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Zweiter Teil

*

Das Zizerenchen

Aus krummer Rippe ward sie erschaffen,
Gott konnte sie nicht ganz grade machen …

Goethe, West-östlicher Diwan.

Wenn der Spätherbst dem Taunus das grüne Jagdkleid auszieht, stellt sich in den Birkengehegen ein kleiner Vogel ein, der ein karmindunkles Köpfchen hat. Diesen Hänfling nennen die Leute im Taunus das Zizerenchen; vermutlich nach seinem silbernen, lieblichen Rufen: Zizzizz … zizizzizz …

Manch einer mag bei Schnee den niedlichen Frechling schon auf dem Fensterbrett gesehen haben, wo er wenig Furcht vor den Menschen zeigt, fürwitzig die Sperlinge scheucht und sich an den ausgestreuten Brosamen gut tut. Ein flinkes, hübsches Ding, dieser Hänfling … ganz wie Brigitta Weihrauch.

Aber nicht das war der Anlaß, daß die Kinder das kleine Mädchen Zizerenchen riefen; vielmehr weil Dorchen Weihrauchs Tochter mit einem Kopf voll wunderlich roter Haare umherlief, nannten die Rangen sie nach diesem kecken Vögelchen.

Zizerenchen … im Sinne eines Verständigen war der Name nicht übel gewählt für das Kleinchen. Zunächst aber faßte Brigitta Weihrauch das Wort, allerdings ganz richtig, als einen Spottnamen auf; sie weinte mehr als einmal darob, namentlich nachdem sie innegeworden, daß der Name eigentlich den roten Haaren galt. Mehr noch klagte sie mit feinem Gefühl, weil die Kinder mit dem Worte Zizerenchen nicht das Zierliche der Verspotteten loben, sondern sie weit eher als eine Häßliche schelten wollten. Irgend jemand aber tröstete die Kleine mit dem Hinweis auf den hübschen Hänfling. Von Stund' an behagte der Name Zizerenchen der ein wenig eiteln Brigitta Weihrauch, ja, sie brüstete sich damit.

Und dann endlich hörte das Kind diesen Namen lieber als seinen richtigen: Brigitta … oder, wie man kürzer sagte: Grittchen. Mit dem Worte Grittchen namentlich verband sich dem Mädchen die Vorstellung von etwas Altem, Verschrumpeltem. Und so war Brigitta – wie gesagt: von früh auf eitel – bald stolz auf dies »Zizerenchen«, obgleich der Name doch immer ein Spottname blieb.

Die kleine Brigitta Weihrauch hatte nicht einmal so unrecht, wenn sie den Namen Grittchen verabscheute. Sie wuchs in einer Gasse auf, die man neuerzeits den Mühlberg getauft hatte; früher hieß der Mühlberg die Siebenhäusergasse, und an diesen althergebrachten, gewiß auch poesievolleren Namen hielten sich die Homburger. Grittchen … es wohnte ein Grittchen in der Gasse; dies alte Geschöpf rechtfertigte vollkommen den Abscheu der kleinen Brigitta vor diesem Namen. Das Weiblein, eine verknorzte Huzzel, kannte man in Homburg unter dem garstigen Spott- und Gassennamen Pißgrittche … ein unappetitliches Leiden nämlich zwang die Alte aller paar Schritte über den Rinnstein.

Die Eitelkeit des kleinen Mädchens fühlte sich demnach zum andernmal mit Recht verletzt, sobald man Grittchen sagte. Außerdem klingt Zizerenchen auch wirklich niedlicher und hübscher …

Einigermaßen bezeichnend für Dorchen Weihrauchs Tochter, dieser kleine Charakterzug. Wie früher einmal die Mutter, so liebte auch das Zizerenchen das Schöne und Vornehme, Feine und Appetitliche.

Wenig Freude an dem verwaisten Mädchen aber fanden die einfachen Leute, die Brigitta Weihrauch ins Haus genommen, als die Kleine just fünf Jahre alt war. Mutter Sinchen hatte in jenem Lenz das Zeitliche gesegnet, nachdem sie den weiland plötzlich am Schlagfluß verschiedenen Vater Schorsch um genau vier Jahre und fünf Monate überlebte in Leide, in Sorge und Pein.

Meister Weihrauch, der Mann von festen Ehren – – am selben Sonntagmorgen, an dem der Uhrmacher Laborius Zeunlein tot im Schnee gefunden worden war, ward der alte Mann von der Frankfurter Polizei heimgesucht. Der Beamte, ein hochgewachsener Blonder mit einem mächtigen, grimmigen Schnauzbart, teilte ihm mit, ein gewisser Friedebert Weihrauch behaupte, der Kunsttischlermeister Georg Weihrauch in Homburg wäre sein Vater. Und auf die Entgegnung des Alten, daran täte der Friedebert nur recht, druckste denn der Gendarm doch ein bißchen an den Worten herum … es fiel ihm schwer zu sagen, was ja doch gesagt sein mußte: »Dann ist es also Ihr Sohn, der wegen des Mordes an der Prostituierten Dorothea Weihrauch, seiner Ehefrau – ferner wegen Körperverletzung, begangen an der Prostituierten Marie Rackow aus Mainz, genannt Mieze –«

Weiter aber kam der Beamte nicht. Er konnte just noch beobachten, wie Schorsch Weihrauch sich besann, ob das Leben nun noch zu leben wert sei … und dies verneinend, schüttelte der Meister schwer das Haupt, sank müde in einen Stuhl, von dem er aber sogleich tot zu Boden fiel.

Als nun später Mutter Sinchen starb – sie kränkelte so hin an gebrochenem Herzen, das nicht mehr so recht schlagen und doch auch nicht mit dem kärglichen Klopfen aufhören wollte –, als diese arme Seele den letzten Trost neben der Ruhestätte Vater Schorschs gefunden, da war Brigitta Weihrauch ein einsam Kind … das Zizerenchen war ein Hänfling ohne Nest.

Die Verwandten in Seulberg und Oberroßbach wollten nichts von dem kleinen Rotkopf wissen, die steiflederne Patin, die mürrisch männliche Brigitta Stengel in Königstein sozusagen noch weniger. Und Mutter Guckes in Bockenheim verabscheute das rothaarige Wesen bis zu ihrem Tode … sie hatte ja gewußt, es war der im fremden Neste ausgebrütete Kuckuck.

Da besann sich denn das Vormundschaftsgericht nicht lange, sondern kündigte der Verwandtschaft an, das Kind würde bei fremden Leuten untergebracht werden. Die Kleine war ja nicht ohne Vermögen, weil sie die Nutznießung aus dem Weihrauchschen Erbe zu eigen hatte, Kost und Erziehung also gut bezahlen konnte.

In der Gasse »Am Mühlberg« bewohnten die Hetzels ein kleines, sauber gehaltenes Häuschen, dem nur das Dach ein bißchen windschief hing; aber gerade das verlieh dem Bauwerk einen traulich beschaulichen Anblick. Die Hetzels waren bescheidene und gute Menschen – die beiden Eigenschaften finden sich ja stets vereint; und die Hetzels hatten trotz mancher eigenen Not immer noch ein Herz für die Not anderer.

Der Hannes Hetzel war Tagelöhner in der Gasfabrik, das Mariechen Hetzel bügelte im Sommer gestärkte Herrenwäsche für die Homburger Hotels. Die Ehe war kinderlos geblieben.

Den beiden Leutchen kam nun die Einkunft für den Pflegling – achthundert Mark im Jahr – sehr gelegen. Und als denn niemand das Kind »des Mörders« bei sich aufnehmen wollte, ging Mariechen Hetzel aufs Rathaus und erklärte stracks, bei ihnen fände das Verlassene ein Heim.

Vor allem einmal befreite Mariechen die roten Haare von den Läusen, das kleine Mädchen aber vom Hunger. Beides hatte das Brigittchen aus einer Bewahranstalt mitgebracht. Die Läuse waren in einem einzigen Tage vertrieben, der Hunger aber – oder vielmehr das Verhungertsein – ließ sich nicht so geschwind vertreiben … das dauerte immerhin acht Tage. Acht Tage, in denen das Kind heimlich alles nahm, was wie eßbar aussah. Mariechen Hetzel hatte es nicht leicht, der Kleinen begreiflich zu machen, dies Nehmen käme dem Stehlen gleich, nein, wäre überhaupt gestohlen. Endlich war Brigittchen satt; und wenn es nun noch hier und da einmal etwas – – nahm, so tat es das aus einer Genäschigkeit her, die aber schließlich andere Kinder auch nicht leicht unterdrücken können.

Hannes war dafür, daß man Schläge anwenden müsse; ja, er war überzeugt, sein dicklederner Hosenriemen wäre das beste Erziehungsmittel. Mariechen Hetzel jedoch war überzeugt, gerade das sei das Verkehrte – nur mit Güte müsse man aller Sündhaftigkeit zu Leibe gehen. Und Güte, sie war der hervorstechende Charakterzug in dieser niedlichen, hübschen alten Frau Wesen.

Brummend fügte sich der Hannes mit einem entsagenden Tasten nach dem Hosenriemen. In dreißig glücklichen Ehejahren hatte er sich angewöhnt, der kleinen Frau zu gehorsamen, ihr stets Recht zu lassen; er hatte längst erkannt, daß er dabei am besten fuhr. Brummend also fügte er sich, aber er brummte nicht aus Widerspruch … das Brummen war eben seine Art, war nur ein Ausdruck der Einsilbigkeit … Hannes Hetzel sprach niemals über das hinaus, was zu sagen äußerst nötig war. Hinter dieser Schweigsamkeit eben verbarg sich die Güte seines Herzens.

In den drei ersten Jahren nun tat das Zizerenchen bei den Hetzels gut. Als es aber erst einmal längere Zeit in die Schule ging, selbständiger wurde, da stellten sich allerlei Untugenden ein.

Vor allem einmal: das Kind log … wie ein Buch log es.

Es konnte einen Menschen erstaunen, was unter den roten Haaren für Gedanken brüteten.

Und dann die Sucht, mehr zu sein, als dies feingliedrige, weißhäutige Kind wirklich war. Die Mädchen der gleichen Schulklasse glaubten dem Zizerenchen ohne weiteres, was es ihnen so eindringlich klarzumachen verstand: der Vater wäre ein englischer Prinz, der heute noch in Homburg die Kur gebrauche … die Mutter aber wäre eine russische Fürstin … und die beiden wären heimlich verheiratet …

Das stammte aus einer irgendwie einmal gelesenen Geschichte des »Taunusboten«.

Als man dem Hannes Hetzel in der Gasfabrik von dem Schwindel erzählte, ging er zum ersten Male in seinem Leben aus sich heraus. Zwar, er machte auch hierbei nicht viel Worte: er kam am Abend heim, schnallte den Hosenriemen ab, holte die Lügnerin aus den Federn; dann drasch er solange auf die Kleine los, bis sie kein Glied mehr rühren konnte. Das Mariechen stand händeringend dabei und weinte bitterlich, traute sich aber nicht, dem erbosten Manne in den Arm zu fallen – oder vielmehr: in den Hosenriemen –, denn so hatte er sich nie gezeigt in dreißig langen Jahren. Erst nachdem er selbst das wimmernde Kind ins Bett getan und mit leisem Gebrumm allerlei tröstende Worte ins Ohr der Kleinen raunte, erst da fand Mariechen die Sprache.

»Mit dem Hosenriemen schlägt man keine Lügen tot,« schluchzte sie. »Es wäre vernünftiger gewesen, ich hätte dem Kinde erklärt, daß man ebensowenig lügen wie stehlen darf. Du wirst sehen, die Schläge haben keinen Erfolg.«

Aber sie hatten doch einen Erfolg und zwar einen ganz absonderlichen.

Nämlich, das Zizerenchen plapperte andern Tags in der ganzen Gasse aus, der Stiefvater – wie es den Hannes nannte – habe einen ganzen Berg Gold erhalten von dem englischen Prinzen, damit er das heimlich gehaltene Kind aus der Welt schaffe …

Das war der Schluß jener Geschichte im »Taunusboten«, vom Zizerenchen allerdings ein bißchen umgedichtet.

Mariechen Hetzel hatte gewiß nicht unrecht: die fürchterlichen Schläge schienen böse Anlagen nur aus dem Schlafe gerüttelt zu haben. Der Metzger, der Bäcker, der Kolonialwarenhändler, die Gemüsefrau – kurz, man mochte das Kind schicken wo immer hin … alle rückten sie dem Mariechen Hetzel ins Haus und verlangten das Geld für Sachen, die das Zizerenchen auf Borg geholt hatte. Und auf die Fragen der geplagten Frau fand die Kleine immer andere Ausreden. Bald hatte sie das Geld verloren, bald hatte ein fremder Mann es ihr abgenommen, bald wollte sie bezahlt haben, bald behauptete sie steif und fest, Frau Hetzel habe ihr überhaupt kein Geld mitgegeben. Was das Kind mit den freilich nur sehr geringen Beträgen dieser Unterschlagungen anfing, darüber hielt es verstockt den Mund. Und Mariechen Hetzel verschwieg die peinliche Geschichte ihrem Manne … nicht zum andernmal wollte sie eine Neuauflage der Prügelszene erleben. Um so bitterer war diese neue Sorge für die gutherzige Pflegemutter.

Das Schlimmste kam aber noch nach: schließlich stahl das Zizerenchen in der Klasse. Zuerst einmal nur ein Frühstücksbrot, später aber auch Griffel, Federhalter und endlich Bücher.

Das Ende vom Liede war, daß der Rotkopf aus der Klasse verwiesen und in der Schule nicht mehr zugelassen wurde.

Mariechen ertrug dies Leid stillduldenden Herzens und mit müdem Gesicht. Der Hannes sagte wortkarg gar nichts, ihm tat immer wieder das Herz weh, wenn er der jammernden Tränen seiner guten Marie gedachte, die sie an jenem Prügelabend vergossen. Darum »vergaß« er lieber den Hosenriemen in der Gasfabrik, sobald er morgens von der Nachtschicht oder abends vom Tagewerk heimkam.

Man riet den Hetzels, das Kind fortzugeben; das Vormundschaftsgericht wollte den Rotkopf sogar in eine Besserungsanstalt verbringen lassen. Aber Mariechen Hetzel verteidigte wie eine Löwin das arme Geschöpf, und dem Hannes machte sie begreiflich, was es heißen wollte: die Mutter in einem schlechten Hause ermordet, der Vater selbst der Mörder!

Und Hannes nickte nur stumm, sah mitleidig auf das so schöne Mädelchen, gab wortlos dem Mariechen recht und trauerte nun auch dem Hosenriemen nicht länger nach.

Nein und tausendmal nein … und wenn es das unglückliche Kind noch ärger triebe, sie und Hannes verstießen es nimmermehr – erklärte Mariechen Hetzel den Leuten. Auch jagte sie den Schutzmann aus dem Hause, der gekommen war, das Zizerenchen in die Besserungsanstalt abzuholen.

Mariechen behauptete, die Menschen verstünden dies Kind nur nicht, in dessen Rotkopf die Welt nun einmal anders aussähe; der Hannes und sie würden schon etwas Ordentliches aus der Kleinen machen.

Dabei blieb es.

 

Fünf lange Jahre durfte das Zizerenchen nicht aus dem Hause, es wäre denn unter Aufsicht eines der beiden Hetzels gewesen. Und wer es auch bei sich hatte, ob der Hannes oder das Mariechen: keines ließ es auch nur wenige Minuten allein. In die Freiheit kam das Mädchen unbeaufsichtigt nur dann, wenn Mariechen Hetzel ihm erlaubte, in dem kleinen Gärtchen hinter dem Hause zu spielen. Der Garten war aber rechts und links von hohen Hecken eingesponnen, und an seinem unteren Ende floß träge, schwarz und stinkend »die Lederbach« – breit genug, daß auch ein geschickter Mensch nicht darüber springen konnte.

Dreimal in der Woche kam der schwindsüchtige Lehrer Flüster. Der brachte dem Zizerenchen einiges bei von dem, was es durch die Verbannung aus der Schule sonst versäumt hätte. Auch der war ein guter Mensch. Und er hatte sogar Freude an diesem Unterrichten, denn das Mädchen bewies einen Verstand, der weit die jungen Jahre überragte.

So war das Zizerenchen fünfzehn Jahre geworden und mußte konfirmiert werden. In der langen Zeit des Abgeschlossenbleibens hatte sich keine schlechte Ader mehr bemerkbar gemacht. Längst brauchte Hannes Hetzel den Hosenriemen nicht mehr zu »vergessen«. Auch hatte die Drohung mit diesem Erziehungswerkzeug, und ebenso ein ständiges Erinnern an jenen Abend der Prügel, stets und bis auf den Tag wahre Wunder bewirkt. Mariechen Hetzel wurde des Mahnens nie müde, und der Mann mußte ihr im geheimen rechtgeben: Worte wirkten bei dem Mädchen mehr als alles andere.

Dennoch mit Bangen und Sorgen, Zittern und Zagen, mit Angst und Scheu vor dem Sichereignenden – wenn sie auch alle diese Nöte voreinander verheimlichten – ließen die Hetzels das schöne, zierliche, über seine Zeit hinaus erblühte Unglückskind in den Konfirmandenunterricht gehen. Die paar ersten Male brachte Mariechen die junge Schönheit bis ans Pfarrhaus und holte sie auch dort ab. Dann kam der Prediger Hünersdorff einmal ins Haus.

»Ich glaube, liebe Frau Hetzel, Sie können der Kleinen nunmehr vertrauen … unbedingt aber muß ihr mehr Freiheit vergönnt werden, wenn sie nicht ins Duckmäusern geraten soll,« schlug der würdige Gottesgelahrte vor. »Nicht ohne Berechtigung darf ich mich für einen Menschenkenner halten. Niemand kann so sehr gut, wie ich, das Mädchen beobachtet haben. Und ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß die fünf Jahre strenger Zucht und Abgeschlossenheit von den Verführungen der Welt den letzten Keim des bösen, von der Mutter ererbten, vom Vater überkommenen Wesens ertöteten. Brigitte Weihrauch ist überaus klug – ja gewißlich, das klügste von meinen lieben Schäflein. Mit soviel Verstand paart sich auch Überlegungsgabe und Denkkraft. Und wo Überlegen und Denken die Herrschaft üben, kann Beelzebub nicht mehr Herr werden.«

Das nächstemal hieß Mariechen Hetzel das Mädchen allein gehen. Das Zizerenchen guckte mit den an Vergißmeinnicht erinnernden blauen und ohnehin großen Augen so groß wie nie. Dann ging es stumm. Mariechen beobachtete das hinter den Fenstervorhängen.

Ein Reh, das scheu aus dem Walde tritt zum Äsen … so trat das Mädchen auf die Gasse. Zögernd ging es seines Weges, stehen bleibend, nach dem Hause umsehend, als fürchte es dies Alleinschreiten. Und noch droben am Gassenausgang hielt das Zizerenchen abermals inne und blickte lange auf die zurückgelegte Strecke, als gelte es einen ewigen Abschied; und es war ja auch ein Abschied, wenn auch nur der von der Unfreiheit.

Pünktlich kam das Mädchen heim, aber es weinte.

»Mutter, die Menschen gaffen mich so an – wenn du bei mir bist oder Vater Hannes, dann tun sie das nicht. Bitte, laß mich nicht mehr allein gehen.«

»Es hilft nicht – du sollst selbständig werden, sagt der Herr Pfarrer,« erklärte Mariechen unter Tränen. Ihr Herz zog sich zusammen über dem Unglück dieses von aller Welt verlassenen Geschöpfes.

Denn vermutlich weil die Konfirmandenstunden auch Christenlehre heißen, gab es dort Unchristen; und – wie das Zizerenchen mit bitterlichen Worten klagte – diese christlichen lieben Nächsten handelten nicht nach dem Worte der Christenlehre trotz aller Katechismuserklärungen und Bibelstunden – ja, trotz Pfarrer Hünersdorffs klarer Auslegung der Gebote Mosis: »Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst!« … oder: »Du sollst deinem Nächsten nicht unrecht tun noch ihn berauben.« – Diese Unchristen spotteten laut über des Zizerenchens Rotkopf, wiesen mit den Fingern darauf und sagten: Gezeichnet – hütet euch!

So war es denn weiter kein Wunder, wenn Brigitta über das Anstarren der Menschen weinte: sie dachte, es gälte einer Häßlichen. Mariechen Hetzel glaubte gut zu tun, wenn sie das Mädchen bei dieser Auffassung beließ … man konnte nicht wissen, wie das seine Vorzüge hatte … sie bat denn auch mancherlei Leute, der Kleinen nichts Schönes über ihr Äußeres zu sagen. –

Dann aber kehrte der Frohsinn ein in dem Häuschen am Mühlberg; seit langen Wochen lohnte das Zizerenchen alles Vertrauen. Und in der Gasse neideten die Leute jetzt den Hetzels das schöne Mädchen, von dem sie früher oft so kränkend behauptet hatten, das einfältige Mariechen und der dummgute Hannes nisteten nur eine künftige Sünderin, wie die Mutter eine gewesen wäre.

Aber das Leben ging seine Gleise, und Brigitta Weihrauch blieb, was sie geworden war: ein gehorsames, ängstlich die Lüge und das Nehmen fürchtendes junges Ding, das sich noch obendrein für ein Abbild rothaariger Häßlichkeit hielt. Und die durch Güte und Abgeschlossenbleiben anerzogene Ehrlichkeit ging oftmals zu sehr ins Kleinliche in lauter Angst vor der Unehrlichkeit.

Sogar Hannes, der sich nie wieder in die Erziehung des Mädchens eingemischt, meinte einmal: »Ich weiß nicht, Mütterchen – ich hätte viel lieber, das Kind spräche doch einmal eine Unwahrheit aus oder nähme dir hier und da heimlich ein Stück Zucker aus der Büchse. Überzeugt bin ich nicht, daß der Grund völlig fest ist, auf dem du deine Hoffnungen aufgebaut. Ein Füllen muß erst die Peitsche kennengelernt haben, bevor es willig bei der Deichsel bleibt. Das kenne ich von daheim, denn wir hatten Pferde im Stall. – Jedoch … wenn du meinst …«

Und mit diesen, für seine Gemütsverhältnisse reichlichen Worten hatte Hannes Hetzel sich für längere Zeit ausgesprochen. Er schwieg, sah aber oft recht mißtrauisch auf das Zizerenchen.

Dennoch geschah nichts, was seine Meinung von straffer Hosenriemen-Erziehung, nicht bloß gütevoller Erziehung durch das Wort, berechtigt hätte. Es sei denn, er hätte wenigstens in einer Hinsicht recht behalten: dies reibungslose, friedliche, auf den stets freundlich gehaltenen Ton der Gleichmäßigkeit gestimmte Dasein brachte das Mädchen zu einer körperlichen Entwickelung, die namentlich von Mariechen Hetzel nicht ganz ohne Sorge beobachtet wurde.

Mit siebzehn Jahren hatte das Zizerenchen Brüstchen, Hüften, Schenkel, Waden – wie eine junge Frau. Mutter Mariechen konnte die Röcke nicht weit und nicht lang genug, die immer aus dunkeln Stoffen gefertigten Blusen nicht plusterig genug machen, um all das gründlich zu verstecken, was da so üppig dem Verstecktwerden widerstrebte.

Und die auffallenden Haare! Da half nicht Kamm, nicht Bürste und nicht hundert Haarnadeln, das Wasser erst recht nicht. Die nicht zu bändigende rote Pracht ließ sich höchstens in zwei dicke Zöpfe flechten, nicht anders zwingen. Und an der seidigen Glätte dieser Zöpfe hafteten die Zopfbändel nicht, so daß das Zizerenchen immer wieder mit dem offenen Haarmantel heimkam.

Da meinte Mariechen Hetzel wunder was Gutes zu tun, wenn sie den Überreichtum abschnitt. Jetzt ward er ein rotes Gelock. Und die wieder über das Zizerenchen schwatzhafter werdenden Leute sagten hinter dem schönen Mädchen her: nun sähe sie erst recht aus wie »so eine« – eine aus der Gasse, in der die Mutter unterm Beil des Vaters so schrecklich ihr Leben geendet.

Bis dahin hatte das Mädchen nichts von dieser entsetzlichen Begebenheit gewußt. Das Pißgrittchen aber schloß sich auf dem Heimwege einmal dem Zizerenchen an. Und die nichtsnutzige alte Person erzählte der Hochaufhorchenden die Schauergeschichte, ganz ausführlich und sogar mit allen erdichteten Einzelheiten, darunter auch nicht die Beschreibung fehlte, wie dem Friedebert Weihrauch der Kopf abgehackt worden wäre für die blutige Tat.

Es war der furchtbarste Tag in den langen Jahren, während deren die Hetzels das Mädchen gehütet und gehegt. Aber verheimlichen ließ sich dem klugen Menschenkinde nichts mehr. Volle Wahrheit war das Vernünftigste – Wahrheit, die sich das Zizerenchen so leicht verschaffen konnte auf andern, weit schlimmeren Wegen, weil ihm auf diesen Wegen die Gehässigkeit der Menschen begegnen mußte. O, und die Menschen in so einer engen Gasse können schrecklich gehässig sein!

Wiederum aber knüpfte Mariechen Hetzel Erziehungsworte an das Ereignis; sie belehrte das Mädchen, eindringlicher als dem klugen Verstande Brigittas vielleicht gut tat, sich an der Mutter ein warnendes Beispiel fürs ganze Leben zu nehmen. Auf diese Art erfuhr das Zizerenchen zum erstenmal von der Zweigeschlechtlichkeit der Menschen.

Und Mariechen band an diese Erörterungen die Warnung: »Merk dir, Kind – der Vogel, der um dich wirbt, wird zunächst ein lockeres Liedchen singen … das könnte dir vielleicht gefallen … aber wenn du dich der lockeren Weise einmal in einer stillen, traurigen Stunde erinnerst – nach der Vergangenheit! –, so wirst du finden: nicht nur in die augenblickliche Gegenwart, mehr noch in die Zukunft hinüber wird dieser lockere Sang wie ein Lied der Tränen nachhallen.«

Der bitterste Erfolg der Schwatzsucht des Pißgrittchens und der Belehrungen Mariechen Hetzels war nun: das Zizerenchen war still geworden. Es sang und klang nicht mehr im Hetzelschen Häuschen wie zu den Zeiten des Frohsinns. Und Brigitta Weihrauch betrauerte den entsetzlichen Tod der ihr bis dahin gleichgültig gewesenen Mutter, wagte sich überhaupt nicht mehr aus dem Hause und fühlte nun gar in jedes Menschen Blick den Vorwurf schandbarer Herkunft.

Nach dem Vater, nach Friedebert Weihrauch, hatte das Zizerenchen überhaupt nicht gefragt … den ihr vom alten Grittchen berichteten Tod unterm Henkerbeil gönnte sie dem Mörder.

So war aus dem frohen Hänfling ein scheuer Zaunschlüpfer geworden. Nur widerwillig ging das Mädchen an Sonntagen mit in den nahen Tannenwald oder auf ein Dorf, immer bestrebt, sich zwischen den Pflegeeltern zu verstecken. Mariechen mußte links, der Hannes rechts gehen – möglichst dicht ihr zur Seite.

Es ward zur Qual, die Ärmste leiden zu sehen. –

Im Mai hatte das Zizerenchen seinen achtzehnten Geburtstag feiern dürfen.

»Du bist nun wahrhaftig kein Kind mehr … doch, das weißt du selbst,« erklärte Mariechen Hetzel den Tag darauf. »Es geht nicht länger, daß man Zizerenchen zu dir sagt. Ganz abgesehen davon, daß dies ein Spottname ist, an den man sich dummerweise gewöhnte. Wir werden dich von jetzt an so rufen, wie deine Großmutter Weihrauch dich rief – nämlich Grittchen. Vater Hannes will das auch so haben.«

Aber das Mädchen wehrte mit beiden Händen.

