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Erster Teil

*

Dorchen Weihrauch

Valentin: Du fingst mit einem heimlich an,
Bald kommen ihrer mehre dran,
Und wenn dich erst ein Dutzend hat,
So hat dich auch die ganze Stadt.

Faust. Erster Teil.

Die Kastanienbäume auf der Bockenheimer Landstraße hatten Frühlingsgewänder angetan; nun ließen sie sich vom Lenzmonat auch noch weiße Verzierungen in das Saftgrün sticken: ihre Blüten entfalteten sich über Nacht. Und die Amsel sang doppelt so liebessehnsüchtig im Gezweig jener alten Baumriesen vor den reichsten Häusern Frankfurts. Doppelt so sehnsüchtig … denn der Ruch der Kastanienblüte hat sein arglistiges: wer ihn kennt, weiß, daß ihm etwas Brünstiges anhaftet.

Kann man sagen, ob es der Lenz war, ob der Kastanienblütenduft, was so seltsamlich belebend auch auf die jungen Dinger wirkte, die unter den Kastanien viermal am Tage dahinwanderten? … junge Mädels aus Bockenheim. In der »Stadt« verdienten sie knappen Lohn als Schneiderinnen, Verkäuferinnen, Putzmacherinnen. Wenn auch die Pferdebahn den gleichen Weg zottelte, – sie machten diesen Weg lieber auf zierlichen Flinkfüßchen. Und namentlich dann erst recht gern, sobald der Frühling das erste linde Lüftchen aus seinem Lichtgewande geschüttelt.

Zu diesen Mädchen gehörte auch Dorothea Guckes; bei Freunden und Freundinnen, wie auch daheim, hieß sie »das Dorchen« … ein niedliches Mädelchen. Knusperig, wie eine Zuckerbrezel – Haut, wie die abgeschälten, frischen Nußkerne im Oktober – Hüften, wie ein Schmaltierchen, und Brüstchen: jedes gerade eine runde Handvoll. Die Röcke hatte das Dorchen längst verwachsen, seit es fünf Jahre zuvor aus der Schule kam und das erste, bis an die Knöchel langende »Kleid« erhielt. Nun deckten diese Röcke die Waden nur halb. Und was darunter hervorguckte, war zierlich, fein, zart rundlich, aber stramm. Just stramm genug, um eines Mannes Blick zu fesseln, und rund genug, um – namentlich zur Balzzeit – eines Mannes Herz lebhaft zu machen. Den Kopf trug Dorchen keck und selbstbewußt. Wie hätte sie auch anders können? Denn dies Gesicht wie Milch und Blut war schön und blickte mit klaren, himmelblauen Augen aus einer nur scheinbar nachlässig gehaltenen Zottelfrisur nixenblonden Gelocks. Die um Stirn und Wangen wehenden Kringel waren von Natur her krullig, widerstanden Kamm und Bürste und krümmten sich bei Wasser erst recht; sie wollten von den um 1890 Mode gewordenen »Simpelfransen« nichts wissen.

»Mer määnt wahrhaftig, sie wär ää vom Theater!« behaupteten neidische Gemüter, die dem Dorchen den Lockenzottelkopf mißgönnten um ihrer eigenen Rattenschwänzchen willen.

Doch diese Boshaftigkeit schoß nicht einmal so arg neben das Ziel: das Dorchen brachte der Kunst Thaliens ziemlich viel entgegen.

Die Großmutter hatte als Zwanzigjährige im alten Frankfurter Stadttheater Lehrbuben und freche kleine Mädchen gespielt, war jedoch der Bühne abspenstig gemacht worden durch einen hübschen Postadjunkten. Der einzige Nachkomme aus diesem ungemein glücklich verlaufenden Eheleben, der Felix Guckes, war seines Zeichens – – nun, eigentlich: nichts geworden. Er heiratete ein armes Bockenheimer Mädchen, das leidenschaftlich gern Romane las. Das bewog den Felix Guckes, in der Vorstadt einen Buchladen aufzumachen … der arme Teufel dachte, alle Welt lese so verrückt wie seine Frau. Wenig jedoch rechtfertigte dieser Mann seinen Vornamen … er war durchaus kein Glücklicher. Der Buchladen ließ im Stich – gut, man nahm Ruppiner Bilderbogen, Schreibpapier und Schiefertafeln mit in den Verkauf auf. Auch das fruchtete nicht – schön, man nahm Knöpfe, Nähnadeln und Zwirn hinzu, dann Filzpantoffeln und Kinderkleidchen, Jägerwäsche und Gummikragen, endlich Bindfaden und allerbilligste Zigarren, schließlich Bleisoldaten und Kinderspielwaren für zehn Pfennig das Stück, im Herbst Pflaumen und Haselnüsse, im Winter gedörrte Zwetschgen, im Frühjahr Gemüse, und als der Sommer kam Kirschen. So war aus dem Buchladen ein Kramlädchen geworden.

Aber Frau Guckes verlor den Mut nicht; auch nicht, als ihr Felix unter dem bescheidenen Grabmal aus Sandstein endlich wahrhaft glücklich geworden war. Und nun erst kam das Geschäft in Blüte. Es war, als wäre aller Unsegen verschwunden … begraben mit dem Manne, der es gut mit sich, mit seiner braven Frau, ja, gut mit der ganzen Welt gemeint hatte. Frau Guckes legte die Romanbücher für immer fort, machte nach dem Ausverkauf alles Überflüssigen ein regelrechtes Gemüsegeschäft aus dem Kramlädchen und stand tagaus, tagein hinter dem Ladentisch. Das brachte ihr zwar ein reichliches Auskommen, aber durch den beständigen Zugwind der offenen Ladentür auch das Gliederreißen.

Samstag nachmittags half das Dorchen beim Verkauf, denn da drängten sich die Weiber im Lädchen. Diese Mithilfe entfiel freilich, als das junge Ding anfing in die Stadt zu gehen, um Putz und ein wenig Schneidern zu erlernen.

Als der Laden erst einmal in Schwang gekommen, fand Frau Guckes wenig Zeit, sich um eine geregelte Erziehung der Tochter zu kümmern. Dadurch blieb das Dorchen sehr viel sich selbst und seiner Entwickelung überlassen. Doch vertraute Frau Guckes dem guten Erbteil aus des Vaters und ihrem eigenen Blute, vertraute dem erhabenen Beispiel, das sie selbst Tag um Tag dem Mädchen gegeben, und mißgönnte durchaus nicht dem Dorchen allerlei Vergnügungen, namentlich nicht den – wie sie selbst anführte – bildenden Theaterbesuch. Bis sie entdeckte, daß das Blondköpfchen lieber als not tat mit Buben spielte, von Mädchenfreundschaft ein bißchen zu wenig wissen wollte. Frau Guckes hielt nun die Augen offen … dennoch nicht offen genug. Und so lachte sie denn nur, als sie zu jener Zeit, in der das Dorchen in die Konfirmandenstunden ging, im Gesangbuch einmal einen Zettel fand, darauf ein durchtriebener Lausbub eine mehr als eindeutige Liebeserklärung zum besten gegeben. Eine Liebeserklärung, von der Dorchen hanebüchen log: die hätte ihrer Freundin Malchen Bürkner gegolten und wäre ihr zur Weiterbeförderung anvertraut worden. Die allzu gern glaubende Frau vernichtete den Wisch und hielt dem Mädchen eine Vorlesung über das Sündetun. Das Dorchen bekam knallrote Backen – – leider nur aus Neugier, und weil der Text der Vorlesung recht heikle Dinge berührte. Frau Guckes hielt dies Erröten aber für das Rot sittlicher Entrüstung und lobte ihr Kind. Immerhin hatte die Sündenpredigt den Erfolg, daß Dorchen ein wenig ängstlicher über die Buben dachte. Und das Vertrauen auf die guten erblichen Anlagen, von der im Lädchen soviel beschäftigten fleißigen Frau unentwegt gehegt, dies Vertrauen rechtfertigte sich in gutem Lohne … wenigstens, das Dorchen tat gut – – soweit sie sich unter den Augen der Mutter befand.

Da meldete sich bei der Heranwachsenden Einzigen der Witwe plötzlich der Großmutter Theaterblut. Zum ersten Male stand die vierzehnjährige Kröte als Dorothea Guckes auf dem Zettel, der am Uhrtürmchen beim Bockenheimer Tor klebte … »Prinzessin Goldhaar« – ein Weihnachtsmärchen. Dorchen sprach mit hoher Piepstimme, aber äußerst deutlich fünf ganze Sätze als Königin im Zwergenreiche.

Mutter Guckes drosch ihr eine Gegend aus, die nahest zu erreichen nur dann war, wenn die weißbaumwollene Unterbüx enthüllt wurde. Aber da kam ein Mann aus dem Stadttheater und behauptete, das Stück könne unmöglich ohne die Kleine stattfinden, Frau Guckes möge also das Verbot zurücknehmen. Es regte sich bei der Erzürnten etwas wie Stolz über die Wichtigkeit des Mädels – und sie gab nach. Als aber bald darauf von einem berühmten Frankfurter – von einem Manne namens Goethe – ein richtiggehendes Theaterstück gespielt wurde, über das sogar das Bockenheimer Wurstblättchen schrieb, da erreichte der Stolz der Witwe noch höheren Grad, und der Zorn der guten Frau erlosch, wie ein Schwefelhölzchen im Novembersturm. Denn das Dorchen hatte man zu einer umfangreichen Rolle geholt, in der das kecke Mädelchen freilich nicht auf die Bühne mußte: sie stand nur hinter den Kulissen und »machte« die Stimme des Homunkulus im Faust, zweiter Teil.

Mit achtzehn Jahren aber war Dorchens Bühnenlaufbahn fast dem Abschluß nahe … höchstens wegen der hübschen Beinchen noch trug sie im »Tannhäuser« dem Wolfram von Eschenbach die Harfe auf die Szene. Zu sprechen gab man ihr nichts mehr.

Da blühten die Kastanien auf der Bockenheimer Landstraße …

Und ein schmieriger Mensch mit einem Gaunergesichte, aber auch mit einem unwiderstehlichen Mundwerk unter der krummen Hebräernase, trat in Gesellschaft Dorchens in den Gemüseladen. Er nannte sich mit einem germanischen Vornamen, jedoch mit einem Vatersnamen von urältestem Wüstenadel: Siegmund Goldstaub … Theateragent.

»Sie stören die Laufbahn von einem aufgehenden Bühnenstern erster Größe, und Sie bringen die Bühnenkultur um eine vielleicht niemals wieder sich zeigende Errungenschaft von welt- und kunstgeschichtlicher Bedeutung, wenn Sie nein sagen!« behauptete Herr Goldstaub, schlecht behaltene Zeitungsphrasen nachdreschend.

Nach stundenlangem Verhandeln war die Zunge der Frau Guckes lahm geworden – die des Herrn Goldstaub aber war nun erst recht geläufig. Schließlich unterschrieb die erschöpfte Frau in Gemeinschaft mit Dorchen einen Vertrag. Der verpflichtete »Dorothea Weihrauch« für das Kurtheater zu Bad Homburg … Fräulein Guckes konnte man als Bühnenstern nicht gut heißen … aber wie dieser Sigmund Goldstaub, nichts weniger doch denn ein Stockkatholik, just auf den schwerduftenden Namen Weihrauch verfallen, das wußte er gewiß später selbst nicht mehr. Frau Guckes meinte am Ende nicht zu Unrecht, Weihrauch könne nicht so leicht jemand heißen, und das wäre schließlich für den theaterkundigen Thebaner aus Palästina maßgebend gewesen.

Indessen sollte Dorchen gar bald einen Mann mit Namen Weihrauch kennen lernen, und der Name selbst sollte denn späterhin tatsächlich bekannt, wenn auch just nicht berühmt werden.

Geschäftige Zeit hatte in Mutter Guckes' Dasein begonnen – geschäftiger noch, als die Zeit bei den Apfelkörben, Gemüsemahnen und Dörrpflaumenkistchen. Denn nach Ladenschluß bastelte die fleißige Frau und schneiderte mit Dorchen zusammen billige Fähnchen aus billigen, blumigen Stoffen und billigen, zwirnstarren, echt Brüsseler Spitzen, wie sie in Rödelheim verfertigt wurden. Diese Schöpfungen stellten die Theaterkostüme dar für die in Homburg beginnende Theaterlaufbahn Dorothea Weihrauchs. Eine Laufbahn, die Siegmund Goldstaub mit Goldstaub aufzuwiegen sich anheischig gemacht hatte … Staub von echtem Golde, so echt, wie Siegmunds Urälterherkunft aus Jerusalem.

Die Kastanien waren bereits am Verblühen, als Dorchen mit Mama nach Homburg reiste. »Mama« – denn eine gut deutsche Mutter kennt der Bühnenstern nicht. Das Gemüselädchen blieb geschlossen an jenem Tage der Schicksalswende eines jungen Menschenkindes, dem Tag der Wende theatergeschichtlicher Ereignisse. Ein Holzkoffer begleitete die beiden Damen – ein uraltes Ding. Aber dem Lackierer Streppel war geglückt, diesen Holzkoffer quittegelb anzustreichen und handhohe rote Buchstaben darauf zu malen: Dorothea Weihrauch, Schauspielerin.

Mutter Guckes hatte eine Freundin in Homburg gehabt, die mehrere Jahre zuvor aus dem Leben geschieden. Deren Sohn betrieb in der Haingasse ein kleines Uhrmachergeschäft in einem engen, dumpfigen Lädchen. Er war ein schrullenhafter Junggeselle und hieß Laborius Zeunlein. An diesen Mann sich um Dorchens Schutz und Heimstatt zu wenden, war Frau Guckes entschlossen. Der Uhrmacher jedoch machte erstaunte Augen und wollte nicht sogleich etwas von den Vorschlägen der besorgten Mutter hören.

»Frau Guckes,« sagte er. »Mei Häusi hat bloß ein Stockwerk und zwei Zimmercher, und die bewohn' ich selbst. Wie kann ich e jung hübsch Mädche aufnehme? Die Homburger däte meine, ich wär uff mei alte Dage noch e verliebt Hinkel geworde.«

»Aber, Herr Zeunlein – Sie und alt mit Ihren achtunddreißig Jahren …!« widersprach Frau Guckes.

»Mer is so alt, wie mer sich fühlt,« versicherte Laborius Zeunlein. »Und dann: auf Ihne Ihr Tochter uffpasse kann ich net. Dagsiwwer sitz ich in mei'm Lädche … abends im Wirtshaus … Sonntags aber bin ich gar net daheim, weil ich dann in de Taunus geh, dorthin, wo's gute Äppelwein gibt.«

Doch Frau Guckes redete und redete. Es wäre ihr eine so große Beruhigung, Dorchen im Hause eines Bekannten zu wissen – und der Herr Zeunlein hätte ja gar keine Scherereien – den Kaffee koche sich das Mädchen auf Spiritus – das Mittagessen nähme sie in der »Goldenen Rose« – Bettwäsche und Handtücher bekäme sie von Hause – die Leibwäsche schicke sie heim – und dann wäre es ja doch auch nur auf ein Vierteljahr.

»No, also gut,« gab Laborius schließlich nach, nur um den lästigen Besuch loszuwerden. »Mei Mutter selig hat sich im Dachkämmerche drowe e gemütlich Stübe zurechtgemacht gehabt. Dort hat se gelebt und dort is se vor sechs Jahrn stillen Herzens sanft gestorwe. Seitdem is des Stübche von kei'm Mensche mehr betrete worde.« Er kramte lange nach dem Stubenschlüssel, fand ihn endlich in der blechenen Zuckerschachtel unterm Sandzucker und überreichte ihn Frau Guckes. »Mache Se sich halt des Kämmerche sauber – der Staub wird faustdick liege … des Mädche soll meiner Mutter ihr Stübche hawwe.«

Damit ging er in sein Uhrenlädchen und überließ den beiden Frauen alles weitere.

Gegen den Abend hin war das Stübchen blitzeblank und sah sehr gemütlich aus. Es hatte freilich an der Vorderwand, rechts und links vom einzigen Fensterchen, zwei schräge Flächen – die machten es aber eigentlich nur noch behaglicher. Ein Handarbeitstischchen der Toten stand dort. Alle Möbel waren von Mahagoniholz, das kleine Sofa und zwei Polsterstühle mit weinrotem Rips überzogen, ein Glasschränkchen, darinnen schnörkelhafte Porzellansächelchen standen, ein prächtiges Bett, Schattenrisse an den Wänden … so recht ein Großmutterstübchen, aber auch etwas für ein poesievolles Jungmädchengemüt.

Während Frau Guckes die grau gewordenen Vorhängelchen in der Waschschüssel wusch und dann zum Trocknen aufhängte, lief Dorchen zum Gärtner. Sie besorgte sich Blumen in Töpfen für das Fensterbrett. Auf dem standen noch ein paar verwitterte Topfscherben und gemahnten an die Zeiten, in denen Laborius Zeunleins Mutter hier ihre Lieblinge gehegt und begossen.

Dann sah Mutter Guckes sich in dem Raume um; ihr gutes Gesicht drückte Zufriedenheit aus: sie hatte es der Tochter gemütlich gemacht. Die Sorge um ein anständiges Unterkommen, die wenigstens war von ihr genommen. Sie konnte einigermaßen beruhigt nach Bockenheim zurückkehren.

»Halte Ordnung in dem Zimmerchen,« ermahnte sie mit abschiedsfeuchten Wimpern. »Aber, Dorchen – halte Ordnung auch in deiner Seele. Denn wenn sich da der Schmutz einmal heimisch machte … mit Schrubber und Besen nicht, und auch nicht mit der Liebe eines treuen Mutterherzens geht er von da zu entfernen.«

 

Dorothea Weihrauch als Bühnenstern! … nein, dieser Stern duckte noch immer unterhalb des Horizontes und wollte nicht aufgehen. Was das talentvolle Kind verheißen, was der begabte Backfisch versprochen – das Jungmädchen hielt diese Verheißungen und Versprechungen ganz und gar nicht …

Nach einem bitterbös mißglückten Versuch verlor der Herr Direktor sofort die Geduld; höchstens daß er dem Dorchen hin und wieder ein paar unwichtige Sätze anvertraute. Entlassen mochte er das schönste Mädchen seiner Gesellschaft nicht … er wußte: es ist eine bei der Bühne uralte Erfahrungstatsache, daß hübsche Frauen auf den Brettern oft größere Anhängerschaft gewinnen, als begabte aber häßliche. Immerhin, wenn Dorothea Weihrauch im Rampenlichte stand, überglänzte sie als lieblichster Stern alle andern Bühnensterne – Damen und Dämchen, die unter Schminke und Puder und Lippenrot und Augentusche, alles recht dick aufgetragen, die reichlichen Sklavenjahre im Dienste der Musen, aber auch im Dienste der Venus, zu verbergen trachteten … was ihnen nicht immer gelang.

So hatte Dorchen viel freie Zeit. Und so kam sie mit Laborius Zeunlein in engeren Verkehr, der schnell inniger, bald sogar freundschaftlich gedieh. Und das kam so:

Der Monat war um. Der 1. Juli fiel auf einen Sonntag. Mutter Guckes hatte geschrieben, sie könne ihres Gliederreißens wegen nicht kommen, wie sonst an jedem Sonntag; also schicke sie die Miete durch die Post. Aber Dorchen solle sie ja nicht für sich behalten, sondern solle das Geld gleich zu Herrn Zeunlein hinuntertragen. Dorchen begab sich denn am Sonntag vormittag in des Uhrmachers Wohnung, die Miete abzuliefern.

Laborius saß auf einem löcherigen Sofa, verstänkerte die Luft mit allerbilligsten Zigorien und las den »Taunusboten«. Er guckte angeärgert, als das Mädchen bei ihm eintrat. Aber das kam wie Sonnenschein in die muffige Junggesellenbude … in einem mattrosa Kleidchen und ein himmelblaues Band im Haar – wie Sonnenscheinchen im Sonnenschein. Etwas vom Abglanz der zierlichen Erscheinung glitt über das versauert, verstaubt und verblichen aussehende Gesicht Zeunleins.

»Verdeppel noch e mal!« brachte er erstaunt über die Lippen und kniff das linke Auge zu, als hätte er im rechten das Vergrößerungsglas, dessen er sich bei der Arbeit bediente.

»Ich wollte die Miete bringen,« erklärte Dorchen. Und ihre helle, hohe Stimme scholl als ein nie zuvor Gehörtes an Zeunleins Ohr.

»Lege Se's Geld halt da auf'n Tisch,« erwiderte der Uhrmacher. Doch dann besann er sich, daß es auch Pflichten der Höflichkeit gab, wie daß er einmal das genossen, was man gute Erziehung nennt. Also legte er die sengerig riechende Zigarre fort – auf einen Teller mit einem Rest von Butter – und erhob sich. »Es steht ebbes iwwer Sie in der Zeitung,« hob er an. »Und ich muß sagen, der Mann hat recht.« Laborius sprach, wenn er nur wollte, ein reines Hochdeutsch. »Ja, ganz gewiß: recht hat der Mann, der das über Sie schrieb.« Dann nahm er den »Taunusboten« und las vor: »Fräulein Weihrauch spielt zwar immer nur äußerst bescheidene Rollen, aber jeder ihrer Auftritte bleibt dennoch dem Gedächtnis treu. Kommt sie nur für wenige Minuten auf die Szene, so ist das jedesmal, als werde die Bühne lichter. Der verkörperte Liebreiz steht dort oben, lacht uns mit unschuldsklaren Augen an und plappert mit einem süßen Mäulchen die belanglosen paar Worte. So wird die Belanglosigkeit zu einem Teil des Stückes. Denn ein Sonnenkind strahlte in die Welkheit des Blumenstraußes von Damen, der uns wahrhaft manch liebes Mal mehr ärgert als erfreut.« Zeunlein ließ das Blatt sinken und starrte Dorchen an. »Ein Sonnenkind – ja, der Mann hat recht … er hat recht! Mit einem Sonnenkind lebt man seit vier Wochen unter einem Dache und merkt es nicht, weil man –«

Er brach ab und schüttelte verstummend den Kopf.

