jeden einzelnen persönlich kannte, Männer und Weiber, diese Hunderte von Menschen, die ihr Brot bei ihm fanden und deren Leben und Wohlfahrt von ihm, von seiner Tüchtigkeit als Mann und Herr abhing. Das Gefühl dieser Verantwortung drückte Magnus Brandt und machte ihn der Gefahr gegenüber unschlüssig und furchtsam. Ihm war, als sähe er sie eines Tages kommen, alle diese Menschen, eines Tages, wenn im Magazin die Frucht und auf der Kanzlei das Geld ausgegangen war. Am Löhnungstag kamen sie, und mit leeren Säcken und Händen gingen sie, ein langer, trauriger Zug von Menschen, deren Not auf sein Gewissen zurückfallen würde. Magnus Brandt erinnerte sich noch gut jenes harten Notjahres, da in das Brot der Herrschaft Hafer gebacken wurde und in das der Armen Baumrinde. Er wußte noch, wie er damals vor seinen Leuten stand und redete, gedemütigt, voll Verzweiflung wie nie zuvor. Sie hatten nichts geantwortet. Stumm, wie sie gekommen, waren sie wieder gegangen, hatten sich im Hüttenwerk und auf den Feldern verstreut. Und in all die kleinen Heimwesen rundum hatten sie das Entsetzen getragen, das Entsetzen vor Hunger und Not, das Entsetzen vor dem Kinderweinen, das am schwersten zu tragen ist. Aber alle hatten sie trotzdem gearbeitet, hatten sich gebeugt und hatten gearbeitet. Keiner hatte versagt. Brandt wußte, sie würden es wieder so machen. Er wußte, zu diesen Menschen konnte er kommen und sagen: Ich kann nicht mehr. Die guten Zeiten sind vorüber. Er wußte, sie würden aushalten so lang als möglich. Denn er war ihnen ein guter Herr gewesen, und keiner würde ihm ein zorniges Gesicht zeigen oder ein hartes Wort erwidern.

Aber ein solches Opfer wollte Magnus Brandt nicht annehmen. Er wollte nicht noch einmal das Entsetzen über die ganze Gegend ausziehen und das Gerücht vom Hungern in die kleinen Heimstätten tragen sehen. Er wollte es nicht; er konnte nicht den Männern und Weibern in die Augen sehen und das verlangen. Als das Jahr der Not kam, da war das anders. Da beugten sich Herr und Diener unter der Hand Gottes. Aber das Notjahr, das jetzt drohte, das hatte der Hüttenherr selbst verschuldet und hatte es lange genug kommen sehen.

Er wußte auch, noch konnte er das Unglück fernhalten, ein halbes Jahr noch oder ein ganzes. Länger ging es nicht. Länger ließ sich der künstliche Wohlstand nicht aufrechterhalten. So viel hatte Magnus Brandt doch aus den Zahlen begriffen, wenn er auch ihre düstere Sprache nicht ganz zu deuten vermochte. Und wenn er sie immer und immer wieder durchsah, war es nur, um sich selber vorzulügen, er hätte falsch gerechnet.

Da fuhr Magnus Brandt eines Tages fort. Das Haus ließ er unter Cäcilias Obhut, den Kranken unter Saras. Nach Erzhütte fuhr er, das acht Meilen entfernt lag. Dort lebte die alte Schwiegermutter. Seit dem Tode seiner Frau hatte Magnus Brandt sie nur ein einziges Mal besucht, und zwar nach Cäcilias Konfirmation. Die Reise war damals unternommen worden, damit die Großmutter die Enkelin doch einmal sehen sollte.