»Grittchen? … ums Himmels willen nicht … das klingt ja noch schrecklicher!« rief sie mit blassem Gesichtchen und zum Weinen verzogenem Munde. »Grittchen! … denk' doch daran, wie sie die schreckliche alte Person rufen, die mir vom Tode meiner Mutter erzählte.«

»Du hast recht,« gestand Mariechen erschrocken. »So wollen wir denn Brigitta zu dir sagen.«

»Ja, das klingt vornehm,« meinte Brigitta Weihrauch mit glänzenden Augen.

»Ist dir's denn um die Vornehmheit zu tun?« erkundigte sich die alte Frau ein wenig verblüfft.

»Nun, ich bin gewiß ein bißchen eitel,« antwortete das Mädchen zögernd und mit verlegenem Erröten. »Denk an die Geschichte mit dem englischen Prinzen …«

Mariechen Hetzel besaß zu schönen Herzenstakt, um auf diese Erinnerung einzugehen.

»Eitel – wenigstens in gewissem Sinne! – darfst du schon sein,« erlaubte sie und sah das schöne Menschenkind still bewundernd an. »Allerdings auch nicht so eitel, daß dich der Hochmutsteufel sticht,« setzte sie noch rasch hinzu. »Dennoch will ich dich heute trösten über deine Meinung, du wärest ein häßliches Menschenkind. Du bist nicht nur nicht häßlich, du bist sogar sehr – – niedlich.« Schön wollte sie denn doch vorsichtshalber lieber nicht sagen. Dafür verwies sie auf ein altes Weihnachtsverslein als Beigabe:

»Laßt uns bei den Sachen denken:
Wie erhalten wir sie schön,
Daß uns ihre Niedlichkeit
Lange noch nachher erfreut.«

Brigitta lachte; aber es war ein herbes Lachen, bei dem sie die prachtvollen, prall blutroten Lippen aufwarf … soweit es sich nicht um die knospige Lieblichkeit dieses Mundes handelte, war er ein Erbteil von dem Manne mit den Brillantringen.

»Der Hochmutsteufel vergeht einem, wenn man an den Tod der Mutter denkt,« sagte das Zizerenchen.

»Fragst du nie nach deinem Vater?« forschte Mariechen mit äußerster Vorsicht.

»Ich weiß von seinem Tode – das alte Grittchen hat mir ihn ausführlich genug beschrieben.«

»Tot? … du meinst – nein, ich wollte sagen: du weißt, – – – daß er tot ist. Nun, dann ist's ja gut,« meinte die alte Frau zufrieden, konnte dem Mädchen dabei aber nicht in die Augen sehen. –

 

Sonntagsausflug nach Cronberg! – Dieses Losungswort gab Vater Hannes in einer der Wochen des gleichen Sommers aus. Die Fahrt in die Welt – die erste Fahrt Brigittas – sollte so gewissermaßen noch ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk sein; dem etwas langsam denkenden Hannes war es jetzt erst eingefallen.

Und Mutter Mariechen sorgte dafür, daß das Mädchen auch zum ersten Male in engere, dauernde Berührung mit andern Leuten kommen sollte. Sie lud ihre alte Freundin Anna Denhard, deren Mann und Kinder ein, an dem Ausfluge teilzunehmen. Das Zusammentreffen fand auf dem Homburger Bahnhof statt.

August Denhard, Vorarbeiter der Lederfabrik, in der er freie Wohnung hatte, war ein für seinen Stand etwas großspuriger Mann. Er machte den tiefsten Eindruck auf das Zizerenchen durch einen mächtigen, blonden Germanenbart, durch den schwarzen Schoßrock, die blütenweiß gestärkte Weste und durch die lange Uhrkette, die sich vom Hals her in dicken Goldgliedern über das Glattweiß der Weste schlängelte. Fast noch tiefern Eindruck machte dem Mädchen die wahrhaft donnernde Baßstimme des Mannes.

Frau Anna stand der Hünengröße ihres Gatten nur wenig nach, war aber magerer, im Gehaben bescheidener und stiller – eine dunkelhaarige Frau mit sanften Braunaugen.

»So, das ist also deine Tochter, Mariechen,« sagte sie freundlich zur Freundin und strich, der rauhgearbeiteten Haut ihrer Hand zum Trotz, gar sanft über des Mädchens Pfirsichwange.

»Verdeppel noch emal! … e sauwer Weibsbild … da könne mir uns mit unserer Sannche begrawe lasse,« stellte August Denhard mit rumpelndem Baß fest. »Was des Mädche awwer alles beienanner hat!« Er deutete mit den vom Lohen gerbbraunen Pfoten Brust und Hüften an und klopfte dem jungen Ding bewundernd auf die Sitzgegend.

»August …!« mahnte Frau Denhard erschrocken, während Brigitta glühend rot wurde … rot jedoch, weil ihr das derbe Lob sogar sehr gut gefiel.

»No, herrjesses noch emal – was is denn weiter daderbei zu schenne?« widersetzte sich August. »Dir hinne druff zu kloppe, Fraa, des lohnt sich net mehr, denn du hast ja hinne unne die Polsterung eingebüßt … und vorne owe is es aach net annerster.«

»Wo habt ihr denn eure Kinder – ich dachte, die kämen mit?« suchte Mariechen Hetzel schleunig dem Gespräche eine Wendung zu geben.

»Der Anton und das Sannchen sind schon um sechs Uhr heute früh aufgebrochen, um über die Hohe Mark zu Fuße nach Cronberg zu wandern,« erzählte Frau Denhard. »Sie werden uns in Cronberg am Bahnhof abholen.«

Dann war der kurz vorher aus Frankfurt eingelaufene Zug leer auf das Abfahrtsgleis geschoben. Die Türen wurden geöffnet, und die Schaffner schrien ihr »Einsteige!«

August Denhard war zuerst im Abteil.

»Komme Se her, Freilein Hetzel, an meiner grüne Seit is noch e schön Plätzi,« forderte er das Zizerenchen auf und benutzte die Gelegenheit, dem sich an ihm vorbei drängenden Mädchen in die drallen Schenkel zu kneifen.

»August, wenn du dich nicht anständig benimmst, kehr' ich um,« drohte Frau Denhard erregt. »Man muß sich ja deiner schämen.«

»Bist de eifersüchtig, Fraa?« lachte August mit dem Donnergepolter seines abgrundtiefen Basses.

»Die Eifersucht habe ich mir längst abgewöhnt. Aber den Hetzels ihr Kind ist kein Lumpen, an dem du dir die Hände abwischen kannst, wie an deinen Lederarbeiterinnen,« schalt Frau Anna.

»Fangt doch nicht jetzt schon zu streiten an,« sagte Hannes lachend; doch dies Lachen klang sehr gezwungen, denn er hatte auf des Mädchens Zügen eine seltsame Neugier entdeckt, die sich mehr angezogen als abgestoßen fühlte von den Dreistigkeiten Denhards. Zornig darüber, befahl er dem Zizerenchen: »Komm, Brigitta, setz' dich zu mir.«

Das Mädchen folgte gehorsam, wenn auch durch den herben Ton Hannes Hetzels eingeschüchtert.

»Hättet ihr mich doch daheim gelassen, wie ich's gewohnt bin,« flüsterte Brigitta der Pflegemutter zu, während sich die Denhards zankten.

»Es geht nicht länger, Kind, du mußt unter Menschen,« beruhigte Mariechen geduldig. »Und dann darfst du nicht alles so schwer nehmen … die Denhards zanken sich immer, aber niemals ernstlich oder häßlich, sondern mehr zum Scherz.«

Dann ruckte der Zug an und kollerte zum Bahnhof hinaus. Das Zizerenchen hielt sich erschrocken mit beiden Händen an der Sitzbank fest. Darüber wollte August Denhard sich krank lachen.

»Paßt uff, Hetzels, euer Vögelche fällt aus'm Nest,« rief er. Auf Vater Hannes' tiefernstes Gesicht hin schwieg er jedoch und knüpfte mit einem neben ihm sitzenden Manne ein Gespräch an.

Die beiden Frauen Anna und Mariechen unterhielten sich leis miteinander. Mariechen Hetzel erzählte, sie wollten dem Mädchen jetzt die Welt zeigen … Brigitta ginge ins neunzehnte Jahr, und Hannes meine, es wäre vernünftiger, sie bald zu verheiraten.

»Ich glaube, dein Mann hat recht,« urteilte Frau Denhard. »Du sagtest mir ja immer, ihr hättet viel Sorgen mit dem angenommenen Kinde. Guck dir das Mädel nur an – diese Brust und das andere alles! Da werden die Kerle bald hinterher sein. Und es ist denn wohl besser, ihr sorgt, daß dieser üppige Vorrat in feste Hände kommt. – Hm, wie gefiele dir unser Anton? Mein Mann kennt ja die Herkunft eurer Brigitta, aber der ist erstens nicht kleinlich und dann auch wohl zu leicht, um etwas einzuwenden. Mir selbst gefällt das Mädchen sehr gut. Und was aus deinen Händen kommt, Mariechen, kann nichts Schlechtes sein. Na, und unser Anton ist ja auch ein aufgeweckter Mensch und hat viel Sinn für das Feinere. Und fein ist euer Mädchen … das muß ihr der Neid lassen.«

»Euer Anton? … hm, es wäre nichts gegen ihn zu sagen. Aber die Brigitta braucht feste Zügel – so behauptet mein Mann, und ich glaube das im stillen auch, wenngleich ich ihm laut nicht recht gebe.« Vorsichtig aber fügte Mariechen hinzu: »Es will mir nun immer vorkommen, als wäre euer Anton ein bißchen weich …?«

»Er hat ein zuckergutes Herz,« meinte Frau Anna. »Ob man freilich deshalb schon sagen müßte, er wäre allzu weich? Sieh mal,« erzählte sie lebhaft, »er liebt Tiere über alles, und nun sind wir ihm dahintergekommen, daß er in Frankfurt bei einem Vogelhändler bald diesen, bald jenen Vogel kauft, denen er sofort die Freiheit schenkt. Mein Mann war wütend, weil der Junge so sein Geld vertut. Aber der Anton sagte, jeden Morgen, wenn er an dem Vogelladen vorbeikam, tat ihm das Herz weh … und da konnte er nicht anders: er mußte den Tierchen helfen, von denen er glaubte, sie sehnten sich nach freien Fittichen. – Das ist doch wohl ein schöner, aber noch längst kein weichlicher Charakterzug. Und so meine ich, euer Mädelchen käme bei ihm in die besten Hände – tat sie als Kind nicht gut, so wird sie auch jetzt noch manchen Fehler haben. Und wenn du behauptest, nur mit Güte hättest du sie dahingebracht, sich zu bessern – meinst du nicht auch, daß ein geduldiger, nachsichtiger, guter Mann der einzig richtige für sie wäre?«

Frau Mariechens Augen hingen nachdenklich an Brigitta und sie nickte zustimmend.

»Wir wollen darüber weitersprechen, wenn wir später unterwegs und allein sind,« flüsterte sie der Freundin zu.

Hannes hatte derweil dem alles gespannt beobachtenden Zizerenchen die Gegenden erklärt. –

In Rödelheim mußte umgestiegen werden. Der von Frankfurt nach Homburg bestimmte Zug war gesteckt voll von Sonntagsausflüglern. Doch August Denhard erkämpfte sich einen Platz, und Hannes Hetzel schloß sich ihm an. Nur die beiden Frauen rannten noch hin und her und hatten die Männer verloren; das Zizerenchen lief wie ein scheues Hühnchen immer hinter Mariechen Hetzel drein. Da machte endlich der Schaffner dem Hinundhergelaufe ein Ende, indem er die drei kurzerhand in einen Wagen erster Klasse hineinjagte.

Ein dicker Herr, solange allein und ungestört auf seinem Samtsitze, schnitt ein wütendes Gesicht, als die beiden alten Frauen mehr ins Abteil fielen denn einstiegen. Kaum aber gewahrte er das zuletzt kommende Mädchen, als ihm der Unmut schwand. Nun legte er die Zeitung fort, klemmte ein Einglas ins Auge und strich mit einer von Brillantringen strotzenden Hand bald über die dünnen rötlichblonden Haare, bald an einem geckig nach den Augen hinauf gewöhnten Schnurrbärtchen über den Schlemmerlippen, die voll und satt und widerlich feucht glänzten. Er tat überhaupt alles, um das Mädchen auf die protzig besteinten Ringe aufmerksam zu machen.

Sobald der Zug sich in Bewegung setzte, ließ sich der Herr zu einer Unterhaltung herab; er wendete sich frech an Brigitta.

»Na, mein Fräulein? Sie haben's gut getroffen … Erster Klasse!« hob er wichtig mit volltönender Stimme an und ordnete die Ringe, damit ihre Pracht recht zur Geltung käme.

»Entschuldigen Sie nur, daß wir stören,« antwortete bescheiden Mariechen statt des Mädchens, das in abweisender Haltung die Anrede des Herrn überhörte.

»So hübsche Nachbarschaft stört nie,« widersprach der Dicke und machte Komplimente gegen Brigitta, obwohl ihn sein Bauch dabei behinderte. »Die Damen wollen gewiß auch zum Turnfest auf den Feldberg – Brüder dabei oder die Herren Gemahleriche?« scherzte er abgedroschen; er bleckte in gespannter Neugier die weißen Zähne, aber man merkte, daß er dieses Zähnezeigen absichtlich übte, um mit deren Schönheit ebenso zu prunken, wie mit der Pracht seiner Ringe. Dabei zog er das Zizerenchen mit den Blicken aus.

»Gott sei Dank, allein sind wir nicht,« sagte Frau Denhard deutlich, nicht auf den Mund gefallen, denn der feiste Genüßling widerte sie an.

»So so, also in Begleitung,« äußerte der Dicke mit einem merklich enttäuschten Schielblick auf Brigitta. »Na, und wohin geht denn die Tour?«

»Da müssen Sie unsere Männer fragen,« riet Frau Anna kurz angebunden.

Mariechen Hetzel meinte das Verletzende dieser Antwort beschwichtigen zu müssen.

»Wir wollen bis zum Fuchstanz und über die Weiße Mauer und Oberstedten zu Fuße nach Homburg zurück; gegen Abend wird's ja nicht mehr so heiß zum Laufen sein,« erläuterte sie.

»So so – eh – in Homburg sind die Damen daheim,« sagte der Dicke kopfnickend. »Vor langen Jahren war ich mal da … ich bin jetzt erst nach Frankfurt versetzt worden, aber ich werde mir bald einmal das gute alte Homburg ansehen. War damals sehr nett da drüben,« erzählte er. »Besteht denn die Goldene Rose noch? Und die kleine Kneipe in der Altstadt – war 'ne tadellose, stramme Wirtin drin zu jener Zeit. Ja, war sehr nett, sehr nett. Ich wohnte auf der Luisenstraße, dem Kurhaus gegenüber. Kurhaus – eh –, da wurde ja auch Theater gespielt. Hm, war riesig nett.«

Er versank in angenehme Erinnerungen, schmatzte mit den Lippen und drehte nachdenklich die Brillantringe um und um. Dann saß er da und glotzte mit hängender Unterlippe bald auf Brigittas junge Brust, dann wieder auf ihre unter dem dünnen Sommerkleidchen sich prallenden Schenkel.

Obwohl das Zizerenchen seit Mariechens Belehrungen über die Niedlichkeit sich an das Anstarren gewöhnt hatte, ja, ganz gern eine Huldigung darin sah, fühlte sie doch die Gemeinheit des Angestarres dieses Herrn mit den Brillantringen. Sie erhob sich und trat ans Fenster.

»Da sehen Sie, Mariechen, wie das Mädchen wirkt,« flüsterte Frau Denhard mit einem heimlichen Wink nach dem Fetten der Freundin zu.

Der Geck musterte nunmehr mit viel Behagen die volle Rückseite des Zizerenchens, ließ auch geschickt die Zeitung fallen, um sich bücken und nach den Waden sehen zu können. –

Auf dem Cronberger Bahnhof war nach Ankunft des Zuges ein Menschengewirre. Dennoch fanden die Denhardschen Kinder die Erwarteten schnell heraus. Der Dicke war galant genug, den beiden Frauen beim Aussteigen behilflich zu sein – – freilich nur, um auch das Zizerenchen antatschen zu können.

Anton Denhard, ein schlanker Mensch mit einem lieben, stillen Gesichte, den sanften Braunaugen seiner Mutter und im Nacken gekräuselten dunkeln Haaren, grüßte den Fettwanst überaus höflich.

»Alles mitenanner hier an die Säul!« donnerte Vater Denhards Baß über die erschreckenden Menschen hin, die er um Haupteslänge überragte.

An der Säule fand sich auch das Sannchen ein – ein starkknochiges, häßliches Mädchen mit ungesund blauroten Backen und dicker Nase, mit langen schlenkernden Armen, an deren plumpen Handgelenken die groben Hände schwer hingen.

August Denhard vermittelte die neuen Bekanntschaften.

»Ich ä–innä mich noch sehr gut on Ihne,« sagte Sannchen in gewöhnlicher Taunusmundart zu Brigitta. »Mir sinn jo in ää Klass' 'gange. Damols hawwe die Kinner Ihne des Zizerenche gehaaße wege dene knallrote Haar'n. No, annerschter sinn Ihne die Borschte äwe halt net o'gewachse.«

»Ich freue mich sehr, Sie kennen zu lernen, Fräulein Brigitta,« unterbrach der Bruder eilig diese Flegelei, sich wohlerzogen vor dem Zizerenchen verbeugend. Er sah gut gekleidet aus, hatte wohl mehr Geschmack und besseres Benehmen als seine Schwester und sprach auch längst nicht so breit und breiig.

Ihm gab das junge Mädchen mit einem dankbaren Lächeln die Hand, einige liebe, nette Worte der Begrüßung sagend.

»Auf zu Gott ins Hinkelhaus, dann komme mer aach bei'n Gickel!« forderte der Baß August Denhards zum Abmarsch auf.

»Ihr seid mit dem Pistorius zusammen gefahren?« erkundigte sich Anton, der bei der Mutter, Mariechen Hetzel und Brigitta geblieben war, während Sannchen mit den beiden Männern voraufging.

»Pistorius? Heißt der Fettwanst so?« fragte Frau Anna. »Ein widerlicher Mensch.«

Anton lachte: »Er gefällt dir nicht, Mutter? Nun, das geht uns allen auf der Providentia nicht anders. Aber er hat nun einmal die Macht. Er wurde von der Berliner Hauptstelle der Gesellschaft für Lebensversicherung uns diesen Sommer als neuer Direktor auf die Nase gesetzt. Ein weichlicher, schwampiger Mensch … aber er kann höchst brutal werden. Dabei halte ich Ihn für feige – nun, das sind brutale Menschen im Grunde ihres Innersten ja immer.« Er schnitt eine Abscheu verratende Miene: »Wenn man überhaupt in den geheimsten Winkel dieses Mannes blicken könnte … ich glaube, da wäre gar viel Schmutziges zu gewahren.«

Frau Anna warf einen besorgten Blick nach Brigitta: »Du solltest doch nicht so von deinem Vorgesetzten sprechen, Anton, in einer Weise, die von andern Menschen vielleicht falsch verstanden werden könnte, insofern sie am Ende gar ein schiefes Licht auf dein gutes Herz würfe.« Sie befürchtete, das Zizerenchen könnte einen schlechten Eindruck von dem Sohne gewinnen. Aber das Mädchen ging mit weiten Augen den fernen, blauen Bergen des Taunus zu, wie einem Wunder entgegen, und hatte des Gespräches nicht acht.

Der Pfad über die Wiesen bei Schloß Friedrichshof verengte sich … man mußte zu zwei und zwei gehen. Anton, der sich neben Brigitta hielt, erzählte ihr von seiner Stellung in Frankfurt.

»Die Fahrerei, morgens nach Frankfurt, abends nach Homburg, ist ja nun nicht gerade bequem, und ich wollte mir eigentlich schon immer in Frankfurt ein Zimmerchen mieten,« schilderte er. »Aber nun ich Sie kennen lernte, Fräulein Brigitta, werde ich mir das doch lieber überlegen.« Er erschrak vor seinem eigenen Mute, errötete und sah verlegen leis lachend das Mädchen von der Seite an. »Ich meine: man hat doch hoffentlich das Glück, Sie jetzt öfter einmal zu sehen?«

»Wäre Ihnen denn daran gelegen?« forschte Brigitta freundlich.

»Wenn Sie mir nicht böse werden, will ich gestehen: sehr viel sogar.«

»Warum sollte ich Ihnen deshalb böse sein,« bemerkte Brigitta in aller Unschuld. »Es gefällt mir, daß Sie höflich sind … denn Ihre Schwester fiel vorhin mit der Tür ins Haus.«

»Nehmen Sie ihr das nicht übel,« bat Anton. »Sannchen hat ein schweres Herzleiden und ist auch sonst kränklich, trotzdem sie so nach Saft und Kraft aussieht. Daher ist sie stets einem gereizten Zustande unterworfen. Noch dazu, weil mein Vater ihr immer sagt: sie wäre ein aus der Denhardschen Art geschlagener Besenstiel. Mein Vater liebt es nämlich, sehr offen zu reden, kennt aber dafür den Unterschied zwischen Scherz und Ernst nicht. Wenn er scherzt, kann man's gut für ernst nehmen … will er ernst sein, muß man oft über ihn lachen. Sannchen aber ist nun einmal sehr empfindlich.«

»O, dann tut sie mir leid,« äußerte Brigitta und musterte die neben Mariechen Hetzel Gehende.

Sannchen Denhard marschierte plumpsig dahin, steif, wie mit einer Latte den Rücken entlang, schwenkte die Arme wie ein Soldat und trat mit den breiten Absätzen zuerst auf.

»Meine Schwester erwähnte übrigens vorhin Ihren Kindernamen Zizerenchen,« hob Anton hervor. Verlegen fügte er hinzu: »Es scheint, daß sie Sie dadurch verletzte?«

»Durch den Namen? … nicht im entferntesten,« erwiderte Brigitta lachend. »Einmal in meinen Kinderjahren machte mich der Name weinen. Dann aber ward er mir vertraut. Und bis vor kurzer Zeit haben auch Vater und Mutter Hetzel mich noch Zizerenchen genannt, ja, sie rufen mich heute oft noch so.«

»Auch mir gefällt dieser Name für Sie,« gestand Anton warm. »Er paßt so nett zu Ihnen … Zizerenchen – etwas Niedliches, Hübsches, Feines, das kann man sich unter einem Zizerenchen schon vorstellen.«

»Etwas Hübsches? … Sie finden mich also hübsch?«

Zum ersten Male sah Brigitta ihren Begleiter mit leuchtenden Augen an; einen Augenblick lang legte sie ihre Hand auf seinen Arm, dankbar, daß er dies Lob so ehrlich spendete. Stolz aufgerichtet blieb sie stehen, denn Anton, durchzuckt von der Berührung, blieb wie an die Stelle gebannt.

»Ich finde Sie sogar – sehr – schön,« verriet er mit beengtem Atem.

»Sie sind ein lieber Mensch,« sagte sie und drückte kurz seinen Arm.

Dann schritten sie weiter.

»Geben Sie mir die Hoffnung, daß wir gute Freunde werden, Fräulein Brigitta,« bat Anton.

»Sind wir es nicht schon …?«

Da griff er stumm nach ihrer Hand, im Weiterschreiten die feinen Fingerchen festhaltend. »Zizerenchen,« flüsterte er nach einer Weile vor sich hin; und noch einmal innig: »Zizerenchen …«

»Wie gut Sie es sagen,« schmeichelte Brigitta, denn ihre Eitelkeit empfand das Wort nun als eine Huldigung.

»Es ist doch auch ein lieber Name … der Name eines schönen Mädchens in einem Märchen,« behauptete Anton Denhard weich. »Und wenn ich an Sie denke, werde ich gewiß nicht ›Fräulein Brigitta‹, sondern ›Zizerenchen‹ denken. – Ich kenne übrigens den kleinen Hänfling sehr gut, der Ihnen seinen Namen leihen mußte … außerdem aber weiß ich diesen Ihren Kindernamen nicht erst seit heute –«

Just machte Vater August halt, um sich in der prallenden Sonne seines Schoßrockes zu entleichtern.

»No, Anton, du zawwelst wohl schon an der Angel?« lachte er baßrumpelnd, als das Pärchen an ihm vorüberkam. »Nimm dich in acht, mein Sohn: Rote Haar und blaue Auge – Lippe, die zum Küsse tauge – manchmal sind's auch Sündekinner, und der Deiwel steckt dahinner.«

»Vater …!« empörte sich Anton.

»No, nix for ungut,« brummte August Denhard wie ein alter Bär. »Mir kann's recht sei, wenn du des Mädche kriehst. Die hat ihr fleischerne Siwwesache gehörig beisamme, unn in e kalt Bett kimmst de net, wann die als jung Fraa zuerscht enei steigt.«

Er lachte, daß es nur so über die Wiese kollerte; dann setzte er sich in Marsch, um wieder an die Spitze der Gesellschaft zu gelangen.

Anton schritt stumm und zornrot neben Brigitta her.

»Verstanden Sie eigentlich, was mein Vater sagte?« forschte er nach einem verärgerten Schweigen.

»Nicht alles,« meinte das Zizerenchen. »Aber Sie haben recht: er nimmt kein Blatt vor den Mund. Soviel verstand ich schon.«

»Es ist mir äußerst peinlich, daß nun auch er von – Ihren – Haaren sprach,« versicherte der junge Mann, überlegend, wie er die Worte wähle, um das Mädchen nicht auch noch durch die Bemerkung zu kränken.

Brigitta lachte belustigt. »Ich weiß, daß den Leuten meine Kupferhaare auffallen; daraus mache ich mir schon seit zwei Jahren nichts mehr. Im Gegenteil: ich bin stolz darauf.«

»Ich finde auch, daß der Lockenkopf Sie wunderhübsch kleidet – – und mir – mir gefällt er sogar sehr,« lobte Anton ein bißchen schüchtern.

Die Wiese und einige Felder waren überquert. Ein steil ansteigender Tann nahm die Wandernden auf. Die beiden Frauen rasteten auf einem gefällten Stamm, und Brigitta gesellte sich zu ihnen.

»Na, Kind, gefällt es dir?« erkundigte sich Mariechen Hetzel.

»Sehr gut, Mutterchen,« gab das Zizerenchen zu.

»Und dein Begleiter? … ihr seid ja recht im Gange mit der Unterhaltung.«

»Herr Anton ist ein freundlicher Mensch,« meinte Brigitta zufrieden und sah dem Voranschreitenden wohlgefällig nach.

Mariechen stubbste heimlich mit dem Ellbogen die Freundin an.

»Nun, dann halte dich nur zu ihm,« forderte sie das Mädchen auf, das gehorsam weiterging, von Anton Denhard erwartet.

Die beiden Frauen schüttelten einander stumm die Hände.

»Wir zwei also sind einig,« sagte danach Frau Denhard und strich aufatmend über ihren dunkeln Scheitel. »Die andern sollen's schon noch werden.«

»Und ein ganz hübsches Stückchen Geld bekommt das Mädchen auch mit,« verhieß Mutter Mariechen nicht ohne Stolz.

»Ich sehe mehr auf das Herzensglück meines Jungen,« beteuerte Frau Anna. »Aber um meines Mannes willen soll mir auch das Geld nicht unwillkommen sein.«

Da sahen sie just, wie das Zizerenchen seinen Arm in den Antons legte.