»Aber, Herr Zeunlein …«

Dorchen lachte, frisch und wie mit singender Stimme; sie fühlte sich geschmeichelt und erkannte: dieses Lob aus dem Munde des rauhen, grauen Junggesellen wog mehr, als das Lob in der Zeitung.

»Bitte, nehmen Sie doch ein bißchen Platz.« Der Uhrmacher befreite einen Rohrstuhl von einem Haufen alter Zeitungen; ein löcherig geflochtener, aber auch sonst durchlöcherter Sitz kam zum Vorschein. Mit dem Zipfel des Sonntagsschoßrockes wischte Laborius den Staub durch die Löcher, Staub weniger, als verflogene Zigarrenasche. »Sie sind neunzehn Jahr?« begann er ein Gespräch, nachdem Dorchen saß. »Hm, neunzehn – da bin ich gerade doppelt so alt – achtunddreißig.« Er seufzte. »Ja, meine Mutter starb zu früh … damals war ich eben zweiunddreißig … und hätte einen ganz passabeln Ehemann abgegeben … wenn's das Leben nicht so grau und bitter mit einem meinte …«

»Achtunddreißig? Ich habe Sie für einen hohen Fünfziger gehalten,« bekannte Dorchen in aller Herzensoffenheit.

Zeunlein lachte kurz auf.

»Ich glaub's. Man gerät den andern und sich selbst aus dem Kalender. Und so war ich nahe daran, ebenfalls Fünfzig zu zählen. Ich rasiere mich nämlich selbst und muß dabei zehn Minuten lang den welken, alten Kerl anschauen, der aus dem Spiegel in meine Augen guckt. – Und nun kommen Sie heute da zur Tür herein, und Ihre Jugend zwingt mich zu der Erkenntnis, daß ich noch kein altes Gerümpel bin … wenn auch verstaubt in der dunkeln Kammer, zu der ich selbst mir das Leben machte … ein Loch ohne Licht, Luft, Leben – ohne Fenster – mit Mäusen und Asseln … nicht mit Menschen und – Sonnenkindern.«

»Und was war denn daran schuld?« fragte Dorchen neugierig und mitleidig zugleich.

»Schuld …? Jenun, mag meine gute Mutter mitschuldig sein. Die sah bis zu ihrer Sterbestunde ein Bübchen in mir. Und so auch behandelte sie mich. Es ging immer alles nach ihrem Kopf. Und da verlernte ich, daß Leben auch Tat heißt. Denn Taten sind das nicht, wenn ich da drunten im Lädchen Uhren bastle. Ich brauchte mich zu Lebzeiten meiner Mutter um nichts zu bekümmern, und darum kam mir das Bekümmernmüssen bitter an, als ich ohne Mutter war. Denn als das Stübchen droben leer geworden, als ich mich so allein in dem Häuschen wiederfand, vom Grabe kommend – – als ich nun auf mich selbst angewiesen war, sah ich, daß es ein garstiges Leben ist … außer im Wirtshaus. Und nun dämmerte ich bei meinen Uhren – in der Gaststube der Weißen Eule drunten in der Altstadt – in der verlodderten Bude hier … bis Sie heute hereinkamen, das Sonnenkind Fräulein Dorchen.«

»Wie komisch,« sagte Dorchen, meinte es aber ernst. Sie war längst Weib genug, um zu fühlen, daß dieser Mann sich seine grau gewordene Seele lichter sprechen wollte. Sie empfand einen gewissen Stolz, die Veranlassung dazu geworden zu sein, und sie ließ ihn also reden und reden.

Denn auch das war eine der Eigenheiten Zeunleins: wenn er einmal zum Reden gebracht war, oder sich selbst zum Reden brachte, dann gab er restlos alles her, was sich ihm hochdrängte an Irrungen und Meinungen, an Wirrungen und Klärungen … am leichtesten freilich löste ihm das Wirtshaus die Zunge – er trank gern über den Durst.

Endlich läutete es zwölf Uhr von der Schloßkirche.

»Sie müssen nun zum Mittagessen in die Goldne Rose,« erinnerte Zeunlein. Da kam ihm ein Einfall. »Spiegeleier und Speck – Speck und Spiegeleier … das ist so mein Küchenzettel seit langen Jahren. Ich bruzzle mir das selbst in der Küche draußen. Und weil ich heute gewahr werde, ich sei noch längst kein Mümmelgreis, so kommt mir der Hunger und grimmt in den Gedärmen. Denn von Speck und Spiegeleiern Tag für Tag wird ein Magen niemals satt, eine Seele aber nicht völlig hungerlos. – Wissen Sie, was ich möchte, Fräulein Dorchen? … einmal wieder wie ein lebendiger Mensch essen! Wollen Sie mich mitnehmen? Oder nein!« verbesserte er sich. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag: wir pilgern gemeinsam nach Dornholzhausen und speisen sonntägig beim Scheller. Ich lade Sie ein.«

Dorchen war sogleich entschlossen, doch sagte sie, sie wolle nur festeres Schuhwerk anziehen. »Mit diesen Pantöffelchen kann man keine Landstraße laufen.« Unschuldig stellte sie einen Fuß auf den Stuhl, um die ausgeschnittenen Sommerschuhchen zu zeigen. Das Röckchen glitt hoch – und es glitt höher als nötig war … das Dorchen war ganz gern ein bißchen verführerisch.

Und der noch auf dem Sofa sitzende Laborius sah zuviel: ein Strumpfband – ein rundes Knie – und drüber just noch einen Schimmer weißer Haut. Er wendete sich ab und blickte angelegentlich zum Fenster hinüber.

»Ja freilich, damit können Sie nicht durch den Staub gehen,« gab er zu. Und trotz der Julihitze überlief ihn ein Frösteln, ein Schuckern; aber das rann blitzschnell über den Rücken und verkroch sich in den Nackenhaaren.

Als Dorchen nach einer länglichen Weile aus ihrem Stübchen herunterkam, hätte sie den Uhrmacher fast nicht erkannt. Auf der Stiege wartete ein Mann in einem hellgrauen, zwar nicht flotten, aber doch jugendlicher machenden Anzug. Der Rock wies im Rücken allerlei Falten auf vom Schrankhängen, die verknurkelte Hose war an den Knien ausgebeult … aber es war doch nicht der küstermäßige Schoßrock, den Zeunlein am Grabe seiner Mutter angehabt und seitdem jeden Sonntag trug.

Und als die beiden nun selbander in der Mittagssonne gingen, entdeckte Dorchen: dieser Mann mit dem grämlichen Vornamen Laborius sei gar nicht so uneben; nicht nur die Junggesellenbude, mehr noch er selbst hatte recht gerümpelig ausgesehen. Freilich hatte er unzählige Fältchen neben den Augen … aber die kamen gewiß von der kniffeligen Beschäftigung mit den Räderchen der Uhren …

Bei Scheller saßen sie einander gegenüber. Einen blütweiß gedeckten Tisch zwischen sich, schattende Linden über den Häuptern, grüne Wiesen vor dem Blick, den Taunus hüben, den Weißen Turm des Homburger Schlosses drüben …

Da liebkoste Zeunlein das schneeige Tischtuch.

»Wie unsäglich schön das ist – und so appetitlich,« sagte er leis.

Am Nebentisch lümmelte ein junger Mensch, sattgegessen, schwelgend im Nachgenusse. Er hatte ein goldenes Zigarettenbehältnis vor sich liegen und rauchte mit Behagen süßlich und stark duftende Zigaretten. Mehrmals versuchte er, ob Dorchen auf sein Blickewerfen einginge. Dann rief er den Kellner und bezahlte, mit großsprecherischer Nachlässigkeit einen Hundertmarkschein wechseln lassend. Überaus ehrerbietig, dennoch zudringlich grüßte er das Dorchen, nachdem er sich erhoben, um den Garten zu verlassen.

»Kannten Sie den Herrn?« erkundigte sich Zeunlein.

»Sie sahen ja, daß ich seinen Gruß nicht erwiderte,« bemerkte Dorchen. »Ich habe keine Ahnung, wer das sein mag. Meine Kolleginnen erzählten mir, solche Laffen sähen hinter jedem jungen Mädchen Freiwild. Na, und dann: man sieht mir gewiß auch das Theater an. Da glaubt so einer um so eher, er hätte gleich Glück.«

»Aber Sie machen sich nichts aus solcher Verehrung?« forschte der Uhrmacher. Seine Augen blickten ängstlich und besorgt, auf seinen Wangen lag's ein wenig rot … die Eifersucht regte sich. Und er dachte auch voller Grauen, was solch ein Pirschgänger auf Freiwild anfing mit der weißen Haut, von der über dem Strumpfband das Stückchen geleuchtet hatte – schneeig, lüstern, lockend, daß es noch widerleuchten würde in Träumen, die Laborius Zeunlein noch nie geträumt.

Dorchen sah den Mann groß und ehrlich an.

»Aus solcher Verehrung? … nein, daraus mache ich mir gar nichts – nicht soviel!« Sie schnippte mit dem Mittelfinger über den niedlichen Daumen. »Ich will eine große Künstlerin werden. Da hat man höhere Gedanken als an Liebeleien.«

Zeunlein lehnte sich in den Stuhl zurück, behaglich und mit einem gewissen Stolz, den er wegen seiner schönen Begleiterin fühlte. Plötzlich war ihm ganz und gar zufrieden zumute. Seine Umwelt war auf einmal so anders geworden – sommerlicher, jugendlicher, froheren Klanges. Ein Vogel zwitscherte in den Linden. Da pfiff auch der Uhrmacher leis vor sich hin.

»Was mir am wenigsten gefällt an Ihnen, ist Ihr Vorname,« sagte Dorchen nach einer Weile, in der sie ihren neuen Freund beobachtet und eingehend betrachtet hatte. »Laborius … Laborius … man denkt dabei unwillkürlich an einen frommen Greis oder an einen Mann, der – – wissen Sie, der Faust, der sitzt doch zwischen so allerlei spukhaftem Kram, Skelette, Eulen, Weltkugeln und so – Spinneweben in allen Winkeln.«

»Faust …,« unterbrach Zeunlein nachdenklich. »Und Gretchen: ich habe schon soviel für dich getan, daß mir zu tun fast nichts mehr übrig bleibt. Oder: und küssen ihn, so wie ich wollt, an seinen Küssen vergehen sollt.«

»Ja, so heißt es – das Gretchen kann ich schon,« erklärte Dorchen. »Aber – so wie der alte Faust, so kommt mir der Name Laborius vor. Neulich spielte Herr Vitellius in einem Stück einen Grafen Boris. Boris – so sollten Sie sich nennen, Herr Laborius. Das gefiele mir weit besser. Oder nein, ich werde in Zukunft Herr Boris zu Ihnen sagen.« Sie lachte ihn strahlend an. »Gefällt es Ihnen und ist es Ihnen recht?«

»Ja, sogar sehr,« versicherte Zeunlein mit glücklachenden Augen. »Ich wünschte nur, Sie nähmen recht oft die Gelegenheit dazu. Wenn Ihre Mutter wieder kommt …«

Dorchen winkte ab.

»Das wird nicht oft der Fall sein, denn ich habe Mutter geschrieben, sie soll es lassen. Meine Kolleginnen sagten mir, es wäre mir nützlicher, wenn ich nicht alle Sonntage mit ihr gesehen würde. Wenn man eine große Künstlerin werden will, dann darf man nicht immer solch einen Schutzdrachen bei sich haben. Noch dazu, weil Mutter sich nie richtig anzieht, immer an ihre Gemüsekörbe erinnert.«

Zeunlein fand diese Erörterungen weniger kindlich als offenherzig; aber sie erklangen aus dem frischen roten Munde so gar nicht garstig, so gar nicht bös gemeint, daß er sie gern überging. –

Als am Montag Dorchen von der Theaterprobe kam, war das ganze Uhrmacherhäuschen von oberst zu unterst gekehrt. Es roch schon auf der Stiege nach frischer Luft, aber auch nach Dielennässe, feuchtem Sand und Schmierseife.

Eine alte Frau rummelte in Zeunleins beiden Stuben.

Und als Dorchen einen Blick dahinein tat, waren weiße Vorhänge an den Fenstern. Die Scheiben blinkerten blitzeblank. Die Möbel standen nicht mehr so mürrisch und verstaubt. Die Löcher im Sofa waren – vorläufig! – mit weißen Häkeldecken vertuscht. Die Bilder an den Wänden hingen gerade. Kurz, alles war wie nach dem Großreinemachen vor hohen Feiertagen.

»Ich bin die Fraa Zwiwwel,« stellte sich die Alte vor. »Unn der Herr Zeunlein läßt Ihne sage, Fräuleinche, daß jetzt ich des Stibbche drowe sauber mache muß. Sie derfe des jetzt net mehr tun. Ich komm jeden Morjend unn mach gründlich Ordnung im Häusi.«

»So so, das ist aber komisch,« sagte Dorchen erstaunt.

»No, Sie sinn awwer aach e außerordentlich lecker Mädelche,« urteilte Frau Zwiebel mit blinzelnden Augen und trillerte mit den Lidern. »Hm, da guck emal ääner an – wer hätt des gedacht, daß der Zeunlein so e Schockschwerenöter is …«

»Wie meinen Sie das?« fragte Dorchen völlig harmlos.

»No, wie mer als so ebbes meint manchmal,« sagte die Alte kichernd. Dann hob sie gar zu singen an … aber es klang nicht nach Himmelssphären:

»Drei Woche vor Ostern,
da geht der Schnee weg,
unn 's heirat mei Schätzl,
unn eich hunn en Dreck …«

Tüchtig handhabte sie dabei den Schrubber, klatschte den nassen Putzlumpen auf den Boden der Schlafstube und fuhr rumpelnd unter der Bettstatt hin und her. So schnitt sie weitere Zwiesprache ab.

 

In einer Ecke der Vorderbühne, dort wo der Vorhangzieher während der Akte schlafend hockte, stand an den Spielabenden ein Mann der Freiwilligen Stadtfeuerwehr. Ein überschlanker Mensch mit vorhängenden Schultern. In dieser Haltung sah er aus, als wiege ihm der blanke Messinghelm zu schwer auf dem Kopfe.

Friedebert Weihrauch hieß dieser Mann … Weihrauch – aber nicht von Siegmund Goldstaubs Gnaden, sondern wahr und wirklich echt Weihrauch. In ganz Homburg kannte man den Tischler Friedebert als einen überaus gutmütigen, jedoch etwas kopfschwachen Menschen.

Er gewann seinem Posten viel Freude ab, denn er liebte das Theater über alles. Man sagte ihm auch nach, er hätte den Theaterfimmel.

In der Verschalung des Proszeniums war ein großes Guckloch, durch das man alle Vorgänge auf der Bühne verfolgen konnte. Das entsprach völlig dem Zwecke des dem Feuerwehrmann zuerteilten Amtes – der Weihrauch aber sah in seinem Amte nicht mehr als die gutgebotene Gelegenheit, ohne Geldausgabe einer Vorstellung beiwohnen zu dürfen. Friedebert Weihrauch lachte, wenn's draußen zum Lachen war … er hatte aber auch Tränentröpfchen an der Nasenspitze hängen, wenn's draußen tragisch zuging.

Eines Abends im Zwischenakt sprach er das Dorchen an.

»Entschuldigen Sie, Fräulein – ich wollte Sie schon immer mal fragen, ob wir nicht Verwandte sind?«

»Verwandte – wir – wieso?« sagte Dorchen erstaunt. Dabei lachte sie den Feuerwehrmann bezaubernd an; es gab ja keinen Menschen, dem sie je ein unfreundliches Gesicht zeigte.

»Sie sind doch nicht etwa eine Tochter von meinem Onkel in Frankfurt?« spann er das Gespräch weiter.

»Heißen Sie denn auch Guckes?«

»Guckes? … nein, aber ich heiße – wie Sie – auch Weihrauch.«

Dorchen mußte lachen.

»Ach so – nein, dann sind wir bestimmt nicht verwandt.«

Die Theaterarbeiter fingen an, Kulissen zu schleppen; so fand das Gespräch ein Ende. Aber es blieb nicht das letzte.

Im Lauf der Zeit erfuhr Dorchen, daß Friedebert Weihrauch seines Zeichens Kunsttischler sei, daß er aber weiland lieber einer höheren Kunst gedient hätte, indem er lieber zur Bühne gegangen wäre.

»Zur Oper,« sagte er bedeutungsvoll und nickte, daß ihm der übergroße Feuerwehrhelm vornüber kippte. »Ich habe nämlich einen Tenor – herrlich, sage ich Ihnen, Fräulein, herrlich!« Er führte die gespitzten Finger zum Mund und warf dem Mädchen einen Kuß zu. »Hier auf der Bühne sagen alle, ich müsse zum Theater gehen. Und im Wirtshaus muß ich immer singen. Auch da sagen sie, ich gehöre auf die Bühne – zur Oper. Aber meine Eltern wollen nichts davon wissen. Na, und da gibt man als guter Sohn nach.« Er lachte so unsagbar gütig, als wäre ein solcher Verzicht aus Kindesliebe das selbstverständlichste von der Welt. »Ja, mein Tenor!« Nun räusperte er sich, genau so wie er den Sängern das Räuspern abgelauscht hatte; denn zu manchen Zeiten kamen sie von Frankfurt herüber und gaben den »Troubadour« oder sonst eine kleine Oper im Theater des Kurhauses.

So dumm war Dorchen nicht mehr: sie hatte bald herausgefunden, daß dieser Friedebert verliebt war, verliebter wurde von Mal zu Mal nach jedem Gespräch. Ein heller Glanz ging ihm über das ganze, recht hübsche Gesicht. Nur daß die Augen ein wenig töricht guckten. Augen, die noch nie etwas Häßliches an dieser häßlichen Welt gesehen. Und der helle Glanz blieb den ganzen Abend über, wenn Dorchen zu tun hatte. Wenn sie aber einige Tage nicht beschäftigt war, dann fühlte Friedebert sich einsam und sah dem Spiele freudlos zu … der Weihrauch mit dem schönen Tenor.

Das sagte er dem Mädchen ehrlich und in aller Unschuld.

Und Dorchen freute sich: nun hatte sie schon zwei Verehrer … denn wie es um den Laborius Zeunlein stand, das wußte sie nicht erst seit gestern und heute.

Ein Dritter sollte bald dazukommen …

An einem Nachmittag saß Dorchen im Kurgarten vor der Musik. Da nahm jemand den Stuhl neben ihr ein. Nach einem halben Blick dachte sie, den Menschen müsse sie schon gesehen haben.

Und wie er sich nun großspurig rekelte, die in knallgelben Schuhen steckenden und mit lilaseidenen Strümpfen bekleideten Beine von sich streckte, erkannte sie ihn … jenen Jüngling, der sie in Dornholzhausen gegrüßt hatte. Warum ihr die Begegnung peinlich war, wußte sie nicht recht – sie dachte bei dem geschniegelten Herrn einen flüchtigen Augenblick an Laborius Zeunleins schwarzen Schoßrock und an den zerknurkelten grauen Sommeranzug, den der Uhrmacher ihr zu Ehren jetzt öfter trug. Einer Regung nachgebend, erhob sie sich zum Gehen.

Da erkannte er sie; und er grüßte sie wie eine Fürstin.

Sie warf einen abweisenden Blick auf des Mannes Züge … ein rosiges Gesicht mit einem blonden Schnurrbärtchen, unter dem volle, straffgespannte, wie vom Blut geschwellte Lippen glänzten, immer zum Küssen bereit.

Dorchen ging, nicht ahnend, daß der Herr ihr folgte.

Am Weiher im Großen Kurpark sprach er sie an, als sie die Schwäne fütterte. Nun war er gar nicht mehr lümmelig, sogar recht bescheiden.

»Verzeihen Sie mir, gnädiges Fräulein … ich bitte tausendmal!« sagte er ganz verlegen.

Und ihr fiel auf, wie sanft und schön seine Stimme klang. Dorchen mochte ihm gar nicht böse sein. Ihr immer leicht erwecktes freundliches Lachen: »Bitte …?«

»Seit ich Sie vor acht Tagen sah – ich merkte mir sogar das Datum: Sonntag, am ersten Juli … daraus können Sie ermessen, wie tief der Eindruck war – doch, als ich Sie damals sah, erkannte ich die Künstlerin sofort wieder. Sie sehen im Leben noch schöner aus, als geschminkt auf der Bühne.«

»Ach, Sie besuchen unser Theater?«

»Nicht zum Vergnügen – ich bin Kritiker. Vielleicht lasen Sie, was ich vor einiger Zeit über Sie geschrieben? Es mag ebenfalls so acht Tage her sein … das Sonnenkind …!«

»O, das haben Sie geschrieben … Sie?«

Nun strahlte sie ihn förmlich an.

»Hm, ja, denn über die Rollen, die Sie bekommen, kann man ja beim besten Willen nichts schreiben. – Sie sind gewiß Anfängerin?« Doch er wartete ihre Antwort nicht erst ab. »Mit Ihrem Liebreiz haben sie bestimmt noch eine große Zukunft.«

»Also Sie sind der Kritiker,« sagte Dorchen, ihn immer noch anstaunend, als hätte sie keines seiner andern Worte vernommen.

»Mehr aus Neigung als aus Beruf,« gestand er. »Von Fach bin ich bloß Student … falls man das auch ein Fach nennen darf.« Er lachte sehr hübsch und entblößte dabei prächtige Zähne. »Ich darf aber doch wohl so sagen, denn ich studiere rund sechs Jahre – an der Züricher Universität –, ohne bis jetzt die Lust zum Examen verspürt zu haben. Der Besitzer der hiesigen Zeitung ist übrigens mein Onkel, bei dem ich zu Besuch. Ich wohne aber nicht in seinem Hause – nein, da würde ich mich nicht unabhängig genug fühlen. – So ein kleines Blättchen wie der ›Taunusbote‹ kann sich natürlich nicht einen kostspieligen Kritiker halten, und da übernahm ich das Amt – teils meinem Onkel zuliebe, teils aus Lust an der Sache. Denn wenn ich etwas werden möchte, so ist das: Theaterdichter! – Dann schreibe ich ein Stück für Sie mit einer Bombenrolle.«

So plauderte er, eigentlich langweilend – aber er lachte so schön. Und da lachte denn das Dorchen mit. Sie war ganz überwältigt von der Aussicht, daß es ein Stück geben würde, in dem sie ganz allein glänzen könnte. Plötzlich bat er um Entschuldigung, daß er vergessen habe seinen Namen zu nennen.