Als Magnus Brandt jetzt auf dem Hofe der alten Frau vorfuhr, kam er sich fast vor wie ein Junge, der sich zum Eingeständnis seiner Streiche genötigt sieht – einzig und allein in der Hoffnung, dadurch den unangenehmen Folgen zu entschlüpfen. Die Schwiegermutter war jetzt achtundsiebzig Jahre alt. Äußerlich war das Verhältnis zwischen ihr und dem Schwiegersohn zwar ein gutes gewesen; aber ein freundschaftliches Gefühl bestand nicht zwischen den beiden. Das kam daher, daß, als Magnus Brandt seinerzeit die Liebe seiner Frau gewann, die Mutter ihre Hand schon einem anderen zugesagt hatte. Aber Magnus Brandt, der damals ein verliebter und lebensvoller Mann war, hatte seine Karten so gut gespielt, daß der Nebenbuhler sich gekränkt zurückzog und die Gnädige auf Erzhütte gezwungen war, ihre Tochter dem neuen Freier zu geben, um einen offenen Skandal zu verhüten. Das hatte die Schwiegermutter dem Tochtermann nie vergeben können; die alte Gnädige auf Erzhütte war eine Dame, die gewohnt war, zu herrschen, und nicht gewohnt, den kürzeren zu ziehen. Sie war mit zweiundzwanzig Jahren Witwe eines Mannes geworden, der doppelt so alt gewesen war wie sie selber, saß mit fünf Kindern allein auf ihrem großen Besitz, und jedermann glaubte, die junge Frau würde sobald als möglich sich selber einen Gatten, den Kindern einen Vater und dem Gut einen neuen Herrn verschaffen. Das Trauerjahr lief jedoch ab, ohne daß selbst der Klatsch das geringste zu erzählen wußte, das die allgemeine Hoffnung hätte bekräftigen können. Die junge Witwe begann statt dessen, sich der Leitung des Gutes und der Erziehung ihrer Söhne anzunehmen. Drei Söhne hatte sie und zwei Töchter; und es ist für eine alleinstehende Frau nicht leicht, Männer zu erziehen. Aber die junge Witwe machte sich entschlossen ans Werk, und was sie wollte, das führte sie auch durch. Nach Ablauf von fünf Jahren war niemand mehr kühn genug, auch nur im Traum an einen Heiratsantrag zu denken. Wie ein Mann besorgte sie die Gutsgeschäfte, führte die Bücher, überwachte die Erziehung der Kinder, wies ihnen ihre Lebensziele, zwang sie in Bahnen, in die sie ihrer Ansicht nach paßten, und war im Alter von fünfzig Jahren das Orakel der ganzen Familie. Sehr streng war sie, und ihre sehnige, arbeitstüchtige Hand war kräftig wie die weniger Männer. Ihr Körper war stark und unermüdlich und ihr Wille stets wach und energisch. Erst als sie volle siebzig Jahre alt war, gab sie die Herrschaft über das Besitztum aus den Händen und machte ihren ältesten Sohn, der damals schon bei Jahren war, zum Herrn auf Erzhütte. Jetzt saß sie in Ruhe als die alte Gnädige auf dem Hofe, dessen Wohlstand sie gemehrt hatte, und noch jetzt geschah es, daß ihre gebieterische Stimme sagte: »So soll es sein und nicht anders!« Eine so ausgesprochene Meinung war und blieb die höchste Instanz, und der Herr des Hauses war vor der alten Gnädigen das, was er stets gewesen – der gehorsame Sohn, der sich dem Willen beugte, der stärker war als sein eigener.

Vor dieser alten Frau, die seine Schwiegermutter war und doch ihn nicht zum Schwiegersohn gewollt hatte, sollte Magnus Brandt jetzt seine Kümmernisse bekennen; und während des lang ausgedehnten Mittagessens an dem langen Tisch, an dem drei Generationen auf altgewohnten Plätzen saßen, während der Inspektor, der Buchhalter, die Gouvernante und der Hauslehrer ihre Plätze zu unterst hatten, an dem ihm selbst der Ehrenplatz zwischen der Gnädigen und dem ältesten Sohn, dem schon ergrauenden Herrn von Erzhütte, angewiesen worden war – da empfand Magnus Brandt deutlich genug, daß das, was er im Sinn hatte, ein Wagnis war, das wohl schwerlich mit einem Erfolg enden würde. Und als er am Nachmittag allein mit der gestrengen Frau in dem großen Salon saß, wo ein gewaltiges Birkenholzfeuer in dem offenen Kamin flammte, da schien es ihm, als ruhten die klugen Augen der Schwiegermutter mit einem Ausdruck auf ihm, wie wenn sie alles ahnte, noch ehe er selber ein Wort sagen konnte.