»Wie füreinander geschaffen,« sagte Frau Denhard zufrieden.

 

Butterkuchen, zu einem bezuckerten weißen Stapel aufgetürmt, und eine mordsgroße Kaffeekanne thronten auf dem Tisch, um den die beiden Familien saßen. Und es war schon zum dritten Male, daß die Wirtin der Holzbude auf dem Fuchstanz solchen Vorrat herzugetragen. August Denhard hatte gesagt: und wenn die alten Fuchstanztannen umfielen, heute müsse es etwas kosten!

Da langte keuchend und schwitzend auch der dicke Herr Pistorius an. Als er Brigitta am Tisch bemerkte, kam er sehr herablassend auf Anton zu.

»Grüß Gott, lieber Herr – eh – Herr –«

»Denhard ist mein Name, Herr Direktor.«

»Weiß wohl, weiß wohl,« winkte der Direktor gnädig ab, als wäre ihm der Name des Schreibers der Providentia sehr geläufig. »Es freut mich, wenn ich meine Angestellten so sinnig im trauten Familienkreise und nicht auf eigenen, oft recht zweifelhaften Wegen sehe,« drasch er seine geschwollene Phrase.

»Mei Anton uff zweifelhafte Wege?« dröhnte der Baß des Vaters. »No, gute Nacht … dem wollt ich awwer gehörig de Hinnern versohle.«

Direktor Pistorius schnitt eine ungnädige Grimasse und rümpfte die Nase. Man sah ihm ordentlich an, wie er innerlich das Wörtchen »ordinär« tönte. Dennoch sagte er mit einem Seitenblick auf Brigitta und fromm verdrehten Augen: »Vaterzucht ist allezeit not, wo Segen walten soll.« Hiernach wendete er sich an Anton: »Wollen Sie mich mit Ihren lieben Angehörigen bekannt machen, Herr – eh – Herr –«

Anton sprang auf: »Unser Herr Direktor von der Gesellschaft für Lebensversicherung Providentia – Herr Pistorius.« Die Namen der um den Tisch Sitzenden vergaß er zu nennen vor Staunen über die Ehre, die der Machthaber dem einfachen Kreise erwies. Soviel Biederkeit im Verkehr mit einem untergeordneten Angestellten! … das hatte dem Pistorius niemand zugetraut … die ganze Providentia würde morgen kopfstehen vor Verwunderung …

»Ich bin der Vatter – hier mei Fraa,« holte August Denhard aufstehend das Versäumnis des Sohnes nach. Er strich sich den wallenden Germanenbart und sah von seiner Riesenhöhe herab nicht gerade sonderlich ehrfürchtig auf den kleinen dicken Direktor. »Und die lang Latt da, des is unser Tochter Sannche.«

Pistorius übersah das häßliche Mädchen geflissentlich. Das Sannchen warf dem Vater einen wütenden Blick zu und ließ die Unterlippe hängen.

»Unser Name ist Hetzel,« bemerkte das bescheidene Mariechen, nachdem der Hannes steif auf seinem Stuhle sitzen blieb.

»Ah, und das ist gewiß das liebreizende Töchterlein,« sagte der Direktor mit lächelnder Verbindlichkeit. »Wirklich sehr erfreut, meine Herrschaften.« Er hielt Brigitta die Hand hin, und es sah so aus, als werde er nun reihum Händedrücke austauschen; aber begnügte sich mit den Fingern des schönen Mädchens, die er tätschelte, wobei er flink mit der Zunge über die Lippen fuhr.

»Nummer zwei an der Angel,« stellte August Denhard fest und lachte, daß das Echo vom Altkönig widerhallte.

»Wie meinen?« machte Pistorius unter vergeblichen Anstrengungen, das Einglas auf der schweißglatten Gesichtshaut festzuhalten.

August Denhard sah diesen Bemühungen mit ernsten Augen zu; als endlich das Monokel einen Augenblick standhielt, sagte er: »Bravo, Herr Derekter – jetzt sehn Se jedenfalls noch schlechter. Awwer en gute Rat will ich Ihne gewwe: wenn Se sich im Winter noch so e Glas an die entgegengesetzt Körperseite klemme, dann könne Se als Fernrohr uff de Maskeball gehn.«

Hannes wollte sich kugeln vor Gelächter, Frau Denhard aber fiel beinahe in Ohnmacht, und Anton bekam einen knallroten Kopf, der Direktor jedoch schien den bösen Witz nicht richtig verstanden zu haben.

»Eh – ich hatte gefragt, wie Sie das mit der Angel vorhin meinten,« sagte er und glotzte den lachenden Hannes an, als könne er nicht begreifen, wie ein Mensch sich so gehen lassen möge.

»Ach so – von wege dere Angel? No, damit wollt ich halt gesagt hawwe: Nemme Se sich in obacht – bei dem Mädche da steige Se mei'm Anton in de Salat,« führte Vater Denhard unbeirrt aus.

Diesmal rückte Pistorius das Einglas ohne Erfolg zurecht und sah mit dem dabei komisch verzogenen Gesichte den Schreiber Anton verblüfft an.

»Ach nee! … na, man darf bei solchem Geschmack schon gratulieren,« bestätigte er doppelsinnig.

»Mein Vater scherzt gern, Herr Direktor,« warf Anton verlegen ein und äugte ängstlich nach Brigitta; doch das Zizerenchen sah vollkommen unberührt drein und wischte immer noch an den Fingern, als hätte der Pistorius Schweißhände gehabt.

»Wenn mer Ihne gut genug sinn … da nur net lang geniert und als uffs Hinnerquartier gesetzt … breit genug sinn ja die fünf Buchstabe bei Ihne ausgefalle,« lud August Denhard den vornehmen Herrn ein.

Pistorius wußte es so geschickt einzurichten, daß er neben Brigitta zu sitzen kam. Er führte dann die Unterhaltung; nur der Baß Vater Denhards antwortete ihm manchmal, nicht gerade zartfühlend in den Äußerungen. Der Direktor sprach davon, daß ihm das neue Amt rechte Sorgen mache.

»Sie wissen ja selbst, lieber Denhard – es geht manchmal toll zu bei unserm Betrieb. Könnte – eh – könnte einem leicht über'n Kopf wachsen, wenn man nicht Eisennerven hätte,« sagte er zu Anton hinüber. »Ja, meine Herrschaften, da ist denn der Verkehr in einem einfachen, gemütlichen und nicht auf – eh – großartige Gesellschaftsformen gestimmten Familienkreise mal ein wahres Labsal. – Nicht wahr, lieber Meister Denhard?« wendete er sich an August.

»Des glaab ich … bei uns gauzt der Hund net mit ere scheppe Schnauz,« gab der Lederarbeiter aufrichtig zu.

»Ja ja, sehr behaglich – wirklich – eh – Labsal,« versicherte Pistorius mit biederer Miene … und wagte nun doch einmal, dem Zizerenchen auf den Schenkel zu patschen. Dann drehte er die Brillanten seiner Ringe nach oben und strich sich genießerisch das Schnurrbärtchen.

Mit Ausnahme Vater Denhards machten alle verdrießliche Gesichter; ihnen war die Gemütlichkeit gestört.

»Sage Se emal, Herr Derekter, trage Se vielleicht an den Fußzehe auch noch e paar Ring?« fragte August ganz ernsthaft; er hatte das Glitzern und Gleißen an des Dicken Händen mit heimlicher Verachtung betrachtet.

»Wie – eh – meinen …?«

»No also – siebzig … ich hab nämlich achtzehnhunnertsiebzig mitgemacht!« Er wies stolz auf das schwarzweiße Band im Knopfloch des Schoßrockes. »Also siebzig – da hawwe mer emal in eme Dörfche so e Klümpche Zuaveoffiziere uffgehowe. Die Kerle hatte wääß Gott e Mädche bei sich. Unn des war der ää … gottverdeppel, war des e Mordweibsbild! Brüst wie Küheuter – en Hinnern zum Eneibeiße – Bää so prall wie Mehlsäck – no und sonst noch allerhand sehr appetitliche Sache. Ja, und die, die hat aach soviel Ring uff de Händ gehabt. Ja no, wir war'n junge Borsche – fünf Mann hoch – unn mer hatte damals halt schon e ziemlich Zeit im Feld gestanne. Da hawwe mer se zu fünft gehörig Mores gelehrt. Bei dem Kampf um die Zitadell hat des Mädche natürlich die Pantoffel verlor'n. Und wie mer uns die Sache näher beguckt hawwe, da hatt' se Ring sogar uff de Fußzehe stecke. Uff dere kaffebraune Haut hat sich des sogar sehr schön gemacht … sie war nämlich da aus Indie oder so da hinne erum. – Ja, des war noch was! Fraa, da bist du e Hauwestock dergege. – So war die!« Er deutete es mit den vor der Brust rundgespreizten, scheinbar etwas Schweres wiegenden Händen an.

Das Schweigen im Kreise war recht betreten und schwül. Anton brannte vor Schämen; seine entsetzten Augen suchten das Gesichtchen Brigittas.

Pistorius lachte Tränen und mußte das Einglas in die Westentasche stecken. »Sie sind einfach köstlich, lieber Meister!« wieherte er. Der freie Ton des Vorarbeiters war Wasser auf seine Mühle … schon sah er das Räderwerk seiner Pläne laufen.

Nach diesem eindeutigen, nicht gerade rühmlichen Kriegserlebnis erklärte Hannes Hetzel, man müsse jetzt aufbrechen und sich auf den Heimweg machen.

»Wenn ich den Herrschaften nicht lästig werde, möchte ich mich gerne anschließen,« schlug Pistorius vor. Er warf einen zweifelnden Blick auf Anton. »Herr Denhard wird ja morgen nicht gleich im Büro davon sprechen – –?«

»Ach sooo,« dehnte Vater August. »Heut sinn mer Ihne gut genug, awwer morje …«

»Nicht doch!« tat der Direktor entrüstet. »Es steht in meinem Ermessen, Ihren Sohn bei unsrer Gesellschaft emporzubringen … man muß doch solch jungem Brautstande auf die Beine helfen.« Diesmal betatschte er Brigittas Rückengegend. »Und da möchte ich nicht, es könne jemand sagen – – Sie sind doch wohl nur gegen Diäten angestellt?« unterbrach er sich zu Anton gewendet.

»Ganz recht, Herr Direktor,« sagte Anton mit einigem Erstaunen.

»Nun eben drum möchte ich nicht, daß jemand behauptet, nur mein persönliches – eh – Sympathisieren hätte Ihnen zur festen Anstellung verholfen.«

»Herr Direktor, ich fühle mich außerordentlich zu Dank verpflichtet,« versicherte Anton. »Aber das mit dem Brautstande ist wirklich nur einer der derben Scherze meines Vaters. Fräulein Brigitta und ich sahen einander heut zum ersten Male.«

»Na, um so besser!« krähte Pistorius und schmatzte. »Eh – ich wollte sagen: das macht ja nichts – eh – vielmehr: hat mit meinen guten Absichten nichts zu tun.«

»Anton, halt des Mädche fest, du mächst dei Glück!« bullerte Vater Denhards Brummbaß. »Durch Weiber is schon manch einer owe druff komme … und wenn's auch nur unner der Bettdeck war.«

»Köstlich, köstlich!« Pistorius quiekte lachend wie ein Ferkel; er fühlte sich bei dem Gezote des Lederarbeiters mächtig wohl.

Dann wurde aufgebrochen. Die Gesellschaft schlug den Weg nach der Goldgrube ein.

Einmal zog der Direktor die goldene Kapseluhr und meinte: man käme ja viel zu früh nach Homburg … ob man denn nicht unterwegs noch irgendwo einkehren könne?

»Versteht sich am End, sagte der Bock und guckte der Geiß unnern Schwanz,« stimmte August Denhard bei. »Eingekehrt wird noch emal in Oberstedte. Awwer Sie müsse die Zech bezahle, Herr Derekter.«

»Bin tausendfältig bereit,« beteuerte Pistorius mit einem Geblinzel, das dem Zizerenchen galt.

»Tausendfältig? Wenn Sie nur einfältig bleiwe, des genügt uns,« versetzte August in derbem Doppelsinn.

Anton Denhard sah verbissen drein – nicht nur vor Zorn über die Geradheiten seines Vaters – vielmehr noch, weil der Herr Direktor ohne Umstände das Zizerenchen für sich in Anspruch nahm.

 

Wandern durch alte Buchenwälder, an raunenden Bächen entlang, über blumenbestickte Waldwiesen, Wege durch finsteren Riesentann, über moosigen Boden, über moorigen Grund … das war etwas, was Brigitta noch nie erlebt. Mit den staunenden Augen eines Kindes schritt das Zizerenchen dahin, immer aufs neu stutzend, immer aufs neu atemlos, sobald der Taunus stets ein anderes seiner tausend Wunder offenbarte.

Brigitta vergaß, wie widerlich ihr der fette, schweißtriefende, wampige Pistorius vor wenig Stunden noch gewesen war. Das Mädchen ahnte nicht, daß hierbei Reinheit der Gesinnung wider die Unreinheit der Sinne dieses Mannes sich gewehrt hatte.

Aber nun sprach der Direktor auch mit schöner, volltönender Stimme, zeigte ein hübsches Lachen, bei dem er prächtige Zähne entblößte, und gab sich in einem liebenswürdig verhaltenen Benehmen, das dem Zizerenchen gefiel. Er war ja überhaupt der erste Mann, der sich ihr gegenüber »benahm«. Denn Anton Denhard hatte auf dem Wege von Cronberg bis zum Fuchstanz zwar freundlich mit ihr verkehrt, immerhin aber doch nur seinesgleichen in dem Mädchen behandelt.

Pistorius, dank vollendeter Erziehung, wußte allerlei Schönes über den Wald und seine Wunder zu sagen. Er konnte Brigitta dies und das erklären, machte sie auf heimliche Schönheiten der Natur aufmerksam und fand manches Dichterwort darüber.

Zweifellos zeigte sich durch diesen Mann dem Zizerenchen eine neue Welt, in der die Menschen doch anders waren … feiner, besser als in jener Welt der einfachen Leute, der Denhards und Hetzels. Was in den Jahren der Zucht und des Abgeschlossenseins zum Schweigen gebracht worden war: der Sinn nach Erhöhung, die ein wenig überhebliche Eitelkeit, das Mehrseinwollen … durch des Pistorius gewandtes Geplauder, durch seine Schilderungen vornehmer Welt, durch sein Geschmeichel, durch sein formvollendetes Ehrerbietigsein vor der Schönheit hob sich das eigentliche Wesen des Mädchens aus dem Schlafe; ebenso wie hierbei alle Gebote des sorglichen Mariechen Hetzel nach und nach in Vergessenheit gerieten oder als ein plötzlich lästig empfundener Zwang abgestreift wurden. Und wenn der Direktor auch nur an Beispielen aus der Natur erläuterte, er verstand es dennoch gut, kitzlige und sinnliche Dinge zur Geltung zu bringen, das unschuldige, aber heißblütige Mädchen darauf hinzuleiten, daß diese Welt nicht bloß aus Essen, Trinken, Schlafen, Gehorsamen bestand, sondern aus noch weit herrlicheren und des Genießens werten Genüssen. Das verfehlte nicht der Wirkung auf das lebhafte Blut des Zizerenchens. Brigitta Weihrauch, Dorchen Weihrauchs Tochter, erkannte im Nu, was ihr in diesem Blute pulste.

Pistorius war ein zu durchtriebener Weibsgeselle, als daß er diese Regung nicht erkannt, nicht seinem Sinne nach gewürdigt und dementsprechend genährt hätte. Was Mariechen Hetzel in dreizehn langen Jahren mit gütigem Herzen, liebevollem Gemüt und segenvollen Händen aufgebaut, Steinchen für Steinchen herzutragend, das unterhöhlte der berechnend lüsterne Mädchenjäger bei nur dreistündiger Wanderung, so daß alles anerzogene Gute – vielleicht nur, weil es eben anerzwungen war – mehr und mehr zum Einsturz neigte. Pistorius überbot sich in schmeichelnder Liebenswürdigkeit und behandelte das Mädchen wie eine Fürstin – – sein erprobtester Trick; er sprach aus seiner Belesenheit und Weltkenntnis heraus wohlwollend belehrend; er rühmte, des Zizerenchens Eitelkeit zu gefallen, vorsichtig doch eindringlich ihre Reize, geschickt und ein bißchen aufregend auch verborgene Schönheiten so nebenbei erwähnend, um sofort wieder davon zu schweigen. Damit aber gab er schlau dem Mädchen Rätsel zu raten auf, die alle Gedanken glühend beschäftigen mußten, weil Brigitta fühlte, sie dürfe den Mann nicht weiter fragen. So spann er das Zizerenchen allmählich ein und hatte – als die ersten Häuser von Oberstedten hinter dem Walde auftauchten – die Kleine zu der Überzeugung gebracht, daß sie im Kreise dieser beiden Handwerkerfamilien nicht so recht am Platze wäre.

Bis hierher gelang es dem Pistorius äußerst diplomatisch, mit dem Mädchen ein gutes Ende hinter den Voranwandernden zurückzubleiben.

Anton Denhard blutete das Herz. Aber er kam dennoch nicht zu dem höchst einfachen Mute, sich gegen dies Besitzergreifen des Direktors aufzulehnen, wenn auch nur dadurch, daß er dem Mädchen zur Seite blieb. Und in seinem Neide grollte er nicht etwa dem eigentlichen Schuldigen, dem Pistorius … nein, ein bitteres Gefühl gegen Brigitta ängstete sein Herz: was hatte sie mit diesem fremden Manne so vertraut zu sein? … Warum befreite sie sich nicht von seiner Gesellschaft und warum fühlte sie nicht die Pflicht, den Freund vorzuziehen, wie es auf dem Wege von Cronberg bis zum Fuchstanz der Fall gewesen? Und dies Grollen ging so weit, daß Anton sich vornahm, das Mädchen heute nur noch kurz und fremd zu behandeln. Er hatte den wütenden Wunsch, Brigitta möchte ihn jetzt anrufen – – dann wollte er sie strafen, indem er zu erkennen gab, daß er den Anruf zwar vernommen, ihn aber mißachtete.

Brigitta jedoch war viel zu sehr in die Zwiesprache mit dem neuen Bekannten vertieft, um auf Anton zu achten. Des Direktors Schmeicheleien hatten sie völlig umgarnt. So erwähnte sie denn, daß sie bekennen müsse, durch die Unterhaltung wäre ihr eine neue Welt erschlossen … nie vorher sei ihr klar geworden, daß sie eigentlich ein bisher unverstandenes Sehnen hegte nach Lebensschönheit, nach Erfüllung stolzer Träume, nach dem Klange der Stimmen aus einer vornehmeren Umgebung. Und sie war just soweit, dem Pistorius von der Mutter zu erzählen und zu berichten, daß die Hetzels nur Pflegeeltern wären, als die Fügung in Gestalt August Denhards am Wege stehen blieb und diese Geständnisse verhinderte.

»Mache Se de Geldbeutel uff, Herr Derekter,« scholl der Baß des Vorarbeiters bullernd. »Mir hawwe all mitenanner en Mordshunger, unn Sie wer'n des Vergnüge in unserer Gesellschaft zu weile teuer bezahle müsse.«

»Mein lieber Herr – eh – Denhard, dies Vergnügen ist mir während der Waldwanderung Tausende wert geworden,« versicherte Pistorius mit einem unbeherrschten Schmunzeln nach Brigittas Reizen.

Der Alte aber hatte diesen Seitenblick doch aufgefangen.

»Hannes!« rief er dröhnend zu Hetzel hinüber. »Halt die Hand druff! … es will der ääner de Deckel von dei'm schöne Dippche lüfte.« Und zweifelsohne meinte er mit diesem Töpfchen das Zizerenchen, denn er hakte sich bei dem Mädchen ein: »Komme Se emal e bissi weiter mit nach vorne, Fräulein … des Marieche Hetzel hat sich bald de Hals nach Ihne ausgerenkt vor lauter Umgucke, weil Se immer hunnert Schritt zurückgebliwwe sinn. Mir sinn ja schließlich auch noch da.«

Damit zog er das Zizerenchen fort. Als sie an Anton vorüberkamen, fiel dem Mädchen heiß aufs Herz, wie sehr sie den jungen Mann vernachlässigt hatte. Das war unverdient, denn er war gut zu ihr gewesen.

»Sind Sie mir böse, weil ich Sie so ganz vergaß?« fragte sie, ihm mit einem um Versöhnung bittenden Lächeln die Hand bietend. »Ihr Herr Direktor wußte aber so vieles zu erzählen –«

Anton übersah in seinem Groll die Hand; nun konnte er ja sein Vorhaben ausführen.

»O bitte, Fräulein, ich bin nicht befugt von Ihnen zu fordern, daß Sie sich meiner bescheidenen Persönlichkeit besonders erinnern. Wenn Ihnen Direktor Pistorius nur gefällt … das ist schließlich die Hauptsache.«

Stolz und abweisend sagte er es, und stolz blieb er stehen, um auf den mit dem vergnügtesten Gesichte von der Welt daherschlendernden Pistorius zu warten.

»Aha, mei liewer Anton wird eifersüchtig!« rumpelte in lachendem Basse August Denhard. »Mein Sohn,« rief er Anton zu, »Ring' gefalle alleweil de Mädercher. Der Herr Derekter trägt se an de Händ – laß du dir en Ring an die Nas mache, dann guckt des Fräulein Brigitta vielleicht ehnder nach dir.«

»Meinen Sie wirklich, er wäre eifersüchtig?« erkundigte sich Brigitta verwundert, als sie weitergingen.

»No, was denn?« bekräftigte Vater August. »Mächt awwer nix – denn Eifersucht verdoppelt die Lieb'. Des is e alte Erfahrung.«

»Eifersüchtig? … Und deshalb behandelt er mich schlecht?« Brigitta warf die Lippen auf: dieser Anton war also auch kein vornehmer Mensch. Und sie beschloß, sich diesen Abend noch gründlich für seine Ungezogenheit zu rächen.

Anton schritt nunmehr neben Pistorius.

»Mit dem Zechebezahlen, Herr Direktor, das ist natürlich nur einer der beliebten derben Späße meines Vaters,« hob er an.

»Aber lieber Denhard – Sie haben mir, freilich ohne es zu wollen, durch unsere – eh – Bekanntschaft von der gemeinsamen Arbeitsstätte her zu einem ganz prächtig verlebten Sonntagnachmittag verholfen,« behauptete der Direktor. »Ich bin Ihnen wirklich dankbar … ich hätte mich sonst mutterseelenallein bei dem langweiligen Turnfeste auf dem Feldberg umhergeödet. Warum sollte ich meine Dankbarkeit nicht auf irgendeine Weise in die Tat umsetzen dürfen? Von Zechebezahlen – hm, das ist übrigens ein Wort, das Sie als einigermaßen – eh – wohlerzogener Mensch nicht gebrauchen sollten! – ja also, von Zechebezahlen ist hier gar nicht die Rede. Ich werde Ihre Angehörigen wie auch Sie selbst und die verehrten Eltern Fräulein Brigittas nachher in aller höflichen Form bitten, die Ehre der Gastfreundschaft üben zu dürfen. Ja, – eh – und mein Versprechen, Sie in Ihrer Stellung auf der Providentia zu fördern, das ist mir ernster, als Sie vielleicht meinen. Ich habe in der Tat sehr freundliche Absichten mit Ihnen. Und daher rate ich Ihnen auch: wenn Sie Gelegenheit haben, mit diesem feinen, ganz entzückend hübschen Mädchen einig zu werden, so säumen Sie ja nicht. Erstens könnte das uns beide zu wirklich guten Freunden machen – eh – wieso, das erkläre ich Ihnen später einmal –, und zum andern, man muß früh bedacht sein, ein häusliches Glück zu gründen. Das sehen Sie an mir, der ich nur durch mein – eh – Zögern ein einsamer Junggeselle geblieben bin. Jawohl, wir können gerade durch Ihre zukünftige Frau in sehr herzliche Beziehungen zueinander treten. Wenn ich Ihnen also auch behilflich sein kann, was das Einigwerden anbelangt, so stehe ich gern zu Diensten.«

Pistorius deutete nach Brigitta hin, nachdem er zuletzt doch nur verlegen nach Worten suchend seine »guten« Absichten auszukramen wagte.

Dem braven Anton ward ganz ergriffen zumute … er stotterte unzusammenhängende Dankesversicherungen …nun ja, er kannte den schlauen Pistorius nicht, der nie in seinem Leben einen Plan gefaßt hatte, ohne von der ersten Sekunde an den Boden so gründlich vorzubereiten, daß er später möglicher Verantwortung überhoben blieb … der einsam gebliebene Junggeselle! …

Im Nassauischen Hof war ein gemütliches Nebenstübchen, darin ein Klavier. Vier junge Leute hatten sich hier häuslich niedergelassen, mit denen Anton bekannt war. Sie ließen sich in ihrem Frohsinn nicht stören, als der Zuwachs von acht Personen den Raum beengte … denn das Zizerenchen war es wohl wert, daß man trotz der Alten standhielt.

Einer war dabei, den sie Walter Lobedanz riefen. Das war so recht ein Kerl für die Weiber. Über der glatten Stirn brauner Lockenwust – kohlschwarze Augen – unter der kräftigen, für Frauen vielverheißenden Nase ein dunkles Zwirbelbärtchen und ein schöner roter Mund.

Der von Pistorius großspurig bestellte Schaumwein war noch nicht aufgetragen, da saß der Lobedanz schon vor dem Klavier.

»Die Herrschaften haben wohl nichts dagegen, wenn ein bißchen Musik gemacht wird?« sagte er und zauberte einen blutzwickenden, heuchlerisch schmeichelnden Walzer aus dem Instrument.

Wiederum ging dem Zizerenchen eine neue Welt auf. Nun ward ihr die Wahl schwer: war's schön gewesen im Walde? … wollte es noch schöner werden hier? … sie saß mit offenem Mäulchen, weiten Augen. Musik – Musik – und heitere Menschen … das war freilich anders als in dem stillen Hetzelhäuschen, wo es immer nur hieß: Dies darfst du nicht – jenes sollst du nicht – das mußt du nicht – –

Und die von Mutter Mariechen gekürzten Haare, ein dichter kupfergoldener Lockenwuschel, ringelten sich um das weiße schöne Gesicht, von der im Blute sich stauenden Erregung knisternd geladen und kribbelnd sich aufhebend. Alle warmherzig gehegten Besorgnisse Mariechens, dies Mädchen dem Bösen zu entziehen, sie hatten bei dem erregten Blute die Herrschaft eingebüßt – wie kalte Umschläge trocken werden von der Fieberhitze. Eingeborene Erinnerungen aus dem Mutterschoße, ureigen Ererbtes des aus der Vergangenheit erwachenden, in den Säften der Mutter werdenden Lebens, das dunkle Wissen von dem, was die Mutter gedacht und getan … in der Seele des Zizerenchens fragte all das: Bin ich, wer ich sein muß bei den stets an mir redenden Hetzels – oder bin ich, wer ich sein möchte aus meinen eigenen Wünschen her? …

Brigitta Weihrauch – das Dornröschen ward aus dem Schlaf erweckt und ward geküßt, ob auch die Dornen noch so sehr wehrten an der Rosenhecke. Und der Prinz saß am Klavier und suchte den Weg in das verwunschene Schloß … und seine Zauberformel war die Musik.