»Wilhelm Müller,« stellte er sich vor. Aber er brachte den Namen ein wenig zögernd über die Lippen … so, als schäme er sich seiner. Dann aber betonte er scherzend, dies wäre gewiß ein sehr seltener Name.

Dann schritten sie den Weg tiefer in den Kurpark, als verstünde sich dies Nebeneinanderbleiben ganz von selbst.

Dorchen hatte Brillantringe noch niemals in nächster Nähe gesehen. Dieser Müller aber mußte ein schwerreicher Mann sein. Er hielt beim Schreiten die rechte Hand, jedenfalls ganz unwillkürlich, oben an die Rockklappe. Da glitzten, gleißten, flimmerten und funkelten auf dem Kleinfinger zwei Ringe mit fabelhaften Steinen, die in der hellen Sonne geradezu Strahlen warfen. Nun zog er gar noch das goldene Behältnis hervor und zündete eine Zigarette an. Der schwere, süßliche Duft betäubte Dorchen fast zu Kopfschmerzen; aber dieser Duft dünkte sie auch riesig vornehm. Trotzdem nur ab und zu ein Wölkchen an ihrem Gesichte vorüberwehte, versetzte es sie halb und halb in einen Rauschzustand.

Müller aber scheuchte rücksichtsvoll jedes Wölkchen mit der brillantengleißenden Hand. Dann blitzten die Steine noch viel mehr …

Er hielt ihr belehrende Vorträge über Rollenauffassung und Dramaturgie, wovon Dorchen nicht das mindeste verstand. Sie langweilte sich zwar und dachte, er könne doch von schöneren Sachen, zum Beispiel über sie selbst sprechen. Aber just weil sie sich langweilte, machte soviel Gelehrsamkeit noch tieferen Eindruck auf sie.

Nun hatten sie den Kurgarten verlassen und hielten einen Fußweg im angrenzenden Hardtwalde ein. Irgendwo stand eine einsame Bank.

»Wollen wir nicht ein bißchen rasten,« schlug Müller vor. Und als sie nebeneinander saßen, hob er an: »Theaterdichter – ja, das wäre so mein Ideal. Nun, man hat allerlei Ideale, von denen man zum voraus weiß, sie lassen sich nie verwirklichen. Und dennoch hängt man ihnen nach.«

»So wie der Feuerwehrmann auf der Bühne, der gerne Opernsänger werden möchte.«

»Welcher …?«

Und nun berichtete Dorchen von Friedebert Weihrauch. Auch von seiner Verliebtheit erzählte sie, nicht ganz ohne Wohlgefallen, sogar mit glänzenden Augen.

»Und über die Verehrung eines solchen Plebejers freuen Sie sich?« urteilte der Mann mit den Brillantringen wegwerfend. »Sie scheinen noch sehr anspruchslos zu sein, gnädiges Fräulein.«

»Vielleicht nur jetzt noch – wenn ich aber erst mal eine große Künstlerin bin …«

»Na, das will ich auch hoffen.«

»Daß ich hochkomme?«

»Nein – daß sich Ihr Geschmack verbessern wird.«

»Gott … der Mann ist gar nicht so übel …«

»Um's Himmels willen, gnädiges Fräulein – Sie werden sich doch nicht etwa verplempern wollen?«

»Verplempern? Wenn einen doch mal einer lieb hat … das ist schließlich die Hauptsache.«

Dorchen unbewußt, regte sich das Theaterblut hierbei in voller Verstellungskunst. Sie war in diesem Augenblicke vielleicht auch mehr Weib als sie selbst ahnte. Sie meinte die Randbemerkung nichts weniger denn ernst. Und dennoch fühlte sie, die Worte müßten in irgendeiner Weise zu ihren Gunsten wirken auf den Mann mit den Brillantringen, müßten sie ihm erstrebenswerter machen, seine Eifersucht erregen.

Herr Müller saß denn auch eine ganze Weile stumm da; plötzlich starrte er das Mädchen an.

»Sagen Sie, Kind, Sie sind wohl noch sehr unschuldig?«

»Das will ich meinen!« versicherte Dorchen stolz.

Sie faßte das Wort in ganz anderm Sinne auf, als er es meinte … nun ja, beim Theater lernt man allerlei durch bloße Kunst des Zuhörens. Es muß nicht immer die Souffleuse sein, die einem die Rollen vorspricht. Kolleginnen verstehen das oft weit besser – wenn sich's um die im Leben zu spielende Rolle handelt.

Müller lachte aufrichtig und höchst belustigt.

»Das ist mein völliger Ernst,« beteuerte Dorchen daraufhin. »Mich kriegt auch keiner, der mich nicht für immer nimmt,« setzte sie wichtig hinzu.

»Dafür kann man sich nie verbürgen,« meinte der Mann mit den Brillantringen ein wenig zweifelnd. Doch dann schlug er einen sehr väterlichen, sehr wohlwollenden Ton an. »Übrigens findet Ihre am Theater sonst fremde Absicht meine vollste Billigung.«, Nun sah er sogar durchaus ernst drein, fast zärtlich rührte er leis an ihre Schulter. »Bewahren Sie sich diese köstliche Reinheit, Kind,« ermahnte er mit seinem schönen Lächeln und mit dem Wohlklang in seiner Stimme. »Sie ahnen gewiß nicht, wie erquickend Sie sind.«

Von da an war er weniger gesprächig, desto mehr ehrerbietig. Doch das Dorchen hatte noch nicht gelernt, bei Männern zwischen Lauterkeit und unehrenhafter List zu unterscheiden.

 

Wenn abends das Theater aus war, ging Friedebert Weihrauch in seine Stammkneipe. Das war ein kleines Wirtshaus in der Altstadt drunten »Zur weißen Eule« … nur ein enges altmodisches Stübchen mit wenig Tischen, aber sonst überaus Schritt haltend mit der neuen Zeit. Dafür sorgte die junge Wirtin. Von der Mitte der Stubendecke hing ein Messingkronleuchter mit drei elektrischen Birnenlampen. Und auf dem Hausflur befand sich sogar ein Fernsprecher.

Diese neuzeitlichen Einrichtungen waren indes der Grund, weshalb die paar wortkargen und nur stumm, ohne jede Aufregung Karten kloppenden alten Stammgäste sich verzogen hatten. Die waren an die unter der Decke einsam halbhell brennende Petroleumlampe gewöhnt und fühlten sich bei dem Lichtstrom der Glühbirnen nicht mehr wohl; sie könnten hier nicht mehr so »daheim« sein, flohen wie die Fledermäuse vor der Helle und quartierten sich anderswo ein, wo der wachsende Glanz des Deutschen Reiches nicht hindrang in allen möglichen Neuerungen. Auch hatte der Wirt – der Jean Reul – das Zeitliche gesegnet, und an seiner Statt übernahm die einzige Tochter Elise das Wirtshaus. Nun hätte man eigentlich meinen sollen, das hübsche Mädchen übe eine gewisse Anziehungskraft aus. Aber dem war nicht so, wenigstens nicht für die alten Homburger Knasterbärte.

Solange der dicke Jean Reul bei seinen Gästen gesessen, hatte man zoten, häufiger noch schweinigeln können, war man des Kartens müde geworden. Man brauchte sich nicht zu beherrschen, wenn einen der Wind quälte im Bauch … man konnte gaksen – d. i. aufstoßen … man konnte offen reden von allen Leiden, noch offener von allen Enttäuschungen, die das Altwerden mit sich brachte. Man konnte überhaupt alles. Und der Jean Reul tat sogar tüchtig mit, hielt allerdings streng darauf, daß die Tochter Elise nur bei äußerster Notwendigkeit die Gaststube betrat.

Nun herrschte das Mädchen dort seit des Vaters Tode.

Aber das große, statiöse Frauenzimmer hatte etwas im Blick ihrer Schwarzaugen, was Anstand und Zucht forderte; abgesehen davon, daß man sich ohnehin vor ihr genierte. Sie saß da mit der vollbusigen Gestalt, hielt Augen und Ohren offen und überall … man getraute sich gar nichts mehr. Der Jean Reul hatte nie ein Glas gefüllt, oder man mußte ihn denn dazu auffordern. Diese Elise aber legte die Häkelarbeit hin, richtete sich zu ihrer männlich hohen Körpergröße auf, kam in Dragonerschritten an den Tisch, nahm schweigend das eben erst geleerte Glas und stellte ebenso schweigend ein gefülltes dafür hin, um gleich darauf wieder zu häkeln, zu gucken und zuzuhören.

Das war ja nun gewiß nichts weiter als wirtliche Aufmerksamkeit; bei einer andern hätte man das jedenfalls als Vorzug geschätzt … bei dieser Elise aber wirkte das alles wie eine Bevormundung. Ohne recht zu wissen, warum: man fühlte sich nicht frei …

Und dann kam noch eines hinzu.

Keinem war je eingefallen, dem Jean Reul ein Trinkgeld zu geben, so wenig es dem Eulenwirt eingefallen wäre, ein Trinkgeld zu heischen. Hatte man drei Glas Bier zu zahlen und legte vierzig Pfennig hin, so griff der Jean in die Tasche seiner schmierigen Hose und gab zwei Kupferbatzen zurück. Diese Elise aber erhob den Tribut mit einer Selbstverständlichkeit, die so zwingend wirkte, daß man sich mit der Zeit angewöhnte, über die Zeche hinaus zu bezahlen. Man trank zwei Glas Bier … macht vierundzwanzig Pfennig; man hatte es nicht klein und legte dreißig Pfennig hin … Elise sagte kurz: Danke! Und behielt die sechs Pfennig mehr. Ließ man ein größeres Geldstück wechseln, so zählte Elise zwar das Herauszugebende bei Heller und Pfennig auf den Tisch, blieb aber ruhig stehen und wartete, bis man ihr einen Groschen hinschob. Ja, bei nur fünf Pfennig dankte sie nicht einmal.

Ein genaues Frauenzimmer – so nannten die alten Knaster sie und blieben mit der Zeit sämtlich fort.

Die Weiße Eule blieb einige Zeit Abend für Abend leer, und das Bier verdarb. Nur ein Gast war der Reulschen Tochter und ihrem Erbe treu geblieben: der Uhrmacher Laborius Zeunlein. Aber der trank nicht so ausgiebig, daß sich das Brennen der drei Glühbirnen lohnte. Dennoch verlor Elise Reul den Mut nicht; und sie sollte recht behalten.

Da schneite der Zufall einmal ein paar junge Leute in die Wirtsstube … Söhne besserer Neustadtbürger. Denen stach das elektrische Licht und der Fernsprecher in die Augen, mehr noch aber das stramme Mädchen, das diese Neuerungen in der Altstadt eingeführt, so wagemutig und mit dem Althergebrachten brechend.

Wenig später hätte die Weiße Eule doppelt so groß sein dürfen.

Man saß eng beisammen, mußte sich fast um den Platz streiten … aber vielleicht war es gerade das, was den jungen Leuten die Kneipe so urgemütlich machte. Laut genug ging es dabei freilich zu, denn Jugend liebt nun einmal das Muntersein. Alle waren wie eine einzige große Freundschaft. Seit neuer Zeit schloß sich sogar der Zeunlein nicht völlig aus, der weiland stumm und still und einsam in seiner gewohnten Ecke gesessen hatte. Die Jungen neckten ihn natürlich mit seiner schönen Einmieterin vom Theater und mit deren nächtlicher Nähe; aber da warf der Uhrmacher einen bezeichnenden, heimlichen Winkeblick nach Elise hinüber, und die kecken Mäuler besannen sich auf das, was die vertriebenen Väter von dem für sie so ungenießbaren Mädchen erzählt hatten. Die Frechdachse verstummten …

Na, und das winzige Fäßchen Bier – eine Überlieferung aus Jean Reuls verflossener Wirtseinfachheit und Mäßigkeit –, das reichte längst nicht mehr. Elise brauchte ein doppelt so großes; daraus ward bald ein Faß mit fünfzig Litern, dazu bald noch ein kleineres angezapft werden mußte. Und das Anzapfen besorgten die jungen Leute gerne selbst, als schmecke ihnen das Bier drum noch einmal so gut.

Ab und zu verlangte auch mal einer einen »Schnapus« … den hatte es zu Jean Reuls Zeiten nie gegeben in der Weißen Eule. Elise nahm den Vorteil wahr, kam um die »Spirituosenkonzession« ein und verschaffte sich allerlei Sorten. Doch für die vielen Flaschen und Gläschen brauchte sie ein Gestell. Und weil der alte Schreinermeister Krebs nicht mehr in die Kneipe kam, hatte das Mädchen vernünftigerweise keinen Anlaß, ihn mit einem Auftrage zu bedenken.

Da las sie am Schulberg an einem Häuschen: Kunsttischlerei von Georg Weihrauch.

Und nur wenige Tage später lieferte Friedebert Weihrauch, der einzige Geselle seines Vaters und Meisters Georg, unter Mithilfe eines Lehrbuben das Fachgestell in der Weißen Eule ab. Das Ding kostete wenig genug, obschon es mit allerlei Zierat ausgeputzt war. Den kunstvoll geschnitzten, ausgesägten und mit dem Kunsthobel hergestellten Schmuck hätte er selbst gemacht, sagte der Friedebert zu Elise Reul. Und sie lobte das Werk in ihrer zwar ruhigen und einfachen, aber eben deshalb ehrlich überzeugt wirkenden Art.

Dann half Friedebert noch den Flaschenvorrat einräumen, ließ sich die Rechnung bezahlen – wenn er auch nach Homburger Art steif und fest behauptete: das hätte ja bis in alle Ewigkeit Zeit; hernach bestellte er für sich gleich einen von den neuen Schnäpsen und für den Lehrjungen einen Schnitt Bier. Ein Schwätzchen kam zustande, Friedebert erzählte natürlich von seinem herrlichen Tenor. Und damit man nicht immer so durch die Wirtsstube hin sprechen mußte, nahm Elise dem Tischler gegenüber ein bißchen Platz.

Friedebert Weihrauch war der erste Mann, der sich hätte rühmen können, des ernsten und schönen Mädchens Wohlgefallen erregt zu haben. –

Schorsch Weihrauch nun meinte: gegen Kundschaft müsse man auch Kundschaft geben, um so mehr, da er erfahren hatte, daß Elise Reul die Kneipe mit allerlei besseren Einrichtungen versehen lassen wolle. Dazu gehörten gewiß auch Tischlerarbeiten. Und so schickte er den Sohn zum regelmäßigen Abendschoppen in die Weiße Eule, da er selbst nicht gut hingehen konnte, um es mit den alten Knasterbärten nicht zu verderben, die in der Wirtschaft Zur Aula ihr neues Heim aufgeschlagen. Und dann kam noch hinzu: Schorsch Weihrauch war ein vernünftiger Mann … er wußte, daß ein Alter die jungen Leute nur stören würde … und das tapfere Mädel verdiente wahrlich nicht, daß man ihr nun auch noch die neue gute Kundschaft vertrieb. Schließlich auch ging der Friedebert ganz gerne in die Weiße Eule, denn Elise hatte ihm gefallen und gefiel ihm noch. Und die alten Weihrauchs hatten dagegen nichts einzuwenden. Ein Sorgenkind war und blieb der Friedebert, der letzte von drei Buben, deren zwei der Tod ein bißchen frühzeitig von dannen gerufen.

Das ernste Mädchen von vierundzwanzig Jahren erkannte übrigens bald, daß dieser Tischler einen Span zuviel hatte, obgleich er noch längst kein Trottel war. Elisens Gemüt fühlte Mitleid für den armen Teufel – Mitleid, das gar nicht einmal so weit von herzlicheren Gefühlen lag. Die jungen Leute hatten sich angewöhnt, den Friedebert als Zielscheibe von allerlei Ulk zu machen. Dem sah Elise geduldig zu. Aber wenn derlei Geschichten zu weit übers Maß zu gehen drohten, nahm sie sich des mehr als nur gutmütigen Menschen an und wurde wohl auch einmal tatfest gegen die Spaßmacher.

So erzog Elise Reul ihre Gäste, besser als es Jean Reul je vermocht hatte. Dennoch ging es lustig zu in der Weißen Eule, und dabei wurde tüchtig gezecht, auch gute Trinkgelder gegeben. Das als Geldbehälter dienende alte Zigarrenkistchen des Vaters hatte längst einer ordentlichen Weißblechkasse weichen müssen, in der sich die Taler speicherten und stapelten, ja, sogar manch Goldstückchen hinzu fand. Aber daß einer stur besoffen aus der Kneipe ging, kam niemals vor. Elise kannte jedes einzelnen Maß genau; begehrte er darüber hinaus zu trinken, dann mochte er noch so oft bestellen – – Elise tat als höre sie es nicht. Seltsamerweise zog dieser fürsorgliche Eigenwille der Wirtin dem Verkehr in der Kneipe keinen Abtrag nach sich … im Gegenteil: man erkannte zwar schweigend, aber dankbar an, daß man mit einigermaßen unbenebelten Sinnen um zwölf Uhr heimging und sich doch großartig unterhalten hatte – wohlgemerkt, ohne sein Geld zu verputzen.

Es gab trotz alledem in der Altstadt beunruhigte Seelen genug, die recht scheel auf die Weiße Eule zu sprechen waren. Für sie war die große, stramme Elise mit dem vollen Busen und den breiten Hüften, mit dem stattlichen Quartier und den – wenn sie saß, war's leicht zu erkennen! – den prächtigen Schenkeln, für diese Leute war sie ein »junges Ding« … vielleicht nur, weil sie ledig war. Und nach dieser beunruhigten Gemüter Meinung gehörte sich's nicht, daß lauter junges Blut in der Weißen Eule verkehrte.

Geschwätzige Altweiber, und auch jüngere, nur nicht so hübsch wie Elise … sie legten ihr nahe, einen Mann zu nehmen oder wenigstens einen Schankburschen einzustellen.

Da öffnete Elise den ein bißchen großen, doch schönen Mund, zeigte zwei Reihen wundervoller Zähne und lachte in ihrer kurzen Art hell auf. Mit den aller Arbeit zum Trotz weiß und hübsch gehaltenen Händen fuhr sie rechts und links über das in der Mitte gescheitelte und überdies in zwei stattlichen Zöpfen aufgesteckte Haar, das Kastanienbraun glättend.

»Einen Schankburschen brauche ich nicht,« entgegnete sie. »Wenn ich will, dann hilft mir jeder, der bei mir verkehrt. Ja, sie reißen sich sogar Mann für Mann um den Vorzug. Außerdem aber bin ich mein Schankbursche selbst. Und solch ein Laps könnte mir die Tugend doch nicht hüten, wenn ich sie drangeben wollte. Ich hüte sie aber schon selbst. Einen Mann nehmen …? Das hat gute Wege. Ich sehe jeden Abend Männer genug. Vielleicht mache ich mir drum nichts aus ihnen. Der kommen soll – nun, den sah ich noch nicht, und ich gucke auch gar nicht nach ihm aus.«

Ja aber, ob sie denn ledig bleiben wolle …?

»Das ganz gewiß nicht!« lehnte Elise ab.

Sie strich dabei liebkosend über Brust und Hüften, und ließ dann die Hände vor dem Schoße ruhen, als wolle sie deuten: dies alles wäre ihr denn doch zu schade zum Verwelken. Die Lider sanken ihr ein wenig schwerer über die dunkeln Augen, die Nasenflügel bebten leis wie Falterschwingen, und ein feines Röten hauchte über die Bräune der Wangen.

»Wenn ich einen Mann nehme, dann muß er eine ganz besondere Natur sein – nicht hochhinaus will ich – o bewahre – ich kann es nicht so recht sagen, aber es muß eben ein – ganz – Besonderer sein,« versuchte sie ihre Anschauungen zu deuten.

So einen müsse sie sich malen! sagten die Ratgeberinnen erbittert und zogen mit spitzen Nasen ab. Und mit messerscharfen Zungen zerhechelten und zerfransten sie die Ehre Elise Reuls:

Wer weiß, was hinter den zugezogenen Vorhängen der Weißen Eule alles vor sich geht … man muß doch einmal aufpassen, ob nicht, wenn alle andern längst gingen, noch einer allein heraushuscht … vergebens laufen die Lausbuben nicht so in die alte Kneipe, wo es doch droben in der Neustadt viel schönere gibt … das ist auch keine Art, so allein und ohne Aufsicht in dem Häuschen zu hausen … wenigstens eine Tante könnte sie kommen lassen, der Jean Reul müsse doch in Frankfurt oder Rödelheim oder Sachsenhausen eine Verwandte haben … mein Sohn darf nicht in der Eule verkehren … und der arme Jean, wenn der sich nur nicht im Grabe umdrehen muß … und mein Mann hat schon früher immer gesagt: wenn der Reul stirbt – was wird aus der Tochter …?

Giftige, garstige Schandschnauzen, die Dreck schleudern, weil seelische und sinnliche Reinlichkeit ihren Besitzerinnen ferner als fern liegt!

 

Friedebert Weihrauch hatte den Dienst als Feuerwehrmann wieder einmal hinter sich. Er war besonders gehobener Stimmung; der Bühnenumbau zwischen dem zweiten und dritten Akt nahm eine reichliche Viertelstunde in Anspruch, und diese Pause im Spiel verplauderte Dorchen mit dem Tischler. Der kam nun gar vergnügt in die Weiße Eule.

»Wissen Sie, Herr Zeunlein, Ihre Mieterin ist doch ein arg goldig Ding,« sagte er zu dem verdrossen in der gewohnten Ecke sitzenden Uhrmacher.

Laborius hob das Kinn von der Brust und sah den Tischler verwundert an.

»Meine Mieterin? … woher kennen Sie denn die?«

Friedebert erging sich in hohem Lobe, nachdem er erklärt, auf welche Weise er mit Dorchen Bekanntschaft geschlossen.