Indessen gab er, kalt und kurz, wie er wußte, daß die Alte es haben wollte, seine Darstellung der Sachlage. Als er fertig war, knüpfte die Gnädige die Bindebänder ihrer Haube, die sie nach dem Essen genierten, auf, warf sie auf den Rücken und äußerte langsam und scharf: »Du willst also, daß ich dir aus der Klemme helfen soll, in die du dich verfahren hast. Behüte, mein lieber Magnus! Das täte keiner, der seinen Verstand beieinander hat!« Damit setzte sich die Alte im Lehnstuhl zurecht und fuhr fort: »Ich bin keine von denen, die noch Salz in die offene Wunde streuen mögen. Wärst du vor zehn Jahren zu mir gekommen oder auch nur vor fünf, da wär' es vielleicht gar nicht so unmöglich gewesen, daß ich dir ein bißchen auf den Trab geholfen hätte. Aber wenn das halbe Haus schon brennt, ist es zu spät zum Löschen. Es lohnt nicht, der Katze einen Fußtritt zu geben, wenn die Wurst gefressen ist. Aber ich hab' es schon so lange gewußt, wie es gehen würde, daß ich dir doch wenigstens einmal sagen muß, wo der Schuh eigentlich drückt. Du selber weißt es nicht, und du glaubst vermutlich, ich wüßte nichts von dem, was auf Skogaholm vorgeht, weil ich glücklicherweise so weit weg sitze. Alles weiß ich ja auch nicht; aber wenn ich mir so die Einzelheiten zusammenlege, so wird mir das ganze Fuhrwerk schon klar. Ein guter Kerl bist du ja, Magnus Brandt, das hab' ich immer gewußt und begriffen; aber ein Waschlappen bist du daneben auch. Hast dich in lauter Trauer und Spintisieren vergraben, und so oft ich dich gesehen habe, seit deine selige Frau, meine Tochter, tot ist, ist mir rein übel geworden. Einen Mann soll die Trauer aus einem Kerl machen! Tut sie das nicht – ei, so helf' uns unser Herrgott! Hätt' sie das getan, so hättest du dir wieder eine Frau ins Haus geschafft und den Mädchen eine Mutter. Dann hättest du nicht herumlaufen und Trübsal blasen und spintisieren brauchen, und wenn's so gegangen wär', so säßest du jetzt nicht hier und wüßtest nicht aus und ein.«

Dies hieß an Magnus Brandts schwächsten Punkt rühren. Er flammte auf und antwortete: »Das kann die Meinung der gnädigen Schwiegermama im Ernst nicht sein.«

Weiter kam er nicht. Denn die alte Gnädige unterbrach ihn: »Wieso? Das kann nicht meine Meinung sein, was ich da sage? Glaubst du, ich red' ins Blaue hinein? Antwort' Er mir jetzt wie ein Mann und sitz Er nicht da und zittre wie ein altes Weib!«

Magnus Brandt biß die Zähne zusammen, um sich nicht zu vergaloppieren. Dann fuhr er fest und bestimmt fort: »Ich habe geglaubt, eine, die selber allein und mit Ehren ihre Kinder erzogen und ihren Hof verwaltet hat, müßte verstehen, daß auch ein Mann mit seinen Erinnerungen allein sein will.«

Die Gnädige auf Erzhütte ward nicht böse. Sie sah im Gegenteil den Sprechenden an, als hätte sie Lust, zu lachen, hielte aber aus Gunst und Gnaden diese Lust zurück. Ihr Gesicht hatte jetzt einen heiteren und zugleich gutmütigen Ausdruck, und sie sah geradezu vergnügt aus, als sie sich jetzt vorbeugte, daß der Feuerschein über ihr kräftiges Kinn fiel und die gebogene Nase beinahe rot färbte. »So, also das meint Er!« sagte sie mit einem gewissen scharfen Humor, der ihr eigen war. »Da will ich Ihm doch etwas sagen. Wenn Er meint, daß ich hier all die Zeit von meinen Erinnerungen gelebt habe, da hat Er sich getäuscht. Da hätt' es anders ausgesehen hier. Ja, ja! Erinnerungen hab' ich genug und von mancherlei Art. Auch Liebeserinnerungen, wenn du's wissen willst. Das ist meine Sache, und ich bin alt genug, daß ich mich nicht zu schämen brauch' deswegen. Aber, es war ein Glück, daß mein Mann starb. Ja, sieh mich nur an, du! Ich weiß, was ich sage. Damals hab' ich es nicht verstanden. Denn da war die Liebe mit im Spiel, und Liebe macht blind. Aber wär' unser Herrgott nicht so gnädig gewesen und hätt' ihn zur rechten Zeit vom Schlag rühren lassen, so hätt' er sich später zu Tode gesoffen, und der Teufel hätte ihn geholt. Er war auf dem besten Wege dazu. Das kann ich dir sagen, mein lieber Tochtermann, hier – entre nous. Jawohl! So war das mit der Sache!«

Die Gnädige zog ein riesiges leinenes Taschentuch heraus, wickelte es langsam auseinander und schneuzte sich, daß es trompetete. Darauf fuhr sie ruhig und besonnen fort: »Ein Vergleich zwischen dir und mir, mein lieber Magnus, davon kann gar keine Rede sein. Entschuldige, daß ich es gradheraus sage. Ich weiß wohl – wir Menschen sind schwach und erbärmlich und ohne Gottes Hilfe gerät uns nichts. Aber daß wir wenigstens ein bißchen auch selber dazutun, das dürfen wir denn doch sagen. Und wenn du nicht weißt, was ich getan habe, so gehe hinaus und sieh dich um und frage, wieviel von dem, was du hier siehst, schon vor meiner Zeit da war. Im ersten Jahre betete ich und trauerte. Und die ganze Welt sah schwarz aus für mich. Aber das befriedigte mich nicht lange, verstehst du. So fing ich an zu arbeiten, und als ich mir das beigebracht hatte, da kam auch Ordnung in die Gedanken. Da begriff ich, daß ich zur Liebe keine Zeit mehr hatte. Ich hatte auch so ganz genug zu tun. Was sollte ich mit einem neuen Mann? Einen hatt' ich gehabt. Die Mühe, die er mir gemacht hatte, war mehr als ausreichend, und das Vergnügen – wir sind ja alte Menschen und können ruhig davon reden – das war meiner Seel' auch nicht so groß, daß man's nicht hätte entbehren können. Ich brauchte keinen neuen Mann, mein lieber Tochtermann. Und darum nahm ich mir auch keinen. Aber du brauchtest eine zweite Frau. Und darum hättest du dir eine anschaffen sollen. Darin liegt der Unterschied zwischen uns zwei, und der ist ganz verflixt groß, das muß ich schon selber sagen.«

Magnus Brandt saß ganz still und blickte ins Feuer. Er kannte die Art der Alten und wußte, hier war keine Hilfe zu holen. Darum sagte er, mehr als Fortsetzung seiner eigenen Gedanken, als weil er auf eine Antwort wartete, die ihm hätte helfen können: »Ich denke nicht an mich selber, sondern an meine Untergebenen, an die Leute, die von mir abhängen.«

Die Gnädige nickte, als billige sie diesen Gesichtspunkt, und sagte: »Das ist recht, mein lieber Tochtermann, und das ehrt Ihn. Er ist ja auch ein Ehrenmann, das hab' ich immer gesagt. Aber Geld kriegst du hier nicht, Magnus Brandt. Da hättest du eher kommen müssen. Und was ich einmal gesagt habe, dabei bleibt's. Kann ich dir auf irgend eine andere Weise helfen, so werd' ich nicht vergessen, daß ich die Großmutter deiner Töchter bin. Aber einen guten Rat will ich dir mitgeben, an den kannst du denken, wenn du allein bist. Beiß' in den sauren Apfel, je eher, je besser, und verpachte den Hammer und das Gut für eine anständige Summe an einen Mann, der etwas von der Sache versteht. Dann hast du, solange du lebst, das Deine, die Leute kommen zum Ihrigen, und die ganze Geschichte kommt wieder auf die Beine. Auf Elfshammar – daheim bei dir – sitzt Fabian Skotte. Das ist ein tüchtiger Mann. Der kann, wenn er will. Mit dem sprich! Das ist mein Rat, und du brauchst dich nicht zu bedanken, wenn du ihn befolgst und Nutzen davon hast.«

So endete Magnus Brandts Besuch auf Erzhütte. Während er den langen Weg heimwärts fuhr, hatte er Zeit, alles zu überdenken – das magere Resultat der mühseligen Reise und seine eigene Lage. Zuerst war er böse. Denn die bittere Wahrheit, die er gehört hatte, fraß tief an ihm und reizte zum Widerspruch. Er fühlte sogar – in dem, was seine Witwerschaft und das Leben auf dem Hofe nach dem Tode seiner Frau berührte, steckte vielleicht eine Wahrheit, die noch später einmal an ihm fressen würde. Aber er schob den Gedanken von sich. Er hatte noch nicht Zeit, an sich selber und seine inneren Angelegenheiten zu denken. Dazu preßte die Wirklichkeit ihn zu hart. An seine Leute dachte er, an die zweihundert Menschen, an seine eigene Angst, daß er ihnen einmal würde entgegentreten und sagen müssen, daß alles aus sei, daß etwas Schlimmeres vor der Tür stehe als sogar das Hungerjahr.

Stumm saß Magnus Brandt in seinem Schlitten. Einsilbig antwortete er auf die paar Worte, die der Kutscher an ihn richtete. Er fuhr durch den Wald, an Ortschaften vorüber – durch offenes Feld. In ihm wühlte der furchtbare Kampf eines müden Mannes, der weiß, daß er sich noch nicht alt fühlen darf.

Über Nacht ruhte Magnus Brandt sich in einer schlechten Herberge aus. Er schlief wenig, lag wach und fühlte, wie die Stunden vergingen.

Als er am frühen Morgen in den Schlitten stieg, sagte er: »Fahr' nach Elfshammar!«

Ohne weitere Frage gehorchte der Kutscher dem Befehl, und um die Mittagszeit schwenkte der Schlitten auf den Hof von Elfshammar ein.

Magnus Brandt blieb bis zum Abend des folgenden Tages. Meist saßen die beiden Hüttenbesitzer in Fabian Skottes Zimmer. Und als Brandt fortfuhr, war ihm leichter zumute.

Von dem Tag an fuhr er oft nach Elfshammar, und auch Fabian Skottes eleganter Zweispänner bog mehr als einmal in den Hof von Skogaholm ein – stets mit dem Schlittennetz geschmückt, die schwarzen Vollbluttraber mit neuem, glänzendem Geschirr ausgestattet, von dessen Joch volltönende Schellen klingelten, als sollten sie eine neue Zeit einläuten.

 

Als der Fähnrich Sigfrid Björnram zum erstenmal nach der kühlen Reise in der Winternacht mit vollem Bewußtsein die Augen wieder aufschlug, sah er zunächst ringsum einen grünen Bettvorhang, durch den die Märzsonne gedämpft hereinschien. Durch eine Öffnung im Vorhang erblickte er dann ein paar niedrige Birkenstühle, über die weiß- und grüngestreifte hausgewebte Überzüge geknüpft waren; hinter diesen ward ein Stück von einer Stube sichtbar, die er noch nie gesehen hatte. Noch zu schwach, um klar zu denken, ging der Fähnrich in der Erinnerung alle die abgerissenen Eindrücke durch, die ihm von der langen, qualvollen Fahrt geblieben waren – die Schmerzen während der Krankheit, die Erscheinung eines Mannes in Herrentracht, mit dem er glaubte gesprochen zu haben, eine alte Dienerin, die ihm Essen und Arznei gegeben, ein quälender Traum, der ihn beängstigt hatte . . .

Der Kranke stieß einen schwachen Laut aus, als ob die Stille ihn beunruhige. Im selben Augenblick stand auch schon Sara vor seinem Bett, und der Fähnrich begann, sie auszufragen.

Kurz, knapp und freundlich beantwortete die Alte seine Fragen. Der junge Mann hörte ihren Worten aufmerksam zu; zuletzt sagte er: »Wie lange muß ich hier bleiben?«

»Bis der Herr wieder gesund ist,« war die Antwort.

Er schloß die Augen und fiel wieder in das schlafähnliche Hindämmern, das ein Vorbote der Genesung ist.

Ein ganzer Monat verging, und der kranke Offizier hatte das Bett noch nicht verlassen dürfen. Das Fieber war längst fort, aber die Genesung schritt nur langsam voran. Der Doktor kam jetzt nur noch selten; bei seinem letzten Besuch verordnete er nur noch kräftige, nahrhafte Kost und Geduld. Die Gefahr sei groß gewesen, erklärte er, und die Kräfte sehr heruntergekommen, weil die Krankheit auf der Reise ausgebrochen und die nötige Pflege erst in der elften Stunde noch beschafft worden sei. Als er ging, sagte er zum Hüttenherrn: »Die Jugend, mein geschätzter Freund und Studienkamerad – ja, die Jugend! Die tut Wunder!« –

Karin stand im Vestibül und hörte des Doktors Worte, und ohne daß sie weiter darüber nachdachte, merkte sie, daß sie mit einem Male strahlend froh ward. Leise schlich sie sich hinauf in ihre Stube; dort saß sie und sang mit ihrer unentwickelten, klaren Stimme ganz leise vor sich hin. Sie sang, weil sie nicht anders konnte. Aber sie sang leise, weil sie fürchtete, der Kranke könne sie hören, und es möchte ihn stören. Einen ganzen Monat lang hatte sie ihre eigene Stimme nicht gehört, so still war alles gewesen – so entsetzlich der Gedanke, daß daheim jemand war, der sterben konnte – in ihrem eigenen Hause. Sie sang von der verzauberten Jungfrau, sie sang von Klein Kerstins Leid:

Klein Kerstin und ihre Mutter, sie legen Gold in den dunklen Schrein.
Wer bricht die Blätter vom Lilienbaum?
Klein Kerstin, sie weint um ihren Herzliebsten fein –
Ihr freuet euch alle Tage.

Die Weisen hatte sie im Bücherspind der Mutter gefunden, an dem der Schlüssel steckte, und aus dem Spinett hatte sie sich die Melodien dazu gesucht.

Der Schnee tropfte vom Dache, der Bach rann im Walde zwischen dem nassen Schnee über die Steine, die Märzsonne schien, und in ein paar Tagen kam der April. Das Eis auf dem See trug nicht mehr, durch die Wälder und über die Felder fegte der Frühlingswind.

Wie leise Karin auch sang, so hörte man im Zimmer des Kranken den Gesang doch ganz deutlich, Sara merkte, wie der Fähnrich aufmerksam zu horchen begann, und weil sie dachte, es störe ihn, wollte sie gehen und der Sache ein Ende machen. Aber mit einer ungeduldigen Gebärde hielt der Fähnrich sie zurück, und als der Gesang nach und nach verstummte, fragte der Kranke, wer es denn wäre, der da so schön sänge. Sara antwortete kurz, es sei des Hüttenherrn jüngste Tochter; und weil der Fähnrich merkte, daß die Alte hiermit das Gespräch für beendet ansah, enthielt er sich aller weiteren Fragen. Nicht einmal, als er dieselbe Stimme wieder hörte, diesmal begleitet von den fernen Tönen eines Klaviers, ließ er sich eine besondere Bewegung anmerken. Aber sein für gewöhnlich schwermütiges Gesicht hellte sich auf, und er wandte den Kopf nach der Wand, um mit seinen Träumen allein und ungestört zu sein.

Ein paar Tage darauf überraschte Magnus Brandt seine jüngste Tochter dadurch, daß er sie ganz rasch zu sich rief. Er stand im Pelz, den Reisegurt um den Leib gebunden, auf der Treppe. Unten auf dem Hofe hielt das Gig.

»Du mußt Sara ein bißchen in der Sorge für unsern Gast helfen und ihm Gesellschaft leisten,« sagte er. »Es schickt sich nicht, daß man ihn immer allein läßt. Ich habe viel zu tun in diesen Tagen, und Cäcilia hat an anderes zu denken.«

Damit küßte Brandt seine Tochter auf die Wange, stieg in den Schlitten und fuhr fort. Karin stand allein auf der Treppe; sie konnte es nicht fassen, daß das, was eben geschehen war, Wahrheit sein sollte.

In dem Auftrag, den Magnus Brandt seiner Tochter gegeben hatte, lag zu jener Zeit nichts, was einem jungen Mädchen hätte überraschend kommen können. In jener ehrbaren Zeit waren die Formen freier und einfacher als unsere, und die Konvenienz wurde, wenn es not tat, leichter beiseite gesetzt als jetzt.

Bei ihren Freunden unter den Leuten hatte Karin mehr als einmal an Krankenbetten gesessen, bei Männern so gut wie bei Frauen. Und doch fühlte sie sich jetzt verlegen, ängstlich und glücklich zugleich. Erfüllt von den verwirrtesten Gefühlen und Vorstellungen sprang sie die Treppe hinauf und in ihre Stube. Sie wagte nicht, ein Schmuckstück anzulegen, so gern sie das auch getan hätte. Aber sie ordnete ihr Haar, befestigte eine feine weiße Krause um den Halsausschnitt und band eine Schürze mit breiter, leuchtender Borte über ihr Kleid.

Im Korridor begegnete sie Sara.

»Wo willst du hin?« fragte die alte Dienerin.

»Vater hat gesagt, ich soll dem Fähnrich Gesellschaft leisten. Er ist doch so allein.«

»Der Vater hat das gesagt?«

»Ja.«

Sara fragte nicht weiter. Mit einer Miene, als wasche sie ihre Hände in Unschuld, stieg sie langsam die Treppe hinab, und Karin ging weiter bis an die Tür der grünen Gaststube.

Sie trat ein und blieb zuerst an der Tür stehen, ohne etwas zu sagen.

Das Gesicht, das sich ihr entgegenwandte, war so ganz anders als das, was sie früher gesehen hatte, daß sie sich gar nicht gleich von ihrer Überraschung erholen konnte. Noch mehr verwirrte es sie, daß der Fähnrich keinerlei Verwunderung darüber äußerte, sie zu sehen, sondern ihr nur mit heiteren Augen entgegenlächelte, als habe er ihren Besuch erwartet und freue sich darüber.

»Vater hat gesagt, ich solle kommen,« sagte Karin als Erklärung. Der junge Mann fuhr fort, ihr entgegenzulächeln, lächelte über ihre Verwirrung, lächelte über sich selber, daß er als Kranker dalag, lächelte über diese ganze Situation, die so plötzlich gekommen war.

»Ich wußte, daß Sie mich mit einem Besuch erfreuen würden,« sagte der junge Fähnrich. »Ich habe selber darum gebeten.«

Immer weniger verstand Karin. Wen hatte er gebeten? Warum hatte er das getan? Was wollte er von ihr?

Der junge Mann begriff, daß er das junge Mädchen in Verlegenheit gebracht hatte. Darum erzählte er jetzt, daß er sie hatte singen hören, sagte, wie gut ihm das getan hätte, behauptete, er hätte sie oft gehört, und er wüßte nichts auf der ganzen Welt, was ihm lieber wäre, als Gesang.

»Ich habe es Ihrem Vater erzählt,« fuhr er fort, »und habe ihn gebeten, daß Sie hereinkommen möchten, damit ich Ihnen wenigstens danken kann.«

Damit streckte er dem jungen Mädchen die Hand entgegen, und Karin nahm sie.

»Ich kann Sie gar nicht wiedererkennen, Herr Fähnrich,« sagte sie.

»Sind Sie schon einmal hier gewesen?« war die rasche Entgegnung.

Das Geständnis war Karin entschlüpft, ohne daß sie es selber ahnte; jetzt stieg ihr die Röte ins Gesicht. Verstellen konnte sie sich nicht. Ein bißchen linkisch setzte sie sich in einen Stuhl, gerade dem Bett gegenüber, beugte sich etwas vor und sagte hastig und leise: »Ich kam einmal, um Sara zu fragen, ob Sie am Leben bleiben würden.«

Der Fähnrich lächelte bei diesen Worten, und auch seine Wangen färbten sich.

»Gute Engel haben über mir gewacht,« sagte er leise. »Einer wenigstens.«

Dann dachte er, er habe vielleicht zuviel gesagt und das junge Mädchen verlegen gemacht; er begann rasch von etwas anderem zu reden, wie er krank geworden wäre und doch geglaubt hätte, er könne die Reise fortsetzen, wie schließlich das Fieber ihn übermannt hätte und wie die ganze Fahrt zu einem seltsamen Traum geworden wäre. Lange redete er, und die ganze Zeit über saß Karin still da und hörte ihm zu. Alles, was sie jetzt erlebte, ward ihr etwas so Wirkliches, aber just darum auch etwas so viel Schöneres, als was sie jemals geträumt hatte. Da saß sie auf dem schmalen Birkensessel mit dem grün- und weißgestreiften Überzug, saß wirklich da und wußte nicht, warum ihr der junge Mann unaufhörlich dankte. Er tat es mit Worten und mit mehr als Worten. Seine Augen, seine Gebärden, der Klang seiner Stimme, alles schien sich um Karin zu sammeln in einer einzigen großen Dankbarkeit, und ihr selbst schien, als habe sie doch gar nichts dafür getan.

Karin wußte nicht, daß ihre Blicke die ganze Zeit über auf dem jungen Manne weilten. Aber sie sah, daß seine Hände fein und wohlgepflegt waren, und instinktiv versteckte sie die ihren, die Wind und Wetter gebräunt hatten.

Sie hörte, daß er abgehackt und langsam sprach, als müsse er nach Worten suchen, oder als ob seine Gedanken ständig arbeiteten, um mehr zu finden, als was die Worte auszudrücken vermochten. Und sie fand – gerade so mußte er ja auch sprechen – gerade dadurch wurde er ja so anders, als alle die anderen, die sie kannte.

Sie freute sich, daß sie ihn so frisch und lebendig vor sich sah, daß seine Wangen sich färbten. Sie hätte so sitzen können – wer weiß wie lange – und sich bloß der Gewißheit freuen, daß er am Leben bleiben würde. Und nur daran dachte sie, als sie endlich lächelnd sagte: »Danken Sie mir doch nicht mehr. Ich hab ja nichts getan. Und singen kann ich ja gar nicht.«

Zum erstenmal ward es still zwischen den beiden. Und die Stille währte lange. Der junge Fähnrich sah gequält aus, und über sein Gesicht kam etwas Dunkles, das Karin erschreckte. Sie glaubte, sie hätte ihn betrübt, und wußte nicht, was sie weiter sagen sollte.

Endlich brach der junge Mann das Schweigen, und in einem ganz anderen Ton, viel leiser als zuvor, fast als schäme er sich seiner eigenen Worte und möchte sie mildern, sagte er: »Ich bin dem Tode sehr nahe gewesen und fühle erst jetzt, daß ich wieder zum Leben erwacht bin.«

Darauf schwieg er wieder. Und die Stille, die um die beiden her fiel, schien zu beben von Gedanken, die keines aussprach. Karin vermochte sich nicht freizumachen von dem Gefühl des Schreckens, der sie ergriffen hatte, und indem sie nach Worten suchte, die alles wieder so froh, licht und lächelnd machen sollten, wie es kurz zuvor gewesen war, sagte sie: »Sie sehen ja ordentlich gesund aus!«

Sie konnte sich selber nicht erklären, weshalb sie gleich darauf aufstand und ging. Sie wollte ja gar nicht gehen; aber sie ging.

»Kommen Sie recht oft wieder,« bat er, als sie an der Tür stand.

»Ja,« sagte Karin, »ich werde oft kommen.«

Ganz allein wanderte sie drunten umher. Singen konnte sie nicht; sie wußte ja jetzt, daß in der Stille jeder Ton droben, wo sie noch eben gesessen hatte, zu hören war. Wieder und wieder ging sie durch die leeren Räume, und ihr Herz war voll.

Da sah sie Cäcilia auf sich zukommen. Die Schwester hatte die große Wirtschaftsschürze vorgebunden und trug die Miene zur Schau, die bedeutete, daß sie sehr geschäftig war. Aber plötzlich – gerade weil sie selber sich so erregt und glücklich fühlte wie nie zuvor, fiel es Karin auf, daß die Schwester in den letzten Tagen mit einem vergrämten Ausdruck umhergegangen war, als trüge sie einen heimlichen Kummer, oder als wäre ihr ein Unglück geschehen.

Karin konnte Cäcilia nicht direkt fragen, ob etwas sie bedrücke. Dazu fühlte sie sich zu unerfahren und jung, wußte außerdem, daß derartiges der Schwester mißfiel. Deshalb ging sie nur auf die ältere Schwester zu, schlang die Arme um sie, schmiegte sich an sie und legte den Kopf an ihre Schulter.

Sie tat das, weil sie selber das Bedürfnis hatte, sich einem Menschen anzuschließen, und weil sie es in diesem Augenblicke nicht ertragen konnte, jemand zu sehen, der nicht froh war.

Die Schwester ließ es geschehen; sie verwunderte sich auch nicht einmal darüber. Sie war an die liebkosende Art der jüngeren Schwester gewöhnt und war immer gerührt über ihre Freundlichkeit. Aber ihr Gesicht erhellte sich nicht.

Karin sah das, und unausgesprochene Fragen brannten ihr auf den Lippen. An der Schwester Seite ging sie auf und ab in dem großen Zimmer, in das die Sonne durch niedrige, viereckige Fenster fiel. Sie vermochte nichts zu sagen, nichts zu fragen. Im innersten war sie froh, daß die Schwester nichts äußerte, was ihr eigenes Glück gerade jetzt hätte stören können. Und sie hielt den Kopf gesenkt, als ertrüge sie es nicht, daß ein Mensch das Sonnenlicht sähe, das über ihren Zügen leuchtete.

 


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