Anton Denhard hing in Feuern flammend am Anblick des süßen Geschöpfchens. Fast hätte sein Herz den Groll verwinden können. Aber dieser Groll fraß wie ein nagendes Tier. Der arme Teufel ahnte nicht, daß das Zizerenchen alles aufbot, um ihn recht tief zu verwunden. Sie wechselte Blicke mit den jungen Leuten, heimlich, um die Musik nicht zu stören, der sie, ohne sich durch das Blickewerfen abzulenken, lauschte wie einer Offenbarung. Das eben machte ihr die Augen so feurig. Von den Jünglingen aber glaubte jeder einzeln, dies Feuerwerk der Blicke gelte ihm.

Pistorius sah mit Zufriedenheit alle Seelenwandlungen des Mädchens: hier war Unberührtsein, aber ein Gemüt, das sich allem Neuen und dem Blut Bewegenden leicht erschloß. Der Sieg über den Willen, die Untertänigkeit dem Fleische – es mochte kaum so schwer werden, wie er zunächst gedacht. Behaglich liebkoste er mit der von Brillanten flimmernden Hand das glatte Kinn.

Verhaltene Akkorde … der Walzer schmolz in Moll dahin und verklang.

»Ach! … wie schön!« stammelte das Zizerenchen und hatte jetzt Tränen in den Augen. »O Mutter Mariechen, ist es nun jeden Sonntag so?« fragte sie beklommen.

Aber der Walter Lobedanz stand auf und verbeugte sich: »Und nun singen wir, meine Damen und Herren.«

Es war ihm eine Lust, sich vor dem schönen Mädchen zu zeigen; er balzte wie ein Pfauhahn vor der Henne, saß gleich wieder vor dem Klavier und heftete die dunkeln Augen auf Brigitta. Ein heller Bariton, weich wie eine Altstimme, klar wie klingendes Kristallglas:

»Es hat emal geregent,
Die Hecke tröppele noch –
En Schatz is mir begegent …
Ach, wär's mei Schätzi doch …«

Das Zizerenchen zitterte an allen Gliedern. »So schön …,« seufzte sie. Und wenn sie vorher nur den Anton ärgern gewollt – – die Blicke, die sie jetzt dem Sänger spendete, kamen aus dem Leuchten ihrer Seele.

»Da müßten Sie erst mal ins Theater gehen,« sagte Pistorius mit einer geringschätzigen Kopfbewegung nach dem Lobedanz.

»Theater …?« Brigitta sprach das Wort wie in dunkler Furcht dahin. Die alte Person in der Gasse, das Grittchen – hatte die neben der Schilderung vom schrecklichen Tode der Mutter nicht auch gesagt, die unselige Frau wäre am Theater gewesen?

Da erhob sich August Denhard.

»Was jung kann, kann alt schon lang,« prahlte er. »Es steigt das Lied: Der Papst lebt herrlich auf der Welt.«

Dann teilte er den Schnurrbart vom Germanenbarte auf seiner Brust, feuchtete die Kehle durch ein Glas Schaumwein und rollte das Lied mit einer Baßstimme dahin, die sich mühelos über das Klavierspiel hinaustrug, wie stramm auch der Lobedanz auf die Tasten donnerte. Und ganz besonderen Nachdruck legte Vater August natürlich auf die Strophe vom Floh, und vom üppigen Fleische schöner Frauen.

Es war urgemütlich. Sogar das knochige Sannchen machte keine Flappe mehr, denn einer der Freunde des Bruders schnitt ihr auf Mord und Tod die Kur und kitzelte sie an den knöchernen Knien oder kiekste sie in die noch vom Wandern feuchte Achselhöhle. Sie nahm dies Schöntun just nicht ernst, aber sie war doch zufrieden, daß sich nicht mehr alles nur um den Rotkopf drehte.

Es gab außer dem – auch seelisch – nüchternen Menschen Pistorius in der ganzen Gesellschaft keine Seele, auf die der Schaumwein seine Wirkung verfehlt hätte. Brigittas Augen glänzten, und ihr Mund war bei dem drängenden, hastenden Blute sehr beredt geworden. Sie fühlte sich getragen von der Hitze ihrer Pulse und war in der Heiterkeit ihres ersten Schwipses überzeugt: es gibt trotz Mariechen Hetzels Lehren auf Erden nichts, was untersagt oder gar verboten wäre.

In dieser frohfreien Stimmung verzieh sie denn auch Anton und hegte nicht länger den Wunsch, seine immer merklicher gewordene Bitterkeit nun noch zu steigern.

Als man zum Aufbruch rüstete, stand sie neben ihm.

»Herr Denhard,« flüsterte sie. »Gönnen Sie mir wirklich nicht, daß ich zum erstenmal in meinem Leben lustig bin?«

»Lustigkeit hat ihre Grenzen,« gab er erbittert zurück. »Sie aber kennen die Grenze nicht. Bedächte man Ihre Unerfahrenheit, so könnte man es Ihnen weniger verübeln. Aber für so unerfahren, wie Sie verstanden sich den Anschein zu geben – nein, für so unerfahren halte ich Sie nicht mehr nach dem, was ich schweigend beobachtete. Sie waren sich Ihres Verhaltens nur zu sehr bewußt.«

Den rüden Vorwurf hinter diesen Worten erkannte das Zizerenchen noch nicht.

»Gewiß war ich mir meines Tuns bewußt,« erklärte sie redlich. »Aber ich war doch nur so, um Sie zu kränken …«

Er lachte in sich hinein: »Nun also …?«

»Aber ich wollte Sie nur kränken, weil Sie mich kränkten …«

»Ich – Sie …?« zischte er wütend.

»Ja – durch Ihre Eifersucht; und die war häßlich.«

»Marsch, marsch!« rief der angeheiterte Vater August. »Hier wird nix getuschelt, Anton. Wenn de dei'm Schätzi was zu sage hast, so sag's ihr nachher unner vier Auge.«

»Fräulein Brigitta mein Schatz?« Anton spottete durch ein häßliches Gelächter. »Vater, da weiß ich mir bessere.« Brigitta wurde bleich – er sah es und erschrak nun über seine Worte; rasch nahm er ihre Hand: »Verzeihen Sie mir und meiner Eifersucht.«

»Nein!« erwiderte sie herb. »Sie meinten soeben, ich kenne die Grenze nicht. Tadeln aber soll nur der, der selbst nicht tadelnswert. Und das sind Sie durchaus nicht. – So … und nun werde ich versuchen, ob andere Leute nicht besser sind als Sie.«

Sie sah ihn hochmütig an und schlüpfte aus dem Zimmer. Und weil er gesenkten Auges dastand, bemerkte er den traurigen Blick nicht, den sie – für eine Sekunde noch an der Tür bleibend – nach ihm zurücksandte.

Dann aber kam es wie eine seltsame Freude über das Mädchen … die Freude daran, daß dieser Mensch in sie verliebt war. Und obwohl er sie beleidigt hatte, mochte sie ihm doch nicht zürnen. Auf dem Grunde ihrer Seele wurde etwas wach, das sich beglückte an der Gewißheit geliebt zu sein. Heiteren Mundes drum trat das Zizerenchen zu der draußen wartenden Gesellschaft. Hatte Vater Denhard droben im Walde nicht gesagt, Eifersucht verdoppele die Liebe? Gut, auch diese Wahrheit zu prüfen, war das Mädchen entschlossen.

In der freien Luft aber wirkte der Schaumwein anders, als eben noch drinnen im Gaststübchen. Die süße Schwere eines ersten Räuschleins legte sich hemmend auf Herz und Hirn. Das Zizerenchen sah die Welt im Taumelkreise, nicht wissend mehr, was oben und was unten. Und so geriet ihr der Anton in Vergessenheit … oder vielmehr: sie sah in jedem der sie umdrängenden, sich bei ihr um das Heimbegleiten reißenden jungen Leute einen, der in sie verliebt wäre.

Und das waren sie ja denn auch alle gründlich …

Nur der Lobedanz hielt sich klüglich im Hintergrunde; er wollte erst sehen, für wen sich das Mädchen entscheiden würde. Denn zu seiner Freude am Leben gehörte das Abspenstigmachen … auch zu seiner Freude am Weibe …

Vater Denhard trug einen Mordsaffen heim, gestützt von der scheltenden Ehehälfte. Auch Hannes Hetzel war beredter geworden und machte dem kickernden Mariechen allerlei Verheißungen fürs Schlafengehen. Das Sannchen hatte viel zu tun mit den derben Händen, damit der Jüngling an ihrer Seite sich jetzt im Wegdunkel nicht noch genauer überzeugen könne, ob denn seine Begleiterin wirklich an allen Orten ihres Leibes so knochig wäre. Pistorius und Anton gingen mit den andern jungen Leuten weit voran. Der Direktor hielt Vorträge über Wohlerzogenheit und Gesittung, über die Anerkenntnis der Autorität und über die Achtung vor der hohen Stellung. Und dazu hatte er allen Grund, wobei ihm der neidische Anton von Herzen zustimmte. Als sich Pistorius nämlich wieder des Zizerenchens bemächtigen wollte, drängte ihn der forsche Lobedanz beiseite.

»Das Fräulein hier ist jung und schön, wird von mir geleitet nach Hause gehn,« verballhornte er den alten Goethe, nahm den Dicken bei beiden Schultern, gab ihm eine Drehung und einen ordentlichen Schubbs nach vorn; dann nahm er Brigittas Hand, legte die feinen Fingerchen auf seinen Arm und zog mit dem Mädchen von dannen.

Nun hatte Anton allen Grund, seine Unfreundlichkeit gegen das Zizerenchen zu bereuen. Er mußte sich eingestehen, daß er selbst es gewesen, der sie dem Lobedanz zugetrieben. Das Herz ward ihm leer und schwer, und er zürnte sich selbst: für heute gab es kaum noch eine Möglichkeit, das kränkende Wort zurückzunehmen.

Der mondlose, dunkelsamtene Sommerabendhimmel prunkte mit Funkelsternen und – wenn eine Sternschnuppe fiel – vertropfte hier und da von seinem Überfluß. Im Park beim Pfingstbrunnen sang eine Nachtigall, im Englischen Garten flötete eine verspätete Singdrossel. In den Kornäckern neben dem Wege unter Kastanienbäumen und Nußriesen wob und raunte es heimlich.

»Dort drinnen möchte ich mit Ihnen ganz allein sein,« säuselte der Lobedanz dem Zizerenchen heiß ins Ohr; und er tat einen Sprung in die Halme.

Aber sie verstand nicht, wie er das meinte, und blieb lachend stehen …

Dann flüsterten die Pappeln der Großen Allee zu den Sternen hinauf, zu den Menschen hernieder. Und unter den Pappeln nahe am Schloßgarten stand ein kleines Backsteinhäuschen, auf dem ein begrünspantes Kupferdach. Lobedanz erwiderte auf Brigittas Frage, er wisse zwar nicht, welchem Zwecke das kleine Haus diene, aber er werde ihm gleich einen Zweck verleihen …

Er zog das Zizerenchen in den Schatten hinter dem Häuschen und schlug vor, sie wollten die Kommenden erschrecken, plötzlich aus dem Schwarz hervorbrechend. Aber dies Spiel schien er sich rasch gegenteilig überlegt zu haben … er ließ die Alten vorbeigehen: den hitzig gewordenen Hannes und das kickernde Mariechen, den baßrumpelnden August und seine schmälende Ehehälfte. Und alles war still – – da hatte der Lobedanz etwas zu bitten und zu betteln.

Doch das Zizerenchen weigerte sich standhaft: »Küssen? Nein, küssen lasse ich mich nicht – ich kenne Sie ja kaum seit ein paar Stunden, und Sie sagten mir noch nicht einmal Ihren Namen – und küssen – – ich will gar nicht küssen …«

»Wollen oder nicht wollen – ich bin jung!« sagte Lobedanz, bei ihrem Weigern aufglühend, wie ein ins Feuer geworfenes Stück Zunder. »Sag' geschwind ja, Mädel!« drohte er, den Atem nah an des Mädchens Wangen. »Gelegenheit macht Diebe, man muß nur erst Gelegenheit machen. Darf ich dich nun küssen – Rotkopf – süßer – einziger – –?«

Und bevor das beschwipste Zizerenchen ahnte, was geschehen solle, fühlte sie sich bedrängt. Ein heißer Mund suchte immer wieder die Mädchenlippen, und das Schnurrbärtchen kitzelte so niedlich unter der Nase – heiße Hände wölbten sich um die von Mariechen Hetzel so sorglich wie vergeblich verhüllte Brust – ein kräftiger Arm schlang sich um die drallen Hüften – ein langer Kuß erstickte jeden Laut aus dem Mädchenmunde. Und der gestärkte Unterrock raschelte …

Erst ein stummes Ringen, Gesicht an Gesicht. Und dann doch das Stillhalten, das Entgegendrängen. Denn das alles war so frech und süß und selig und neu … das Schönste an diesem Tage …

Dann ließ der Lobedanz die Fortsetzung für bessere und bequemere Gelegenheit, wo das Dieben einfacher war.

Schwach hing das Zizerenchen in des dreisten Menschen Arm, als ein Weiterschreiten notwendig ward, weil Leute laut schwatzend näher kamen. O diese Müdigkeit – wie war sie so unsagbar beglückend und doch so voller Schämen: ein großes Geheimnis, längst geahnt, heimlich erhofft, nächtens geträumt – nun war es halb offenbart. Die Neugier fürchtete sich vor dem Letzten und wußte doch, daß sie sich mit dem Fürchten nicht zufrieden gäbe. Noch einmal diesen Weg durch die raunende Nacht …

Der Lobedanz sprach nichts mehr; er drückte die in matter Traumverworrenheit auf die Höhen des Daseins Sinnende stumm an sich.

Nur einmal fragte er: »Wann wieder …?«

»Wann du willst,« hauchte das Zizerenchen.

»Komme Mittwoch abend an das Häuschen – sagen wir: kurz vor dem Dunkelwerden.«

»Ich komme.«

Dann holten sie die Alten ein.

»Wo habt ihr denn so lange gesteckt?« fragte Mariechen Hetzel mißtrauisch.

»Das Mädchen wußte gar nicht, was ein Glühwürmchen ist – und ich hatte ein so schönes in der Hand,« erzählte Lobedanz und zeigte die leicht gehöhlte Hand. »Sehen Sie mal, Mutterchen: so habe ich das Glühwürmchen gehalten; erst hat's ja gezappelt, aber dann schien ihm die warme Hand sehr zu gefallen.«

Und das Zizerenchen sah unter der Laterne in des Mannes Gesicht, wie er das Geheimnis so gar nicht leugnen möchte. Er fing den Blick auf und lachte hell, denn er verstand, was sie mißverstand. –

»Du hast Ränder um die Augen. War dir der Weg zu anstrengend und zu weit?« erkundigte sich Mutter Mariechen besorgt, als sie dem Mädchen später die Kopfkissen richtete.

Brigitta lag auf dem Rücken, die Hände über dem jungen Busen gefaltet.

»Nein, Mutter … ich bin wie in einer Wiege … alles ist so sanft …«

»Gefällt er dir?«

»O, über alles!« fiel das Mädchen voreilig ein.

»– der Anton Denhard?« fuhr Mutter Mariechen fort.

Da schwieg das Zizerenchen; es erkannte: nun müsse ein Geheimnis sein, weil nur im Geheimnis der Sünde die Süßigkeit der Sünde ruhe. –

Derweil brachten die jungen Leute den Direktor Pistorius zum Bahnhof. Als der Zug abdampfte, sangen sie in Weinlaune das traurige »Fahr wohl, fahr wohl, mein teures Lieb.«

Nur Anton Denhard blieb stumm … dem war das Herz so schwer …

Der Mann mit den Brillantringen aber lehnte vornehm im Samtpolster der ersten Klasse und drehte am gleißenden Zierat seiner Hände. Er dachte daran, wie er vor zwanzig Jahren denselben Weg gefahren war mit einem blondwuscheligen Mädchen … einem schmutzigen Hotel und – – einer Schurkerei entgegen. Nun, was war dabei! Pläne, die man nicht aus dem Ärmel schüttelt, nein, Strich für Strich aufzeichnet, sauber und nach und nach, so mit geschmeidigem Handgelenk und mit kluger Voraussicht, solche Pläne müssen immer gelingen. Drum war auch der Plan so glänzend gelungen, den er längst entworfen gehabt hatte, als das junge dumme Ding damals glaubte, sie wäre die bewegende Ursache, er aber der auf den Leim gelockte Gimpel. Nein, alles war geglückt …

Und auch mit dem Rotkopf würde alles glücken. Ja, so knusperiges Fleisch macht nicht nur jung, sondern erhält einen auch jung. Man war doch nicht mehr ganz so taktfest wie damals, hatte sich ein bißchen übernommen am – – nun ja, auch am Fallobst in der Liebe Gärten … aber eben deshalb war frischeste Jugend erst recht nötig, konnte sogar nicht jung genug sein. Herr Direktor Pistorius – einmal unter vielen Namen hatte er auch Wilhelm Müller geheißen. Er grunzte behaglich im grünen Samt der ersten Klasse … ein Schwein, das freilich nicht die Drecksuhle sucht, sondern stets ein nach frischer Wäsche duftendes Bett; den eigenen Saustall, o den hielt er sauber vom Unrate des christlich-unchristlichen Gewissens. Hmmm, eine feine Fahrt damals mit der Blonden! … demnächst die gleiche Fahrt … aber die Haarfarbe würde um eine kräftige Tönung sündhafter sein. –

 

Mittwoch abend war, als Anton Denhard in jener Woche sich entschloß, nach dem Abendbrot einmal zu den Hetzels zu gehen. Den Montag und den Dienstag hatte er in schwerer innerer Unruhe verbracht, ringend mit zwei Entschlüssen: das Zizerenchen für sich zu gewinnen – das Mädchen preiszugeben, das so schnell Gefallen gefunden hatte an Walter Lobedanz.

»Sie treffen es gut,« sagte Mariechen Hetzel freundlich. »Brigitta sah den ganzen Tag bleich aus, war nervös und ungeduldig und klagte über Kopfweh. Nun will sie endlich ein bißchen in die frische Luft gehen. Der Abend ist ja auch so lieblich. Sie kleidet sich eben an, und wenn Sie Lust hätten, könnten Sie ihr doch Gesellschaft leisten. Ich kann nicht gut fort, denn mein Hannes – er schläft noch Vorrat – muß heute auf Nachtschicht. Da wäre es mir denn gerade recht, wenn das Mädchen nicht so allein draußen herumläuft. Vor neun wird nicht dunkel … ihr habt also über zwei Stunden Zeit.«

In diesem Augenblicke kam das Zizerenchen: »So, Mutter, ich bin fertig.«

Dem Anton stockte der Herzschlag, so schön sah das Mädchen aus. Er dachte bei sich: so wunderfein und lieblich hätte er sie in den drei Tagen seither gar nicht im Gedächtnis gehabt. Ein wenig linkisch begrüßte er jetzt Brigitta. Er war darauf gefaßt, nach der Beleidigung am Sonntag schlecht behandelt zu werden; doch Brigitta hatte gewiß vergessen und verziehen, ihr Gruß war freundlich. Denn das Sichbeherrschen hatte das Zizerenchen seit dem großen Erlebnis am Sonntagabend gelernt. So war ihr Blick denn nur unmerklich voller Enttäuschung, als Anton sagte: Frau Mariechen habe erlaubt, daß er mitginge.

Sie traten zusammen auf die Gasse. Mariechen Hetzel sah ihnen verstohlen nach; sie fand, die beiden wären ein hübsches Paar. In Wahrheit paßte der lange, dünne, ein bißchen knieweich schreitende Denhard gar nicht zu dem zierlich schwebenden, in allen Formen so üppigen Mädchen.

Am Ausgange der Gasse trat das Pißgrittchen just vom Rinnstein fort.

»Guck, ei guck – dem August Denhard sein Sohn hawwe Se sich ausgesucht?« meckerte die Alte wohlwollend. »E braver Borsch – no ja. Awwer e Grauröckche paßt net zu eme bunte Hänfling, e Spatz net zum Zizerenche.«

»Woher kennt die alte Frau Ihren Namen?« fragte Anton verwundert, während sie das Grittchen unbeachtet ließen.

»Alle Leute in der Gasse kennen ihn.«

»Er klingt abscheulich aus diesem zahnlosen Munde, wie entweiht. Und woher kennen Sie die unglückliche Greisin?«

»Sie schloß sich mir einmal auf dem Heimwege an,« erwähnte Brigitta kurz. Ihr Gesichtchen war bleich geworden; sie gedachte jener fürchterlichen Wahrheit über den Tod der Mutter, so, wie das Grittchen ihn berichtet. Und in diesem Augenblicke neidete sie dem Anton Denhard die Ehrbarkeit seiner Eltern.

»Ich möchte Ihnen raten, dies Weib zu meiden,« sagte Anton. »Sie hat einen lächerlichen Ruf in Homburg … man geht nicht mit so jemand über die Straße. Noch dazu hat sie einen abscheulichen Namen.«

»Den kenne ich,« gestand das Zizerenchen.

Anton errötete tief; er schwieg, um das Gespräch über die Gassen- und Gossengestalt Homburgs zu vermeiden.

»Wollen Sie denn wirklich bei mir bleiben?« fragte Brigitta nach einer Weile zaghaft.

Sie wußte sich nicht zu raten, wie es anstellen, daß er sie allein ließe. Sie wußte überhaupt noch nicht wie und was. Erst bei Dunkelwerden sollte sie an dem Häuschen auf der Großen Allee sein, hatte der andere verlangt. – Es würde dann gewiß spät werden … und was würde das Mariechen Hetzel sagen, wenn die Pflegetochter spät heimkäme? … was für einen Grund konnte man der sorgenden Frau angeben? Einstweilen war dem Mädchen nichts Besseres eingefallen, als nachher zu behaupten, sie hätte sich verlaufen gehabt; indes, diese Ausrede entfiel nunmehr, nachdem Anton bei ihr war. Vor Vater Hannes hatte sie keine Angst – der war weder heute noch in den drei nächsten Tagen zu fürchten, in denen er auf Nachtschicht in der Gasfabrik blieb.

Anton mit seinem ehrlichen Sinne stand nahe davor, zu fragen: ob Brigitta vielleicht lieber allein gehen möchte? Aber wenn sie dann ja sagte, war er gezwungen, sie zu verlassen. Und da wäre es mit dem schönen Abend vorbei, auf den er sich so gefreut hatte. Sich jedoch dem Mädchen aufzudrängen – – ging das? Er nahm den stets schwächlichen Mut zusammen.

»Ob ich bei Ihnen bleiben wolle, meinten Sie? Ich habe mich auf dies Wiedersehen so gefreut, trotz der Verstimmung zwischen uns … Fräulein Brigitta, weisen Sie mich nicht fort,« bat er. Und mit diesem Mute kam nun auch eine große Beredsamkeit über ihn. »Manchmal ist es mit dem Glück so, daß es einem zu einer Stunde begegnet, in der man es entweder nicht sofort erkennt oder in der man darauf gar nicht vorbereitet ist. Die wenigsten Menschen unterscheiden dann klar … noch dazu, wenn sie gleich mir ein bißchen schwerfällig sind in der Erkenntnis dessen, was man das Glück nennen kann. Am Sonntag aber, als Sie mir auf dem Cronberger Bahnhof gegenüber standen, da fühlte ich, als ob eine große Heiligkeit sich über den Augenblick neige. Und als wir dann nebeneinander hergingen, durch den singenden Wald, durch Sonne, Sonntag und lichte Welt, an Blumen vorüber, umfangen vom Weben und Leben der Natur, da war mir, ich wäre jetzt erst in dieser Welt erwacht. Ich bin gewöhnt, mit geneigtem Haupte zu schreiten – meine früh aufgeschossene Länge ist schuld, wie meine Mutter sagt. Es war kein Wunder, wenn ich seither immer nur das sah, was vor meinen Füßen lag. Manchmal besann ich mich und hob den Blick und reckte die Schultern und sah voraus. Aber das hielt nie lange stand. – Nun gingen Sie am Sonntag neben mir her … das war für mich, als ginge ich fort und fort einen blühenden Rosengarten entlang. Wo der Blick hintrifft, trifft er immer aufs neu nur Blühen. Und der Atem – immer wieder trinkt er die Süßigkeit, die Reinheit und die Milde des Rosenodems. – Dann besann ich mich: ein Mädchen geht neben dir! Und auf einmal wußte ich: dies ist ja immer so gewesen – nur träumtest du davon, glaubend, nie werde dein Geträume lebendig und wahr. Und nun war es aber Leben und Wirklichkeit. – Da dankte ich Ihnen stumm, daß Sie gekommen waren. Ich kenne Sie, Fräulein Brigitta … nicht erst seit Sonntag … ich kenne Sie schon zehn Jahre. Da schrie meine Schwester hinter einem kleinen Mädelchen her, schnitt eine Grimasse und bleckte die Zunge. Und sie schrie: Zizerenchen! Und ich sah Tränen in dieses Zizerenchens Augen; da fiel ich über meine Schwester her. Seit diesem Tage hassen wir einander. Meine Schwester aber haßt nicht weniger lange her dies kleine Mädelchen … dies Zizerenchen. – Heute gefällt mir der Name als ein lieblicher, das Zizerenchen habe ich nie vergessen können. Nur dachte ich nimmer, ich würde einst als ein Freund neben ihm gehen dürfen. Als Freund – – und mit einem Herzen voller Glück.«

»Ich erinnere mich des Vorganges nicht,« sagte Brigitta; bewegt hatte sie den Worten gelauscht. Sie glichen dem Klang aus einer abermals ganz neuen, abermals schönen Welt; aber – – sie waren doch nicht so heiß und nicht so süß wie jene, die der andere am Sonntagabend gesprochen. – Mit heimlicher Bewunderung sah das Mädchen zu Anton auf; fast wollte ihr die Verabredung mit Walter Lobedanz leid tun. Ein Wankendwerden stritt in ihr mit dem Gedanken, es wäre vielleicht doch zum Heile, wenn sie jetzt das Häuschen mied und bei Anton blieb. Ihr Herz zitterte … es rang mit einem unverstandenen Gefühle für den Mann an ihrer Seite. Dann aber siegte – – die Neugier des Weibes. Nein, erst wollte das Zizerenchen wissen, wie der andere Vogel heute sang, der am Sonntag so süß und sehnsüchtig um sie geworben. Gefiel ihr die Melodie heute weniger, dann wollte sie nachher doch lieber auf die einfachere, aber herzlichere Weise hören, die da soeben erklungen war.

Anton Denhard war beim Auftönen der Mädchenstimme erschrocken und stracks stehen geblieben; ganz als wäre er in einen Traum versunken gewesen, aus dem ihn jäh ein Anruf riß.

»Verzeihen Sie, Fräulein Brigitta – ich habe keines meiner Worte bedacht – nehmen Sie nichts ernst, bitte,« murmelte er.

Und indem er mit der Torheit einer solchen Entschuldigung seinen vorher so wunderschönen Worten widersprach, hatte er die Himmelsmacht verscherzt, die just über die letzte Reinheit dieses heißblütigen Mädchensinnes siegen gewollt. Die junge Seele, die Lippen schon am Rande des kristallenen Gefäßes der Tugend, zog den blühenden Mund zurück, denn aus dem süßen Weine war plötzlich schal schmeckendes Wasser geworden. Da hatte ihr doch am Sonntag die herbe Äußerung des Unmutes Antons noch besser gefallen; die bewies wenigstens, daß das Männliche nicht völlig dem Wesen des jungen Mannes ermangelte. Und nun – erst sagte er Schönes, und hinterher beteuerte er, es wäre ihm gar nicht ernst damit gewesen? War diese ruhige Kränkung nicht tausendmal schlimmer als die erregte, aus seiner Eifersucht geborene? Wiederum hatte Anton Strafe verdient – gut, sie sollte ihm werden.