»Wenn mir eine fürs Leben recht wäre, dann könnte es nur diese sein!« endete er, ohne bemerkt zu haben, daß Elise die ganze Zeit daneben stand und zuhörte. Sie hatte ihm einen Schoppen vorgesetzt.

»Lassen Sie aber deswegen das Bier nicht abstehen, Herr Weihrauch,« mahnte sie und schubbste den Tischler mit einem Knuff. Erzürnten Gesichtes ging sie an ihren Platz neben dem Bierfaß, warf manchmal einen strengen Blick auf Friedebert und häkelte; doch oft mußte sie die Schlingen wieder aufziehen. Weiß es Gott, weshalb sie sich heute in einem fort verzählte.

An den Nebentischen ging es diesen Abend ein wenig ruhiger zu. Es war, als warte man auf eine günstige Gelegenheit, für die man etwas vorbereitet. Elise kannte die Stimmungen ihrer Gäste genau und blieb auf der Hut; gab's einen Ulk, der zu weit ging – sie wollte schon die Grenze ziehen. Noch dazu hatten die jungen Leute einen fremden Gast mitgebracht. Der verhielt sich zwar still und stumm, als sähe er sich das Treiben zunächst einmal prüfend an. Aber abzugewinnen vermochte Elise Reul diesem Herrn nichts … er kam ihr zu protzig vor, paßte in seiner übertrieben vornehmen Kleidung zu wenig in die Einfachheit der Weißen Eule, prunkte zuviel mit der von Brillanten funkelnden rechten Hand.

Der Karl Heim, ein Hans in allen Gassen und Schreiber auf dem Rathaus, der hatte den Fremden mitgebracht.

Solange Friedebert bei Zeunlein williges Gehör fand für die Loblieder auf Dorchen, solange ließ man ihn in Ruhe. Nun war der Uhrmacher aber merklich stiller geworden und gab öfter keine Antwort.

»Du, Friedebert,« rief endlich der Karl Heim den Tischler an. »Komm doch mal zu uns her. Da ist jemand, der sich für deinen Tenor interessiert – komm nur.« Er deutete auf den Mann mit den Brillantringen.

Dem Weihrauch fuhr es durch alle Glieder. Er entschuldigte sich bei Zeunlein, daß er ihn allein lasse, und ging an den andern Tisch.

Elise legte die Häkelarbeit beiseite und kreuzte die Arme unter der Brust. Ihre Schwarzaugen wurden wachsam.

»Herr Wilhelm Müller,« stellte Karl Heim den Fremden vor, und Friedebert vollführte eine ungeschickte Verbeugung. »Herr Müller hat nämlich vortreffliche Verbindungen mit dem Frankfurter Opernhause …«

»Ach …!« machte der Tischler und staunte den Gast beseligt an.

»Ja – und da der Kammersänger Brandowsky fort will …«

»Wie schade,« seufzte Friedebert aufrichtig bedauernd.

»Na, dir kann's nur recht sein. Denn wenn dem Frankfurter Herrn Intendanten deine Stimme gefällt – es wäre nicht unmöglich, daß du dann dort Opernsänger werden könntest … für den Brandowsky. So schön wie dem sein Tenor ist der deine schon längst.«

»Ich weiß doch nicht – –,« meinte Friedebert bescheiden. »Also der Herr will mir behilflich sein?« wendete er sich an Herrn Müller.

»Hm, ja … in der Tat,« sagte Herr Müller gönnerhaft und betrachtete sich den Mann in der Feuerwehruniform genau: also das war der verschrobene Mensch, von dem Dorchen erzählte, er sei verliebt in sie – solch ein Plebejer … was der sich erdreistete … man konnte ihm schon eins auswischen. »Können Sie denn überhaupt singen?« fragte er und verkniff das Feixen.

»Das will ich meinen!« versicherte Friedebert, der jetzt Mut faßte; er räusperte genau so, wie er es dem Kammersänger Brandowsky abgeguckt, wenn der auf der Homburger Bühne zu singen sich herabließ.

Müller blickte sich nun doch ein bißchen verlegen in der Tafelrunde um … eigentlich tat er ihm leid, der arme Kerl mit dem ehrlichen Gesichte und dem gutmütigen Blick – er sah so unsäglich vertrauend zu dem Vornehmen auf. Aber dann mochte Herr Müller den verabredeten Scherz nicht beeinträchtigen, und um der Zudringlichkeit willen, mit der sich der Feuerwehrmann bei Dorchen einzuschleichen versuchte, verdiente er schon mal eine Lektion. Es blieb ja doch auch nur ein harmloser Scherz; höchstens daß der Mensch einige Tage lang mit eingebildeten Hoffnungen umherlief …

»Nun, der Herr Intendant wird gewiß nicht nach Homburg kommen wollen, um sich von Ihrer Stimme zu überzeugen, Herr Weihrauch,« hob Müller an.

»Ich, fahre gern nach Frankfurt,« fiel Friedebert eilig ein, in der Sorge, die schöne Aussicht könnte zu Wasser werden.

»Das ist wohl nicht nötig – und dann ist dem Herrn Intendanten daran gelegen. Sie heute noch zu hören.«

»Heute noch … ist er denn in Homburg?«

»Das freilich nicht – aber dennoch kann ich es ermöglichen, Sie mit ihm in Verbindung zu bringen; wenn es Ihnen nur recht ist …?«

»Ach, Herr Müller – ich – ja, ach – wär' das schön, wär' das schön,« stammelte der Tischler.

Über Müllers Züge huschte ein Zug frecher Freude. Elise gewahrte es und machte sich kampfbereit.

»Na, dann warten Sie mal einen Augenblick,« bat der Mann mit den Brillantringen, kam hinter dem Tische hervor, begab sich auf den Flur und klingelte am Fernsprecher. In der Weißen Eule war Grabesstille … man hörte Müller verbindliche Worte sagen: »Jawohl, Herr Intendant – gewiß doch, der junge Mann ist hier – wie bitte? – ach so, selbstverständlich – er wird Ihnen sofort etwas vorsingen – –«

»Geh doch enaus, du Dussel,« flüsterte der Schreiber Heim dem Friedebert zu und stubbste ihn nach der Tür.

Friedebert tappte hin, als schritte er mit zugebundenen Augen über einen geländerlosen Bachsteg.

»So, nun rasch – singen Sie!« befahl Müller und stellte Weihrauch vor das Telephon; dann kam er in die Wirtsstube zurück und nahm seinen Platz ein.

Draußen räusperte sich Friedebert und legte los … mit knödeliger Kastratenstimme, nicht ganz musikalisch und die Töne immer etwas höher treibend – so sang er in den Fernsprecher: »Durch die Wähälder, durch die Auhen zog ich lahaheichten Sihihinns dahin …«

Drinnen in der Gaststube hielten sie sich die Bäuche vor Lachen und juchzten vor Vergnügen über den Dummejungenstreich.

»... alles, was ich konnt' erschahauen …«

Herr Müller meckerte wie ein gekitzelter Geißbock.

»... war des sichern Rohrs Gewinn – alles, was ich konnt' erschahahahauen …«

Karl Heim fiel von der Bank und saß wiehernd unterm Tisch. Da stand plötzlich Elise hinter dem brillantberingten Herrn Müller, stülpte ihm den Hut auf, packte ihn beim Rockkragen und zog ihn mit einem Ruck vom Stuhle hoch. Ihr kräftiger Arm schleuderte ihn tatsächlich hinaus auf den Flur, wo der arme Narr Friedebert mit kicksender Stimme die Freischütz-Arie quetschte und knödelte.

»Sie betreten meine Gastwirtschaft nicht mehr!« rief Elise mit zornbebender Stimme hinter Müller drein. Dann holte sie den Feuerwehrhelm Friedeberts hinaus. Sanft, wie eine Mutter zu einem kränkelnden Kinde, flüsterte sie: »Gehen Sie nach Hause, Herr Weihrauch, gehen Sie doch heim – Ihre Stimme hat heute abend nicht den rechten Klang.«

Gehorsam, wenn auch enttäuscht, entfernte sich der Tischler.

Elise Reul aber stand mit vor Aufregung roten Wangen neben dem Tisch der jungen Leute.

»Was seid ihr doch für Helden, euch an dem armen, einfältig harmlosen Weihrauch zu wetzen!« zürnte sie, und ihre Stimme scholl vor lauter Verächtlichkeit rauh und tief.

»No, mer werd doch noch sein Spaß mache derfe,« grollte Friedrich Leppert, ein hämischer Mensch, der immer mit heiserer Stimme sprach.

»Spaß nennt ihr das? … und ihr wißt doch genau, daß der arme Kerl nun wieder wochenlang den Größenwahn hat, seinen Eltern Sorge macht und – falls er euch auf die Faxen kommt – an seiner Seele schwer leidet.«

»Ach was – so schlimm ist das alles nicht,« knurrte Karl Heim frech; dann lachte er von neuem auf, in der Erinnerung an den vor dem Fernsprecher knödelnden Tischler.

Elise stemmte die Faust auf den Tisch.

»Nicht schlimm nach Ihrer Meinung, Herr Heim … schlimmer aber als schlimm für die Menschen, die noch ein Herz haben für den Friedebert Weihrauch …«

»Elise Reul – Sie sind in den Schreiner verliebt!« erwiderte Karl Heim so bestimmt, als hätte das Mädchen es selbst gesagt.

Da nahm Elise Reul die Unterlippe zwischen die Zähne, schloß die Lider und senkte langsam das schöne Gesicht. Einen Augenblick stand sie noch, als wäre sie heftig erschrocken vor der Selbsterkenntnis; denn das behauptende Wort ließ diese Selbsterkenntnis in ihr aufschnellen, wie eine gebogen gewesene Weidengerte. Dann wandte Elise sich ab und schritt schwer ihrem Platze zu. Sie nahm die Häkelarbeit wieder auf; aber sie merkte selbst nicht, daß sie die weißen Garnsterne immer wieder in den Schoß sinken ließ, sich dem Nachdenken hingebend. Sie sprach kein Wort mehr, und auch an den Gasttischen war es stiller geworden.

Früher als gewöhnlich ward die Wirtsstube leer. Der letzte Gast war der Uhrmacher Zeunlein. Als er seine Zeche bezahlt hatte, blieb er noch eine Weile stumm bei Elise stehen.

»Sie taten recht, Fräulein Reul, als Sie den Weihrauch in Schutz nahmen gegen den immer lästiger werdenden Unfug der jungen Leute,« lobte er sie. »Und Sie haben mich – – beschämt! Ja, beschämt … ich hätte längst für den guten Menschen eintreten sollen, denn gerade zu mir bekundet er großes Vertrauen. In dem Augenblicke aber, als Sie so tatkräftig wurden, schämte ich mich meiner Schwäche; doch es war für mein Einmischen zu spät; ich wollte vor mir selbst nicht Wort haben, daß ein Mädchen mich aufrütteln mußte. – Fürchten Sie denn aber nicht, mit solchen Maßnahmen Ihre besten Gäste zu vertreiben?«

»Meinetwegen, es braucht keiner wiederzukommen – dann hat der Weihrauch wenigstens seine Ruhe,« behauptete Elise bitter. »Ist mir lieber, als wenn der gutmütige Narr sich immer mehr zum dummen August erniedrigen lassen muß.«

»Die jungen Leute verzehren viel bei Ihnen – wäre es nicht klüger, man riete dem Tischler das Wiederkommen ab? Soll ich es für Sie tun?«

»Nein, nein – denn ich – nein, es ist für mich die einzige Gelegenheit, den Friedebert zu sehen und zu sprechen.«

Zeunlein sah diesem stolzen Mädchen zu, das jetzt die Bierfilze zusammenräumte und die Gläser zur Abwasche bereitstellte. Ein begreifendes Lächeln lief über des Uhrmachers Züge … Elise hatte sich verraten.

»Nein …?« sagte er leis. »Gut, Fräulein Reul, ich werde mich also auch hierbei nicht einmischen. Aber ich will mich wenigstens künftig Ihres Schützlings besser annehmen. Sie kommen dann auch nicht länger in den Verdacht, den der Schreiber Heim äußerte …«

»Den Verdacht, daß ich in Weihrauch verliebt sei?« Elise sprach das offen und ernst dahin. »Lieber Herr Zeunlein, aus diesem Verdachte mache ich mir weniger, als sich eine Katze aus saueren Gurken machen mag. Verliebt – – und wenn? … es ginge keinen Menschen etwas an. Mein Herz ist mein, und nur mein Bier den Leuten auf den Tisch zu setzen bin ich verpflichtet.«

»Fräulein Reul – das klingt ja ganz als ob …?«

Elise lachte; ein halb verschämtes, halb zugestehendes Lachen, das ihre Mienen überaus verschönte.

»Lassen Sie's klingen ›als ob‹ … ich mag den Weihrauch gern, ich leugne das nicht. Bis zur Liebe aber hat's, glaub' ich, noch Zeit.«

Die Uhr schlug elf.

»So früh noch, und schon niemand mehr hier,« sagte Laborius betroffen.

»Ich bin nicht bang', morgen werden sie wieder länger bleiben.«

Zeunlein rang mit einem Entschlusse.

»Dürfte ich noch ein Glas Bier trinken bei Ihnen, Fräulein Reul?« bat er endlich ganz unvermittelt.

»Es ist meine Pflicht, Gäste zu bedienen,« meinte Elise achselzuckend. Sie stand schon vor dem Fasse und zapfte.

Der Uhrmacher setzte sich noch einmal: »Danke Ihnen.«

»Nichts zu danken,« lehnte Elise ab. »Aber da ich keine Lust habe, neue Leute hereinzulassen, werde ich die Haustür absperren.« Sie ging hinaus und drehte den Schlüssel um; dann setzte sie sich auf den gewohnten Platz und nahm die Häkelarbeit auf.

Laborius sah ihr eine Zeitlang schweigend zu.

»Ich bewundere Sie sehr, Elise Reul, denn Sie haben mehr Mark in Sinn und Seele als manch ein Mann – – zum Beispiel: ich!« begann Zeunlein. »Ich bin verkümmert in einer Einsamkeit, an der ich freilich selbst Schuld trage, wenn auch meine Mutter fast noch mehr schuld ist. Verkümmert … denn seit dem Tode meiner Mutter fehlt mir das Ohr, zu dem ich mich aussprechen konnte. – Mich bedrückt etwas. – Darf ich zu Ihnen offen sein?«

Elise Reul sah den Uhrmacher ein bißchen betroffen an. »Wenn Ihnen nur damit gedient ist, fürchte ich,« deutete sie zögernd an.

»Gedient mit einem offenen Wort? … eben das glaube ich – wenn Sie es nur anhören wollen …«

»Na denn – ich höre zu.«

Laborius wollte nicht sogleich in Fluß kommen. Nach und nach aber fand er beredtere Worte. Er schilderte, fast mehr zu sich selbst als zu dem Mädchen sprechend, wie seine Einsamkeit plötzlich in das Gegenteil umzuschlagen drohe, aus dem einen Unmaß schrill ins andere falle. Er wisse nun beinah selbst nicht recht, was das richtige gewesen sei, und er ringe mit sich selbst um die wahre Erkenntnis.

»Es ist wie eine Leidenschaft in mir nach aller Leidenschaftlosigkeit. Und diese Leidenschaft schreit mit tausend Stimmen nach einem jungen Ding. Just über meinem Bette steht im Dachkämmerchen droben das ihre. Ich höre jeden Schritt. Ja, fast meine ich jeden Atemzug zu hören. Ich höre, wenn sie mit bloßen Füßchen über die Dielen patscht – abends – bevor sie schlafen geht. Ich höre, wie sie sich alles vom Leibe streift, gottgeschaffen im Stübchen hantiert, sich in der Freude an der eigenen Schönheit liebkosend auf die nackte Haut tätschelt. Ich höre nachts, wie sie sich in den Kissen umherwirft und wie sie manchmal stöhnt – vielleicht vor Müdigkeit – –, aber ich bin oft nah daran, mir ihr Geseufz als ein Stöhnen der Wünsche solch jungen Blutes auszulegen. – Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, Fräulein Reul?«

»O doch,« sagte Elise leis und zählte errötend das Muster ihrer Häkelei nach.

»Seien Sie nicht böse,« fuhr Laborius fort. »Ja – und dann liege ich Nacht für Nacht wach und grüble und frage, mich quälend, woher ich den Mut nehmen soll, ihr zu sagen, daß ich verrückt bin vor lauter Verliebtsein. Früher ging sie des Sonntags manchmal aus mit mir. Das ist jetzt vorbei – – denn sie ist immer mit dem Gecken zusammen, den Sie da heute abend so glatt vor die Tür setzten. Wohl kommt sie noch oft zu mir ins Lädchen, aber immer nur auf zwei Worte und einen flüchtigen Gruß. – Und wenn ich mich dann zwingen will, mich zusammennehmen und entsagend die Zähne aufeinander beißen will, dann ist mir, als müßte ich verkommen – – so allein, so einsam und ohne die schöne Hoffnung: vielleicht gewinnst du sie doch diesem geleckten Bürschchen ab … vielleicht gewinnst du sie für dich allein … für alle Zeit …«

Elise hob den klugen Blick: »Eine vom Theater? Ich an Ihrer Stelle würde mir fortgesetzt vor Augen halten, daß sie nichts taugen, die vom Theater … alle, die da oben für Geld ihre Narrenpossen treiben,« riet Elise achselzuckend. »Warum soll die Ihre besser sein als die andern?«

»Sie ist's – – bis jetzt – – bis – – jetzt.«

»Aha, bis jetzt! Und in wenig Tagen kann's anders sein. Nur wenn Sie jetzt noch zugreifen könnten, bevor es zu spät – aber …«

»Ich habe nicht den Mut.«

»Dann müssen Sie den Mut zum Verzicht haben.«

»Den habe ich noch weniger.«

In diesem Augenblicke klopfte jemand und rüttelte an der verschlossenen Haustür. Elise ging nach kurzem Zögern seelenruhig um zu öffnen, nachdem sie ein leichtes Erschrecken doch nicht hatte verbergen können bei einem Blick auf die Uhr.

»Es nützt doch nichts – man sieht das Licht durch die Vorhänge,« ergab sie sich in die Lage.

Eine alte verknörgelte Person trat ein, Frau Schnatter.

»No, da braucht mer sich ja gar net erscht entschuldige,« kickerte sie. »Mein Mann hat noch so en Bierdorscht – es badt net, sag' ich, des Fräulein Reul hat vorhin die Haustür zugeschlosse, wie ich noch emal an der Pump war – es is doch awwer noch Licht in der Wirtsstub, sagt mei Mann – no, ich werd sehe, sag ich – und ha bin ich eriwwer. Also en Schnitt Bier, wenn ich bitte derft.«

Elise zapfte schweigend das Glas Frau Schnatters halbvoll. Die Alte tat, als erblicke sie jetzt erst den Uhrmacher.

»Aha – ei guck emal da – also der Herr Zeunlein sitzt da noch so spät als einsamer Gast … unn mer sollt doch meine, e Uhrmacher hätt sei richtiggehend Uhr im Sack,« nörgelte sie hämisch, während sie sechs Pfennige Kleingeld aus der Tasche zusammensuchte. »No ja, warum aach net? E hibsch Mädche wie die Lisi Reul hat e Klebkraft wie frischer Fliegeleim.« Sie tippte zählend mit dem spinnedünnen Zeigefinger auf jeden einzelnen Kupferpfennig: »Es stimmt doch, Fräulein Reul, net wahr? – No, gu' Nacht mitenanner und gut Unnerhaltung. Awwer die braucht mer ja gar net erscht zu wünsche bei so einige junge Leut. Entschuldige Se nor, daß ich dorch mei Ereinkomme unn dorch mei'm Mann sein Dorscht e bissi gestört hab. Ich weiß aus meine eigene junge Jahr'n, wie wenig angenehm des is.«

»Sie störten uns durchaus nicht,« widersprach Zeunlein dem garstigen Gewäsch der Alten.

»Ach, Sie wollte sage: noch nicht!« betonte Frau Schnatter; nun schlug die ekelhafte Schrumpel ein freches Gelächter auf. »Dann kimmt wohl die best Unnerhaltung erscht noch? Dann awwer recht, recht viel Vergnüge.«

Und damit trollte sie sich hinaus. Zeunlein und das Mädchen sahen einander schweigend an. Elise deutete stumm auf die Uhr, die schon halb eins zeigte.

»Was werden sie morgen hier unten in der Altstadt nun alles erzählen,« verhieß Elise. »Weit über die Gastzeit – die Tür abgeschlossen – ein Mann mit mir allein …«

»Es tut mir leid, daß ich die Veranlassung gab, Sie zu beschmutzen,« versicherte Zeunlein.

»Daraus machen Sie sich ums Himmels willen nur so wenig wie möglich,« bat Elise mit einem stolzen Aufwerfen des Hauptes. »In der Altstadt wird gar viel schmutzige Wäsche gewaschen. Mögen sie mich auch einmal dazu haben. Denn wo hier drunten ein Mann und ein Mädchen mal beisammen stehen, da ist nach Altstädter Meinung der Sündenfall bereits vollzogene Tatsache.«

»Ich dachte, Sie wüßten weniger von den Dingen des Lebens?« äußerte Laborius.

»Ich? Hm – ich durfte zu meines Vaters Lebzeiten wenig hier in die Gaststube; an Feiertagen ließ es sich jedoch nicht umgehen. Und da hörte ich oft mehr, als meinem reinen Herzen nötig war. Ich bin nicht fremd in dem, was das Leben verzehrt und begehrt. Sonst hätte ich mir die Offenheiten über Ihre Theaterprinzessin vorhin mit weniger Gemütsruhe anhören müssen, Herr Zeunlein. – Nicht was die Leute über mich sagen werden, kann mir schmerzlich sein – – nur was ich über mich selbst mir einmal selber sagen müßte, das könnte mir wehtun. Und was gute Meinung anbelangt … keine Seele hegt bessere Meinung über mich, als ich selbst.«

»Und ich …?«

»Ach so – ja, Sie auch – ich glaube Ihnen, Herr Zeunlein!« Mit einem ruhigen, schönen Lächeln reichte sie ihm die Hand. »Aber nun gute Nacht. Es ist ja doch schließlich Zeit für Sie zum Gehen. Bewahre nicht wegen der bösen Mäuler. Nein, wegen meiner Nachtruhe … ich muß doch hier erst noch Ordnung machen.«

Herzlich und lange erwiderte Laborius den kräftigen Händedruck: »Ich danke Ihnen auch vielmal, daß ich mich aussprechen durfte, Elise.«

»Des Dankes nicht wert. Vielleicht trete ich einmal an Sie heran, um mich auszusprechen. Unsere Schicksale sind ja sozusagen die gleichen: vaterlos und mutterlos und allein auf der Welt. – Was aber Ihre Komödienspielerin anbelangt, so brennen Sie das Übel mit dem glühenden Schürhaken aus, bevor's zu spät ist. Um so etwas wendet ein anständiger Mann nicht einmal den Kopf, geschweige denn, daß er sein Herz um und um wendet. Und nun zum letzten Male – gute Nacht.«

Zeunlein wollte Dorchen noch verteidigen, aber Elise drängte ihn jetzt ernstlich hinaus. Die Haustür fiel ins Schloß, und der Schlüssel knackte zweimal laut und hart und schrill. Das war, als wolle das selbstbewußte Menschenkind Elise den Altstädtern zeigen: sie schlösse die Haustür, so spät es ihr beliebe, wenn nur Schnüffler und Spintisierer die Schandschnauzen so gut zu schließen verstünden.

Gedankenvoll schritt der Uhrmacher seines Weges. Er bemerkte nicht die beiden Weibsgestalten, die flugs in die Haustüren witschten … Aufpasserinnen, die morgen Elise Reuls Tugend begeifern würden, wie Ottern den Schlangenfraß – wie Mäuse ein schönes, reines, unbeschriebenes Blatt anknappern.

 

Etwas an Dorchen war nicht mehr von der früheren Unberührtheit: ihr Gewissen … sie hatte sich das Lügen angewöhnt. Und die Folge davon: an keinem Sonntag mehr stellte sich Mutter Guckes ein. Das kam daher, weil Dorchen ihr geschrieben, sie spiele jetzt lauter große Rollen, und Mutter würde sie beim Lernen stören. Aber Mutter solle sich nur keine Sorgen machen – die Gesundheit litte nicht beim Studium. Wenn ja einmal Sonntags freie Zeit wäre, was aber selten der Fall, so ginge sie mit Laborius Zeunlein spazieren, an dem sie einen sehr lieben und braven Freund gewonnen hätte; obwohl er ihr manchmal sogar lästig werde, weil er denn doch gar zu gewissenhaft das der Mutter gegebene Versprechen erfülle, sie zu hüten und zu wahren. Aber sie erkenne ja an, wie gut er es meine, und es wäre doch eigentlich besser, daß der Uhrmacher schon so alt … sonst könnte man seine Sucht, sie zu schützen, leicht für Eifersucht nehmen. Na, und sie trinke jetzt auch Stahlbrunnen und liege dann bis zur Vorstellung auf dem Sofa und bereite sich durch allerlei gründliche Studien auf eine glänzende Laufbahn vor. Häufig auch säße sie bei Zeunlein im Lädchen und plaudere, denn der Uhrmacher habe sich jetzt doch aufs Leben besonnen, weil sie ihn oft einmal auch wieder zwinge, sich ihrer anzunehmen. Es wäre äußerst gemütlich, wenn der Zeunlein zum Kaffee käme, den er dann bei ihr im Stübchen trinke. Nur schade, daß er meine, er müsse die Unterhaltung mit Moralpredigten ausfüllen. Aber sie nähme ihm das nicht weiter übel, wäre es doch fast, als höre sie die Stimme des treuen Herzens der geliebten Mutter …

In derlei friedeglücklichen Berichten erging sich ein Brief nach dem andern. Und in Mutter Guckes' Seele kam nach allerlei heimlichem Bangen eine große Ruhe … ja, wenn alles so stand … und das Mädel war in guten Händen … der Zeunlein ein anständiger Mensch … da brauchte sie sich wahrhaftig nicht so abzurackern die halbe Samstagnacht, um den Laden zu säubern, damit man am Sonntag früh guten Gewissens und ohne Unruhe nach Homburg fahren konnte … das »treue Herz der geliebten Mutter« konnte den Sonntagnachmittag heiligen und konnte in die Kirche gehen, um für Dorchens Glück zu beten, damit die Studien Segen brächten für die glänzende Laufbahn als Schauspielerin.

Nun gut – auf diese Laufbahn bereitete sich Dorchen in der zumeist bei Theaterdamen üblichen Weise vor: sie hatte sich einen »Freund« angeschafft. Freilich hatten ihr die Kolleginnen lange genug zureden müssen. Und der Freund, Herr Wilhelm Müller mit den klotzigen Brillanten, hatte gar manches Essen bezahlt für die armen Luders, die mit hohem Fluge der Kunst zugestrebt waren, um müden Fittichs mit einem Schmierchen fürlieb zu nehmen, enttäuscht und geknechtet, aber boshaft genug geworden, um auch einer andern den Reinfall zu gönnen. Und Dorchen gegenüber hatte der Mann mit den Brillantringen allen Wohllaut seiner Stimme, sehr viel schönes Lachen mit blendweißen Zähnen, ernsthafte Kunstgespräche und Väterlichtun aufwenden müssen, auch den Leidenschaftslosen und sittlich erhaben Hochstehenden gespielt, um das Mädel sicher zu machen.

Gewiß, nicht einmal mit dem Vergrößerungsglas war auch nur die Spur von einem noch so harmlosen Fleckchen auf der Ehre Dorchens zu entdecken … abgesehen von den Lügen, in denen sich das Mädchen brieflich erging, fast mit der Geschicklichkeit eines Romanschreibers, nur um die gutgläubige Mutter fernzuhalten und um im Verkehr mit dem »Freunde« ungestört zu bleiben. Auch brauchte Mutter nicht zu sehen, daß die billigen Kattunfähnchen hinter dem Schranke hingen, weil sie den Seidenblusen und Atlasröcken hatten weichen müssen … denn der Mann mit den Brillantringen ließ sich nicht lumpen. Später einmal konnte man sagen, die Pracht wäre billig Kolleginnen abgekauft – – von den sechzig Mark Monatsgehalt.

Und Dorchens Briefe? … nun ja, ein Gran Wahrheit enthielten sie schließlich; nur daß dies Gran zehrte von den Erinnerungen, die in den drei ersten Wochen des Juli Tatsache gewesen waren. Seitdem war Laborius Zeunlein längst beiseite gestellt, und Herrn Müller war die Stellvertretung übertragen worden. Den Kaffee nachmittags nahm Dorchen in dem schönen, vornehmen Zimmer in einem Hause der Luisenstraße … wenn auch die Vermieterin Müllers überaus sauern Gesichtes dazu sah. Stahlbrunnen zwar trank Dorchen nicht, aber bis zur Vorstellung auf dem Sofa lag sie … auf dem Sofa des »Freundes«.

Alles blieb demnach nur halbgelogen.

Der Mann mit den Brillantringen jedoch war ein ganz Pfiffiger: er tat dem Mädel nichts, wartete aber in Geduld, daß diese saftige Frucht reifte. Dann fiel sie ihm von selbst in den Schoß. Und fiel damit wohl auch in Sünde. Doch das vornehme Nest in der Luisenstraße wollte sich Herr Müller sauber halten … es gab zum Pflücken auch andere Gelegenheit, bald einmal – was wußte der graue Uhrmacher vom Leben … der störte gewiß nicht in seinem einsamen Häuschen. Herr Müller drehte an seinen Ringen und beäugte den funkelnden Glanz: Verflixt, was ist man doch für ein Lebemann, und ein schlauer dazu! …

Mutter Guckes war derweil unbesorgt.

Um so mehr verzehrte sich in Neid, in Mißgunst und in zitternder, unerfüllter Liebe, wie auch in Angst um Dorchen, der Uhrmacher Laborius Zeunlein. Wenn er aus der Weißen Eule heimkam und hörte Dorchen noch nicht im Stübchen droben, dann brauchte er nur am offenen Fenster wartend zu sitzen. Nicht lange, dann ging's vor der Haustür los, das hundertmal Gutenachtsagen und noch ein Kuß und immer noch einer. Und zu diesen Abschiedsförmlichkeiten kam neuerdings das eindringliche Gemurmel und Geraune der Männerstimme hinzu.

Aber Laborius hörte zu seinem Troste, daß Dorchen sehr standhaft nein sagen konnte und dreimal nein. Und das klang in der Stille der Sommernacht so laut als klar und tröstend zu dem Lauscher am offenen Fenster hinauf. Dann scholl die sich schließende Haustür, und der Mannesschritt entfernte sich verärgert, immer wieder ein bißchen zögernd, als dürfe er doch noch auf einen leisen Ruf hin umkehren.

Hiernach atmete Laborius tief auf und ging zur Ruhe.

Und droben im Stübchen patschten die bloßen Füßchen auf den Dielen hin und her. Wasser platterte in der Waschschüssel, die auf den Boden gestellt worden war … die waschende Hand bruddelte mit dem Seifenschaum … ein wohliges Seufzen, ein schmachtendes Stöhnen, schneller Atem …

Da zog Laborius Zeunlein die Decke über die Ohren und wollte nichts mehr hören, um den hitzigen Bildern, den glühenden Gedanken zu entfliehen. Gedanken an weiße Mädchenglieder – an ein weißes, kühles Bett – –

Erst wenn droben die Sprungfedern der Matratze knackten, schlüpfte Zeunlein unter der Decke hervor und lag die halbe Nacht wach, knüpfte Faden für Faden eines Planes, der nie zu Ende gedacht wurde –, weil der Schlaf vernünftiger war und der Quälerei die Sandkörnlein streute. –

Immerhin war Dorchen listig genug, den Briefen an die Mutter nicht allen Boden der Wahrheit zu entziehen, falls sich die Frau in Bockenheim einmal anders besönne und doch nach Homburg käme. Ab und an schlüpfte die Kleine für fünf Minuten in das Uhrmacherlädchen und plapperte mit Laborius, sagte auch immer, sie wollten doch an einem Sonntag wieder mal nach Dornholzhausen zum Scheller gehen. Oder der Laborius solle doch einmal einen Nachmittag Kaffee bei ihr trinken.

Das geschah denn endlich auch, weil Dorchen den Zeunlein ernstlich zum Kommen drängte … zumeist, damit Mutter Guckes nicht gänzlich Lügen strafen könne … vor allem aber, weil der »Freund« Herr Müller an jenem Tage just hatte nach Frankfurt fahren müssen.

Laborius kam. Und er vergaß alles – Mißgunst, Neid und Sorge und Angst. Er vergaß und verzieh sogar die Vernachlässigungen. Aber einen tiefen Schreck hatte er doch in dem Stübchen droben.

Dorchen mußte ihn für ein paar Minuten allein lassen, um auf dem Flur – wo sie auf Spiritus den Kaffee braute – auf die anzuwärmende Milch zu achten. Laborius sah sich in dem Stübchen um: hier atmet sie … hier lebt sie … da steht das Bett, und im Stockwerk drunter das deine … und neben dem Bett ein Stuhl … und auf dem Stuhl eine halb geleerte Zigarettenschachtel … und daneben lag das Buch, in dem Dorchen vor dem Schlafen las … das hielten ihre kleinen weißen Händchen …

Der vernarrte Laborius nahm dies Buch, um es heimlich zu küssen.

»Schlafzimmer-Märchen« stand darauf. Märchen also liebte sie noch – und er hatte gemeint – – hm, wie unrecht tut man doch einem Menschen, wenn man eifersüchtig ist; aber da schlug er den Band auf, der auch Bilderbeigaben enthielt …

Und Laborius starrte entsetzt: Barmherziger Gott, so etwas gab es? … soviel Gemeinheit, die das Heiligste zwischen zwei Menschen unflätig breittrat!

Und vorn in dem Buche stand mit weibischen Schriftzügen, schamlos den Besitz des Schmutzigsten von allem Schmutze bekennend: Eigentum von Wilhelm Müller – das Datum von vor wenigen Tagen erst – und darunter: Keine Bilder herausnehmen, sie sind gezählt! Erst nach dem aber, als hätte sich der Mann mit den Brillantringen doch einige Augenblicke der Gabe geschämt: Gewidmet meinem geliebten Dorchenpussel zur Nacheiferung.

Pfui Teufel! Laborius war im Begriffe, das Schandwerk zu zerreißen. Aber er besann sich. Nein, das Mädchen sollte gar nicht merken, daß er die Schmutzigkeit dieses Buches erkannt.

Als Dorchen mit der Milch hereinkam, saß Zeunlein bleich auf dem Sofa. Er lächelte das Mädchen an. In diesem Lächeln lag unsäglicher Schmerz.

»Nun, fühlen Sie sich nicht wohl bei mir?« erkundigte sich Dorchen und tat ehrlich besorgt.

»Doch, doch – es war nur eben – – ich habe in letzter Zeit öfter mit dem Herzen zu tun.« Und bei diesem Bekenntnis wollten ihm die Tränen in die Augen.

»Sie rauchen zuviel; und dann sitzen Sie zu lange in der Kneipe.«

»Das mit dem Rauchen will ich gelten lassen. Das mit der Kneipe aber, das ist nicht so schlimm. Ich bin gewöhnlich schon zu Hause … dann höre ich Sie kommen.«

»Ach nein,« warf Dorchen hin, sichtlich überrascht und unangenehm berührt.

»Sie sind auch nie allein …«

»Ja, das ist ein Herr, der auch in der Goldenen Rose zu Nacht ißt. Man kann so spät ja nicht allein und ohne Begleitung heimgehen.«

»Gewiß. Und Sie küssen sich mit dem Herrn.«

»Das lügen Sie!« tadelte Dorchen mit erzener Stirn und empört tuend.

Zeunlein zuckte die Achseln: »Es wäre mir lieber, sprächen Sie mit dieser Behauptung die Wahrheit. – Ich erlaube mir ja keine Vorschriften.«

Kurz auflachend, meinte Dorchen: »Damit kämen Sie bei mir aber auch an die Unrechte. Bei der Bühne muß man selbständig sein. Und selbständig habe ich mich gemacht; auch meiner Mutter gegenüber.«

»Fräulein Guckes –«

»Bitte, ich nenne mich Weihrauch,« verbesserte Dorchen erhaben und trug die Nase hoch. »Ich wünsche meinen Künstlernamen beachtet zu sehen.«

»Gut denn, Fräulein Weihrauch. Weihrauch – Sie eigneten sich da einen Namen an, der in Homburg guten Klanges ist. Möchten Sie die Pflicht gegen diesen ehrbaren Namen immer bedenken.«

»Am Theater kann man sich nach Belieben nennen. Was geht's mich an, daß es diesen Namen hier wirklich gibt. Es ist für mich vielleicht nicht einmal angenehm, mit dieser Familie verwechselt zu werden.«

»Glauben Sie mir, es schüfe Ihnen nur Ehre, gehörten Sie wirklich zu den Weihrauchs. – Aber um etwas anderes zu sagen: Sie sind noch unerfahren, ich aber habe in Genf Uhrmacher gelernt. Genf ist so ein Abklatsch von Paris, sagt man. Da kenne ich denn die Welt gewiß besser als Sie, wenn ich auch während meiner Lehrzeit zuviel hinter dem Handwerk her war. In das Tiefste der Tiefen sah ich nicht, aber gehört habe ich doch allerlei. Und wohl auch so manches gesehen.«

Dorchen war ärgerlich auf und ab geschritten; nun fiel ihr Blick auf das vergessene Buch. Sie wollte geschickt sein, harmlos tun; dennoch verbarg sie die Schlafzimmer-Märchen ein wenig zu hastig und erschrocken unter dem Kopfkissen.

»Das eben ist es!« bekräftigte der Uhrmacher, nach dem Kopfkissen deutend. »Der Mensch, der Ihnen das zu lesen gibt, ja sogar zur Nacheiferung empfiehlt, ein solches Saubuch verschenkt – was wird der einmal von Ihnen verlangen?«

Dorchen stand wie mit Blut übergossen: »Der verlangt nichts von mir –«

»Weil Sie bis jetzt immer noch tapfer nein sagen konnten – ich hab's wohl gehört und ich war stolz auf Sie.«

»– der gibt mir immer nur,« fuhr Dorchen bestimmt fort, als hätte sie das Lob nicht vernommen oder achte es für nichtig.

»Er gibt. Hm, ja, man sieht es an den schönen Kleidern. Und um den Hals tragen Sie ein Goldkettchen mit einem Herzchen. Das gewahrte ich noch nie an Ihnen. Übrigens billigstes Zeug …«

»Sie sind ein Schnüffler, ein ganz widerlicher Schnüffler!« entschied Dorchen hart. »Und wenn ich das gewußt hätte, wäre ich längst ausgezogen. – Was habe ich denn überhaupt mit Ihnen zu schaffen?«

»Freilich nicht mehr, als daß Ihre Mutter mir Sie gewissermaßen anvertraute.«

»Das lügen Sie auch.«

»Gut denn, soll es so sein. Aber nehmen Sie die Warnung an: Verlieren Sie sich nicht! – Jetzt gibt dieser Mensch Ihnen noch … bald aber wird er nehmen wollen.«

Dorchen stand eine ganze Weile still, beide Hände auf den Tisch gestützt – so fest, daß die Fingerchen weiß wurden. Sie starrte mit weit offenen Augen den Moralprediger an.

»Was aus Ihnen redet, Herr Zeunlein, das ist nicht die Sorge um mich,« sprach sie vollkommen ruhig. »Es ist der bare, blanke Neid. Mir mögen Sie viel Gutes gönnen – aber meinem Freunde gönnen Sie mich nicht.«

»Nein – nie und nimmer!« verriet sich Laborius.

»Aber sich selbst gönnten Sie mich,« fügte Dorchen hinzu.

Sie griff mit beiden Händen an die unter dem Seidenstoff sich prallvoll rundende Brust. Zeunlein überlief es glühend, als er diese Gebärde betrachtete, dies Wölben und Quellen sich regen und bewegen sah.

Dorchen sprach weiter: »Das ist jung – das ist schmackhaft – das ist knusprig – das sind die Trauben, die dem Fuchs zu sauer sind, weil sie ihm zu hoch hängen. Und darum die Moralpauke.«

Plötzlich wandte sich Dorchen ab, trat ans Fensterchen und weinte laut auf. Der erregte Mann erhob sich und ging zu ihr hinüber. Er wagte es, seinen Arm um die bebenden Schultern des Mädchens zu legen.

»Dorchen, ich meine es so gut. Und ich leugne auch die Mißgunst nicht – ich hege Neid, ja, bitteren Neid. Und ich ärgerte mich über das Schweinigelbuch. Aber nur, weil – weil ich – weil ich Sie so – so sehnsüchtig liebe …«

Dorchen erkannte augenblicks den Vorteil; und sie nützte ihn flink. Sie drängte die jungen Hüften gegen den Mann. Nun fühlte sie sein begehrendes Zittern.

»Und wenn meine Mutter doch einmal kommen sollte – Sie werden mich nicht Lügen strafen … was sie auch fragt?« schmeichelte sie und rieb sich wie ein Kätzchen.

»Wenn ich's verantworten kann: nein, ich verleugne nichts von Ihren – – Ausreden.«

»Und Sie werden ihr nichts klatschen? Es ist doch alles so harmlos …«

Nun schlang sie die weichen, unter der Seide so molligen Arme um Zeunleins Mitte. Ihre Brüstchen atmeten wider seine Brust, immer aufs neue sich andrängend wie ein warmer Strom.

»Ich werde verschweigen,« sagte Laborius schwergehenden Atems.

»Geloben Sie's!« Sie machte sich los und wendete sich ihm zu, legte die Arme um seinen Hals, bog den Oberkörper weit zurück und drückte den Schoß fest gegen den Bebenden. Ihr Mund war offen, die roten Lippen blühten …

Da beugte sich Laborius Zeunlein vornüber und gelobte schweigend, aber mit um so beredteren Küssen, die den Weg über das Kinn hinweg, am Hals hinab bis auf das kindlichweiße Brustblatt suchten.

Seitdem hegte er die kühnsten Hoffnungen. Aber nur, weil Dorchen doch vorsichtiger geworden war … sie kam in Zukunft allein nach Hause … denn sie verabschiedete sich von Müller unter unabweisbaren Ausreden hinter der Haingassenecke. Und sie kam auch früher heim als sonst, weil sie klug voraussah, Zeunlein würde fortan nicht mehr so lange in der Weißen Eule sitzen.

Der Uhrmacher fand denn auch den Heimweg gar zeitig. Was weiter kein Wunder war bei den Hoffnungen, die er sich – aber immer wieder vergeblich – Nacht für Nacht machte.

 

Frau Sinchen, die Friedebert Weihrauchs Mutter war, hatte schwere Sorgen. Die kleine, noch immer dunkelhaarige Frau mit dem glatten und von allen Runzeln freien, mildruhigen Gesichte ging bedrückt umher und schwieg allen Kummer in die tiefste Seele hinein.

Schorsch Weihrauch, der Vater, schluckte den Ärger über Friedebert nicht so stillschweigend. Es ging des öftern laut und lebhaft zu in der Tischlerwerkstatt, wenn der Alte schalt und schmälte.

Seit jenem Abend, an dem Friedebert – wie er fest glaubte! – dem Intendanten der Frankfurter Oper vorgesungen hatte, seit jenem Abend »spann« der Tenorbegabte. Es half nicht, daß Elise Reul ihm den Schwindel ausreden wollte – er glaubte ihr nicht. Es half auch nicht, daß Frau Sinchen ihn zur Vernunft bringen wollte – er behauptete, vollkommen bei Vernunft zu sein. Noch weniger half, daß Vater Schorsch mit Hobeln und Latten nach ihm warf – der Friedebert wich dem mit erstaunlicher Geschicklichkeit aus und griente, oder er knödelte einen gicksenden hohen Tenorton.

»Vatter, wann ich erscht in Frankfort de Troubadour sing, wirst de noch stolz sein auf dein'n Sohn,« versicherte der Ungeratene.

Er mochte gar nicht mehr arbeiten. Und wenn ihn Vater Schorsch dazu zwang, so kam der Friedebert zwar an die Hobelbank; wo er aber Hand anlegte, verdarb er das teure Feinholz und schuf Schaden über Schaden. Kein Wunder, daß dann dem Alten manchmal die Geduld riß. Der Jähzorn drückte ihm irgendeinen Gegenstand in die Faust, und den schleuderte Schorsch dann nach dem größenwahnsinnigen Sohne.

»Du bist noch am Vatter sei'm Tod schuld,« warnte Frau Sinchen unter Tränen. »Du weißt, der Herr Doktor hat längst gesagt, es könnt den Vatter emal der Schlag treffe. Und darauf legst du alles an. Ach, Kind, Kind – komm zu Vernunft.«

»Ich bin bei Vernunft, Mutter, mehr als andere Leute – ja, mehr als Vater, der mit dem Hammer nach mir schmeißt. Und wenn ich erst in Frankfurt den Troubadour singe –«

»Awwer des sinn doch Narrensposse … wer bringt dich denn nur auf so dumm Zeug …?«

»Das ist kein dummes Zeug – ich habe dem Herrn Intendanten am Telephon vorgesungen.«

»Die Elise Reul hat uns doch awwer versichert, daß sich da e paar Läusbuwe mit dir en Witz gemacht hawwe.«

»Lausbuben? Das verbitt ich mir. Der Herr Müller ist kein Lausbub – der ist ein sehr vornehmer Herr und hat mir auf dem Heimweg gesagt: In vier Wochen – oder in sechs – spätestens aber in acht Wochen oder in einem Vierteljahr singen Sie in Frankfurt!«

Frau Sinchen schüttelte verzagt den Kopf: hier half nichts. Ach, das alles kam wahrlich nur von dem Feuerwehrposten im Theater. Und so ging sie denn zum Kommandanten der Freiwilligen Feuerwehr und bat, man möge den Friedebert doch nicht mehr auf diesen Posten schicken.

Der Kommandant Metzgermeister Schick sagte ja nun zwar: man habe gerade Friedebert auf die Bühne kommandiert, weil er doch so viel Vorliebe fürs Theater zeige … aber wenn das solchen Zwist ins Weihrauchsche Häuschen trage, solle es fernerhin unterbleiben.

Das geschah zwar, aber wenig war damit gedient. Denn der Narr ging auch so ins Theater und machte sich anderweit auf der Bühne nützlich. Er leimte schadhaft gewordene Möbelstücke, bastelte an brüchigen Kulissen herum, besorgte allerlei – und häufig ließ er sich auch schminken und anziehen und stand grinsend mit auf der Szene als Offizier oder dergleichen. Dem Theaterdirektor war das bloß recht; er duldete den stillzufriedenen Menschen nur allzu gerne, denn der brachte doch manches in Ordnung und verlangte nichts dafür.

Nun war denn der Friedebert nicht nur abends, nein, er war auch noch an den Vormittagen während der Proben im Theater.

Und daran war das Dorchen schuld.

So schuldig freilich nicht, daß man ihr einen Vorwurf daraus machen konnte. Es bereitete ihr nun einmal Spaß, sich von dem »verrückten Tischler« anhimmeln zu lassen. So nannten die Schauspieler den Friedebert. Und dies Anhimmeln besorgte Friedebert mit einer Gründlichkeit und Geduld, die wahrhaft rührend auf die Zuschauenden, auf Dorchen aber so tief wirkte, daß das Mädchen eine Art Zuneigung zu dem guten Menschen fühlte. Sie war wirklich betroffen, fand sie ihn bei Beginn der Vorstellung nicht sofort auf der Bühne, und sie fragte dann alle Menschen nach »ihrem Friedebert«. Sie ließ sich geduldig von seinen Tenorhoffnungen erzählen und sprach manch warnendes Wort. Auch saß sie oft einmal auf seinem Schoß und liebkoste ihm das gute, hübsche, nur leider ein wenig törichte Gesicht … man hätte leicht sagen können, es gebe zwischen den beiden Leutchen so eine Abart von Glück.

In diesem Verhalten Dorchens lag vielleicht die letzte Reinheit ihrer Seele – einer Seele, die der Mann mit den Brillantringen grundsätzlich immer näher dem Rande eines Morastes zutrieb … geflissentlich und feige. Feige, weil ihm der Mut fehlte, das Mädchen zu verführen – das heißt: der Mut zu den aus der Verführung möglicherweise aufsteigenden Tragweiten. Ohne Brunst und in Geduld, neugierig nur, wie solch frisches, köstliches Fleisch munden möge, lauerte er auf die Stunde ihres Falles. Doch diese Stunde wollte er vor Dorchen, mehr noch vor sich selbst, so hinstellen können, als ginge alle Schuld zur Sünde nur von dem Mädchen aus. Und es war gewiß auch ein Stück sinnlicher Widernatur dabei: er wollte nicht der Verführer, er wollte der Verführte sein, seitdem Dorchen seinem lüsternen Gebettel, seinem feigen Gejammer ein paarmal ein vernünftiges und sehr festes Nein entgegengestellt.

Im Ärger über ihr freundliches Verhalten zu andern Männern hatte Müller einmal gesagt: Dorchen zeige Anlagen zum Weibchen. Im Ärger … aber dennoch hatte der Mann mit den Brillantringen nicht völlig unrecht. Dem Mädchen ganz unbewußt entwickelte sich diese Veranlagung in überkurzer Zeit, jedoch nur unter dem anfaulenden Einflusse dieses Mädchenjägers. Eines Mädchenjägers, der nicht einmal die sinnliche Kraft fand, das Wild weiterhin zu pürschen, nachdem er erkannt, daß hier die Jagd nicht so leicht wäre, wie bei bereits einmal Angeschossenen. Das Unreine des Atems ihres »Freundes« hatte Dorchen nun zwar längst erkannt. So, wie sie erkannt hatte, daß der Zeunlein – wenn auch in Ehrlichkeit und mit festen Absichten – gleichfalls nach ihr Verlangen trug … Laborius sprach zu oft von ihren weißen Gliedern und tätschelte das Bett, kam er einmal wieder zum Kaffee. Und er erzählte ihr auch von verrückten Träumen; das alles, seit sie sich ihm mehr widmete, besorgt, die Mutter könnte doch etwas über den Verkehr mit Müller erfahren.

Kurz, in diesem ständigen Umwehtsein von Wünschen und Begehren, von Sinnen und Trachten nach ihrer köstlichen Jugend, ward dem Dorchen die reine, unsinnliche, nichts verlangende Verliebtheit Friedebert Weihrauchs sozusagen Erquickung. In seiner Gegenwart, und wenn er mit ihr plauderte, brauchte sie sich nicht zu fürchten, mußte sie nicht auf der Hut sein – – auch nicht vor sich selbst auf der Hut! …

Und daß dies letzte, ließ sie es außer acht, das für sie Gefährlichste war, sagte ihr der dunkle Drang, der einen andern, noch dunkleren Drang oft seltsam übertönen wollte. Sie fühlte sich nämlich wunderlich zu allem hingezogen, was Mann war … und sie lag in mancher Nacht wach, nachgrübelnd diesem Rätselhaften, das sie fast antrieb, hinunterzuschleichen und an des Uhrmachers Tür zu pochen, wenn sie ihn da unter ihrem Stübchen sich in den Kissen umherwerfen hörte. –

»Glauben Sie mir, Herr Weihrauch, ich bin ein armer Mensch,« sagte sie zu Friedebert. Er hatte sie gefragt, warum sie denn jetzt immer so blaß und traurig aussähe.

Dem Tischler traten sofort die Tränen in die Augen: »O Gott, Fräulein Dorchen – wenn ich Ihnen helfen könnte …«

Sie nahm seine Hand: »Helfen? Sie helfen mir redlich, ohne es zu wissen. Und ich bin immer am glücklichsten, wenn ich mit Ihnen reden kann.«

Seitdem bildete sich der arme Narr ein, seine Verliebtheit werde erwidert. Nun hatte er noch einen Sparren mehr. Und zu Hause sprach er davon, er werde das Mädchen heiraten.

Frau Sinchen vernahm den Unsinn mit Entsetzen. Vater Schorsch aber erhob sich stillschweigend vom Mittagstisch und schlug ebenso stillschweigend dem Sohne rechts und links hinter die Ohren. Dann ging er in die Schlafkammer und lag stöhnend und keuchend auf dem Bette, mit blauem Gesicht nach Atem ringend.

Die Mutter stand fürchterliche Ängste aus, teils um den Gatten, teils um den Sohn.

Aber Friedebert nahm die Ohrfeigen hin, als hätte er sie vollauf verdient. Mucksstill verhielt er sich. Nur aus dem Hause ging er und kam spät in der Nacht erst aus der Weißen Eule heim.

Frau Sinchen könnte sich des Eindruckes nicht erwehren, daß an diesem Abend der Friedebert schweigsam und verblüfft war, als wäre er über irgend etwas sehr betroffen. –

Als er tagsüber so verschwunden geblieben, hatte Mutter Sinchen nun freilich vermutet, sie müsse ihn bei der Schauspielerin suchen. Deshalb war sie zu Dorchen gegangen. Zu ihrem Erstaunen lernte sie in der »Zigeunerin« – wie Vater Schorsch heute mittag geschrien hatte – ein ganz einfaches und obendrein liebreizendes Mädelchen kennen. Die Kleine sah sehr vernünftig aus, wenn man den blonden Wuschelkopf nicht gerade für Unvernunft halten wollte … dies Mädchen konnte überaus lieb lachen, hatte fast gar nichts von einer Theaterspielerin im Wesen und sprach mit Achtung und Dankbarkeit von Friedebert. Blieb diese Dankbarkeit zunächst auch für Frau Sinchen unverständlich, so machte sie das bekümmerte Mutterherz nicht nur stolz, nein, weit mehr: sie nahm dies Herz noch obendrein gefangen.

»Ich habe nicht die mindesten Absichten auf Ihren Sohn, wenn auch nicht geleugnet werden soll, daß ich viel Zuneigung für ihn fühle … Zuneigung, die sicherlich eine äußerst herzliche Freundschaft werden könnte.« Dies vertraute Dorchen der schluchzenden Frau an und bat sie, doch nicht mehr zu weinen. »Sehen Sie mal, ich will doch eine große Künstlerin werden. Wer denkt bei solchen Hoffnungen an eine Liebelei mit einem so einfachen Menschen, wie Ihr Sohn das ist? Sein Gesichtskreis und der meine – die liegen ja himmelweit auseinander und ließen sich nie im Leben auf eins einstellen. Ja gewiß, wäre ich ein Bürgermädchen, vielleicht würde mein Herz sich auch auf eine Liebe zu Friedebert besinnen … mit der Zeit. Nun mag ich ihn gerne leiden. Aber das hat seinen besonderen Grund: er ist mir eine Wohltat! Denn er sieht nicht das in mir, was andere meinen, sie müßten's in mir sehen. Damit machte er mich dankbar. Denn wenn man immer in der Angst lebt, daß einen die Männer mit ihren Blicken bis auf die Haut ausziehen, so ist ein Mensch wie Ihr Friedebert in seiner Unschuld einem noch das letzte Restchen Ehrbarkeit. Nur so sehe ich ihn … nicht anders … und das ist alles, was zwischen ihm und mir besteht.«

»Er hat doch awwer gesagt, er will Sie heirate. Und weil er doch großjährig, ist – mein Mann und ich, wir könnten nichts verhindern.«

»Zu mir hat er dergleichen noch niemals gesagt. Und bekanntlich gehören zum Heiraten zwei.«

Da erst kam Frau Sinchen auf den Einfall, auch bei dieser Liebesgeschichte könnten des Friedebert Redensarten bloße Einbildungen sein, wie die Einbildung, er müsse Opernsänger werden. Sie erschrak, aber sie wunderte sich beruhigter auch zugleich, daß ihr diese Überzeugung jetzt erst kam. So konnte sie denn die Sorge nicht loswerden, sie hätte sich mit dem Besuch bei dem feinen Mädchen lächerlich gemacht. Nun erzählte sie denn eilig, der Friedebert wäre gewiß nicht ganz richtig im Kopf; dabei schüttete sie gründlich ihr verquältes Herz aus.

Dorchen hatte geduldig zugehört und alle Geständnisse der alten Mutter ernst verfolgt.

»Von seinem Tenor sprach er allerdings auch zu mir,« berichtete sie nun. »Aber ich nahm das für bare Münze. Ist diese Einbildung aber nur krankhaft, warum wollen Sie nichts tun, sie ihm auszutreiben?«

»Wir hawwe alles versucht: Strenge und Güte, Haß und Liebe, Zucht und dann wieder ein Allesgehenlassen. Es half nichts von alledem. Wer ihm dies Hirngespinst einredete, das wissen wir nicht. Der aber, der's zuwege brachte, hat sich an uns arme Eltern und an eme gute und solang brave Mensche schwer versündigt … wenn auch der Bub e bissi einfältig ist.«

Dorchen nahm Frau Sinchens Hand und streichelte sie.

»Als ich hierher kam, war ich trotz meiner neunzehn Jahre fast noch ein Kind. Ich hatte vom Leben zwar manches gesehen, wenn ich in den Frankfurter Theatern ein bißchen mitmachte. Doch, ich sah das Leben in Unschuld. Ich habe aber nie geahnt, daß ich so schnell und so viel und dies Viele so rasch lernen würde … hier in Homburg, freilich weit genug von meiner Mutter. Ich weiß heute mehr, als ich vielleicht hätte in fünf Jahren wissen dürfen. Und so weiß ich denn auch, daß ich auf Ihren Sohn großen Einfluß haben werde. Wollen Sie mir überlassen, ihm seine Theatergedanken abzugewöhnen?« Sie wurde glühend rot. »Mein Einfluß muß freilich so sein dürfen, wie ich ihn mir denke. Und das ist nicht alltäglich.«

Aber Frau Sinchen versicherte: der Weg wäre einerlei, wenn er nur zum schönen Ziele führe … das Dorchen gäbe damit dem Mutterherzen den Frieden, wie auch dem Frieden im Weihrauchschen Häuschen den Segen wieder.

Dann sprach das Mädchen weiter: »Sie sollen mich genau verstehen – der Friedebert muß eine Zeitlang dabei bleiben können, sich Hoffnungen auf mich zu machen.«

Nun stutzte Frau Sinchen doch: »Wäre das nicht gefährlich?«

»Jedenfalls nicht das Gefährlichste, wenn's Nutzen bringt.«

»Sie hawwe ganz recht, mei lieb, lieb Fräuleinche. Ach Gott, wie werde mer aufatme könne, wenn Ihne alles glückt. Mein Mann hat neulich in sei'm Zorn gesagt: er will den Friedebert auf de Affenstein tun.«

»Ums Himmels willen – ins Frankfurter Irrenhaus?« Dorchen war redlich entsetzt. »Na, wenn ich ihn davor bewahren kann – –«

»Es is mei'm Mann ganz ernst damit,« behauptete Frau Sinchen unter erneuten Tränen.

»– dann will ich alles aufbieten,« schloß Dorchen.

Die Mutter Friedeberts brach nun auf. Als sie ging, nahm sie das fremde Mädchen ans Herz und küßte liebevoll die roten, weichen Lippen.

Und in diesem Kusse der alten Frau lag eines wohlmeinenden Schicksals letzte Mahnung. Dorchen dachte an die eigene Mutter in Bockenheim und schämte sich vor sich selbst, wie die belogen und betrogen wurde … morgen wollte sie ihr schreiben, sie solle schleunig auf ein paar Tage kommen und den Laden – Laden sein lassen.

Doch es blieb bei diesem Vorhaben.

Denn der Mann mit den Brillantringen lud just an jenem Abend das Dorchen für den nächsten ein; ein vornehmes Essen im Hotel Diana – damit machte er dem Mädchen den Mund wässerig.

Und diesen letzten Blick in die große, die freie, die vornehme Welt, bevor die mit Gemüsen und Obst handelnde Frau aus Bockenheim käme – – nein, den mochte Dorchen nicht versäumen. Dann aber wollte sie sich fortab bescheiden.

 

Für jenen Abend in der Weißen Eule hatten die jungen Leute einen ganz tollen Plan ausgeheckt. Natürlich war Friedebert Weihrauch als Opfer ausersehen. Man fand ja nicht so leicht einen andern Narren in ganz Homburg, vor allem keinen, den man so leicht bei einer närrischen Einbildung fassen konnte.

Der Ratsschreiber Karl Heim brachte ein Körbchen mit, in dem es krispelte wie von etwas Lebendigem. Das stellte er neben sich auf die Bank und machte bloß ein Lumpengesicht, als Elise sich erkundigte, was denn in dem Körbchen wäre. Dann hockten die Bierbrüder dicht beisammen, duckten die Köpfe gegeneinander und raunten mit murmelnden Stimmen. Ab und zu huschte ein verstohlener Blick zu der häkelnden Elise hinüber.

Als endlich der Friedebert Weihrauch kam, bezahlte der Adam Schlemper sein Bier und sagte, er habe schnell etwas zu besorgen, käme aber später nochmals wieder. Worauf er ging. –

Friedebert war über die Ohrfeigen seines Vaters doch so verblüfft und verwirrt gewesen, daß er sie nicht leicht überwand. Er lief den Nachmittag im Taunus umher, kam bis nach Cronberg und pilgerte über Oberursel wieder nach Homburg, nachdem er in Oberursel lange Zeit nachdenklich in der Blauen Traube zugebracht. Dorchen und das Theater hatte er für den Rest dieses Tages völlig vergessen gehabt. Gegen halb zehn fand er sich in der Weißen Eule ein.

»Was ist denn nun eigentlich mit deinem Auftreten in Frankfurt … man hört ja gar nichts mehr darüber?« eröffnete Karl Heim die Unterhaltung mit dem Tischler.

»Wird gute Weile haben –,« warf Friedebert mürrisch hin.

»No hörst de!« murrte der Friedrich Leppert, der immer heiser sprach. »Du werscht doch net so dumm sei, so e Glück auszuschlage oder auch nur enaus zu schiebe?«

»Mei Vatter will's net,« wendete der Tischler ein und seufzte.

»Dei Vatter is e Dussel!« versetzte Leppert.

Da fuhr der Friedebert vom Stuhle auf und schlug mit der Faust die Tischplatte: »Du – das sagst de net noch emal!«

Über Elise Reuls Gesicht ging ein frohes Aufleuchten. »Hau' zu, Friedebert!« sagte sie. Doch sie sagte es zu leis, und niemand verstand es.

»No no, no no – nur net so happig,« brummte Leppert. »Ich wollt mit dem Dussel ja auch nur gesagt hawwe: dei Vatter versteht doch nix von der Kunst, wenn er auch e Kunsttischler is. Oper is halt ebbes Höheres.«

»Und was ich sagen wollte, Friedebert,« setzte Karl Heim nunmehr ein. »Ich habe durch deinen Gönner, durch den Herrn Müller, von einem ganz einfachen Mittel gehört, wonach die hohen Töne bei einem Tenor noch einmal so hoch werden sollen. Der Herr Müller meint, mit der Höhe wäre der Intendant nicht so recht zufrieden gewesen. Vielleicht hilft dir für das Auftreten in Frankfurt das Mittel? Der Herr Müller hat das Rezept vom Kammersänger Brandowsky in Frankfurt, der wendet es auch immer an.«

»Ach ja – der Brandowsky,« rühmte Friedebert mit verklärten Augen sein Idol und Vorbild.

»Geh, sing doch emal e bißche was,« bat der Friedrich Leppert.

»Herr Weihrauch …,« warnte Elise und legte die Häkelarbeit fort. Sie ahnte, dies Gespräch wäre vom Zaun gebrochen und ginge mit Gewißheit nur einem Ulk vorauf.

»Lasse Se'n doch … des geht Ihne ja gar nix an, Elise … wenn Ihne die Gäst unn ihr Unnerhaltung net recht sin, dann mache Se doch ääfach die Wirtschaft zu …«

So riefen die Bierbrüder durcheinander.

Wenn's ums Singen ging, ließ sich der arme Narr Friedebert nie lange bitten. Auch jetzt stand er vom Stuhle auf, stellte sich unter den Messingkronleuchter und legte los: »Lodärn zum Hihihimmäl säh ich die Flammän, Schaudärn ärgrahaheift mich, starr ist mein Blüüück …«

Als hätte er draußen auf das Stichwort gewartet: in diesem Augenblick trat der Stadtdiener Bastel ein.

»Gu'n Awend mitenanner!« Dann machte er ein grimmiges Gesicht. »Fräulein Reul, Sie hawwe neulich iwwer die Bollezeistund die Gastwertschaft uffgehalte, und zwar wege einem einzige Gast, dem Uhrmacher Zeunlein, der Zeuge is. Ich muß daderwege mit Ihne spreche.«

Elise erhob sich mit einem verächtlichen Lächeln: »So, Herr Bastel – hat man mich doch verklatscht …?«

»Fräulein Reul, net wege dem Uhrmacher komm ich, sondern wege der iwwertretene Bollezeistund. Komme Se mit uff de Flur – mer könne des besser unner vier Auge verhannele.«

Elise kam schweigend der Aufforderung des Amtsdieners nach. Zugleich trat der Adam Schlemper wieder ein.

»So, da bin ich noch emal …«

»Jetzt awwer schnell!« ermahnte Friedrich Leppert, kaum daß Elise draußen war. »Mensch – Weihrauch!« wandte er sich an Friedebert. »Was hast de da ewe for en Gickser gemacht bei dem hohe Ton. Des war ja gar nix.«

»Ja, allerdings,« stimmte Karl Heim eilig bei. »Wende doch mal dem Brandowsky sein Mittel an,« schlug er vor. »Ich hab's extra für dich mit hierher geschleppt.« Er holte schleunig das Körbchen aus der Ecke und entnahm ihm einen lebendigen Krebs, dem eine Schnur an den Schwanz gebunden war. Das baumelnde Tier regte recht kräftig die Scheren.

»Das ist das Mittel?« sagte der verblüffte Friedebert. »Aber wie soll denn ein Krebs helfen?«

»Des wer'n mer dir gleich zeige,« erklärte Leppert, und zu den andern gewendet, drängte er: »Macht doch – fix – bevor die Elis' widder kimmt!«

Ehe der Gefoppte noch recht wußte, was geschah, hatten sie ihm die Weste hochgehoben, den Krebs hinter den Hosenbund geschoben, die Schnur zugebunden.

»So, mein Lieber – paß emal uff, was de gleich für kolossal hohe Töne singe wirst,« verhieß Friedrich Leppert gerade noch …

Da kam Elise in die Gaststube zurück; sehr böse sah sie drein.

»Solange ihr Spaß untereinander treibt, kann ich's nicht verbieten,« erklärte sie. »Sobald ich aber selbst mit hineingezogen werden soll, räume ich meine Gaststube gründlich aus. Das merkt euch!« Sie blickte überlegen die still gewordenen Bierbrüder der Reihe nach an. »Daß sich der Stadtdiener Bastel zu Späßen hergibt, das werde ich ihm morgen auf dem Rathaus gründlich einsalzen.«

»No, Elise, Sie wer'n doch en Spaß net so iwwel nehme!« beschwichtigte der heisere Leppert.

Da plötzlich fuhr Elise wütend auf Friedebert los: »Was schneiden Sie mir denn für Gesichter, Herr Weihrauch? Sie, der hier immer selbst zum Narren gemacht wird, Sie haben's gerade nötig, sich an Lausbübereien zu beteiligen!«

Der arme Tischler fuhr von der Bank auf und stammelte etwas Unverständliches. Er setzte sich jedoch sofort wieder und bekam einen knallroten Kopf. Abermals machte er die tollsten Grimassen.

Elise sah ihn betroffen an. »Fehlt Ihnen denn etwas?« erkundigte sie sich milder.

»Nein, mir fehlt nichts – aber die hohen Töne, die werden gleich – – ach herrjeh!« ächzte Friedebert und hantierte unter dem Tisch an sich herum.

»Sie, Adam Schlemper, Sie haben den Bastel herbeigeholt – ich werde nicht vergessen, das auf dem Rathaus zu sagen,« fuhr Elise in ihren Vorwürfen fort.

Zugleich sprang der Friedebert wie ein Verrückter in die Mitte der Stube und vollführte einen Indianertanz.

Elise erschrak ernstlich, die Sorge machte sie erbleichen: sollte der unglückliche Mensch den Verstand verloren haben? Doch nein – sein Verhalten gehörte zu einem Ulk … denn die andern saßen allesamt unbändig lachend da; nur daß sich der Tischler diesmal am Ulk auf so niederträchtige, kindische Weise beteiligte, das wollte Elise nicht einleuchten.

Plötzlich blieb Friedebert ganz starr stehen und sah das Mädchen in voller Verzweiflung an.

»Und wenn auch die Elise dabeisteht – jetzt tu ich'n heraus!« brüllte er und griff auch schon nach dem Hosenbund.

Da knallten ihm zwei Ohrfeigen ins Gesicht. Und wenige Sekunden später flog der arme Teufel an die der Tür gegenüber liegende Flurwand. Er sah sich verwirrt nach der kräftigen Wirtin um, hilflosen Blicks, denn er konnte nicht begreifen, warum sie ihm das antat. Scheu schlich er aus dem Hause … er hatte Tränen in den Augen.

Elise aber stand keuchend im Hausflur, in maßlosem Zorn die Fäuste geballt, weiß bis in die Lippen. Soweit war es nun also doch gekommen, daß man sich Unverschämtheiten gegen sie erlaubte! – und das auf Grund des Klatsches – der Amtsdiener Bastel hatte es selbst gesagt: »Ja, mei lieb Fräulein Reul, wenn Sie bis in die spät Nacht enei den Uhrmacher Zeunlein bei sich behalte, da derfe Se sich auch net wunnern, daß mer gege e gut Trinkgeld so e Späßche ganz gern mitmacht.« – Aber daß dieser Tor, dieser Friedebert, so wenig Vernunft besaß, sich zu solchen Lumpereien hergab, zu Schamlosigkeiten! …

Die Enttäuschung machte Elise aufschluchzen, heiß und schmerzhaft aufschluchzen.

Da kraspelte etwas vor ihren Füßen. Elise bückte sich und fand den Krebs mit der Schnur am Schwanz.

Und nun begriff sie. Im Umsehen stand sie vor dem Hause. Aber der Tischler war verschwunden. Still kehrte sie in die Gaststube zurück, wortlos nahm sie ihren Platz neben dem Bierfasse ein und griff die Häkelarbeit auf. Doch die Schlingchen verwirrten sich vor des Mädchens Augen. Elise mußte sich tief darüber bücken. So sah auch keiner, wie manchesmal ein Tropfen auf das Häkelgarn fiel.

In der Weißen Eule herrschte gedrücktes Stummsein. Daß der Spaß so ernst ausliefe, hatten sie weder vermutet noch gewollt. Nun kamen sie flüsternd überein, die Dummejungenstreiche sollten mit dem heutigen ihren Abschluß gefunden haben.

 

Friedebert Weihrauch war in jener Nacht schweigsam und ernst heimgekommen … wie gesagt: als wäre er aus einem schweren Anlaß her sehr betroffen. Am andern Morgen ging er nicht ins Theater, sondern begab sich in die Werkstatt, wo er wortlos fleißig arbeitete. Erst am Abend hielt es ihn nicht länger daheim. Und da Frau Sinchen den Vater Schorsch über den Besuch bei Dorchen aufgeklärt hatte, sagte der Alte nichts dawider, als Friedebert so beiläufig erklärte: er gehe ins Theater.

Doch gegen neun Uhr kam er schon zurück: im Theater wäre heute keine Vorstellung.

»Und da gehst de net in die Weiß Eul?« staunte die Mutter.

»Dahin gehe ich überhaupt nie mehr,« offenbarte Friedebert mit einem wehen Lächeln.

Zu ihrer Verwunderung gewahrte Frau Sinchen feuchte Augen bei dem Sohne; doch sie ließ ihn gewähren, als er gute Nacht wünschte und zu Bette ging.

»Der Bub kimmt mer unheimlich vor,« erklärte danach Vater Schorsch. »Entweder, er fängt an vernünftig zu wer'n – – oder er schnappt ganz iwwer.« –

Laborius Zeunlein saß heute zeitig in seiner Ecke in der Weißen Eule. Früh war er gekommen und früh wollte er heimgehen, wie er Elise Reul sogleich erklärte.

Nach und nach fanden sich auch die andern ein, blieben aber still und anständig. Nur einmal wurden sie ein bißchen lauter … als Karl Heim einen flachen schwarzen Kasten mitbrachte, aus dem er eine Zither auf den Tisch stellte. Bald schnurrten die Bässe, und die Metallsaiten plimmplämmten … melancholische Töne, melancholische Weisen.

Da brach Zeunlein auf; ihm war heute melancholisch genug zumute. Elise Reul folgte ihm auf den Hausflur, obwohl sie wußte, die andern würden nun Witze über sie und den Uhrmacher reißen.

»Gleich halb zehn, und der Friedebert Weihrauch ist noch nicht da – dann kommt er heute gewiß nicht mehr, da das Theater doch geschlossen blieb,« stellte sie fest. Sie seufzte und trat ausschauend vor die Haustür.

»Und darüber beunruhigen Sie sich?« forschte Zeunlein.

Elise druckste ein wenig herum; dann erzählte sie Laborius die Geschichte von dem Krebs, von den Ohrfeigen, und wie sie den Unschuldigen hinausgeworfen hatte.

»Die Hände brennen mich, das Herz tut mir weh, wenn ich daran denke, daß ich mich an dem so gemein zum Narren gemachten Friedebert vergriff,« schloß sie.

»Ach so – Sie meinen, er käme wegen der Ohrfeigen nicht?« Zeunlein lachte belustigt. »Dann trösten Sie sich … vielleicht macht er heute mal seiner Angebeteten Fensterpromenaden,« fügte er spöttisch hinzu.

»Wem …?« Elise stand wie ein Bild von Stein.

Und nun berichtete Zeunlein, daß Frau Weihrauch bei Dorchen gewesen wäre, und daß er die Kleine gefragt habe, was das zu bedeuten gehabt hätte.

»Das Mädchen gestand mir, der Friedebert wäre bis über beide Ohren in sie verliebt und habe seinen Eltern erklärt, er werde nur Fräulein Dorchen heiraten. Na, die wird dafür freilich nicht zu haben sein. Aber um ihn von seiner Narrheit mit dem Opernsängerwerden abzubringen, will sie zunächst so tun, als ginge sie auf den Unsinn mit der Heirat ein …«

»Und macht den armen Narren erst recht zum Narr,« sagte Elise bitter. Dann ließ sie stracks den Uhrmacher stehen und ging in die Gaststube zurück.

Es war die vorletzte Julinacht. Die Altstadt lag in Silber gebadet, und der Weiße Turm des Homburger Schlosses ragte als Riesengespenst empor über die im Mondlichte wie beschneit aussehenden, winkelschiefen Dächer. Der Hauch der Sommernacht atmete manchmal träge, schwül und wie in sinnlich süßem Sichauflösen leis durch die Gasse hin. Das Schweigen zwischen den Häusern warf müde den Widerhall der Schritte Zeunleins auf …

Laborius sah in der Haingasse nach Dorchens Fensterchen. Licht schimmerte droben, aber just in diesem Augenblick erlosch es. Zeunlein ging ins Haus mit schweren, seltsamen Gedanken … er war ruhig und unruhig zugleich. Ruhig, weil sie Wort gehalten hatte: »Trinke nicht mehr als du vertragen kannst – und komme frühzeitig heim!« hatte er zitternden Herzens gebeten, als sie ihm gestand, der Mann mit den Brillantringen habe sie zum Souper eingeladen. Sie glaubte, dieser Einladung könne sie nicht gut ausweichen … es solle ja gewissermaßen auch ein Abschied sein; und dann ließe sie die Mutter kommen auf ein paar Tage. Auch daß sie brav sein wolle, versprach sie, und sie werde früh heimgehen, sich nie wieder einladen lassen.

Das alles mit kosenden Blicken aus den schönen Augen, mit dem unwiderstehlich süßen Lächeln auf dem roten Mund … und dann erlaubte sie Laborius einen langen Kuß. –

Nun war sie wirklich schon droben, löschte das Licht und schlief wohl guten Gewissens ein. Ach, es war doch unsägliches Glück, solch ein junges, schönes Menschenkind zu hüten. Hütete er sie denn nicht für sich selbst? Die Mutter sollte kommen – – gut, dann würde er fragen, ob das Dorchen nicht aufs Theater verzichten und das bessere, sichere Teil einer braven Bürgersfrau wählen wolle. Laborius dachte an die Hypothekenbankbriefe, die so sauber und glatt in der Kommode lagen … ein stattlicher Packen. Man konnte sie zu Bargeld machen, konnte auf der Luisenstraße einen prächtigen Uhrenladen eröffnen, in dem auch die allsommers kommenden Engländer kauften. – Und was würde Dorchen für Augen machen, wenn er den Stoß Erspartes – erspart von Großvaters Zeiten her und seitdem vermehrt – wenn er das alles vor sie hinlegte: Das sei dein, nun sei aber auch mein! – Papiere nur … jedoch sie waren greifbare Zukunft, greifbarer als die Hoffnung auf eine Zukunft beim Theater.

Dem Laborius ward so wohl zu Sinne: all das, mit einem Nein konnte es nimmer enden! – Und dann fand auch die gequälte Seele Ruhe … was fraß alles darinnen an Begehren und Sehnen … jedes Lächeln Dorchens trieb das Blut … jeder Händedruck weckte einen Funken … jeder Kuß ließ Flammen aufschlagen. Dem allem mußte einmal Erfüllung werden.

Wäre man nicht ein so vernünftiger Mensch, man möchte stracks hinaufgehen und betteln – – denn die Lippen trockneten, das Herz war glutheiß, wie die Wüste nach dem Samum; der ganze Leib blieb ein einzig Brennen, und eine Fülle war, die alles sprengen würde … oder die wie eine einzige Hohlheit wirkte: endlich, endlich ausgefüllt zu werden.

Nein, jetzt nur keine Dummheit, keine alles zerstörende Dummheit! Laborius streifte die Kleider ab und kroch in die Federn. Schlafen – und im Schlafe kamen dann so überschwengliche Träume. Die hatte er sich angewöhnt, wußte sie herbeizurufen. Aber in der engen Kammer lag die Sommernachtschwüle als ein Alp, ein brunstendes, blutsaugendes, schwer lastendes Etwas. Laborius erhob sich doch wieder und öffnete das Fenster …

Was denn? War droben der Teufel los? Stuhlrücken … ein Stampfen wie von bestrumpften oder bloßen Sohlen … Dorchens Tritte so schwer? Haschen … eine Weile still. Nun rumorte das Bett … ein Stuhl fiel um … den Atem anhaltendes, langes Stummbleiben. Jetzt ein paar leis klagende Laute – so, als würde ein wimmernder Mund zugehalten. Und endlich das Schweigen eines tiefen Erschöpftseins.

Was war das gewesen …?

Laborius lauschte, doch er vernahm nichts weiter. So kroch er wieder in die Kissen. Aber der Schlaf mied ihn. Da hielt er's nicht länger aus; er schlüpfte in die Kleider, tappte die dunkle, steile Treppe hinauf, pochte mit behutsamem Knöchel an Dorchens Tür.

Und erst nach erneutem, härterem Klopfen ein verschüchtertes: »Wer ist denn draußen?«

»Was ist los da drinnen?« fragte Zeunlein zurück, mit zusammengebissenen Zähnen, schlotternd, als wäre eine Winternacht.

»Ach, du, Zeunlein … so! O Gott, mir war ja so elend – ich habe ein bißchen viel getrunken – zum ersten Male in meinem Leben Sekt …«

»Mein Armes,« beruhigte er sich selbst und sie. Aber er lachte heimlich in sich hinein: geschieht dir schon recht – vielleicht ist dir die Lust fürderhin vergällt. Dann pochte er nochmals zärtlich: »Morgen wird's vorbei sein … gute Nacht, mein Liebling.«

Doch sie gab keine Antwort mehr, und da ging er mit zufriedener Seele schlafen.

Einmal in der Nacht wollte er wachwerden: hatte nicht die Stiege geknarrt … war das nicht die Haustür? Aber die Müdigkeit besaß mehr Macht, als Laborius den Willen zum Munterwerden. In das Versinken zum tiefsten Schlaf nach Mitternacht nahm er noch mit das garstige Gequäke einer Katzbalgerei auf den Nachbardächern … wie der verliebte Kater raunzte … dann kam das Nichts. Bis in den hellen Morgen.

Die Uhr schlug neun, und die Sonne blendete in der Haingasse. Droben im Stübchen rumorte jemand. Laborius zog sich an und ging hinauf. Da war schon die alte Frau Zwiebel bei der Arbeit; sie stand gerade still und staunte die Bettkissen an.

»Gu'morje, Herr Zeunlein. No, Sie mache sich's jetzt aach zum Prinzip: Wer lange schläft, den Gott ernährt, wer früh uffsteht, sei Geld verzehrt. – Awwer da gucke Se sich emal des Bett von dem Mädche an. Die hat sich awwer heut nacht erumgewäljert … no ja, bei dere Hitz.«

»Ist denn Fräulein Dorchen schon fort?«

»Sie war schon enaus, wie ich komme bin. No, um so länger hawwe Sie geschlafe.« –

Den ganzen Tag wartete Laborius, doch Dorchen ließ sich nicht blicken. Das Stübchen blieb leer. Da kaufte er sich wieder einmal eine Karte fürs Theater, nur um das Dorchen wenigstens zu sehen. Im ersten Akte kam sie gleich und meldete etwas. Sie hatte Zeunlein in der Vorderreihe entdeckt und blinzte ihm verstohlen freundlich zu. Aber dreimal sank der Vorhang und dann zum letzten Male … Dorchen war nicht wieder aufgetreten. Da ging der Uhrmacher erwartungsvoll und sehnsüchtig heim. Aber droben blieb alles dunkel und still, ob er auch an die Tür klopfte. Nun machte er sich auf und ging in die Goldene Rose, wo das Mädchen zu nacht aß. Auch dort war sie nicht. Verdrossen trank er das bestellte Bier, sich ärgernd, daß er mit den schweren Gedanken und dem jammervoll rufenden Herzen nicht wenigstens in seiner Weißen Eule saß.

Als er um zwölf Uhr schlafen ging, knarrte droben einigemal die Matratze. Nun war also Dorchen doch vor ihm heimgekommen! Hätte er nur ein bißchen mehr Geduld bewiesen. Wo mochte sie den ganzen Tag über gesteckt haben? Na, wenn sie morgen die Miete zahlen kam, wollte er ihr gründlich die Meinung sagen …

Morgen war der 1. August – nur noch vierzehn Tage würde sie im Hause sein. Dann – wie der »Taunusbote« das ausdrückte – schloß das Theater seine Pforten. Ach nein, Zeunlein sagte sich, er wolle doch lieber nicht mit dem Mädchen zanken … vielleicht verdarb er mit dem ewigen Nörgeln noch das beste … vierzehn Tage nur noch, beängstigend kurze Zeit. Und bis sie um war, wollte er mit der Kleinen fürs Leben einig sein.

 

Elise Reul hatte sich tagsüber auf allerlei Ausreden besonnen, unter deren einer sie zu Weihrauchs zu gehen gedachte. Bei all dem Besinnen war nichts Glaubhaftes, nichts Vernünftiges zutage gekommen. Endlich der Einfall: von Jean Reuls Zeiten her stand das Bierfaß immer auf einem unordentlich zusammengehauenen Ding mit vier Beinen … einen praktischen Bock konnte man also bestellen.

Elise ging schon frühmorgens in die Tischlerwerkstatt.

Vater Schorsch freute sich, als er das große, stramme Mädchen sah. »Hübsch sind Sie, Elise Reul,« schmeichelte er ihr.

Friedebert erwiderte Elisens Gruß nur kurz und verließ die Werkstatt. Dem alten Meister schwoll darob die Zornader.

»Lassen Sie ihn nur, Herr Weihrauch,« bat Elise sofort. »Er hat allen Grund, vor mir davonzulaufen. Ich werde ihn schon wieder einmal freundlich stimmen.«

Dann erklärte sie mit ruhigen Mienen und sehr geschäftlich und sachlich, wie sie sich den Faßbock dächte.

»Sie sind e ganzer Kerl, Fräulein Reul,« lobte Schorsch Weihrauch. Dann sah er trübselig vor sich hin. »E Tochter hatt ich mer schon immer gewünscht. Und so eine wie Sie – – wär das'n Segen!«

»Und mein Vater wünschte sich immer einen Buben. Er mochte mich wenig leiden, und ich hatte harte Tage – bis zu seiner letzten Stunde.« Elise wischte über die Stirn, als scheuche sie die schlimmen Erinnerungen. »Er mag in Frieden ruhen … aber seine Hand lag schwer auf mir. Vielleicht erzog mich das zu einem ganzen Kerl, wie Sie es nennen.«

»Ich wollt damit net etwa gesagt hawwe, Sie hätte was von eme Kerl im Benehme,« beteuerte der Meister.

»So faßte ich's auch gar nicht auf, denn ich weiß, daß ich weicher bin, als mir vielleicht später im Leben gut tut.«

»Unn doch mein ich annererseits: e Mann für Sie, der wär net so leicht zu finde.«

Elise errötete. Unwillkürlich sah sie nach der Tür der Werkstatt, wo Friedebert sich entfernt hatte.

»Es wäre am Ende noch nicht einmal so schwer, Herr Weihrauch. Aber ich glaube selbst: es wird sich keiner zu mir trauen, sondern ich werde zu einem hingehen müssen … wenigstens zu dem, den ich möchte.«

Dann aber fing sie schleunig aufs neue von dem Faßbock an und bat, wenn's möglich wäre, ihn recht schnell anzufertigen.

»Ich laß alles stehn und liege,« versprach Schorsch Weihrauch. »Heut abend um sechs hawwe Se des Ding. Der Friedebert bringt's selwer.«

»Ach ja, das wäre mir sehr lieb – –,« wollte Elise sich verraten; aber schnell gefaßt, sprach sie gleichgültiger: »– – wenn ich den Faßbock heute noch bekäme.«

»Mei Wort drauf!«

Auf dem Hausflur machte sich Elise einen kleinen Aufenthalt … aber der Friedebert blieb unsichtbar. So ging sie denn allerlei Besorgungen nach. Auf der Luisenstraße stand sie vor dem Schaufenster der Geschwister Dortel still: eine große weiße Schürze gefiel ihr, die hatte einen mächtigen, mit Lochstickereien besetzten Latz. Und die sparsame Elise Reul betrat den Laden und kaufte sich die Schürze. Was ward sie eitel …?

Bald nach sechs hielt das kleine Schreinerwägelchen vor der Weißen Eule. Der Friedebert selbst hatte es geschoben. Elise musterte sich schleunig: die weiße Schürze machte sich stattlich – in die Stirn ließ sich eine Locke ziehen – neben das rechte Ohr noch ein Büschelchen krauser Haare.

Der Tischler trug den Faßbock herein … ohne Gruß … mürrisch. Aber Elise wollte es nicht bemerken; sie heuchelte Freundlichkeit und Freude. Doch nein: die Freude war ungeheuchelt. Nachdem der Faßbock an seinem Platze stand, Friedebert mit gerunzelter Stirn geholfen hatte, das Fäßchen für den Abend hinaufzuheben, zählte Elise das Geld auf den Tisch.

»Wer gleich bezahlt, vergißt es nicht,« bemerkte sie scherzend. »Ich halte stets auf klare Rechnung.« Nun wurde sie ernst. »Und deshalb muß ich auch mit Ihnen sprechen, Herr Weihrauch.«

»Nicht nötig,« wollte Friedebert ablehnen.

»Doch!« beharrte Elise und nötigte ihn auf einen Stuhl. »Ich habe mich vorgestern abend an Ihnen vergriffen. Das muß ich und will ich abbitten.« Dann fing sie hastig zu erklären an, was sie vermutet und was aus dieser Vermutung her sie zum Handeln bewogen hätte.

Friedebert hörte ruhig zu, äußerte keine Silbe; aber als Elise ihm die Hand zur Aussöhnung bot, legte er zögernd die seine hinein. Das Mädchen streichelte die rauhen Finger.

»Sei doch wieder gut, Friedebert …«

Sie wußte gar nicht, daß sie ihn plötzlich duzte, der so ernst und stumm dasaß.

»Elise –,« hob er endlich an. »Ich weiß jetzt, daß ich dumm bin, und daß sich die Menschen über mich lustig machen.«

»Nahm ich dich nicht immer in Schutz?«

Er überlegte lange, als fiele ihm das Denken schwer. Elise ließ ihn gewähren.

»Ja, das ist wahr – du nahmst mich in Schutz,« gab er schließlich zu. »Aber da ist im Theater ein Mädchen, das hat noch nie ein böses Wort zu mir gesagt. – Warum können nicht alle Menschen so gut zu mir sein?«

Elise fühlte plötzlich eine heiße Angst. »Wer weiß, wie die es meint,« zweifelte sie.

»O, gut – nur gut!« sprach Friedebert, und in seinem Blick glänzte das grenzenlose Vertrauen, das er an Dorchen verschwendete. »Im Theater die Leute machen sie schlecht und sagen, sie habe es mit dem Menschen, der mich hier am Telephon zum besten hielt. Das glaube ich aber keinem. Denn wenn es die Wahrheit wäre – ich meine, daß sie es mit diesem Kerl hält –, dann brächte ich ihn um. Oder sie!«

»Du bist also darauf gekommen, daß die Singerei neulich nur ein Unfug war,« horchte Elise auf, alles andere übergehend.

»Ich habe so das Gefühl. Ich brauche ja nur das Fräulein heute abend zu fragen. Sagt sie ja, dann bin ich mit mir im reinen. Und dann pfeif ich aufs Theaterspielen.«

Elise bekämpfte die Bitterkeit, die sich in ihrem Herzen breitmachen wollte. »Komm dann hierher und sag' mir Bescheid,« bat sie eindringlich.

»Das will ich gern tun,« versprach Friedebert.

Da strich sie ihm liebkosend über die Haare. Er duckte sich unter dieser Berührung, als ob er einen neuen Schlag fürchte. Sie legte ihm die Hand unters Kinn und hob ihm sanft das Gesicht. Und wie er so mit geschlossenen Augen dasaß, hilflos, und wie ein Kind, das nicht weiß, wie es die Zärtlichkeit auffassen soll … da stieg in Elise Reul die ungedämmte Flut der Gefühle über das Herz hinaus.

Sie, die nicht wußte, was das Küssen war und was dahinterher kommen konnte, sie beugte sich nieder und küßte den Mann.

Da schlang er beide Arme um ihre starken Hüften und drängte sein Gesicht wider die weiße Schürze. Still hielt er, ganz still. Und sie fühlte die Wärme seines Atems bis auf ihre Haut dringen, mochte das nicht missen und stand lange so.

Das Uhrpendel tickte einförmig und schwer, als wolle es Elisens Blut den ruhigeren Takt angeben. Doch was nützte das! Dies Blut wollte nicht ruhig sein in seiner Reife; es schwoll, rang mit der Enge der Adern, stieg hoch zur Stirn und jagte ebenso schnell zurück bis zur Tiefe des Schoßes; es erzeugte heißes Aufwallen und fröstelndes Erschauern zugleich, breitete sich flammend über Brüste und Rücken und zog sich plötzlich auf einen kleinen Fleck zurück, um dort zu prickeln und zu prudeln. Der Erschrockenen zitterten die Knie …

Lange, lange stand sie still und kostete bis zur Neige dies Niegefühlte und dennoch ihr nicht Unbekannte – sie hatte es zu oft heimlich gewünscht, und nun es da war, meinte sie es zu kennen. Endlich löste sie sanft des Tischlers Arme von ihren Hüften und entfernte sich von ihm. Und als sie die Berührung nicht mehr fühlte, stürzte die tiefe Scham brausend über sie hin wie eine Woge. Elise schleppte sich zu ihrem Stuhle neben dem Fäßchen, stützte die Ellbogen auf die Knie und legte die Hände an die brennenden Wangen.

»Tat ich dir etwas Unrechtes?« fragte Friedebert, erstaunt von seinem Sitze aufstehend, und kam zu ihr hin.

»Nein – du nicht mir, aber ich mir selbst …,« murmelte sie.

»Sei doch nicht bös,« bettelte er verschüchtert und streichelte ihr den Rücken.

Da sprang sie empor und wehrte ihm: »Nicht – nicht …!«

Aber sie stand mit offenen Armen da und hätte nichts lieber getan, als ihn in die Arme genommen, sich maßlos und ohnmächtig der Sinne an den Mann zu pressen.

Laborius Zeunlein hatte gemeint, Dorchen wäre schon längst schlafen gegangen, weil er allerlei Geräusche vernommen, die ihm sonst ihr Zubettegehen verrieten.

Nachdem er sie in der Goldenen Rose vergeblich gesucht, kam ihm der ganze Tag verloren vor: nicht ein Wort mit ihr heute … nicht einmal ihren Schritt im Hause … und auch die bloßen Füßchen hatte er heute nicht patschen gehört, worauf er sonst so gerne lauschte. Was hatte ihn getrieben, in das fremde Wirtshaus und nicht gleich nach dem Theater heimzugehen? Nun war denn alles versäumt, und das Schlafengehen fiel ihm in der Unruhe so schwer.

Ach, dies Mädel! Zu einer Aussprache gab sie gar keine Gelegenheit … immer nur ein flüchtiges Verweilen im Uhrmacherlädchen … ein hastig gewährter, so drüber hin und ohne Ernst geduldeter Kuß, den sie nicht erwiderte, mit geschlossen bleibenden Lippen zuließ, um danach fortzulaufen.

Was sollte er warten, bis dieser Tage Frau Guckes kam! … Nein, vorher schon mußte er mit dem Dorchen einig sein. Morgen? Ja, morgen am Ersten – – da huschte sie jedenfalls auch nur so vor der Theaterprobe in den Laden, legte die Miete hin und hatte es eilig. Wie stets.

Laborius suchte sich einen großen Bogen, rückte das Tintenfaß zurecht und setzte sich aufs Sofa.

Nun schrieb er stundenlang. Den Brief wollte er Dorchen an die Tür stecken; kochte sie sich am Morgen auf dem Treppenflur den Kaffee, so hatte sie Zeit genug, alles zu lesen, was sich ein Verliebter, Hoffender, Begehrender von der Seele geschrieben. Zärtliche Worte und sanfte Schelte – Liebkosungen und Vorwürfe – Bekenntnisse und Geständnisse … und je länger die Feder kritzelte, desto mehr Mut. Bis er auch Dreistigkeiten nicht mehr scheute. Er bettelte und befahl, lag auf den Knien und war dann wieder ein Mann, er schluchzte in frommer Reinheit und stöhnte dann wieder auf aus seiner Brunst … alles in geschriebenen Worten, toten Buchstaben.

Und ganz zum Schlusse machte er geltend: »Ist denn mein Häuschen nicht ein heimlich Nest? Es gibt keinen Teufel Asmodi, der die Dächer abdeckt, um zu sehen, was zwei Menschen treiben. Was trennt uns, dich und mich – was trennt uns vom Meinsein und Deinsein? Nur eine kurze Stiege, eine schwache Tür, der Wille zum Mut auf meiner Seite – –«

In diesem Augenblick fing die Lampe an zu flackern und losch mit leisem Zischen aus. Just daß Laborius bei dem blauen Schwelen noch seinen Namen unter den Erguß schreiben konnte. Schade, den langen Brief zu überlesen, damit war's vorbei. Denn Zeunlein wußte nicht, wo Frau Zwiebel neuerdings die Petroleumkanne aufbewahrte; er selbst hatte sie sonst auf dem Fensterbrett stehen gehabt. Und dann: es war gewiß besser, man las das alles nicht noch einmal durch. Sonst kippte der briefliche Mut doch wieder um …

Laborius rieb ein Streichholz an und drückte leise, leise die Klinke der Stubentür nieder; ebenso leise wollte er die Treppe hinauf. Das Dorchen sollte nicht wach werden. Und dabei trug er sich doch gleich wieder mit hitzigen Gedanken: wenn sie dennoch munter wurde und fragte, was da wäre? Dann wollte er ihr von dem Briefe sagen, wollte bitten, sie möchte ihn in der Nacht noch lesen … und dann wollte er in der Stube sitzen und warten, ob sie ihn riefe – ein glühendes Schauern überlief ihn: wollte warten, ob sie gar herunterkäme …

Er war im Begriff, abermals ein Streichholz anzuzünden, um sich die Stiege hinauf zu leuchten – da knarrten die Stufen. Ein Schreck des Glückes durchzuckte den erregten Mann: war sie das, und war schon alles Erfüllung?

»Dorchen,« flüsterte er.

Da brannte das Zündholz, und an die Wand drückte sich der Mann mit den Brillantringen.

»Verzeihen Sie,« fing der Müller in seiner feigen Verblüffung an. Er wollte nach oben zurück vor Hilflosigkeit, als just das Streichholz wieder erlosch.

»Aus dem Hause – aber schnell!« forderte Laborius Zeunlein im Dunkel. Ein neues Flämmchen gab schales Licht, die Schritte Müllers waren eilig zur Stiege hinab. Der Schlüssel klapperte suchend, dann fiel die Haustür ins Schloß.

Der Uhrmacher stand da in der Finsternis so still und ohne Aufregung, als meine er: Dies alles ist nur ein dummer Traum, und morgen früh beim Erwachen wirst du dir sagen, was man doch alles zusammenträumen kann … zu blöde!

Dann aber entsann er sich der Haustür. Er schritt hinunter und schloß ab.

»Was gibt es außer der Verachtung nun noch anderes?« sagte er laut zu sich selbst und lachte bitter auf. Er stand auf Dorchens Treppe und betrachtete den Lichtstreifen, der, wie ein feuriger Strich unter die Rechnung dieser Nacht, sich unter der Tür bemerkbar machte. »Sie erwürgen – ihr ins Gesicht spucken – sie in die Nacht hinausjagen mit allem ihrem Theaterkrempel?« schrie er laut, als hätte er das Mädchen vor sich stehen. »Dann hätte ich sie mit dem Lumpenhund zugleich aus dem Hause schmeißen müssen!«

Laborius stöhnte und brach auf die Stufen nieder und weinte vor Leid und Enttäuschung. Droben knarrte ein paarmal das Bett; das Geräusch gab ihm den Zorn und das Bewußtsein wieder. Festen Trittes stieg er die wenigen Stufen hinauf und klopfte an Dorchens Tür.

»Sie müssen gehört haben, was ich auf der Treppe laut genug rief!« brüllte er.

Keine Antwort …

Er rüttelte voller Wut an der Klinke, die unverschlossen gewesene Tür sprang auf.

Und was er in tausend Träumen geträumt, das lag nun alles da vor ihm … träge, schlaff, erschöpft von dem Vorausgegangenen … in der zernichteten Scham sich achtlos auf dem zerwühlten Linnen räkelnd.

Ein Lallen: »Ach, Sie Moralfatzke …«

Ein Schnaufen, das der im Übermaß genossene Sekt bewirkte. Und ohne der verschobenen Decke, ohne des verrutschten Hemdes zu achten, wälzte sie sich auf die Seite und fiel schnarchend in den betrunkenen Schlaf.

Da blies Laborius die schamlos beleuchtende Lampe aus. Dann sank er vor dem Bette nieder und legte die Stirn auf die harte Kante; der Schmerz, vom scharfen Bett erzeugt, sollte ihn gemahnen, sich selbst zu bezwingen, auf daß er nicht mitsündig werde, sich den berauschten Zustand seines Liebsten auf der Welt zunutze machend. So schluchzte er vor sich hin, sich selbst verfluchend, daß er so elend war, noch vor dem Altar zu knien, auf dem die Liebe Spott getrieben hatte.

Der Tag hellte auf. Hier und dort ein Vogelruf, ein Spatzenschelten oder ein Hahnenschrei. Sterne glommen noch vor dem kleinen Fenster. Die Blumen auf dem Brett erschlossen sich der schon ostwärts aufflammenden ersten Sonnenröte, die flimmernd über die sterbenden Himmelslichter triumphieren wollte.

Da zog Laborius Zeunlein wehen Herzens die Decken über das, was er in seinen Nächten und Träumen angebetet, und was er nun da vor sich sah, wie er es selbst in diesen Träumen nimmer zu schauen gewagt, zu schauen begehrt.

Dorchen erwachte für einen Augenblick und starrte den Mann verwirrt an; dann hob sie die Hände und streichelte ihm das Gesicht. Doch als ob sie sich schamhaft auf ihre nackten Schultern besinne, zog sie die bloßen Arme unter die Decke.

»Ich weiß, was ich getan – er hätte mir den Wein nicht aufzuzwingen brauchen – ich wollte ja,« murmelte sie. »Gestern und heute nacht …«

»Gestern?« zischte der Uhrmacher. »Der Hund!« Und er besann sich und ihm ward alles klar, was er gestern nacht vernommen. »Und Sie konnten, mit dem Menschen in der Kammer, mir heucheln, es wäre Ihnen schlecht …«

»Sei nicht enttäuscht – und sage nicht Sie zu mir – ich bin nicht mehr, was ich war, gewiß nicht – aber du brauchst mich noch längst nicht zu verachten, denn ich werde nun auch dein sein …«

Da trat er weit vom Lager fort: »– – – Hündin!«

Sie fing zu schluchzen an: »Es war der Anfang von einem Ende – was wird aus mir?«

»Flenne nicht!« Er besann sich. »Vielleicht wissen Sie in dieser Sekunde schon, was Sie dem nächsten vorschwindeln werden.«

»Es wäre besser, du wärest es gewesen, Zeunlein,« sagte sie unter Tränen. Und dann versetzte sie seiner Seele den tiefsten Dolchstoß: »Warum warst du zu feige! Immer lag ich wach, und immer wartete ich auf dich, und immer dachte ich, du müßtest kommen, endlich kommen, endlich einmal. Der Weg so kurz, die Gelegenheit so nah und so leicht, aber dein Mut so fern und so schwerfällig.«

Und wie nun da auch noch der letzte Rest seiner Torheit vor ihm aus der Tiefe stieg, wandte Laborius sich still und verließ das Stübchen und schalt sich einen Narren. –

Gegen den Mittag trat Dorchen in das Lädchen. Sie sah bleich aus und hatte tiefe Ränder um die voreinst so klaren, reinen Augen.

»Du wirft sagen, ich wäre schamlos, weil ich zu dir herunterkomme, Zeunlein,« hob sie an. »Aber vielleicht begreifst du, daß ich nicht abwarten kann, ob du mir das Haus verbietest.«

»Das lag nicht in meiner Absicht,« erklärte er nach einigen Sekunden; er hatte erst überlegen müssen, wie er mit ihr sprechen könne, ohne sie anzureden. Das Du wollte ihm nicht mehr über die Lippen, das Sie aber kam ihm beim Tageslichte albern vor.

»Gut denn. Ich hätte dich auch nicht ums Bleibendürfen gebeten. – Ich könnte leicht sagen: ich bereue nicht, aber ich gebe dir die Schuld. Denn wärest du ein rechter Kerl gewesen, so hättest du mich nicht in fremde Hände fallen lassen.«

Kurz und hart lachte Laborius auf: »Sophistereien!«

»Ich weiß nicht, was das ist – Sophistereien … aber ich sage dir nur Wahrheiten, bittere Wahrheiten. – Ich habe mir überlegt, daß – was ich tat – mich abwärts führen muß. Und davor bangt mir nun doch. Und weil du gar bekennst, du hättest mir dein Haus nicht verboten, so muß ich mich erst recht schützen vor dem, wovor mir so unheimlich ist. – Tausendmal hast du mir gesagt, du liebst mich. Jetzt bist du mir eine Hoffnung, Zeunlein. Verzeihe mir alles – verzeihe mir, denn noch kannst du das. Was war, ist bis jetzt nur wenig. Das könntest du doch in Kauf nehmen, um mich zu retten, zu bewahren vor mir selbst. – Weiß denn ein Mann immer, was er in Kauf nimmt?«

»Hoffnung – Verzeihen – in Kauf nehmen … was sollen diese Redensarten?«

»Zeunlein, es tut mir um die arme Frau in Bockenheim so weh. Du ließest einen Brief vor meiner Tür liegen, den du geschrieben haben wirst vor – – dem. Auch darinnen sprichst du von deiner Liebe, von deinen Wünschen – o, wie gern will ich sie erfüllen, wollte es ja schon so lang, so lang … und du schreibst ja auch von – einer – Heirat.«

»Das ist längst: Es war einmal …«

»Laß es das alte wieder sein – und, Zeunlein – nimm mich … nimm mich!«

Es war erschütternd. Sie stand bettelnd da in ihrer ungebrochenen Lieblichkeit, und Tränen perlten ihr über die Wangen.

Er schüttelte bei aller Herzensqual, allem Mitleide zum Trotz, verneinend das Haupt.

»Zeunlein – auch nicht, wenn ich schwöre: ich will dir eine gute, brave, treue Frau sein? Eine Frau, deren du dich niemals schämen sollst. Nur, Zeunlein, schütze mich vor mir selbst!«

»Die Katze mit gestutzten Krallen nehmen?« spottete er. »Die Krallen wachsen wieder. Und weiß man denn, wann der Tag kommt, wo sie einem das Gesicht, die Ehre und das Herz zerkratzen? Nein! Ich kenne nur dies Nein.«

»Zeunlein …!« Sie faltete die Hände vor der jungen Brust. »Glaube mir doch, wenn ich dir sage: es war bis jetzt das Schlimmste noch nicht, aber just vor diesem Schlimmsten bangt mir so hart. Glaube mir doch, daß ich immer noch mehr wert bin, als es für deinen Groll jetzt den Anschein hat.«

»Ich glaube nichts, nichts, nichts mehr.«

Er klemmte das Vergrößerungsglas ins Auge und tat, als hätte er wunder wie wichtig zu tun an dem Uhrwerk der silbernen Spindel. Aber die Hände zitterten ihm dermaßen, daß die Unruhe des Uhrwerks in Bewegung kam und ein krankes Ticken erweckte.

Dorchen stand lange dabei und sah den Stummbleibenden flehend an, als könne sie seines Herzens Härte gar nicht begreifen.

»Ich weiß nun selbst nicht mehr, ob ich schuldlos oder schuldig bin,« sagte sie endlich und neigte den Nacken wie unter einer schweren Last. »Ach, ich bin so müde …«

»O, das begreife ich … das erste wahre Wort!« höhnte der Uhrmacher.

»Müde nicht so, wie du es meinst. Es ist – nachdem du mich abweisest –, als wäre die Bürde meines kommenden Lebens auf meine Schultern gelegt. Oder der kommende Tod. Denn auch das wird Tod sein – seelischer Tod –, wenn ich mich selbst erwürge an dem, was so jammervoll und furchtbar in meiner Seele ans Licht drängt: Begehren!« Sie krampfte sich förmlich zusammen wie in Furcht. »Doch – was nützt alles Reden … es soll Menschen geben, die Schwereres ertragen.« Nun lachte sie zum erstenmal; aber das früher so schöne, heitere Lachen – nur leis klang es hinter diesem Gelächter, wie eine längst versunkene oder wie eine von Mauern und Steinen erstickte Weise. Dann fing Dorchen plötzlich ganz fremd und frech an: »Sie werden natürlich an meine Mutter schreiben, Herr Zeunlein?«

»Ich? Mit der habe ich nichts zu tun. Nur muß mein Haus sauber bleiben, solange das Stübchen droben vermietet ist.«

»Will mir's merken. Übrigens, da heute der Monatserste ist: hier ist die Miete.«

Sie kramte das Geld aus dem Handtäschchen, recht umständlich, damit er das Geschenk Müllers bemerken solle: ein kostbares Ding aus Krokodilleder mit vergoldetem Bügel. – O ja, der Mann mit den Brillantringen gab reichlich … nur wußte Dorchen noch nicht, was in solchen Lebenslagen das Bezahltwerden für eine Bedeutung gewinnen kann, wie sie denn überhaupt nicht ahnte, daß sie bezahlt wurde, sich bezahlen ließ. –

Im Theater entschuldigte sie die Probenverspätung kecken Tones: »Ich habe halt mal verschlafen.«

Der Direktor machte ein saueres Gesicht, sagte aber nichts weiter als: »Wir werden Ihren Auftritt nach Schluß der Probe feststellen … es sind ja nur ein paar Worte.« Und dann konnte er sich doch nicht enthalten, der in letzter Zeit nachlässig gewordenen Dorothea Weihrauch moralisch eine Ohrfeige zu versetzen. »Ja, nur ein paar Worte,« näselte er überlegen. »Zu mehr werden Sie's beim Theater doch nie bringen.«

Dorchen suchte sich einen Platz zum Warten auf der Bühne.

Da kam Friedebert Weihrauch, der wieder irgend etwas basteln sollte. Er eilte gleich auf sie zu und begrüßte sie und hielt ihre Finger fest und lachte die Kleine an, als wäre ihm eben erst die Sonne aufgegangen.

»Was macht die Tenorstimme?« fragte Dorchen mit einem müden Lächeln; heute wollte sie beginnen, den Tischler von seinem Theaterwahne abzubringen.

»Tenorstimme? Die mag der Henker holen,« verwünschte Friedebert. »Ich pfeif' drauf.«

»Ernstlich …?«

»In allem Ernste. Mein Vater leidet's nicht, meine Mutter will's nicht, und die Elise Reul sagt auch, die Menschen hätten mich nur zum Narren. Da bleibe ich endgültig Tischler. Handwerk hat einen goldenen Boden, sagt mein Vater. Die Kunst geht nach Brot, behauptet meine Mutter. