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Der Andredl und 's Durei

Auf freiem Felde lernten sie sich kennen. Es ging gerade ein schwerer Regen nieder. Sie hatte kaum mehr weiter gekonnt. Die nassen Leinenkittel legten sich schwer um ihre Beine. Und ihre mit Fetzen umwickelten Füße wurden auf dem klebrigen Lehmboden zu unförmlichen Klumpen. Ein anderer Mensch wäre an ihrer Stelle verzagt geworden. Aber ihrem Gemüte konnte böses Wetter wenig mehr anhaben. Sie ging mit ihrer Not schon zu viele Jahre ziellos unter dem freien Himmel herum. In dem schmalen, braunen, verhärmten Gesicht war etwas, das spottete der Not. Sie hatte heute wie immer ihre Begleitung, eine alte, langhaarige, eisgraue Geis. Diese trottete zumeist dicht hinter der Herrin. Hie und da hob sie ein wenig den Kopf und schielte mit den graugelben, menschenklugen Augen verächtlich die triefenden Nebel an. Sie wäre nun ebenso achtlos wie ihre Frau an einem Menschen vorübergegangen, wenn dieser nicht gegeigt hätte. Ja, wahrhaftig, er geigte. Das Wetter konnte ihn daran nicht hindern. Er saß unter einem großen, altbäuerischen Regendache, dessen langer Stiel im Erdboden stak. Das Weib ging einmal um den weiten Schirm herum, ohne von dem darunter Sitzenden etwas zu sehen. Sich zu bücken, stand ihr schier nicht dafür. Die Geis aber konnte ihre Neugier nicht lange bezähmen. Sie steckte den Kopf unter den tief hinab reichenden Schirmrand hinein und meckerte.

»Schön'n gut'n Morgen«, antwortete drinnen höflich der Musikant und hörte zu spielen auf. »Was steht zu Begehr? Ein Unterstand? Kann nit versagt werden bei dem Wetter. Platz haben wir reichlich. Aber ich bitt', nit mekerzen, wann ich geig'.« Der Geis, welche sonst nicht gleich jedermanns Freund wurde, musste nun dieser Mensch ausnehmend würdig erscheinen, denn sie kroch zum Erstaunen ihrer Frau zu ihm hinein. Er fing gleich darauf wieder fleißig zu spielen an. Das Weib hörte der Musik kopfschüttelnd zu. Es schien ihr gleich vom Anfang keine rechte Vernunft darinnen zu liegen. Je länger er aber geigte, desto klarer wurde es ihr, dass er nicht völlig bei Sinnen sei. Er begann hie und da mit ziemlicher Genauigkeit verschiedene Tänze und Lieder, um aber gleich wieder aus allem Takt und Wohlklang zur aller regellosesten Behandlung des Saitenspiels zu gelangen. Endlich verweilte er aber doch länger bei einer ganz feinen, artigen Weise, welche das Weib wundersam anmutete, wie der lebendige Hauch der schier vergessenen, einstigen Lebenslust und Jugendseligkeit. Und da wusste sie auch, wer der Spielmann unter dem Regendache war. Als er dem Liede ein wildes Missgetön folgen lassen wollte, neigte sie sich zu Boden und fragte unter den Schirmrand hinein: »Gelt, Du bist der Birschen-Andredl, der Musikant?« Er hörte zu spielen auf und staunte das Weib mit großen, verträumten Augen an. Dann nickte er, und in sein noch völlig jugendschönes, aber seltsam starres Gesicht kam ein herbes Lächeln. »Ja, ich war ein Musikant. Jetzt bin ich keiner mehr. Ich fang' tausendmal zu spielen an, und mitten in der Weis' komm' ich draus. Mir bleibt das Geigen auf mein Lebtag g'stört. Ich hoff' nimmer, dass ich 's wieder erlern'. Und geig' doch. Es gibt mir kein'n Fried in den Fingern und in der Seel'. So geig' ich halt und probier', so vergeblich das ist. Zeitweis' vergiss ich mich völlig dabei. Das ist für den Augenblick gut. Aber wann ich wieder zu mir selber kumm', weiß ich doch, dass ich nichts Gescheidt's geigt hab'. Gegen Hunger und Durst hilft 's mir ja auch, solang' ich mich vergiss. So geig' ich halt. Was soll ich denn auch sonst? Zu einer Arbeit mag mich niemand. Jeder weiß, dass ich mich dabei vergäß'. So geig' ich halt. Vor den Türen um Brot geigen ist bitter, wenn man einmal ein zünftiger Musikant gewesen ist. Wen sie einmal für sein Spiel verehrt und verhätschelt haben, den sollten sie dann nit so mit Spott überhäufen, wenn ihm nichts mehr g'lingt. Das ist gar grausam. Es gibt nichts Unglücklicheres als ein'n Narr'n, der weiß, dass er ein Narr ist. Den sollten sie nit auslachen. Sie lachen an mir ihr eigen's Werk aus. Sie haben mich ja zu ein' Narr'n gemacht. Aber sie denken nicht. Ein Narr denkt mehr als der ganze Haufen miteinander. Wie sie mich zu ein' Narr'n geschlagen haben, weißt du ja, gelt?«

Sie nickte. Seine Geschichte kam ihr ganz in Erinnerung, während er sprach. Er war der lustigste und schönste Bub in der Gegend gewesen und der beste Musikant obendrein. Mit seinem Wesen und seiner Geige gewann er überall die Herzen. Er war auf den Tanzböden und in den Gesellschaften die umworbenste Person. Aber sein Jugendglück machte ihn nicht übermütig. Er blieb brav und bescheiden trotz seiner Fröhlichkeit und Genussfreude. Darum verdiente er das am allerwenigsten, was sie ihm antaten. Sie machten ihn unglücklich, ohne dass er sich das Mindeste hatte zuschulden kommen lassen. Die Ursache war ein Weib, eine reiche Bauerntochter, die ihn wie so manche andere mit ihrer Liebe verfolgt hatte. Er konnte sie so wenig leiden wie alle die, welche sich ihm aufdrängen wollten. Aber in den Verdacht kam er doch mit ihr, wie er sich auch gegen sie empörte. Und dieses Verdachtes wegen schlugen ihn ein paar eifersüchtige Burschen derart, dass er so wurde, wie er jetzt war. Als er nach wochenlangem Kampfe mit dem Tode wieder auf die Beine kam, erwies es sich, dass sie ihn blöd geschlagen hatten, dass sein Verstand vielleicht für das ganze Leben zerstreut bleiben würde.

Sie hatten ihm damit auch den Bettelstab in die Hand gezwungen. Der alten Wanderin wurden jetzt die Augen nass, als sie sich seines Schicksals erinnerte. »Bist ein armer Teufel«, sagte sie und fügte dann hinzu: »Mich haben sie ja auch auf die Straßen gestellt. Mich auch. Wir zwei könnten miteinander gehen. Du sollst ihnen Dein Lied geigen und ich ihnen das Meinige dazu singen. Das wär' eine schmeichelhafte Musik für die Menschen. Ich bin das Halter-Durei – kennst mich nimmer? Hab' ja auch einmal tanzt nach Deiner Geigen – und wie? Mit mein' Schatz, dem Keim-Loisl. Den hast ja kennt.«

Er nickte, und in seinen Augen kam dabei ein warmer Strahl.

»Freilich, der Loisl, das war ja mein Kamerad. Der hat Dich heiraten wollen. Aber dann hat er Dich leider nit brauchen können, weil du ein Krüppel geworden bist. Ich kenn' Dein G'schicht' ganz gut. Was zuvor gewesen ist, ehe sie mir den Kopf zerdroschen haben, das weiß ich all's. Aber von dem Nachherigen entfällt mir alles gleich. Du warst eine rare Bauerndirn. Beim Wastl auf der Eben hast von klein auf ehrlich dient. Und dann hat's beim Wastl brennt. Dem Bauern sein einzig's Kind war in dem brennenden Haus, ein kleiner Bub, um den hat sich niemand hinein getraut als Du. Oben in der Dachkammer war er. Du hast Dir ihn auf den Rücken bunden und hast Dich so vom Fenster herabg'stürzt, g'rad auf Dein G'sicht los, damit das Kind heil bleiben soll. Es war ein' Heldentat. Sie ist Dir gelungen. Das Kind ist heil blieben. Aber Du hast Dir alle Glieder brochen, dass Du für Dein Lebtag ein armseliger Krüppel blieben bist. Und wie haben Dir die Leut' dankt? So – dass Du jetzt betteln gehen musst. Der Bauer hätt' Dich freilich nit erhalten können. Der war selber arm nach dem Feuer. Aber die andern Leut' hätten sich um Dich kümmern sollen.«

»Haben halt darauf vergessen«, antwortete das Durei darauf.

»Das macht jetzt nichts mehr. Man gewöhnt das Schlecht'. Siehst, die Geis da hat mir damals der Bauer g'schenkt. Kannst Dir denken, wie alt die ist. Sie wär' auch schon längst verreckt, wenn sie nit wüsst', dass sie für mich leben muss. Sie hat so wenig Gut's auf der Welt wie ich. Wenn sie wollt', brauchet sie nur die Viere von sich recken und wär' hin. Aber mir zu Lieb' lebt sie. Ich kann Dir's gar nit sagen, wie gut und wie g'scheit das Vieh ist. Solang' sie lebt, ist's für mich nit g'fehlt, denn da spaziert mein Frühstück und mein Mittagsmahl auf Schritt und Tritt mit mir. Wie es aber werden wird, wenn sie vor mir dahin geht? Ganz vom Betteln leben, ist hart. Die Leute sind jetzt geizig. Schau, sie vergönnen nit einmal der Hudl, das bissel Fressen. Wenn sie wo am Weg ein Graserl abbeißt, machen sie ein G'schrei. Einmal haben sie mich schon in den Kotter g'sperrt, weil sie vom Richter sein'n Klee ein wenig g'nascht hat. Seither bin i wild auf die Menschheit. Alles hätt' i den Leuten verzieh'n, aber dass sie mich eing'sperrt hab'n, das ist gar zu schlecht von ihnen. Das kann i nimmer vergess'n und klag's alle Tag mei'n Gott. In die Schand sollten sie mich nicht bracht haben, mich nit. Das ist ein arge Schand für sie.« Jetzt weinte das Durei, und der Andredl weinte auch. Er hätte sich dabei wieder vergessen und weiß Gott wie lange fortgeweint. Aber das Durei riss ihn dann aus seiner Versunkenheit heraus. »Ich seh 's schon«, sagte sie, »Du vergrübelst Dich zeitweis' derart, dass Du wohl ein's brauchest, das Dich an die Gegenwart gemahnt.«

»Ja, ja«, sagte er. »Das ist's ja eben. Ich vergaß manchmal aufs Essen und Trinken. Einmal werd' ich mich vergessen und nimmer wiederfinden. Ich brauchet wohl ein's, das mich manchmal ein bissel aufrütteln tät.«

Sie überlegte eine Weile und sagte: »Na, das kann ja ich.«

»Willst?« fragte er.

»Gern. Dafür hilfst Du mir wieder hie und da ein bissel weiter. Mir geht's über die Berg' gar schlecht auf die brochenen Füß'. Magst?«

»Gern«, sagte auch er.

»Ich teil' die Geismilch mit Dir, die mir oft eh' zu viel wird«, fuhr sie fort. »Dafür lässt mich Du unters Parapluie knotzen, wann's regnet. Wir können ein's das ander' gut brauchen. Und es ist so viel tröstlich, ein'n Menschen z'haben, dem's so geht wie ein'm selbst. Aber…«, unterbrach sie sich plötzlich und betupfte mit einem Finger ihr Gehirn.

»Was aber?« fragte er.

»Die Leut' täten sagen, wir zwei sind z'sammg'standen.«

»Was?« fragte er verständnislos.

»Weißt, sie glaubeten – wir leben meieinand' in der wilden Eh'? Und uns fallet doch so was unser Lebtag nit ein, gelt nit?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, meiner Seel'. So was nit.«

»Siehst«, sagte sie betrübt, »weil die Leut' so schlecht und gering denken, können wir nit miteinand' gehen.«

»Ah was«, warf er verächtlich hin, »wir sind die letzten, die Ursach' haben, auf die Leut' zu achten. Justament gehen wir miteinand', und wär's nur d'rum, dass wir uns vom Herzen ausschimpfen können über das erbärmliche Volk. Ich hab' mir eh schon oft denkt: Wem soll ich mein Geigen vermachen, wenn ich stirb? Die kriegst nachher Du.«

Sie lächelte. »Ja, wenn ich geigen könnt' drauf. Ich hab' mir eh schon denkt, mit einer Musik, da käm' ich leichter durch die Welt, da schauet das Zigeunern nit gar so bettelhaft aus.«

»Weißt was?« rief er. »Ich lern' Dir 's Geigen. Wenn Du Dir das bissel G'scheite merkst, was ich noch spiel', kannst g'rad g'nug. Das Närrische darfst mir halt nicht nachmachen.« Sein Vorschlag leuchtete ihr ein. Sie fürchtete nur, eine gar zu ungelehrige Schülerin zu werden. So gingen denn die beiden armen Narren miteinander. Auf das, was man ihnen über ihren Bund sagen würde, waren sie so ziemlich gefasst. Aber dann machte ihnen das Gerede der Leute doch oft warm. Sie antworteten beide grob genug auf allen Schimpf und Spott. Aber je mehr sie sich im Zorne ereiferten, desto lieber war es den Leuten. Man unterhielt sich hie und da köstlich mit der Aufreizung der beiden. Oft gelang es auch jemandem, die Bettler gegeneinander aufzuhetzen. Es war nämlich nicht allzu schwer, das Herz des Andredl mit Misstrauen gegen seine Mitgeherin zu erfüllen. Wenn dem Narren jemand sagte: »Du, das Durei meint es nit ehrlich mit Dir, es ist ihr nit um das Geigenspiel, sondern sie will Dich langsam drankriegen, dass Du sie heiraten musst, weil sie so viel verliebt in Dich ist…«, so waren bei ihm gleich alle bösen Zweifel gegen seine Gefährtin los. Es war ja begreiflich, dass ihm nichts so verabscheuungswürdig erschien als ein heiratslustiges Weib. Er wurde durch ein solches unglücklich. Aber seiner Mitgeherin tat er unrecht, wenn er glaubte, sie habe derartige Absichten auf ihn. Sooft sich nun das Durei von ihm auf solche Weise verdächtigt sah, wurde sie bitterböse. Sie schalt ihn dann noch weit närrischer, als er in Wirklichkeit war, und überhäufte gelegentlich auch Leute, welche ihn aufgehetzt hatten, mit den galligsten Schmähungen. Oft sagte sie sich auch völlig von ihm los und ging tagelang allein. Er sehnte sich dann doch wieder nach ihr und sinnierte: »Wenn ich gewiss wüsst', dass sie es nit auf mein' Lieb abgesehen hat, wie die Leut' sagen, nämlich, dass sie mich nit heiraten will, ging ich doch wieder gerne mit ihr.« Und sie quälte sich in den Zeiten der Trennung um sein Befinden. »Er wird sich wo vergessen«, sagte sie. »Er wird verhungern oder erfrieren. Wenn er nit gar so närrisch wär', ging ich wieder mit ihm.«

Um das Geigenlernen war es ihr auch recht sehr zu tun. Sie bewies zwar ein großes Ungeschick dabei, aber eine ebenso große Geduld. Wenn sie aber noch so oft auseinander gingen, sie kamen doch immer wieder zusammen. Sie brauchten nur beide auf freiem Felde zu sein, wenn es regnete – dann fand sich die Wiedervereinigung. Dann machte nämlich die Geis die Vermittlerin. Ehedem war es dem guten Vieh niemals eingefallen, seiner Herrin durchzugehen. Aber wenn es sich jetzt mit derselben auf freiem Felde befand, da brauchte nur ein Regen zu kommen, und die treue Begleitschaft hatte ein Ende. Bei Regen ging die Geis dem Parapluie des Andredl zu. Die alte Bettlerin mochte sich dagegen stellen wie sie wollte, es half ihr nichts. Gegen den Willen des alten Viehes, welches lieber verreckte als nachgab, war nicht aufzukommen.

Es blieb der Alten nichts übrig, als dem Tiere zu folgen, wenn ihr dieses nicht folgte. Ob es nun der Geis um den gewohnten Unterstand unter das Regendach des Andredl oder um die Versöhnung der beiden Narren zu tun war, darüber gab sie keinen Aufschluss.

Jedenfalls brachte sie die beiden immer wieder zusammen. Der Musikant verweigerte der Geis den Unterschlupf niemals. Aber mit seiner Weggefährtin verhandelte er oft lange, ehe sie sich aufs Neue zusammensetzten.

»Wann Du nur kein Weibsbild wärst«, sagte er schließlich immer wieder. »Das ist Dein einziger Fehler.«

»Dann hätt'st mir schon lang verziehen, wann Du kein Narr wärst«, pflegte sie zu antworten. Dann gingen sie wieder miteinander.


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