»Sie brauchen nicht erst zu bitten – ich nehme ohnedies keines Ihrer Worte ernst,« sagte Brigitta und zwitscherte ein abweisendes Lachen. »Am Sonntag, ja, da nahm ich Sie sogar sehr ernst. Viel lieber als mit diesem Pistorius wäre ich mit Ihnen gegangen. Aber ich kann mich einem Manne doch nicht aufdrängen. Wären Sie jedoch zu mir gekommen, so hätte ich Ihren Direktor einfach stehen gelassen. Diesen Mut aber hatten Sie ja nicht. Und als ich Ihnen zu verstehen gab, Sie sollten mit mir gehen – wissen Sie noch? … ich bot Ihnen die Hand dar –, da fanden Sie auch nur häßliche Worte. Und so waren denn auch nur Sie allein schuld, wenn ich nachher mit jenem Herrn ging, der so wunderschön spielte und sang. – Wie heißt er doch?«

»Walter Lobedanz,« gab Anton mit zitternden Lippen Auskunft.

»O, ein schöner Name – viel schöner als Anton Denhard,« lobte sie mit gemacht himmelndem Blick … wenngleich sie im tiefsten Inneren erschrak: nicht einmal den Namen des Mannes hatte sie gekannt, des Mannes, mit dem sie sich treffen wollte, bereit, seine Kühnheiten zu dulden.

»Sie sagen, ich wäre schuld, wenn Ihnen der Lobedanz gefällt?« fragte Anton, aufs schwerste bedrückt von dem Bewußtsein, daß das Mädchen mit dieser Beschuldigung nur allzu recht hatte.

»Ich sage es nicht nur – es ist auch so,« bekannte sie kurzen Wortes und betrachtete zufrieden von der Seite Antons betrübtes, jetzt so blasses Gesicht. Nun war er getroffen, und sie mochte ihn nicht länger quälen … mochte er büßen.

»Dann freilich muß ich diese Schuld auf mich nehmen, Fräulein Brigitta – und ich kann Sie nur bitten, mir nicht zu zürnen,« sagte er bedrückt und demütig. Und als wolle er ins Wirkliche zurückfinden aus dem Träumen von einem kommenden großen Schmerz, fügte er eintönig hinzu: »Übrigens, ich schlage da einen Weg ein, ohne zu fragen, ob er Ihnen auch recht ist.« Er hatte nicht bemerkt, daß sie ihn, nicht er sie geführt.

»Wir gehen richtig,« erklärte Brigitta, plötzlich mit dem Gefühle kämpfend, daß dieser Mensch da neben ihr nicht – wie der andere – Blut und Lust, Stürmen und Drängen, nein, nur Regentropfen und langweiliges Rieseln wäre. Nicht ohne Spott wiederholte sie: »Ja, wir gehen sogar sehr richtig.« Denn sie erkannte fern die hohe Pappelzeile und sah schon das kleine Haus, wenn das jetzt auch alles anders aussah, als neulich in der Sternennacht – nüchterner, alltäglicher und darum eigentlich beängstigend.

Die beiden jungen Menschen schritten stumm nebeneinander hin. Dem Zizerenchen wollte das Herz schweigen: wenn nun der Lobedanz schon beim Häuschen wartete? Aber da stand die Tür offen und ein alter Knecht trug aus dem Innern des kleinen Bauwerks seltsame Geräte auf einen Handwagen.

»Dunkelt es bald?« fragte das Mädchen und zögerte vor dem Häuschen.

Anton, weder die Frage noch das Zögern richtig deuten könnend, sah auf seine Taschenuhr.

»Nein, wir können gut noch bis zum Wildpark und zurück gehen, bevor es anfängt finster zu werden,« berechnete er.

Brigitta war beruhigt; vielleicht würde er nachher seines Weges gehen, wenn beim Zurückkommen der andere dastand – der andere mit der heiß lockenden, süß kosenden, gefangen nehmenden Stimme – der andere, mit den dreisten Händen und dem glühenden Munde. Ein Schauern überrann das Zizerenchen. War sie nicht ein gefangenes Vögelchen in des andern Gewalt?

Dann war ein großes Schweigen zwischen den beiden Wandernden, bis hinter dem Gotischen Hause der Wald sich erhob.

»Nun gehen Sie wieder gebückt,« sagte Brigitta nach längerem Dahinschreiten spottend zu ihrem Begleiter.

Er schnellte auf und ließ den Blick von dem mit Fichtennadeln bestreuten Waldwege.

»Wahrhaftig! Aber es freut mich, daß Sie es bemerkten … ja, ich bin sogar glücklich darüber,« beteuerte er.

»Glücklich?« Brigitta lachte auf. »Wenn es Ihnen recht ist, so kann ich Sie ja immer auf Ihre schlechte Haltung aufmerksam machen. Sie meinen gewiß, das Bereden gewöhne Sie an eine aufrechte Haltung?«

Anton seufzte: »Sie haben mich nicht verstanden …«

»Nicht? Nun, dann müssen Sie es mir erklären.« Dies Zizerenchen wußte wohl kaum, welchen Spottes ein in Sünden zum erstenmal geküßter Mund fähig ist.

Anton sann und sann, wie er ihr endlich offenen Wortes sagen könne, er hätte sie lieb und wäre ihr dankbar, gewönne auch sie ihn lieb. Seine Augen glitten über die Büsche, über die Blumen, hafteten auf dem Pfade, wanderten zur Höhe der uralten Riesentannen, unter denen er mit dem Mädchen dahinschritt. Gab es nichts, gar nichts, mit dem er beginnen und dann das Gespräch hinüberleiten könnte auf seines Herzens Gefühle, aber auch auf seine Eifersucht gegen den Lobedanz?

Da gaukelte ein Zitronenfalter über den Weg … Anton haschte nach dem Sonnenvogel …

Brigitta aber hielt dem jungen Menschen den Arm fest: »Nein, nein, lassen Sie doch das schöne Ding … Lehrer Flüster sagte mir, auch die geringste Berührung streife den feinen Staub von den Schmetterlingsflügeln.«

»Wissen Sie, Fräulein Brigitta, daß man auch einem Menschenkinde den Staub von den bunten Schwingen streifen kann?« hob er an; denn nun meinte er die gesuchte Anknüpfung gefunden zu haben.

Sie ward ungeduldig bei seinen weichen Redensarten, die er stets ein wenig schmalzig vortrug. Vorhin hatte er gut gesprochen; aber dann flocht er plötzlich eine dürre Strohblume zwischen das Blühen seiner Worte über den duftenden Rosengarten. Und nun klang ihr alles so lehrhaft, was er sagte. Noch dazu war er ihr jetzt lästig. Sie wäre gerne umgekehrt, um bei dem Häuschen zu warten, er aber schritt in immer gleichmäßigem Trott dahin, als müßten sie heute noch übern Taunus.

»Wir müssen umkehren!« gebot sie rauh und kurz.

»Es ist noch Zeit,« gab er in Nachdenken verloren zurück, ohne Brigittas wütenden Blick zu gewahren. Und dann predigte er aufs neu los: »Ja, der Staub auf den Schmetterlingsflügeln … die Schönheit. – Sie fragten mich nach dem Ihnen so gut gefallenden Walter Lobedanz. Sehen Sie, das ist so ein Mensch, der mit unzarten Fingern nach schönen Schmetterlingen hascht. Und wenn er die Schönheit verdarb, dann läßt er den Falter achtlos und herzlos fliegen und rühmt sich vor andern dessen noch. Aber vielleicht wissen Sie auch, Fräulein Brigitta, mit den verdorbenen Schwingen hat das Sommervögelchen die Flugkraft eingebüßt? Schwer und taumelnd schleppt sich solch ein armes Ding von Blume zu Blume, vergebens versucht es den Weg zur Sonnenhöhe hinauf, und wenig später stirbt der voreinst so schöne Schmetterling auf einem schmutzigen Wege … verachtet und verabscheut … denn wer sähe noch gern das häßlich gewordene Geschöpf?«

Brigittas Schritt zauderte. Sie war zu klug, um diese Anspielung nicht zu verstehen. Für wenig Sekunden war ihr, sie vernähme Mutter Mariechens warnende Stimme … die gütige Frau hatte einmal gesagt, je lockerer der Vogel singe, desto trauriger klinge der Widerhall des Liedchens aus der Vergangenheit in die Gegenwart und endlich in die Zukunft hinein. Und daß das Liedchen locker war, das der Lobedanz am Sonntag gesungen und gepfiffen, darüber hatte Brigitta keinen Zweifel.

Aber sie schlug die Warnung in den Wind – das Herz hatte den Klang nur des Anfanges dieses Liedchens getrunken – und nun dürsteten Leib und Seele das Ende zu hören.

Doch dieser Anton! … hatte er am Sonntagabend etwas gemerkt? Wollte er nach seinen häßlichen Eifersüchteleien nun auch noch schulmeisterlich werden? Dann mochte er sie lieber in Ruhe lassen …

»Von meinem Lehrer Flüster weiß ich – und auch Mutter Mariechen hat mich so gelehrt –, daß es nicht ehrenhaft ist, häßlich über einen abwesenden Menschen zu reden,« sagte das Zizerenchen unfreundlich.

Anton stutzte und wurde brennend rot: »Verzeihen Sie, aber es lag nicht in meiner Absicht, den Lobedanz zu verkleinern. Ich wollte Sie warnen, weil ich – weil – nun, weil ich Sie zu verlieren fürchte.«

»Wie kann man etwas verlieren, was man nicht besitzt,« entgegnete sie ungerührt und schnippisch.

»Ja, da haben Sie freilich recht,« gab er mit schwerer Zunge zu und beugte den Nacken. »Sie können nicht wissen, wie es um mich steht.« Dann schritt er düster neben ihr her, als hätte er das Zizerenchen vergessen.

Sie bebte vor Ungeduld, rang mit dem schwindelschnellen Hämmern ihres Herzens, seufzte mit vor Groll beengter Brust und zitterte vor Gier nach dem Erleben. So sah sie sich um: Herrgott, kam denn nicht ein Seitenpfad, auf dem sie diesem schwerfälligen Menschen davonlaufen konnte, durch einen Umweg nach dem Häuschen zu gelangen? Aber dieser Moralprediger würde sie ja doch einholen mit seinen langen Beinen …

»Wir müssen umkehren!«

Diesmal schrie sie die Mahnung förmlich auf, so zerrte die Angst an den Nerven, der Lobedanz könne denken, sie käme nicht … und dann würde er nicht warten, fortgehen. Ach, es war zum Verzweifeln!

Anton war stehen geblieben, sah sie erstaunt und erschrocken an. Er begriff.

»Wenn ich Ihnen doch lästig bin, warum sagen Sie es nicht offen?« murmelte er und blickte mit Besorgnis in ihre funkelnden Augen. »Bitte, Fräulein Brigitta – ich werde über Dornholzhausen gehen – und Sie können ja umkehren,« schlug er traurigen Herzens vor.

»Ja ja, so wollen wir es halten,« stimmte sie befreit bei. »Und morgen – oder übermorgen – oder bald einmal – wann Sie wollen, werde ich wieder mit Ihnen gehen,« versprach sie versöhnlich, doch zagend. Ein Bangen war in ihr … ein Bangen nun doch vor dem Zusammentreffen mit Lobedanz … ja, nun fast ein Traurigwerden, daß Anton sie so bereitwillig ziehen ließ.

Hätte er jetzt gebeten, sie solle ihn nicht verlassen, sie wäre geblieben; zuerst vielleicht zürnenden Herzens, dann aber doch mit der Zuversicht, daß sie das Rechte getan.

»Gute Nacht, Zizerenchen,« sagte er leis; und er wendete das blasse Gesicht fort, um nicht in die so rätselvoll zweifelnden Augen sehen zu müssen.

»Ich werde von jetzt an immer mit Ihnen gehen, wenn Sie nur wollen – aber Sie müssen es sagen, Sie!« Ein Bitten flüsterte aus ihren Worten. »Nur heute – nur dies eine Mal will ich frei sein. Später aber sollen Sie – – nein, ich kann es nicht sagen,« unterbrach sie sich. Dann reichte sie ihm hastig die Hand und wandte sich, fast laufend, dem Rückweg zu.

Anton Denhard sah ihr nach.

War Dämmerung? War der Wald finsterer geworden? Die Tannen standen so stumm, und unter ihnen webte eine große Einsamkeit am Schweigen des Waldes. Einmal noch quäkte häßlich ein Häher; seine Stimme verlor sich in der Ferne, als hätte bis dahin wartend der Spott am Wege gestanden und als liefe er nun in das Tannicht zurück. Eine schwere Traurigkeit überkam den jungen Menschen, mit vor Stumpfsein leerer Seele wollte er weitergehen. Da besann er sich, was das Zizerenchen Schönes von Lobedanz gesagt hatte. Und plötzlich die heiße Angst: war sie schon so fest an den geraten? Ja – unbedingt ja! … denn am Sonntagabend war sie immer hinter der Gesellschaft zurückgeblieben im Finstern … mit diesem! Und als man an der Lederfabrik stehen blieb, wo Vater August, Mutter und Sannchen gute Nacht sagen wollten, da war das Pärchen nachgekommen. Und das Zizerenchen hatte flugs den Arm aus des Lobedanz Arm gezogen …

Dem Anton kam nicht sogleich die Besinnung; er vertiefte sich erst in seine Eifersucht, bevor er umkehrte, um Brigitta einzuholen. Dann aber machte er lange Schritte. Doch wie flink mußte sie sein … er gewahrte sie schon nicht mehr. Ja doch: aber weit, weit da vorn in der Dämmerung, wo die Pappeln wie lauter drohend erhobene Zeigefinger warnend in den sich mit Sternen schmückenden Himmel hinaufwiesen.

Und als Anton just die Pfingstbrunnenbrücke erreichte, verschwand dort drüben im Feldwege ein eng aneinander geschmiegtes Pärchen. Über das Brückengeländer hinweg konnte er die beiden gerade noch im Schatten der Nußbäume dahinhuschen sehen. Dann waren sie plötzlich wie von der Dunkelheit unter den Bäumen verschlungen.

Anton lief weiter und bog ebenfalls in den Feldweg ein.

Da war weiterhin in einem Kornfelde ein Pfad in die Halme getreten. Rauschte es nicht dort drinnen? Und da stob eine Lerche auf; ängstlich fiepend, blieb sie mit rüttelnden Schwingen über den Ähren; nun flog sie einen Bogen und schwebte beruhigt zurück. Die Halme summten leis, denn der Abendwind strich über die Äcker. Dort droben eine Sternschnuppe … ein Himmelslicht, ein klares und heimliches, löste sich von der Reinheit seiner heiligen Höhe und stürzte der Erde, ihrer Lüge, ihrem Staube und ihren Enttäuschungen zu. Und die zertretenen Halme lagen schwer ihren aufrechten Brüdern im Kornfelde zu Füßen. Es gab keinen Segen mehr, der sie aufrichten konnte … sie mußten verdorren … und wenn sie dennoch Ähren trugen, so waren es taube. –

Verscherzte Himmelsmacht! …

Es war die Frage, wer sie hier am unseligsten verscherzte – – das Zizerenchen oder Anton Denhard – –?

 

Am Gasseneingang des Mühlberges wartete Anton. Von der Schloßkirche her trug der Nachtwind elf erzene Schläge – schwer, traurig – sehnsuchtsvollem Rufe einer seufzenden Seele gleich. Hoch und dunkel die Nacht – wie ein müdes leeres Herz. Aber der Nachtwind streifte mit kräftigeren Schwingen daher und trieb die Wolken von dannen. Bald hatte der Himmel wieder ein Gewand aus Hoffnungssternen.

Da kam Brigitta allein. Anton trat ihr entgegen.

»Ich habe hier zwei Stunden auf Sie gewartet.«

»Was kümmern Sie sich um mich!« fauchte sie ihn an, nachdem sie sich vom ersten Erschrecken erholt.

»Was wollen Sie der alten Frau sagen, die in ihrer Sorge und Angst schon dreimal hier an der Ecke war, nach Ihnen Ausschau zu halten?«

Nun stand Brigitta stumm und mit gesenkten Lidern, den Hut in der Hand. Der Laternenschein lockte funkelnde Lichter aus den roten Haaren.

»Was haben Sie ihr gesagt?« stammelte sie.

»Sie sah mich nicht. – Kommen Sie!«

Er ging in die Gasse hinein. Das Zizerenchen folgte ihm, gebannt von der Angst vor Mariechen Hetzels Not.

Von den Stufen der Haustür erhob sich die wartende Frau: »Ach Gott – Kind – Herr Denhard – meine Angst – meine Sorge …«

Sie brach in ein erschöpftes Weinen aus.

»Ich muß Sie um Entschuldigung bitten,« sagte Anton leise. »Ich dachte, Sie sorgten sich nicht, Frau Hetzel, wenn Fräulein Brigitta bei mir wäre – und sie war ja doch auch bei mir – und der Abend wollte so sternenklar werden –«

»Nein, nein – ach, jetzt ist ja alles gut,« schluchzte Mariechen Hetzel. »Wenn sie ja bei Ihnen war … Sie sind ein braver Mensch.«

»Ich bin es – –,« beteuerte er lächelnd.

Aber nur das Zizerenchen vernahm den Schmerz in diesen drei Worten, deren erstes er ein wenig betonte.

»Ja, ich bin es … doch auch, der Ihnen Fräulein Brigitta heimbringt,« vollendete er, als schäme er sich des begonnenen Eigenlobes.

»Gott sei Dank,« beruhigte sich Mutter Mariechen überzeugt und trocknete die Tränen. »Dann sagt euch nur ungestört gute Nacht,« wendete sie sich an das Mädchen, während sie Anton die Hand reichte. »Ich geh derweil hinauf und wärme dir den Kaffee.«

Die beiden standen einander allein schweigend eine Weile gegenüber.

»Warum logen Sie?« fragte das Zizerenchen; aber die Frage klang aus so tiefer, heißer Angst auf, daß des Mädchens Lippen zitterten.

»Um eines Mutterherzens Ruhe zu bewahren – um einem Schmetterling den Weg zur Sonne empor nicht zu verwehren, den er noch einmal finden kann, wenn nicht zuviel des goldenen Staubes von seinen Flügeln –«

»Albern!« unterbrach sie ihn; sie lachte mit einem leisen Zischen zwischen den Zähnen hindurch.

Dies häßliche Lachen erschreckte Anton – da verstummte es augenblicks, als hielte ein Engel sanft den Mädchenmund zu: das Zizerenchen schämte sich des abscheulichen Gelächters und senkte mit erstarrenden Mienen das Haupt.

»Ich sah Sie und ich sah auch den Weg ins Korn,« klagte Anton sie jetzt an.

In einer Anwandlung von Entsetzen blieb sie zuerst still … aber dann warf sie die roten Locken zurück: »Er hat ganz recht, wenn er Sie einen Sonntagsprediger schilt.«

»Wer …?«

»Walter. – Ich hatte Angst vor Ihnen, Walter aber meinte –«

»Was meinte er?«

»Nun – Sie sind so, wie er meint.«

Sie maß ihn von Kopf bis zu Füßen.

»Ja – der …!« Anton duckte den Kopf und ballte doch die Fäuste.

Sie sagte nicht Dank, nicht einmal einen Abschiedsgruß, als sie nun, die Röcke schwenkend, die Sandsteinstufen hinauftrippelte … auf einmal das Zizerenchen, aber jetzt ein geschmeidiger, leichter, frecher Hänfling.

»Zizerenchen …«

Das war wie ein Aufschrei – ein verhaltener, von der Seelenangst erpreßter Aufschrei. Er bannte das Mädchen vor die Tür. Langsam drehte Brigitta sich um und kam noch einmal zurück.

»Ich vergaß, Ihnen zu danken und gute Nacht zu sagen,« gestand sie in einem Gefühle der Ehrfurcht vor diesem gütigen Mannesherzen. So hielt sie Anton die Hand hin. Und da er mit hängenden Armen, geneigtem Gesichte stand, die dargebotene Rechte des Mädchens nicht gewahrte, griff sie nach seinen Fingern, um sie liebevoll zu drücken. »Jetzt haben Sie mich nicht mehr lieb,« flüsterte das Zizerenchen. Und eine ihr unerklärliche Traurigkeit wollte sie überwältigen, Tränen netzten ihr die Wimpern. »Nie wieder – –?« Wie ein Hauch. Und als Anton endlich das bleiche Gesicht hob, den Händedruck erwiderte, noch einmal die sehnsuchtsvoll und traurig klingende Frage: »Nie – wieder …?«

Und Anton Denhards Zärtlichkeit für das Mädchen wuchs nur, als er der Verführten Seelenpein erkannte. Was anders denn als die Ahnung kommender Not scholl aus diesem bangenden Nie wieder? Und war die Frage nicht ein heimlich Hoffen?

»Wüßte ich nicht, Brigitta, daß Sie geküßt sind, so wollte ich mit einem Kusse antworten,« widersprach er leise, fast traumhaft.

Und sie neigte die Stirn.

»Wenn ich einmal ungerufen zu Ihnen komme, dann sollen Sie mich küssen,« murmelte sie, dann schritt sie wieder die Stufen hinauf, während er ging. Dort stand sie und lauschte seinen sich entfernenden Schritten. »Liebe ich ihn?« fragte sie sich selbst und sah die Dunkelheit an, den Blick zum Himmel erhoben.

Wieder einmal kreuzte ein fallender Stern den Himmel …

Es ist der Augenblick, in dem man einen ernstgemeinten Wunsch still für sich aussprechen soll. Und wie ein unbewußt erschauerndes Sehnen aus zermalmtem Herzen rang sich über des Zizerenchens Lippen der Wunsch: »Küßte er mich, wenn meine Not mich einst zu ihm gehen heißt!«

 

Eingeworfene Fensterscheiben, von mutwilligen Knabenhänden zerstört, verblindet, wo sie heil in den Rahmen geblieben … so sah mit den leeren Augen des Vergessenwordenseins das Haus auf die Gonzenheimer Landstraße … das Haus, das Schorsch Weihrauch vorzeiten dem Sohne und dessen jungem Weibe erbaut.

Vor dem Bauwerk das Gärtchen – verwildert und wirr drängte es hohes Gras gegen das windschiefe, vom Rost zermürbte Eisengitter. In Unzahl blühten hier Sternblumen, hielten die weißen Tellerchen aufmerksam der glühendheißen Mittagssonne entgegen und nickten manchmal zufrieden, wenn der Wind kühlend um das sterbende Gebäude strich. Am Gitter entlang gewandert waren die Taubnesseln, die ihre elfenbeinfarbenen Kerzchen sogar bis auf den Sandsteinrücken der Umfassung tropfen ließen. Auch auf dem kurzen Wege vom Tor bis zur vorderen Haustür, die mit Bohlen zugeschlagen war, reckten sich die Grashalme hoch, soweit ihnen hier die auf dem Steinboden gewachsenen Disteln zum Wachsen Raum gewährten, oder wo dieser steinige Boden sie ernährte.

Vor all dem Wuchern und Zerfallen, vor dem Blühen der Blumen und vor dem Sterben des Hauses stand ein dürftig aussehender Mann, gekleidet wie ein sonntägig feiernder Arbeiter. In seinem bartlos gehaltenen Greisengesichte, das wie aus Leder geschnitten wirkte, drängten schon wieder weiße Haarstoppeln aus Wangen und Kinn. Die Augen aber schienen wunderlich jung geblieben; sie blickten klar, in fast kindlich unschuldsvoller Helle und ebenso mit kindlichem Staunen auf das Werden der Natur, auf das Vergehen des von Menschenhand Geschaffenen. Nun nahm der Mann die Mütze ab: ein glattgeschorener, wie von schneeweißem Gespinst bedeckter Schädel mit faltig durchfurchter Stirn, mit eingesunkenen Schläfen, mit einem seltsamen Mienenspiele erregter Begeisterung …

Der Mann hob die über der Mütze gefalteten Hände vor die Brust und wandte die Augen himmelwärts.

»Mein Vater gab, der Herr nimmt es! Nun tilgt Gottes strafende Hand das Haus von der Erde, in dem die Sünde der Duldsamkeit, aber auch die Sünde des Fleisches wohnte. – O Herr, wie bist du hart und doch gerecht in deinem Willen, ob du auch mit Skorpionen züchtigst.«

Eine alte Bauernfrau blieb stehen, als sie den Mann so mit sich selbst sprechen hörte.

»Des Häusi do, des hot emol'm Schreiner Weihrauch gehört – wisse Se: dem, der in Preungesheim im Zuchthaus sei Straf abbüßt, weil er sei Fraa mit'm Beil dotgehage hot. Ach, was e schlecht Welt!« So erzählte sie und hätte gern den Kopf geschüttelt; aber auf den Haaren der Kringel, darauf sie die mit Zwiebeln hochgefüllte Mahne trug, ließ es nicht zu. Laut vor sich hin brummend, ging die Alte weiter.

Der Mann antwortete der Bäuerin nicht; er schritt auf das Gitterpförtchen zu, an dem er rüttelte.

Schnee und Regen und Wind und Wetter hatten achtzehn Jahre lang Zeit gefunden, das Eisen zu zermürben. Das Schloß gab sogleich nach, und das in den Angeln kreischende Pförtchen drängte über die Brennesseln, Disteln, Taubnesseln und Grashalme fort und streifte den Sternblumen die Häupter ab.

Da watete der Mann in das hohe Wachsen hinein und brach von den Margueriten einen Strauß; dann schritt er um die Hausecke.

Er erkannte den vom Grünen überwucherten Hof noch: dort der Stall, in dem die milchende Kuh für das Kind Grittchen gestanden – da die Tischlerwerkstatt mit den hohen, das Taghell spendenden Fenstern, deren Eisenrahmen nur noch zerscherbte Scheiben und funkelnde Glassplitter festhielten – hier die hintere Haustür, an der das Dorchen Weihrauch in Putz und Staat, immer öfter ein wenig Theaterschminke auf den Wangen, an Freitagen so oft erschienen war: »Friedebert, ich gehe – auf Wiedersehen – zu meiner Mutter nach Frankfurt muß ich – ich kann's nicht ändern.« So hatte sie dann über den Hof nach der Werkstatt hinübergerufen und war verschwunden.

Und vor dieser Haustür stand der Mann mit dem Sternblumenstrauße in der Hand, als wolle er einen sonntägigen Besuch abstatten. Er rührte an die Klinke, aber die Tür war verschlossen. Lange verharrte er in tiefem Nachdenken. Blüte um Blüte aus dem Strauße fiel zur Erde … bis die Hand leer war. Plötzlich schlug der Mann die Fäuste an seine Brust und schrie auf. Und dann lag der unselige Friedebert Weihrauch auf der Schwelle und schluchzte: »Dorchen … Dorchen …«

Die Sonne brannte ohne Erbarmen vom Himmel hernieder – und ohne Erbarmen brannte die Last schwerer Schuld in des verschollen gewesenen Zuchthäuslers Seele.

 

Wenig später rollte der Frankfurter Zug die Steile nach Homburg hinab, bis ihm die vorklappenden Bremsen halt geboten. Die Wagenschlange war mit weißlichem Staube bedeckt, den der ratternde Zug aus Damm und Gleisbeschotterung aufgewirbelt. Schnaufend kletterten die Reisenden aus den Wagen, aufatmend nach der Befreiung aus den Schwitzkasten der Abteile, denn der Sommer brütete mit Höllenhitze vollkommen windstill über dem schmachtenden Lande.

In vornehmer Haltung, ängstlich besorgt um die Fleckenlosigkeit des taubengrauen Sommeranzuges, entstieg Direktor Pistorius der ersten Klasse. Flotter drückte er das breitrandige Strohhütchen in die Stirn – die Homburger nennen solch ein Ding Butterblümche, aber auch Zwiwwelmähnche. Herr Pistorius hängte den Spazierstock an der gebogenen Goldkrücke über den Arm, drehte an den Brillantringen, richtete an der weinroten Krawatte und brachte den darinnen befestigten Edelstein besser zur Geltung, befühlte die sauber rasierten Wangen, strich das blonde Schnurrbärtchen. Und nachdem er all dies geckige Getue vollendet, schlug er den Weg stadtwärts ein, das dicke Gebäuche trippelnden Schrittes über die Luisenstraße tragend. Immer wieder nickte er zufrieden und mit lächelnden Genießerlippen … er feierte das Wiedersehen mit der Stadt eines seiner köstlichsten Abenteuer. Vor fast allen Schaufenstern blieb er stehen – – aber nur, um sich in dem spiegelnden Glase zu mustern. Donnerwetter, war man doch ein flotter Kerl! Wenn nur die gräßliche Hitze nicht wäre … sie machte doch die aufgedunsenen Wangen ein bißchen arg schlaff, und auf der schwitzenden Haut wollte das Einglas gar nicht haften. So schritt Herr Pistorius des Weges und neigte immer wieder einmal den Kopf, als mache er den von ihm erkannten Häusern kleine Verbeugungen.

Beim Kriegerdenkmal nahe dem Waisenhaus sprach er auf der in der Sonnenglut menschenleeren Straße eine alte Frau an: »Ach – eh –, meine Liebe, wie komme ich wohl von hier aus nach dem Mühlberg?«

»Gehn Se nor mit, ich wohn aach in dere Gaß,« sagte die Greisin.

»Hm … na ja, gehen Sie nur voraus, liebe Frau,« bat Pistorius mit einem betretenen Blick auf die Kleidung des Weibleins.

Die Alte zottelte des Weges. Hinten an ihrem Rocksaum klunkerte der Gassendreck – vor Wochen einmal mußte es geregnet haben. Sie schlurfte in ausgetretenen Mannsschuhen, über denen wollene Graustrümpfe herabgesunken waren. Am Waisenhauseck blieb sie einige Sekunden breitbeinig über der Gosse stehen. Dadurch holte Pistorius die Alte wieder ein.

Sie fuhr mit der Hand an die Röcke und schwenkte den Stoff zwischen die Knie.

»Früher hat der Mühlberg nämlich Siwwehäusergaß geheiße,« fing sie ein Gespräch an, sehr zum Ärger des Direktors Schritt mit ihm haltend. »Hawwe Se da zu tun?«

Pistorius bemerkte zu seiner Beruhigung, daß auf der Gasse weit und breit kein Mensch zu sehen war. So ließ er sich zunächst des Weibleins Gesellschaft gefallen, um nähere Auskunft zu erlangen.

»Ich möchte da eine Familie Hetzel aufsuchen,« erklärte er herablassend.

»Ach, die Hetzels? Guck emal da, so feine Besuch kriehe die!« knöterte die Alte mit zahnlosem Munde. »Ei no, den Hannes wer'n Se awwer schwerlich treffe derhääm, denn der hat heut Nachtschicht in der Gasfawerik. Oder besuche Se am End gar des Zizerenche?«

»Wen …?« machte Pistorius verwundert.

»Des Zizerenche – des Mädelche von de Hetzels. Hmmm, des is e fein Dingelche und könnt wohl Gnad gefunne hawwe bei so eme vornehme Herr wie Ihne. No ja, es wär ganz gut, bevor die Hetzels ihr Last kriehe mit dem Rotkopp, denn aus eme Hänfling wird kää sanft Nachtigall … und wenn ihr die Hetzels aach noch so korz die kupperne Locke stutze.«

»Zizerenchen – ist dies Fräulein Brigitta?«

»Natierlich. Brigitta sagt awwer kää Mensch von dem Mädche.«

Plötzlich schlurrte die Alte schleunig nach dem Rinnstein und blieb darüber stehen. Aus dem Hause nebenan kam ein Bub, guckte grinsend das Weiblein an und schrie ein Wort, das der einstweilen vorausgehende Pistorius jedoch nicht verstand. Mit klappernden Mannsschuhen holte die Alte den Direktor wieder ein.

»Ach, was mich die Schindäser von Kinner ärjern – Sie glaube's gar net!« jammerte sie, neben dem feinen Herrn einhertippelnd, und drohte mit der schmutzigen Faust nach dem Buben zurück. »Des muß ich schon sage: dene Hetzels ihr Mädche hat noch nie hinner mir her geschennt.«

Dann nöselte die Alte vor sich hin und spuckte ein paarmal kräftig aus, was den Pistorius nicht sehr erbaute. Als sie an der Ecke der Dorotheenstraße abermals über den Rinnstein trat, sammelten sich einige Kinder.

»Pißgrittche!« schrien sie mit Gelächter der sich erbosenden Alten zu.

Der Direktor wollte sich nun doch von der lächerlichen Gassengestalt trennen; aber sie huschte ihm auf den schludernden Mannsschuhen so geschickt nach, wie in der Geschichte vom kleinen Muck die Katzenmutter auf ihren Filzpantoffeln.

»Was kann e armer alter Mensch dafor, wenn er's Wasser net halte kann,« klagte sie scheltend. »So e Luderzeug – so e Aasevolk – so verdeppelte Hoseschisser!«

Pistorius machte tüchtige Schritte, das Grittche aber wurde er nicht los. Die lief hast du nicht gesehen neben ihm her und tröpfelte beim Gehen, um über dem Rinnstein keine Zeit zu versäumen, den vornehmen Gesellschafter nicht zu verlieren. Endlich ging's über einen kleinen Platz hinweg in eine enge, leicht bergab führende Gasse.

»Des da, des is der Mühlberg,« bedeutete das Weiblein. »Und ich zeig Ihne auch dene Hetzels ihr Häusi.«

»Sagen Sie – eh –, liebe Frau, wie alt ist wohl die Hetzel?« erkundigte sich Pistorius.

Das Grittche drohte mit dem dürren Zeigefinger und meinte schelmisch: »Du heiliger Strohsack! … hawwe Se denn uff die e Aug?« Der Atem pfiff ihr beim Lachen durch die Zahnlücken. »Sie – Sie – so e Schwerenöter sinn Sie? Die Hetzel is doch e verheirat Fraache.«

»Was – wer – eh – nein!« staunte der Direktor mißverstehend. »Von wem reden Sie denn?«

»No, von wem rede denn Sie?« fragte das Grittche dagegen.

Verärgert blies Pistorius über die Lippen: »Herrgott! … von Fräulein Hetzel … oder genauer: vom Töchterchen der Familie Hetzel.«

»Die und e Tochter?« Die Alte lachte wiederum, den verkrumpelten Mund weit klaffend. »Ei die hawwe ja gar kää Tochter, und dessentwege hawwe se ja doch des Mädche uffgenomme, weil se kää Kinner kriehe.«

»Ach, das Fräulein ist ein angenommenes Kind?« sagte Pistorius höchst erfreut, als erleichtere diese Lage der Verhältnisse ihm wesentlich das Planen.

»Ja no, natierlich … und was for e Kind! … e arm Würmche. Die Mutter war so eine, die für Geld – – no, Sie wer'n schon verstehe: was.«

»So so, so so.« Pistorius nickte sehr zufrieden und leckte über das blonde Schnurrbärtchen.

»Warte Se doch en Augeblick,« bat das Grittche und schlitterte flink an eine Hauswand.

Aber im Erdgeschoß riß eine Frau das Fenster auf: »Mächst de, daß de da vor unserm Haus eweg kimmst, du Ferkel!«

»No herrjeh, wenn ich doch emal muß,« entgegnete das Weiblein unwillig, wich aber gehorsam von der Wand und gesellte sich wieder zu Pistorius. Ein Stück Weges weiter schusselte sie abermals einem Hause zu. »So, hier wohne die Hetzels,« meldete sie und ließ nun tüchtig laufen, als wolle sie dem Direktor das Gebäude recht unvergeßlich bezeichnen.

»Marieche, des Pißgrittche verschandelt dir dein' Rinnstää,« rief eine daherkommende dicke Madam zum offenen Fenster hinauf. »Mächst de dei Säuerei gleich wo annerster hin, du Dreckorschel!« fuhr sie das Weiblein an.

»Gelle, wenn's awwer Ihne Ihr räudiger Karo tut, da sage Sie nix, Sie alt Quetschemadam,« keifte das Grittchen dawider. Und sie hatte mit diesem Ausdruck nicht einmal so unrecht: die Frau hatte wirklich eine Nase, die zwetschgenblau über den Mund vorstieß.

»Ach, laß doch das arme Menschenkind,« sagte droben Mariechen Hetzel mild aus dem Fenster, und die Zwetschgenmadam trollte sich schimpfend weiter.

Dankbar rief das Grittche zum Fenster empor: »Hier bring ich Ihne jemand, der zur Brigitta will, Fraa Hetzel.« Sie nahm knicksend das Markstück, das Pistorius ihr mit vorsichtig gespitzten Fingern hinhielt; flüsternd kam die Alte näher: »En feine Brate, des Zizerenche … Sie hawwe e gut Nas, Herr Baron.« Dann kickerte sie spitz und schlurrte die Gasse hinab.

Der Mann mit den Brillantringen schritt die wenigen Sandsteinstufen empor und betrat das kleine Haus.

Dem Grittche aber begegnete ein alter Mensch, der wie ein sonntägig gekleideter Arbeiter aussah; er lüftete die Mütze über dem kurzgeschorenen Weißkopf.

»Bitte, wo wohnen hier in der Gasse die Hetzels?«

Die Greisin stand und staunte mit bibberndem Munde den Friedebert Weihrauch an. »Ach – ach – ach – wie sehn Sie aus!« rief sie erregt, dann aber faßte sie sich. »Die Welt geht unner, was die Hetzels heut für allerhand Besuch kriege,« verwunderte sich das Grittche. »Ewe is e sehr feiner Herr ins Haus 'gange, der des Fräulein Brigitta besuche will. Ja, die hat e Geriß …«

Der Mann horchte auf. »Ein feiner Herr?« Er starrte mit bösartigen Augen die Gasse hinab. »Zu wem? … wo ist das Haus?«

»Dort, wo die viele Blumestöckelcher uff de Fensterbänkel stehe.«

»Danke.« Er ging mit großen Schritten über das holperige Pflaster des Mühlbergs dahin.

Das Grittche aber lief mit klappernden Mannsschuhen an ein Spezereiwarenlädchen: »Frau Künzel – Frau Künzel – rasch, gucke Se dem Mann da nach!«

Frau Künzel kam schleunig unter die Tür, stemmte die Arme auf die gewaltigen Hüften und wischte sich den Schweiß: »No, was is los?«

»Kenne Se den net?« geisterte das Grittche immer noch ganz erschrocken hinter dem Manne her.

»Kenn ich ganz Homburg?« spottete Frau Künzel mit Mannsstimme.

»E Mörder is er – der Friedebert Weihrauch is es – dene Hetzels ihrer Pflegetochter ihr Vatter, der sei Frau totgeschlage hat,« versicherte das schlotternde Weiblein.

Frau Künzel deutete auf ihre Stirn: »Steigt's Ihne in de Kopp, Grittche? Sie hawwe gewiß lang net iwwerm Rinnstää gestanne – gehn Se driwwe an die Mauer.« Damit schlug sie die Tür des Lädchens zu, daß der Verputz von der Hauswand rieselte.

Scheltend zog das Grittche ein Haus weiter, um die große Neuigkeit zu verkünden. Bis sie die Mühlbergecke erreichte, wo sie auf dem Hinterhöfchen eines klapperigen Bauwerks eine verfallene Baracke bewohnte. Viele Weiber traten in die Haustüren und glusten die Gasse hinab, als müsse sich im Hetzelhäuschen nun gleich Mord und Totschlag zutragen. –

»Ja, meine liebe Frau Hetzel, ich meine es natürlich nur eh hm – gut,« sagte eben Pistorius, protzte mit den Brillantringen und mit dem goldenen Etui, dem er mit weibisch zierlichen Bewegungen eine Zigarette entnahm. »Es tut mir daher sehr leid, Fräulein Brigitta nicht anzutreffen. Allerdings bleibe ich bis morgen … ich möchte die Kleine gern gleich morgen früh mit nach Frankfurt nehmen, damit sie den Tag hindurch versuchsweise in der von mir angebotenen Stellung arbeiten könnte.«

Da pochte es hart und aufschreckend laut an die Tür.

Der Herr Direktor sah sich mit gerümpfter Nase um: »Flegelei …!«

Mariechen ging öffnen.

Friedebert Weihrauch trat stracks ein, das Haupt entblößend.

»Das Kind will ich sehen,« eröffnete er kurz und nannte seinen Namen.

Mariechen Hetzel fand vor Schreck keine Worte.

»Wer ist der Mensch?« machte Pistorius mit zusammengekniffenen Lidern empört, obwohl ihm der Name des Mannes bekannt vorkam.

Nun erst haftete Friedebert Weihrauchs Blick lodernd und klar auf dem Manne mit den Brillantringen. Er trat zur Tür zurück und lehnte sich an, als wolle er dem Pistorius den Weg verlegen.

Langsam und ohne die Augen von dem Direktor abzuwenden, hob er an: »Vor achtzehn Jahren stand vor dem Frankfurter Schwurgerichte ein Mensch, den Gott ausersehen hatte, dem Drachen Sünde eines seiner Häupter abzuschlagen. Allerlei Leute traten für den Mann ein, denn die Welt birgt neben der Sünde doch noch ein Quentlein Gerechtigkeit. Da war auch ein Mädchen, bei dem die Erschlagene genächtigt hatte. Dies Mädchen kannte die Geschichte des toten Dorchen Weihrauch. Und dies Mädchen erzählte die Geschichte den Richtern. In der Erzählung kam aber auch ein Schurke vor, der Wilhelm Müller hieß.« Plötzlich warf Friedebert Weihrauch die Mütze auf den Boden, trat einen raschen Schritt näher und hatte den Pistorius auch schon bei den Schultern. »So heißen Sie doch, Mann?« sprach er kalt, wie ein Hauch aus der Gruft.

»Ich? Sie sind verrückt!«

Da schlotterte die wampige Gestalt in den Fäusten des Zuchthäuslers.

»Ja oder nein!« Friedebert schüttelte den Menschen wie eine nasse Katze.

»Ja …,« gurgelte Pistorius unter dem krassen Griff an seiner Kehle.

Friedebert stieß ihn von sich; der Feigling taumelte gegen Mariechen Hetzels Kommode.

Die entsetzte Frau hatte den Schreck in den Beinen und konnte sich vor Zittern nicht rühren: das da war des Zizerenchens Vater, der Mörder, von dem man dem Mädchen gesagt hatte, er wäre tot … wenigstens, diesen Glauben hatte man ihr nie ausgeredet … und nun stand er hier in der Stube.

»Wilhelm Müller hieß der Schurke, und Sie sind es,« sprach Friedebert weiter zu Pistorius. »Ich erkannte Sie sogleich. An Ihnen sind zwanzig Jahre spurlos vorübergegangen … auf meinem Haupte aber bleicht der Schnee der Reue. Kein Wunder, daß Sie mich nicht erkennen. Denken Sie noch an den Abend in der Weißen Eule? Ich bin der Mann, den Sie vor dem Telephon singen hießen, des Menschen Sohn, den Sie zum Narren machten … ich bin Friedebert Weihrauch, der Feuerwehrmann.«

»Sie müssen mich unbedingt verwechseln,« stammelte Pistorius und richtete vor allen Dingen die weinrote Krawatte, die unter Friedeberts Faust ganz aus dem tadellosen Geknüpftsein geraten war.

»Verwechseln? Unser Herr Zebaoth strafte mich mit Schwerem, doch mit Blindheit nicht,« verwahrte Friedebert sich in feierlich hallender Redeweise. »Ich kam auch nicht, mit Ihnen zu hadern und zu rechten. Ich kam nicht, um den Dieb der Ehre Dorchen Weihrauchs zu sehen. Das Kind zu sehen, kam ich.« Er sah lange starr in das feiste Gesicht des zerknitterten Dicken. Und wie eine halbvergessene Erinnerung kam über seine Lippen: »Meine gute Mutter – bevor der Allmächtige ihr Leid im Grabe verstummen ließ, damit sie ihre Tränen in Gottes Schoß weine – meine gute Mutter schrieb mir kurz vor ihrem Tode, ich solle meine Tat nicht länger als Übeltat beklagen, denn die alte Frau in Bockenheim habe alles gestanden. Es sollte ein Trost sein; aber der Trost ward mir zu neuem Leide. Was bekannte Dorchens Mutter? Das Kind war nicht seines Vaters, sondern eines andern. Der Vater: ich. Der andere: Sie.« Er hob die verarbeitete Hand, die rauh war vom Kokosmattenflechten und anderer bitterlicher Zuchthausarbeit. Er spreizte diese Hand, als müsse er mit allen fünf Fingern zugleich auf den Menschen deuten, der feig und bleich an der Kommode lehnte. Dann wendete Friedebert sich plötzlich wieder an Mariechen: »Wo ist das Kind?«

»Brigitta ist ausgegangen,« schluchzte die erschütterte Frau.

»Ich werde warten,« verhieß Friedebert und lehnte sich abermals an die Tür.

Der Pistorius, nie verlegen, wenn es galt, die eigene Haut in Sicherheit zu bringen, hatte den Plan schon fix und fertig. Er brachte in neugewonnenem Mute die Ringe zur Geltung, fuhr glättend über die rötlichblonden Haare und zwirbelte das fadfarbene Schnurrbärtchen. Dann nahm er in gönnerhafter Haltung Platz.

»Mein – eh – Lieber,« holte er seelenruhig aus. »Ihre Eröffnungen sind mir in der Tat neu.« Er sprach damit wirklich die Wahrheit aus, der er sich vor zwanzig Jahren freilich als ein Schuft entzogen. »Sie können mich aber doch nimmermehr verantwortlich machen wollen für das, was Ihre Frau nach der – eh – Freundschaft mit mir schließlich noch selbst verschuldete.«

»Es ist in Homburg kein Geheimnis, daß Wahres an der Treulosigkeit der jungen Frau Weihrauch gewesen,« warf Mariechen Hetzel gütig ein, als Friedebert stumm blieb.

Da aber reckte er den Arm aus und verbot harten Tones: »Beschuldigen Sie meine arme Frau nicht einer Sünde … niemand – auch ich nicht – hat dazu ein Recht … sie ist vor Gott!«

Dieser über den Tod hinaus getreue Mensch verteidigte das Dorchen Weihrauch auch heute noch, so wie er das getan in jener schrecklichen Dezembernacht in der Weißen Eule.

Pistorius, würdig die Arme unterschlagend, als säße er hier im weißen Gewande des Gewissensreinen, legte mit volltönender Stimme los: »Meine liebe Frau Hetzel, das werden Sie mir gewiß bestätigen können – mein heutiger Besuch gilt einem so edeln Gedanken, als wolle der Zufall es fügen, daß ich – eh, wenigstens in gewisser Hinsicht – ehem – gutmachen könne, was ich in meiner Unkenntnis von den Ereignissen versäumte. Vorausgesetzt natürlich,« warf er noch schnell hinzu, »daß wirklich durch die Behauptungen dieses beklagenswerten Mannes Beziehungen ernster Natur zwischen mir und dem früheren Fräulein Dorchen und ebenso zwischen mir und Fräulein Brigitta festgestellt wären. – Bitte!« Er machte eine Gebärde nach Mariechen, als ob er der leis Weinenden das Wort erteile.

Mariechen wischte die Tränen fort. »Ja gewiß, der Herr Direktor wollte dem Brigittchen eine schöne Anstellung verschaffen.«

»Na, sehen Sie,« wandte sich der Fettwanst großmütig verzeihend an Friedebert. »Wenn Sie jedoch mit Radau dazwischenfahren, lieber Mann, die Herkunft des Mädchens breittreten, tja, dann muß ich mich zurückziehen.«

Er erhob sich schleunig, weil er hoffte, dies Zurückziehen sogleich besorgen zu können.

Friedebert aber flimmerte den im tiefsten Innern verängstigten Menschen so bedrohlich an, daß Pistorius seine Absicht aufschob, eilig nochmals auf den Stuhl sinkend.

»Sie sprachen von Zufall,« redete Friedebert nunmehr weiter. »Den gibt es vor Gottes allmächtiger Weisheit nicht – nein, eben diese Weisheit will, daß zwischen uns beiden, dem Vater und dem andern, über das Wort der Schrift entschieden werde: Die Väter haben Herlinge gegessen, aber der Kinder Zähne sind stumpf geworden. – Also muß ich das Kind sehen.«

»Ach Gott im Himmel!« fuhr Mariechen aber nun erbittert auf. »Wollen Sie dem armen Mädchen das Leben so gründlich vergiften? Mein Mann und ich, wir haben dem unseligen Kinde alles ferngehalten, was sich wie Staub auf sein Gemüt legen könnte. Und jetzt kommen Sie und wollen nicht nur Staub, nein, Schmutz, dicken Schmutz häufen! Herr Weihrauch, das Zizerenchen ist wie sauberes Kristallglas … fassen Sie das mit nicht ganz reinen Händen an, dann hat's im Umsehen Flecke, an denen man lange reiben muß, will man sie gänzlich beseitigen.« Die kleine alte Frau erhob sich und stand nun vor dem finsteren Manne. »Fragen Sie denn gar nicht danach, was Brigitta über Sie weiß?«

»Was soll sie wissen?« murmelte Friedebert. »Daß ich im Zuchthaus wäre …«

»Das ist ein gewaltiger Irrtum,« widerstritt Mariechen Hetzel in hoher Erregung. »Das Brigittchen war ein kleines Menschenkind ohne Verstand, als wir's ins Haus nahmen. Was vor dieser Zeit liegt, das hat sie völlig vergessen. Dafür haben wir als gute Menschen redlich gesorgt, mein Hannes und ich. Und wenn ihr auch einmal der schreckliche Tod ihrer Mutter verraten worden ist … von Ihnen, vom Vater, weiß Sie nur, daß – – auch Sie gestorben sind.«

Friedebert erbleichte. »So bin ich von den Toten auferstanden. Denn Gott ersah mich zu seinem Werkzeug, die Sünde aus der Welt zu rotten,« verkündigte er. »Seine Stimme sprach zu mir in langen, einsamen Nächten –«

»Ach was!« unterbrach ihn die erzürnte Frau. »Gott, und Sie ausersehen! Da sucht er sich wohl andere Leute. Vergessen Sie nicht: Wer Blut vergießt, des Blut soll wieder vergossen werden. – Wenn Sie denn beständig Namen und Wort Gottes im Munde führen.«

»Mein Werk ist nicht von dieser Welt,« predigte Friedebert verzückt.

Die kleine Frau bekam vor Groll einen roten Kopf. »Da muß ich schon sagen: wie Sie sich an der Bibel versündigen! – Ich kann Ihnen nicht verwehren, das Mädchen zu sehen und zu sprechen … das mag Ihr gutes Recht sein. Unterstehen Sie sich aber auch nur im geringsten, das Leben des armen Kindes zu verdunkeln, dann haben Sie's mit mir zu tun. Ich habe stets schützend, hütend, helfend vor dem Mädchen gestanden. Auch durch Sie lasse ich mich nicht von diesem Platz verdrängen.«

»Ich muß Frau Hetzel völlig recht geben,« ergriff Pistorius nun das Wort, denn er ersah die Lücke, durch die er aus allen Verlegenheiten schlüpfen konnte. »Sie haben, Herr – eh – Weihrauch, durch Ihre Tat so schwer in das Leben des Mädchens eingegriffen, daß Sie nichts Klügeres tun können, als für immer aus dem Gesichtskreise Ihrer Tochter zu verschwinden.«

»Meiner Tochter …!« Friedebert lachte rauh auf.

»Jawohl, Ihrer Tochter!« beharrte Pistorius, ohne sich beirren zu lassen. »Dem Mädchen gelten Sie für tot. Es wäre das beste, Sie ließen Ihre Tochter bei diesem Glauben.«

»Der Tod muß mich und dich scheiden, stehet geschrieben,« predigte Friedebert vor sich hin und schloß die Augen. »Soll das noch einmal sein? Denn das Wort ward erfüllt, als Dorchen Weihrauch von meiner Hand fiel.«

»Ich halte den Mann für geistesgestört – es wäre am besten, Sie verständigen die Polizei,« flüsterte Pistorius derweil dem Mariechen zu; dann stand er auf. »Ja – eh – mein Besuch ist nun gewissermaßen erledigt. Wenigstens für heute. Es wird das Gescheiteste sein, wenn ich bis zur nächsten Woche warte. Hoffentlich ist bis dahin alles geklärt, und dann können wir über die Anstellung weiterverhandeln.«

Um ungeschoren von dannen zu kommen, reichte er rasch dem Mariechen die Hand – – und war hinaus.

»Gott will, daß deine Stunde schlägt, sprach der Herr Zebaoth.« Friedebert rief es dem Dicken nach. Dann stülpte er die Mütze auf den geschorenen Kopf und ging, ohne weiter auf Mariechen zu achten.

Er heftete sich an des Pistorius Schritte, der, um sich bis zum nächsten Zug die Zeit zu vertreiben, bei einem Spaziergang durch Homburg Ablenkung suchte für sein schlechtes Gewissen.

 

Tiefstes Schweigen schwieg der Tann, der wie ein Urwald war … nur von Wild betreten, nur ab und an hastig durchschwirrt von einem verirrten Vogel, der sich im Finster der Tannen ängstigte.

Die unheimliche Öde dieses Waldes hieß der »schwarze Bruch« – – in Wochen einmal kam vielleicht ein Mensch in den gespenstischen schwarzen Bruch, flüchtete unter den Tannen dahin, um einen weiten Umweg abzukürzen. Aber das wagten nur ganz mutige Leute.

Bis hierher hatte Friedebert Weihrauch den vor feiger Furcht verwirrten Pistorius getrieben … nicht mit Worten oder Drohungen … nur dadurch, daß er dem furchtsamen Menschen schweigend wie ein Schatten auf den Fersen geblieben.

Als nämlich Pistorius merkte, wie der Mann ihm mit den starren, lauernden Augen eines die Beute treibenden Wolfes auf Schritt und Tritt folgte, suchte er ihm durch Seitengäßchen zu entkommen. Doch da der Direktor in Homburg nicht Bescheid wußte, geriet er in die Altstadt, aus deren engen Winkeln und Sackgassen aber schließlich hinter den Schloßgarten. Dort aber bog er in sinnloser Flucht in die Große Allee ein.

Erst hier kam ihm die Besinnung; er gab die Angst vor einer Beschämung auf und entschloß sich, irgend jemand um Hilfe gegen den irrsinnigen Verfolger anzusprechen. Aber einsam und leer blieb der schattenlose Weg, aus dem Sonnenglut und Trockenheit einen mit dickem Staub bedeckten Pfad durch die Wüste gemacht hatten. Einmal blieb Pistorius stehen in dem verzweifelten Entschlusse, auf Friedebert zu warten, in Güte zu fragen, was er denn eigentlich von ihm wolle. Friedebert aber machte in einiger Entfernung ebenfalls halt und sturte mit glühenden Blicken auf den Unseligen. Kopflos vor Furcht, verwirrt von der auf ihn niederstechenden Hitze, eilte Pistorius abermals weiter. Endlich kehrte er um, faßte sich ein Herz und ging auf den Verfolger zu. Da blieb der Zuchthäusler wieder an den Platz gebannt und erwartete den keuchenden Mann, die Fäuste geballt, die Augen rollend … dem Feigling versagten augenblicks der Mut und das Herz, und er kehrte um und lief. Immer weiter den Weg entlang. Rechts und links die Pappeln, drohend erhobene Ruten, warfen nur schmale Schatten quer über die Große Allee. So schien die Landstraße eine Leiter, deren Sprossen immer tiefer in die Hölle führten.

Das Gotische Haus lugte hell unter den Tannen. Pistorius hatte gehofft, hier träfe er auf eine Wirtschaft, in die er flüchten könnte. Wohl standen einige Tische und Stühle bei dem Gebäude, die Tür aber war verschlossen, das Haus einsam, und ein Schild besagte, daß es erst nachmittags hier Milch und Selterswasser gäbe.

Nun erfaßte Verzweiflung den Gejagten. Er blieb schweratmend stehen.

»Was wollen Sie von mir – ich habe nichts mit Ihnen zu tun!« gellte er mit überschnappender Stimme zu dem ebenfalls stehenbleibenden Friedebert zurück.

Jetzt kam der ehemalige Tischler näher.

»Meinen Schritten vorauf eilet das Grauen, und hinter mir auf meinem Wege nahet der Tod,« predigte er. »Noch will ich nichts von Ihnen; aber solange Sie gehen, gehe auch ich.« Er deutete den Waldweg entlang. »Dort drinnen wohnt Gott. Und wenn er unter den Bäumen hervortritt, wird er mich von dannen weisen – oder in meine Hand geben den Mann, der Dorchen Weihrauch vor sich her in die Wirrnis der Sünde scheuchte, gleichwie ich diesen Mann vor mir her scheuche in die Wirrnis der Forsten. Gehen Sie nur!«

Bannenden Blickes schlich er auf Pistorius zu.

Und wie unter einem Zwange nahm der Direktor den Weg wieder auf und lief in den Wald hinein, denn er meinte Holzschlagen, Menschenstimmen, Rädergeknarre zu vernehmen. Aber er fand niemand … nur die Stille des Forstes starrte um ihn her, der weit offene Schlund des Grauens. Der Schweiß rann dem Verfolgten aus allen Poren, zerweichte den stärkeweißen Stehkragen, tropfte von Stirn, Nase, Wangen und Kinn auf den taubengrauen Sommeranzug. Und die im Walde doppelt so trocken brütende Hitze erschöpfte den Flüchtenden, machte ihm das Blut dampfen, das Herz kochen, die Lunge keuchen, die Augen quellen, so, wie ihm dies endlose Vorwärtstaumeln die Knie zittern, die Sohlen brennen machte.

Weiter, weiter, immer weiter …

Und enger wurde der Wald, greisenhafter die Eichen, grauer die Buchen, bärtiger die Lärchen, schwärzer die Tannen. Dann schloß ein dunkler Hag die beiden Männer ein. Hier hatten sich die Wipfel so eng zusammengedrängt, daß kein heller Schein mehr auf den Waldboden reichte. Verrottete Wurzeln, aus der Hölle heraufgreifende Teufelsfinger, reckten sich in die Höhe. Kein Grünen und kein Moos, fast nichts an Leben, nur glatter Fichtennadelboden. Doch der wurde bald sumpfig und trieb hier und dort eine unheimliche, fremde Pflanze mit tief dunkelgrünen, schweren Blättern. Und dieser Moorboden schwankte unter den Schritten und gab nach und federte oder ließ den Fuß einsinken, hinter den Tapfen gierig matschend … ein seltsamer, eisig das Herz überschauernder Laut. Fern eines Kuckucks Ruf, abgebrochen und verhallend, wie eine klagende Glocke, an deren Strang Gevatter Tod läutet. Dann schlich ein schwarzes Gewässer in zerteilten Rinnsalen zwischen den Stämmen dahin … dick, dunkel wie geschmolzen kriechendes Pech.

Einmal vor aber Jahren hatte sich eine Birke hierher verirrt. In ihrer Jugend voreinst hob sie den weißen Stamm über die sie umgebenden Tannen hinaus, aber mit dem raschen Wachsen dieser Bäume vermochte sie nicht Schritt zu halten. Licht und Luft ermangelten dem heiter sein wollenden Birkengrün, und so ließ der Baum die unteren Zweige dorren und trieb allen Saft und alle Kraft der Krone zu. Auf diese Weise kämpfte sich die Birke zwischen den schwarzen Wipfeln hindurch … mit dünnen Ästen, die krank und dürftig, mit weichen und kränklichen Blättchen trank sie hier oben Sonne … Sonne … des Himmels Licht und die Freiheit. Drunten aber wohnte das Grausen.

Unfern von dieser Birke bildete das Gewässer einen großen Tümpel in einer uralten Wurzelkuhle; der Riese Baum, der früher an dem Fleck geragt, lag tot und vermodernd neben dem Loch, das er, stürzend, mit gewaltiger Wurzel ausgehoben.

Friedebert deutete auf die im Walddüster doppelt weiß schimmernde Birke.

»Dort stehet der Herr Zebaoth,« sprach er dumpf, gerade als Pistorius kraftlos auf dem Waldboden zusammenbrach. Dann setzte der Irre sich auf den modernden Baumstamm und sah grausamen Blickes zu, wie der vollkommen erschöpfte Mensch dem Sterben fast nah nach Atem rang.

Das war der Ort, den man den Schwarzen Bruch nennt.

»Zu trinken – geben Sie mir zu trinken –,« stammelte Pistorius, nach einem vergeblichen Versuch, sich zu erheben und dem Tümpel näher zu kommen.

»Mich dürstet nicht,« entgegnete Friedebert mitleidlos und lachte wirr.

»Wasser – Wasser …,« lechzte der andere, dem das leise Rieseln der Rinnsale die Qualen des Durstes nur steigerte.

»Die Rache ist mein, und ich will vergelten, spricht der Herr,« verkündete Friedebert laut. Dann verließ er den toten Tannenriesen, stand mit erhobenen Händen vor der Birke, sah an dem weißen Stamme hinauf und rief: »Vater, in deine Hände lege ich das Recht. In der Einsamkeit warst du mir ein Hort, nun sei es auch in der Stunde meines Amtes. Ich bin von dir gesandt, die Sünde zu tilgen. Siehe, dort ist einer, dem das Herz krank an seinem sündigen Gewissen. Soll ich meines Bruders Hüter sein, spricht Kain …?«

Der Wind orgelte in den Tannenwipfeln, denn ein Unwetter wollte über den Taunus kommen. Die Birke knisterte mit den Zweigen. Ein kurzes Aufbrausen floß über den Schwarzen Bruch dahin. Dann murmelte hohl nur noch das Gewässer, das in die Wurzelkuhle einströmte, langsam an ihrem Rande sich hindrehend.

Da neigte Friedebert ergebungsvoll das Haupt.

»Ich hörte dich, Vater … dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden …!« Mit sanften Schritten ging er zu dem in den Waldboden hinein stöhnenden Pistorius. »Ich will dich laben – komm,« sagte er stillen Gesichtes und versuchte dem Erschöpften aufzuhelfen.

Doch der, im Glauben, Friedebert wolle ihm ein Leid tun, stieß einen wilden, gellen Angstschrei aus. Der Schrei echote aus dem Forst zurück, an den Bäumen sich brechend, bis er fern wie eine einzige wimmernde Klage verscholl.

Das gab Friedebert einen Riß. Er hob lauschend den Kopf, starrte verwundert und entsetzt in das Tannendüster.

»Dorchen – dein Ruf … nein, nicht – nicht – Blut an meinen Händen …,« lallte er.

Plötzlich sank er auf die Knie, bedeckte sein Gesicht mit beiden Armen und weinte laut.

So sah er nicht, wie Pistorius Kraft genug gewann, nach dem Tümpel zu kriechen, wo er seinen Durst löschen wollte. Der dicke Mensch stützte die Hände auf den Rand der Kuhle und bog das vor Hitze und Aufregung glühende Gesicht über die schwarze Fläche eisig kalten Wassers. Schon berührten die verdorrten Lippen das Naß, da rutschte unter den aufgestützten Händen der moorige Rand der Kute zusammen. Der schwere Körper schoß kopfüber. Drunten fanden die krampfhaft greifenden Hände keinen Halt, denn der zerfaulte Grund des Tümpels war glitschiger Mutt, der gierig schluckte. Ein paarmal schlug der Erstickende mit den Beinen; doch damit stieß er sich nur tiefer in das Loch. Dann lag er still, den Oberleib bis an die Hüften unter Wasser. Starr und weiß stand die Birke, starr und weiß … wie der Tod … und nun fiel eine Schar Krähen in die Wipfel ein.

 

»Jammerlappe – laß de Kopp net hänge!« knurrte August Denhard den Sohn an. Die Familie saß um den Abendtisch. Das Sannchen schälte Quellkartoffeln. Frau Anna befreite Heringe von den Gräten.

»Gebrauche doch nicht so rohe Schimpfnamen,« ermahnte die Mutter ihren Mann, mit einem besorgten Blick nach Anton. »Du bist doch hier nicht bei deinen Tagelöhnern.«

»Ach was!« lehnte Vater August sich auf. »Die Gall geht ääm iwwer, wenn mer den Jammerlappe dasitze sieht, wie e bedahmt Christkindche.«

»Eich hon's jö gleich gewißt, der Rotkopp bringt Unäänigkeit ins Haus,« bemerkte Sannchen, den Bruder spöttisch ansehend. »Rotä Haarä, Gott bewahrä,« setzte sie in erzwungenem Hochdeutsch hinzu, fiel aber gleich wieder in ihre gewöhnliche, breite Sprechweise. »Hätte mä uns den Sonndag nor for uns allaa gehale.«

»Aus dir spricht nur der Neid der Häßlichkeit,« sagte Anton ruhig zur Schwester. »Wie nennt Vater dich immer? … den Besenstiel …«

»Da, butz dä doch dei Katoffele selwer,« fuhr das Mädchen wütend auf und warf dem Bruder eine halb geschälte auf den Teller.

»Ruhe!« dröhnte Vater Denhards Baß wie ein Wetterschlag. »Das merk dir, du Hoppestang: im Säustall sin mer net, daß mit'm Esse erumgeschmisse wird!« schalt der Hausherr die ungebärdige Tochter. Dann wandte er sich sanfter zu Anton: »Des Sannche hat awwer gar net so unrecht, Borsch. De Hetzels ihr Mädche is der Zankappel an unserm Tisch geworde. Nach dem Abendesse werd ich mit dir dadriwwer e Hühnche pflücke.«

»Dafür bin ich nicht zu haben, Vater,« wies Anton den Alten zurück. »Ihr mögt über das Fräulein denken wie ihr wollt. Ich habe meine eigenen Gedanken … und aus verstehender Gesinnung heraus werde ich Brigitta immer verteidigen.«

August strich seinen gewaltigen Germanenbart und sah nicht ohne Stolz in Antons blasse Züge.

»Der Mensch, der treu bleibt, ist auch ehrlich,« brachte er nach einer Weile vor. »In der Hinsicht also bin ich mit dir zufrieden. Treu und ehrlich solle meine Kinner allerwege sein. Freilich net bloß so, wie mer des von de Dienstmädcher sagt.«

Er spießte eine Kartoffel auf die Messerspitze, tunkte sie in den Blechnapf voll Speckschmelze und schob sie in den Mund, einen Viertelhering hinterher; so kaute er nachdenklich und malmte mit den Kiefern, als gälte es Gott weiß was für einen zähen Braten.

Sannchens Herzkrankheit färbte ihr die Backen dunkelblau. »Ich sag der Brigitta net mehr nach, als ich verantworte kann,« behauptete das Mädchen. »Was ich waaß, wääß ich von eigene Aage her.«

Vater Denhard schlang den Mundvoll hinunter, um sprechen zu können. »Du weißt'n Dreck, Besenstiel,« runzte er nachkauend.

»Ja freilich, des is'n Dreck, wenn sich ää mit eme Kerl erumtreibt,« beharrte Sannchen. »Neilich awends, wie ich dorch de Schloßgaarte 'gange bin, hab ich se uffgestöbert … no, ich dät mich schäme … mer is doch aach net mehr so dumm, daß mä net wißt, was da getriwwe werd.«

»Du lügst!« knirschte Anton, und seine Augen flammten.

»Halt!« gewitterte Vater August. »So wenig wie du hat deine Schwester des Lüge gelernt. – Awwer, Schluß der Debatte. Jetzt wird 'gesse.«

Dann herrschte Schweigen um den Tisch.

Nach dem Essen ging Anton vor das Haus, um auf der Bank neben der Tür allein zu sein.

Der Wind lief den Schloßberg herab und trieb auf der Straße vor der Ledermühle sein Spiel mit Staub und Strohhalmen … er kam einem aufziehenden Gewitter vorauf. Abend dämmerte. Und drüben an der Gartenmauer huschte schon ein Igel; der suchte den Spalt im Holztor der Meierei, um zu den Erdbeeren zu gelangen, denn dort naschten die Gartenschnecken an den süßen Früchten.

Da kam Mariechen Hetzel mit einem fremden Manne des Weges.

»Guten Abend, Herr Denhard,« grüßte die alte Frau. »Wir möchten nur nach dem Zizerenchen fragen.« Sie deutete ein bißchen verlegen auf den Mann. »Das ist nämlich der Vater des Mädchens – ja, der kam nun … und er war heute vormittag schon einmal vergeblich da. Ich bat Brigitta, doch daheim zu bleiben – aber sie trieb und drängte fort und war so aufgeregt. Hoffentlich hatte sie doch nicht etwa Streit mit Ihnen? … weil sie behauptete, sie hätte etwas Wichtiges mit Ihnen zu reden, und das ließe sich nicht bis morgen aufschieben.«

Anton senkte das Kinn, biß die Lippen und schwieg: lügen mochte er nicht – die Wahrheit sagen noch weniger.

»Nun, Herr Anton …?« Mariechen Hetzel sah den Stummbleibenden an; verwundert schüttelte sie das Haupt und trat ängstlichen Gesichtes in den Anbau der Ledermühle, der den Denhards als freie Dienstwohnung verstattet war.

Friedebert Weihrauch aber nahm wortlos müde neben dem jungen Manne auf der Bank Platz; er legte die Arme auf die Oberschenkel, ließ die Hände zwischen die Knie hängen und sinnierte vor sich hin.

Aus dem offenen Fenster über der Bank klangen die Stimmen der beiden Frauen.

»Aber, Mariechen,« sagte Frau Anna vorwurfsvoll. »Was sollten wir denn dabei haben, wenn wir dir versichern, daß deine Tochter nicht hier war.« Und auf eine Entgegnung Mariechen Hetzels fügte sie eindringlicher hinzu: »Nein, nein … das Mädchen war überhaupt noch nie bei uns im Hause. So hat sie halt gelogen.«

Der greisenhafte Mann neben Friedebert lachte leis auf. »Die Sünde ist Lüge, wie lügen sündigen heißt,« sprach er dumpf. Dann sah er – mit einem Ruck sich aufrichtend – zum Himmel hinauf, an dem der Abendstern den ersten Funken zu dem großen Sternenflammen aufglimmen ließ. »Herr, deine Allwissenheit ist den Menschen Gnade, und du sandtest mich zu rechter Zeit,« predigte Friedebert, als spräche er laut ein Gebet.

»Und in der Frau Künzel ihrem Lädchen verstummen die Frauen, und eine nach der andern drückt sich, sobald ich komme,« erklärte Mariechen Hetzel jetzt weinend. »Sag's doch, Anna, sag's doch, was das alles bedeutet.«

»Ich mag nicht Brennesseln in einen friedlichen Garten säen,« weigerte sich Frau Denhard standhaft. »Mariechen, wende dich an andere Leute als an uns, wenn du die Wahrheit wissen willst.«

»Aber deine Worte verraten doch, daß ihr alles wißt,« schluchzte Mariechen. »Die Frau Künzel hat's doch laut genug gesagt: Wenn sich in der Lederfabrik die Frauenzimmer etwas recht Gemeines sagen wollen, dann schimpfen sie einander Zizerenchen. – Das sagte sie, und als ich in den Laden trat, verstummte die Frau Künzel.«

»Unsere Arbeiterinnen? Woher mag denn die Künzeln des hawwe? Ich selwer hab dergleiche bis uff de heutige Tag noch nie von unsere Ledermädercher gehört,« brumbaßte August Denhard beruhigend. »Ja, mei lieb Frau Hetzel – warum rücke Se der dicke Künzeln net einfach uff de Buckel und verlange Aufklärung? Komme Se emal gleich mit hin zu ihr … wir wolle gleich feststelle, woher se des Gebabbel von unsere Fabrikmädcher hat. Ich meinesteils hab's noch nie vernomme.«

Anton verstand Frau Mariechens Erwiderung nicht, denn Friedebert Weihrauch sprach ihn jetzt an.

»Glauben Sie an Gott?« fragte der ehemalige Tischler eindringlich, plötzlich das erste Wort an Anton richtend. Doch ohne die Antwort abzuwarten, redete er weiter: »Ich glaube an ihn! Denn in der großen Einsamkeit der Mauern um mich kam er zu mir, wies auf die Lichter, die ihn umflammten, und sprach also: Siehe, ich rede mit feurigen Zungen, und mein Wille ist Gerechtigkeit; ich aber will dich in die Welt senden, das Böse auszurotten. – Da ward mir klar, ich würde wie Gott sein und wissen, was gut und böse ist. Und ich fiel auf mein Angesicht und gelobte: Dein Wille geschehe. Und Jahr um Jahr wartete ich auf die Freiheit, und jeder Tag ward mir zum Augenblick, und jedes Jahr zu einem kurzen Tage. Heute aber, als die Sonne leuchtete, leuchtete sie auch auf den Tag meiner Befreiung. Nun will ich in die Welt gehen und künden, daß Gott mich sendet, so wie er seinen eingeborenen Sohn Jesum Christ gesandt, uns vom Übel zu erlösen.«

Der Zuchthäusler sann vor sich hin; über seinen lederfarbenen, verfallenen Zügen lag das wirre Leuchten religiösen Wahnes.

»Net schlage, Vatter!« flehte im Hause das weinende Sannchen. »Ich geh mit der Fraa Hetzel zur Künzeln und sag, daß ich geloge hab.« Und häufig vom Donnergepolter und Baßgerumpel August Denhards unterbrochen, erzählte sie nun von ihrer Eifersucht auf das Zizerenchen, dem sie nicht gegönnt, daß alle Menschen es so hübsch fanden. »Auch du, Vatter, hast mir in ei'mfort vorgehalte: Besenstiel, nebe dem schöne Hetzelsmädche hast de wie e Vogelscheuch ausgesehe, und der Borsch, der dich heimbegleit' hat, der hat am Sonntag nur en Hanswurscht aus dir gemacht, und wenn er dich gekitzelt hat, hat er des Zizerenche damit gemeint. – Da is mer der Haß und der Groll uffgestiege, und ich hab se schlecht gemacht, wo ich nur konnt – die Brigitta Weihrauch.«

Der Irre draußen hatte den Namen aufgefangen.

»Brigitta?« murmelte er aufhorchend. »Nein, sie hieß Dorchen – Dorchen Weihrauch. – So ihr das Otterngezücht nicht vertilget, wird es dahinkriechen und das Gift seines Zahnes versprühen. Und der Menschen Sohlen werden das Gift in alle Welt tragen. Bis alle Erde nur noch ein einzig Gift. Da muß kommen der Tag des Zornes. Und Leben wird Strafe, Strafe wird Verzweiflung, Verzweiflung wird Sterben sein. Und diese Erde, der Schemel für die Füße des Herrn Zebaoth, wird rot sein vom Blute, wenn die Menschen einander in Sünde vertilgen.« Er hielt Anton die Hände hin: »Auch an meinen Händen war Blut …«

»Bereuten Sie nie Ihre Tat?« forschte Anton, unheimlich berührt vom Wesen wie von den Reden des sonderbaren Menschen.

Die Frage wirkte, als brächte sie den Verworrenen der Wirklichkeit näher; mit ruhiger Stimme und sachlich erzählte er: »Ich bereute in tiefer Verzweiflung und badete die Steine meines Gefängnisses mit meinen Tränen. Und meine arme Seele krümmte sich unter dem Schrei, der mir aus allen Ecken, aus den Wänden, aus dem Fußboden, aus jedem Lichtstrahl zurief: Mörder! – Auch heute im Walde vernahm ich ihn wieder, diesen Schrei Dorchen Weihrauchs. – O, das ist lange Jahre her … da kam der Pfarrer mit der guten Stimme zu mir und lehrte mich: Rufe zu deinem Gotte! – Das tat ich. Und Gott hörte mich. Des Nachts sprach er mit mir, und ich sprach mit ihm. Aber bei Tage blieb ich stumm und begrub das Geheimnis meiner Stimme in der Brust. Lange, ewig lange Jahre. Nachts aber, wenn ich allein war, ließ ich meine Stimme erschallen und redete mit Gott, dem Herrn. Dann schlugen mich am Tage die Menschen. Aber je mehr sie mich schlugen, desto lauter redete ich in den Nächten mit Gott. Bis ich so sprechen lernte, wie Gott wollte, daß ich spräche. Denn ich rede in seinen Worten.« Dann legte Friedebert Weihrauch schwer eine Hand auf Antons Schulter und befahl: »Künde den Deinen, daß Gott durch mich zu dir redete.«

Da stoben in der Dunkelheit helle Röcke des Weges.

Gleich drauf stand Brigitta Weihrauch vor Anton. Aufgeregt, keuchend, atemlos. Sie zog ihn von der Bank auf und nahm ihn beiseite.

»Ach, Herr Denhard …,« stieß sie hervor. »Ich war den ganzen Abend nicht daheim … ich komme zu Ihnen, flüchte zu Ihnen … ich bin in Verzweiflung … zu Mutter Mariechen sagte ich, ich ginge zu Ihnen … immer in diesen Tagen sagte ich, daß ich mit Ihnen zusammen wäre … nun hat der Walter mich verlassen … ja, er schlug mich sogar … retten Sie mich … retten Sie mich …«

Die Wörter und Sätze überstürzten sich aus ihrem Munde. Sie hielt Anton bei den Händen, drängte sich immer näher an ihn, bis ihre junge Brust eng an der seinen lag. Und in der Verzweiflung schlang das Zizerenchen die Arme um Antons Nacken und drückte das heiße Gesichtchen an des Freundes Hals, zitternd und schmeichelnd, fürchtend und flehend. Und immer wieder wie ein Sterbehauch: Retten Sie mich! …

Ein Tor ist immer willig, wenn eine Törin will …

Drum mußte Anton Denhard die Lüge noch einmal auf sich nehmen.

»Armes Zizerenchen,« sagte er leise und tröstend und strich der Fassungslosen zart über das rote Gelock. »Armes Zizerenchen … ich will es tun.« Er legte den Arm um des weinenden Mädchens bebende Schultern und nahm die Betrogene liebkosend ans Herz.

Friedebert Weihrauch hatte von der Bank aus den Auftritt beobachtet – mit staunendem Munde, aber auch mit glühenden Augen. Nun erhob er sich langsam und kam näher, auf den Zehen schleichend wie ein böses Tier. Plötzlich stand er vor dem Paare.

»Mein Amt ist, die Sünde zu tilgen!« schrie er gellend auf. »Ich dachte, du wärest tot, Dorchen Weihrauch?« Dann schrak er auf und sah mit begreifenden Blicken um sich. »Hier stand in jener Winternacht der Klotz mit dem Beil. Und das Beil nahm ich mit. War das gestern erst? Ist das noch einmal?«

Er schwang den Arm hoch, als hielte er eine Waffe – einen Augenblick stand der unselige Mensch starr in irrer Verzückung. Dann sauste die Faust hernieder und schmetterte dumpf auf des Mädchens Haupt.

Mit einem Wehlaut brach das Zizerenchen zusammen.

Anton Denhard preßte die Bewußtlose an seine Brust. Dann neigte er sich und küßte den Mund der Sünde, als sei er bereit, sie durch diesen reinen Kuß zu entsündigen, alles zu verzeihen. Er küßte sie, denn sie war ja zu ihm gekommen, wie sie verheißen.

»Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern,« predigte Friedebert Weihrauch in frommem Entrücktsein. Dann schritt der Irrsinnige von dannen und verschwand in der Nacht.

 

Die Weiße Eule in der Altstadt war in den langen Jahren eine stille Kneipe geworden. Wie voreinst Elise Reuls Jugend und Selbstbewußtsein die alten Knasterbärte verscheuchte, so hatte nach dem traurigen Tode Laborius Zeunleins der tiefe, trauernde Ernst der Wirtin die jungen Lustigmacher vertrieben. Und nur der heisere Leppert und der weiland Ratsschreiber Karl Heim blieben treu. Friedrich Lepperts Stimme war noch heiserer, sein zu Spott und Gefopp neigendes Wesen zur leibhaftigen Bosheit geworden. Karl Heim aber, mit standhaftem Sitzfleische begabt, hatte sich in den wechselvollen Zeitläuften bis zum Kanzleivorsteher emporgesessen.

Elise aber, ehemals das blühende, üppige Mädchen – – eine finstere, magere Frau saß neben dem noch aus Friedebert Weihrauchs Narrentagen herstammenden Faßbock. Die früher mit der Häkelarbeit so fleißig beschäftigten Hände … seit Jahren und aber Jahren nun stichelten sie an einem seltsamen weißen Gewande, das, wie das Kleid der Penelope, nie fertig werden wollte. Fragte einer, was das für ein Ding geben werde, so antwortete Elise mit einem müden Lächeln kurz: »Mein Totenhemd.«

Es war der boshaft witzelnde Leppert, der aufgebracht hatte: wenn das Totengewand fertig wäre, wäre es auch mit dem Leben Elise Reuls fertig … und weil sie sich vor dem Sterben fürchte, so fürchte sie auch das Fertigwerden des Sterbekleides … daher sie denn immer wieder etwas Neues daran zu tun fände.

Elise Reul wußte selbst nicht mehr, wieso sie dahin gelangt war, den garstigen Witz für Ernst zu nehmen. Wirklich aber scheute sie die Beendigung der Arbeit. Sie verwendete ungemeine Sorgfalt auf jedes Nähtchen, auf jedes Blümchen; sie umstickte Halsausschnitt, Ärmelränder und Saum mit ganz feinen Blütchen und Blättchen. Und auf dem Brustlatz sollten ein Kreuz, eine Dornenkrone und eine über diesen schwebende, von Strahlen umflossene Taube sein.

Als Elise an diesem Sommerabend das Linnen in die Hand nahm, entdeckte sie, daß nur noch der letzte der Strahlen zu sticheln wäre. Sie ward bleich und saß nachdenklich da; so grübelte sie, was sie sich nun noch an dem Gewande zu tun machen könne. Doch, wie sie auch sann und sann – ihr müdes Herz und ihre seit Zeunleins Tod erschöpfte Seele konnten nichts Neues mehr erfinden, was die Arbeit an dem Totenhemde verlängern würde.

Der Kanzleivorsteher Heim kam zum gewohnten Abendschoppen. Kurzatmig, wie es die auf dem bequemen Pöstchen im Rathause angemästete Leibesfülle bedingte, bestellte er sein Bier.

»Wissen Sie auch das Neueste, Elise Reul?« hob er an, nachdem er den Schaum fortgeblasen und den ersten Schluck geprüft. »Der Friedebert Weihrauch hat seine achtzehn Jahre Preungesheim hinter sich. Fünfzehn Jahre wegen des Totschlags an Dorchen Weihrauch – drei Jahre dazu wegen Körperverletzung, begangen an einer Freundin der Ermordeten. Gestern war die Zeit um. Heute früh wurde der arme Kerl in der Siebenhäusergasse gesehen.«

Elise blieb vor dem Tisch stehen, auf den sie das Bier getragen; düster sah sie aus in ihrem dunkeln Kleide. Und sie nickte schwer mit dem Kopf, auf dem hier und da ein silbriger Schimmer das Altern verriet.

»So habe ich mich nur um einen Tag zu spät verrechnet,« sagte sie.

»Ich weiß, Sie warteten auf den Friedebert, denn Sie hoffen, er brächte Ihnen das letzte Wort Zeunleins,« erwähnte Karl Heim. Mitleidig sah er sie an. »Elise, bauen Sie nicht länger darauf,« mahnte er ernst; und ein wenig zögernd berichtete er: »Ich hatte heute vormittag ein Schriftstück in der Hand, darinnen der Gemeinde Homburg mitgeteilt wurde, sie habe für den Friedebert Weihrauch die Verantwortung zu übernehmen, ihn notwendigen Falles in das Irrenhaus zu überführen.«

»Barmherziger Gott,« flüsterte Elise mit versagender Stimme.

»Nun, es muß nicht so schlimm sein, wenn sie das in Preungesheim nicht selbst besorgten,« meinte der Kanzleivorsteher begütigend. »Aus dem Berichte geht denn auch hervor, daß der Weihrauch einer jener stillen Irren ist, die nur mit einer fixen Idee behaftet sind, aber keinem Menschen etwas zuleide tun.«

»Auch das ist traurig genug,« murmelte Elise und wischte die Tränen von den Wimpern.

Karl Heim seufzte. »Gar manchmal in den Jahren habe ich darüber nachdenken müssen, wer von uns damals noch so jungen Leuten eigentlich die Schuld hatte. War ich es, war es der Leppert …? Es ist mir niemals mehr so recht zu Sinne gekommen, welcher von uns den Tischler auf die Schlechtigkeit seiner Frau ureigentlich hingewiesen.«

»Es ist zu spät, darüber zu hadern,« wendete Elise ein. »Ich bin ernst, still und einsam geworden über jene Zeit. Es muß ein Unglückstag gewesen sein. Ich aber habe nie aufgehört, den Leppert verantwortlich zu machen; er fing von Dorchen Weihrauch an jenen Abend.« Sie deckte die Hand über die Augen. »Zwei Menschen gingen zugleich zugrunde. Den einen trieb es in Mord und Zuchthaus … den andern aber in den Tod. Ich weiß nicht, was schlimmer war – ich weiß daher auch nicht, wen ich mehr beklagen soll. Alle meine Tränen jedoch weinte ich um den in Schneesturm und Winternacht Gestorbenen.«

Sie ging an den gewohnten Platz neben dem Faßbock, drehte, und wendete das Linnen; aber ihre traurigen Augen ersahen nichts, was sich noch weiter an dem Grabkleide arbeiten ließe. So fädelte sie den letzten Faden ein und begann den letzten Lichtstrahl an dem Heiligenschein der Taube.

»Es wird sich denn nun erweisen müssen, ob der Weihrauch auf freiem Fuße bleiben kann oder ob er besser in der Kreisirrenanstalt untergebracht sein dürfte,« ergänzte Karl Heim nach einigem Schweigen seinen Bericht.

Aber Elise gab ihm keine Antwort.

Das immer mehr aufziehende Gewitter verdüsterte die Gaststube.

Dann kam der Friedrich Leppert. Der war so ein recht Alter geworden. Dünne Haare, die kaum noch die Glatze decken wollten – ein schmallippig eingekniffener Mund – Falten, Rünzelchen überall im Gesichte: die Winkel, in denen die Boshaftigkeit hockte – die Augen versteckten sich hinter wimperlosen Lidern, lauernd auf den Erstbesten, dem ein Tort anzutun ginge.

»Gu'n Awend mitenanner,« grüßte Leppert und deutete gickernd auf einen hinter ihm eintretenden Mann. »Da bring ich en neue Gast, Elise Reul. Es is der Totegräber Sargholz.«

»Machen Sie nicht so schlechte Witze – mein Name und mein Stand tun nichts zur Sache … aber ich bin weder Totengräber noch heiße ich Sargholz.«

Der Fremde sagte das mit einer leeren, klanglosen Stimme, als ob er weder Lungen noch einen Kehlkopf besäße. Er hängte den breiten schwarzen Schlapphut an einen Nagel und entblößte dabei einen vollständig kahlen Schädel. Das bartlose Gesicht war überaus klein geformt, von straffer und wie über die Knochen gespannt aussehender, bleicher Haut. Tiefliegende Augen duckten in den Höhlen, verschwommen in ihrer Beerenschwärze, aber von ruhigem, stetig ernstem Blick. Der merkwürdige Mann hatte den Scherz Lepperts mit einem starren Lächeln abgelehnt … dies Lächeln war noch in dem knochigen Gesichte, als er jetzt Elise musterte – ein Grinsen, bei dem die strichdünnen Lippen zwei Reihen langer gelber Zähne befreiten.

»Ich möchte einen Imbiß zu mir nehmen, liebe Wirtin,« bat der Mann hohl. Dann strich er den langen, totengräbermäßigen Schoßrock aus schwarzem Tuche glatt und setzte sich, ein Bein über das andere schlagend. Die dünnen Schenkel und die spitzen Knie, die eckigen Schultern und die flache Brust – das alles machte den Eindruck, als habe dieser Mensch nicht ein Quentchen Fleisch am ganzen Leibe.

»Ich hatt nämlich heut in Oberhain zu tun, und uff'm Herweg dorch de Wald hab ich den Herr da kenne gelernt,« erzählte Friedrich Leppert. »Elise, ich bin vom Laufe dorch die Hitz müd und hungrig … bringe Se mir aach was zu esse.« Er reckte die Glieder und prustete. »Heiß war des heut wie in eme Backofe – es zieht awwer e schön Gewitterche uff, no, da wird's schon e bissi kühler wer'n.« Dann wendete er sich an Karl Heim. »Iwwerigens, du gehörst ja so halb und halb zur hohe Obrigkeit, du mußt uns sage, wie mer uns zu verhalte hawwe. Ich hab dem Herr da nämlich de kürzere Weg durch de Schwarze Bruch gezeigt. Sonst geht gewiß kää Mensch in des unheimliche Tannegehölz – awwer grad mir muß des heut in de Sinn komme. Natürlich hat mer auch gleich was Schreckliches drin erlebe müsse. Wir hawwe nämlich bei der Gelegenheit en Tote im Schwarze Bruch gefunne. E schrecklicher Anblick. Ob e Mord oder e Unglück, des war net zu unnerscheide. Ob alt ob jung auch net. Die Leich liegt mit'm Kopp in eine von dene Pfütze im Schwarze Bruch, und nur die Bää gucke eraus.«

Karl Heim wollte sich wichtig just über die Form der bei der Polizei zu erstattenden Meldung verbreiten, als der Fremde lachte … ein tonloses, stumm fast hustendes Lachen.

»Darüber können Sie lachen?« sagte der Kanzleivorsteher halb erstaunt, halb vorwurfsvoll.

»Nicht über den Toten,« versicherte der Fremde ernsten Tones, ohne jedoch sogleich das zähnefletschende Grinsen von seinem Gesichte bannen zu können. »Ich lachte, weil ich an die Furcht dachte, die mein Begleiter beim Anblick der Leiche bewies.«

»E Wunner! … da soll mer sich net ferchte?« Leppert schuckerte zusammen. »In mei'm Lewe hab ich so was Gräßliches noch net gesehn.«

Der Fremde wiegte den kahlen Schädel: »Furcht vor dem Tode oder vor dem, was tot, ist Narrheit. Der Tod erlöst von allen Übeln dieser Erde.«

Elise Reul seufzte laut, und ihre fleißige Nadel, den Faden streifend durch das Linnen ziehend, schien den Seufzer zu wiederholen.

Der Fremde aber sprach weiter: »Nicht mit Knochenhänden greift Bruder Hein uns nach der Kehle, nein, milden Auges senkt er uns den verzaubernden Blick ins Herz, sanft gebietend: Nun ruhe aus!« Er schien über etwas nachzudenken, dann kam eintönig aus seinem Munde: »Vor Jahren einen Winter einmal war ich schon hier in der Stadt. – Von meinem Geschäfte wollen wir später reden.« Er fügte das mit einem wunderlichen Verrenken seiner knochigen Finger so nebenbei hinzu. »Damals hatte ich mich zeitig morgens auf den Weg gemacht, um anderswo – – nun sagen wir: meine Pflicht zu tun. Da traf ich auf der tief verschneiten Landstraße einen Schlitten mit scheuenden Pferden … die klugen Tiere wollten nicht weiter … sie hatten einen Toten unter dem Schnee gewittert. Der Fuhrmann und ich, wir gruben den Gestorbenen aus seiner kalten Sterbestätte. Ich sah nie ein friedlicheres Menschenantlitz. Seitdem habe ich Tote immer nur beneiden können. In welcher Seligkeit muß dieser Mensch gestorben sein!«

Mit starren Augen sah Elise herüber, ein wehes Lächeln um die Lippen. »Glauben Sie das?« fragte sie inbrünstig.

Der Fremde streckte seine knöcherne Hand nach ihr hin. »Das glaube ich felsenfest,« beteuerte er. »Dieser Mensch starb mit einem lieben, lichten Gedanken. Ihm kam der Tod als ein Glück – so wahr, wie ich mit dieser Hand nach seinem Herzen fühlte. Doch da war kein Leben mehr, nur noch eine sanfte, tiefe, schlummerreiche Stille. Ihm war wohl.« Lange Minuten schwieg er und dachte nach, dann bemerkte er freundlich: »Sie vergaßen, liebe Wirtin, daß ich etwas zu essen bestellte.«

»Mich hawwe Se aach vergesse, Elise,« tadelte bissig Friedrich Leppert.

Elise legte das Linnenkleid fort und ging schweigend in die Küche.

Als sie draußen war, mahnte gutmütig Karl Heim den Fremden: »Sprechen Sie nicht mehr von dem Toten im Schnee – Sie rühren an eine traurige Geschichte.«

»O, ich weiß …!« Der Fremde nickte langsam mit dem kahlen Schädel.

Die drei Männer schwiegen vor sich hin. Dumpfes Gemurr des nahenden Gewitters grollte einmal leis über die Dächer der Altstadt hin. Vor den Fenstern der Weißen Eule ward der Abend schwermütig verhüllt. Da stand Karl Heim auf und brachte die Glühbirnen zum Leuchten. Ein Zucken huschte öfter durch die Lichter hin, und draußen auf dem Flur schlug leis die Glocke des Fernsprechers an, als habe ein unsichtbarer Finger daran gerührt.

»Die Luft muß förmlich mit Elektrizität geladen sein,« bemerkte der Kanzleivorsteher, nach dem unruhig aufzuckenden Messingkronleuchter weisend.

Elise kam mit zwei Tellern und setzte sie auf den Tisch.

»Ich habe nichts anderes im Hause heute,« erklärte sie, auf die gekochten Eier deutend; sie ging an ihren Platz und stichelte zögernd langsam an dem Linnenkleide.

»Ein bescheidenes Abendbrot, aber es genügt mir,« bemerkte der Fremde, wobei er nach einem Ei griff. »O – was ist das?« machte er und tat erschrocken: das Ei war aus seinen Fingern verschwunden. Er schüttelte grinsend den Schädel und langte nach dem zweiten Ei … aber auch dies war im Nu nicht mehr vorhanden.

Leppert und Karl Heim saßen mit offenen Mäulern …

»So, wie Sie mich vorhin den Totengräber Sargholz nannten, scheint es, daß Sie den Scherz lieben?« sagte der Fremde dumpf kichernd und erhob sich zu seiner mageren Länge, nach dem Halse Lepperts haschend … die Knochenfinger tief hinter den Kragen versenkend, holte er dort das eine Ei hervor. »Geben Sie das zweite nur selbst her,« forderte er mit melancholisch scherzhafter Drohung.

»Was denn – ich hab's ja gar net,« sagte Leppert mit heiserem Lachen.

»Ach so,« brummte der wunderliche Gast. Er wendete sich an Karl Heim: »Dann müssen Sie es haben … da in der Brusttasche.« Er berührte flüchtig des Kanzleivorstehers Weste.

Karl Heim griff fassungslos in die innere Brusttasche seines Rockes – – und brachte das zweite Ei zum Vorschein.

Der Fremde nahm es und ließ sich zufrieden zum Essen nieder, das erste Ei aufklopfend. Als er mit dem Löffelchen die entschälte Spitze abhob, hüpfte ein Taler hervor aus dem Dotter und klirrte auf den Tisch.

»Vielen Dank,« sagte der Fremde zu Elise hinüber und bleckte lächelnd die gelben Zähne. »Wenn man hier beim Essen noch Geld verdient, komme ich bald wieder.« Er schnippste den Taler an, der sofort auf seinem Rande kreiselnd zu tanzen anhob. »Schön, mein braves Silberchen,« lobte der Mann; aber als er jetzt nach dem Geldstück greifen wollte, wich der Taler geschickt immer wieder aus. »Was den Teufel … so halt' doch still!« befahl der Hexenkünstler und hieb mit der Faust auf die Münze. »Ja, das hat er nicht gern … aber das Zuschlagen lassen sich die wenigsten gefallen … und ich kann doch oft gar nicht anders.« Nun fuhr er mit der flachen Hand auf der Tischplatte umher, als versuche die unter seinen Fingern liegende Münze immer wieder zu entkommen. »Nun ist er doch fort,« klagte der Gast mit einem bedauernden Grinsen, hob die Hand auf und zeigte die leere Fläche; er blickte zur Stubendecke hinauf: »Er wird irgendwo da droben sein – na laß, wenn er müde ist, wird er schon von selbst kommen.« Dann verzehrte er schweigend rasch beide Eier, wischte schmatzend den dünnen Mund, nippte am Schoppen und lehnte sich hierauf mit gekreuzten Armen behaglich zurück. Da plötzlich fiel der Taler von der Decke herab und trullerte auf dem Tische. »So ist's schön,« lobte der Fremde gemütlich und langte nach dem Geldstück. »Da haben wir ihn ja.« Aber kaum hatte er die Münze berührt, als statt deren eine kleine Blindschleiche da lag, über den Tisch hinschlängelte. »Teufelszeug … hihihi.« Er kicherte aus hohlem Brustkasten. »Es wird schon wieder ein Taler werden,« verhieß er seelenruhig und wollte das Tierchen ergreifen; aber erschrocken zog er sofort die Hand zurück … die Blindschleiche war ihm in den Ärmel geschlüpft, nur ihr Schwanzende lugte noch hervor. »O, so groß willst du werden?« rief der Mann überrascht, packte das zappelnde Ende der Blindschleiche und zog nach und nach aus dem Ärmel einen dünnen Strick, den er säuberlich auf dem Tische zusammenlegte.

In diesem Augenblicke trat ein neuer Gast ein.

»Setzen Sie sich zu uns, Friedebert Weihrauch,« forderte der Fremde den Ankommenden auf und schob den Strick ein wenig beiseite, als wolle er für das Glas Platz machen.

Friedebert Weihrauch – – der Name durchzuckte wie ein Schlag Elise Reul, den Kanzleivorsteher Heim, den heiseren Leppert … sie starrten mit weiten Augen auf den gealterten Menschen, der da mit einem staunenden Lächeln noch unter der Tür stand. Langsam wandte er den Blick auf den Fremden.

»Sie kennen mich?«

»Ich kenne alle Welt … auch die in den Zuchthäusern,« erwiderte der Fremde und grinste mit den Totenkopfzähnen, hohl hustend und mit dem kahlen Schädel nickend.

Friedebert nahm zaghaft einen Stuhl an dem Tische ein. Elise kam herzu.

»Nun, Friedebert – magst du nicht grüßen?« Sie bot ihm die Hand.

»Elise Reul, was hätten wir noch miteinander zu tun,« sagte der Tischler, die Hand übersehend und die Stirn senkend.

Da strich sie ihm sanft über die kurzgeschorenen weißen Haare: »Armer Kerl …«

»E schö Köppche hawwe se dir zurechtgemacht, Weihrauch,« spottete der boshafte Leppert, nachdem er sich von seinem Staunen erholt. »No ja, wenn ääm achtzehn Jahr lang des Rasiern unn Haarschneide nix kost', muß mer'sch ewe nemme, wie die Zuchthausbartkratzer 's ääm besorje.«

Unter den Lidern hervor schoß Friedebert Weihrauch einen tückischen Blick nach dem Spottvogel, der gleich in der ersten Minute den frechen Schnabel am Unglück des früheren Bierbruders wetzte.

»Es freut mich, daß du wieder daheim bist, Friedebert,« begrüßte Karl Heim endlich den Tischler, ihm wohlwollend auf die Schulter klopfend.

Im gleichen Augenblick durchflammte greller Schein die Gaststube, prasselnder Donnerschlag folgte. Die elektrischen Glühbirnen erloschen, es war finster in der Weißen Eule.

»Es hat in die Leitung eingeschlagen,« erklärte Karl Heim im Dunkeln, während draußen im Donnergepolter die Welt zusammenstürzen wollte.

Elise tappte sich nach der Küche und kam bald wieder mit dem schmächtig brennenden Petroleumlämpchen, das sie auf einen der Tische stellte. Die kleine Flamme zeichnete den Schatten des Fremden an die Wand: den kahlen, runden Schädel, die eckigen Schultern, die dürre Gestalt … es sah aus, als stünde dort groß, schwarz, drohend der Tod in der Gaststube.

»Gottes Stimme spricht zu uns,« verkündete Friedebert mit bebendem Munde, aber erneuter Donner verschlang die Worte.

»No, wir hawwe se ja net zu ferchte,« hob Leppert heiser hervor und schnitt nach dem Zuchthäusler hinüber ein hämisches Gesicht.

»Sie tönt Gerechten und Ungerechten – wehe dem, den sie im Zorne ruft,« fuhr Friedebert fort.

»Wohl allen aber, denen sie in Milde und Güte ruft,« fügte der Fremde hinzu. »Der Tod tilgt allen Haß und alle Liebe, Recht und Unrecht, Glück und Leid … er ist die Ruhe!« Und zum ersten Male erhob er die klanglos hohle Stimme ein wenig stärker. »Wäre die Ruhe nicht für Sie das beste, Friedebert Weihrauch?«

»Ja … ja … Ruhe …,« gab Friedebert tief seufzend zu.

Da schob ihm der Fremde mit ernsten Augen wortlos den Strick hin … eine schauerliche Aufforderung.

»Ich war immer ein Narr der Menschen,« klagte Friedebert vor sich hin, den Blick auf das dünne Seil heftend. »All mein Leid kam von den Menschen her. Sie lachten über mich … aber sie sahen nicht, daß ich innerlich weinte.« Plötzlich hielt er die geballte Faust vor Lepperts Augen. »Du warst der Schlimmsten einer – und du warst auch der erste, der mit schmutzigen Händen nach dem Namen Weihrauch griff. – War das gestern nacht …?«

Erschrocken wich der boshafte Mensch vor der Faust des Tischlers zurück, lachte aber dennoch kurz auf.

»Der Name Weihrauch duftete damals übel,« sagte der Kanzleivorsteher Heim.

»Da hast de recht, Karl,« beeilte sich Leppert zu versichern. »Nach Weihrauch hat's werklich net geroche, awwer gestunke hat's. Es war was an dem Name … wart emal – – ganz richtig: wenn Zigarrenrauch kalt wird, dann stinkt er …«

Er wies auf den Stummel im Aschenbecher und beugte sich dabei ein wenig vor … im Umsehen griff Friedebert nach der Kehle des Hetzers.

Der Fremde sah dem Ringen der beiden Männer untätig zu, sein hohles, hustendes Lachen scholl in das Ächzen des gewürgten Leppert. Karl Heim aber versuchte vergeblich die stumm Kämpfenden zu trennen. Elise war hinzugesprungen, sie legte ihre Hand auf Friedeberts Schulter.

»Unseliger Mensch!« rief sie gellend, dann brach sie in ein krampfartiges Weinen aus.

Friedebert ließ die Hände von Lepperts Hals und wendete sich zu der Schluchzenden.

»Ich weiß, du warst immer gut zu mir, Elise Reul,« hob er hervor und sah sie feierlich an. »Wie lange Jahre blieb mir Zeit, an alles zu denken. Da mußte ich auch daran denken, daß ich dir einmal weh getan.« Und nun sah er starr auf den nach Luft ringenden Leppert. »Aber dieser da – war er nicht stets die Natter, die der Freude in die Ferse stach? War es nicht immer dieser da, der sich am Narrentum des Menschen Weihrauch weidete? Ging nicht alle Bosheit von diesem da aus? Wahrlich, ich sage euch: der Tag wird kommen, an dem Gottes Gerechtigkeit Rechenschaft fordert für alles Übel, das geschehen ist auf Erden. Der Wille Gottes aber wird Friede sein – Friede auf Erden und bei den Menschen.« In der irren Verzückung gläubigen Zornes die Hände nach Leppert reckend, rief er aus: »Ich will Feindschaft setzen zwischen dir und mir … nicht an meinen Händen, an den deinen klebt das Blut Dorchen Weihrauchs. Du warst der erste, der sie schuldig nannte – ich aber war nur ein Werkzeug Gottes.«

Leppert hatte sich endlich ermannt. Haßerfüllt stierte er den Irrsinnigen an, ratlos, wie er sich an ihm rächen könnte. Da griff er den Strick vom Tische und schleuderte ihn vor Friedeberts Füße.

»Da – häng dich auf!« schrie er; zum ersten Male in langen Jahren klang seine Stimme klar.

Dann raffte er sich aus seinem feigen Zittern auf und flüchtete aus der Gaststube. Karl Heim folgte ihm wortlos, nachdem er einen traurigen, an Mitleid tiefen Blick auf den geisteswirren Weihrauch geworfen. Draußen tobte Blitz auf Blitz, Schlag auf Schlag. Das Unwetter brüllte wider die hochliegende Neustadt, rollte zurück und prasselte sein rasendes Echo über die niederen Dächer des alten Homburg.

Da hob Friedebert Weihrauch den Strick vom Boden auf, stur lächelnd darauf niedersehend. Plötzlich, und ohne sich umzusehen, ging er in die gewitterdurchjagte Nacht hinaus. Zum letzten Male in diesem Leben ein Narr und eines Menschen Narr …

»Ein Stück meines Handwerks,« sagte der Fremde dumpf … es bezog sich vielleicht auf den Strick. Mühselig erhob sich der wunderliche Gast. »Ich habe einen so weiten Weg hinter mir und muß dennoch wandern – immer wandern … die Menschen sind es, die mir nicht die Ruhe gönnen,« klagte er seufzend. »Friedebert Weihrauch hat nicht so unrecht, wenn er sich für einen Auserwählten der Gottheit hält – – ich weiß, daß er gut ist bis in die tiefste Tiefe seiner Seele. Und der Mensch kann wie Gott, aber er kann auch wie Luzifer sein. Niemand ergründet, was von beiden er sei … mich jedoch nennen die Menschen den Tod.« Und als ob ihm die Taschenspielerei zur zweiten Natur geworden wäre, griff er ins Leere hinein … dann hatte er einige Münzen in der Hand. »Die Zeche,« bemerkte er und zählte das Geld auf den Tisch.

»Danke,« sagte Elise Reul ohne hinzusehen; als wisse sie nicht, was beginnen, griff sie nach dem Totenhemd.

»Sie werden sich die Augen verderben,« meinte der Fremde und trug ihr das Lämpchen hinüber. Er wies auf den trockenen Docht und auf das matte Flämmchen: »Das Licht wird erlöschen – – wenn Sie also noch sticken wollen …?«

»Nicht mehr nötig,« murmelte Elise. »Ich bin zu Ende.«

»O, dann ist alles gut,« tröstete der seltsame Mann und beugte sich, als wolle er das Sterbekleid betrachten.

Aber im gleichen Augenblick zischelte die Flamme noch einmal kurz und starb … wie das Dunkel des Todes war die Finsternis in der Weißen Eule … ein kurzes Ringen und Röcheln … der dumpfe Fall eines leblosen Körpers … dann krachte die Schieblade, in der Elise Reul die Tageseinnahme aufbewahrte … die Pfennige und Groschen klirrten unter einer zusammenscharrenden Hand …

Das Unwetter war nach der Mainebene hingewandert. Über dem Taunus besternte sich der vom Gewittersturm klargefegte Nachthimmel. Die erquickte Erde atmete freier, und die Bäume regten das Laub, als tränken sie auch das letzte Tröpfchen des Gewitterregens, der ihre Kronen durchrieselt, das Dürsten dieses höllenglutigen Sommertages gelöscht hatte. Und als flüsterten alle Bäume miteinander in ihrer Freude, klang es, wenn Tropfen um Tropfen von Blatt zu Blatt fiel. Die in der lechzenden Hitze verstummt gewesene Natur wurde vor dem nunmehr erquickenden Nachtschlafe noch einmal beredsam: hier und dort eines Vogels letztes Raunen – im Grase ein Huschen und Schleichen – der halblaute Schrei eines Nachtgeschöpfes – Fledermäuse gaukelten unter den Sternen dahin – schwere Falter der Dunkelheit segelten – die Eule strich über das Korn – Käfer surrten – die Nachtschwalbe zog ihre Bogen über dem dunstenden Erdreich …

Da löste sich vom Stamme eines weitspreitenden Nußbaumes ein Menschenpaar.

»Wir können heimgehen, Zizerenchen,« sagte Anton Denhard. »Das Gewitter hat ausgetobt.«

Brigitta antwortete nicht; in stummem Glücklichsein schmiegte sie sich an den Mann.

So schritten sie durch die Nacht. Kosend und weich war der Odem der Natur … weich und kosend die Ruhe in des Mädchens Herz. Auch hier hatte ein Gewitter ausgetobt. Der Tag war verglüht … das Sehren des Durstes nach Liebe war dem Zizerenchen ein stilles Flammenspiel der Freude am Dasein geworden. Wie die Stille der Nacht rein und selig war, so selig und rein war in Brigitta Weihrauch der Wille, das gerettete Glück zu bewahren, die Himmelsmacht wahrhaftiger Liebe nicht noch einmal zu verscherzen.

»Was siehst du nur immer zum Himmel hinauf?« fragte Anton. »Die Natur ist gebändigt … du kannst ohne Sorge sein.« Und er wußte nicht, daß diese Worte für das Zizerenchen eine tiefe Wahrheit enthielten.

»Ich fürchte mich nicht,« erklärte das Mädchen. »Aber damals, als du vor Mutter Mariechen logst, um mir den Weg zur Reinheit zurück zu bereiten, damals fiel ein Stern vom Himmel. Da wünschte ich mir eilig, ich möchte zu dir kommen müssen, und du solltest mich küssen. – Der Wunsch ward wahr.«

»So liebtest du mich doch …?«

»Ja – aber ich wußte nicht, daß dies wirkliche Liebe wäre,« gab Brigitta zurück. Da plötzlich erschrak sie und deutete zum Sternendom hinauf … dort zog ein blendendes Meteor in feierlichem Schweigen eine blauleuchtende Bahn. »Ein Stern fällt – ein Stern!« schrie das Zizerenchen auf. Und an des Mannes Brust geklammert, als dürfe sie diesen glückverheißenden, wunscherfüllenden Augenblick nicht versäumen, stammelte sie: »Behalt mich lieb – behalt mich immer, immer lieb …!«

»Ich will es tun … nein: ich muß!«

»Und du kannst alles vergessen?«

»Ich kann dir nur ein Wort von Goethe sagen … es paßt auf alles, was bis zu dieser Stunde geschehen: Vor dem Gewitter erhebt sich zum letzten Male der Staub gewaltsam, der nun bald für lange getilgt sein soll.«

 

Ende.

 

Druck und Einband von Hesse & Becker in Leipzig.

 


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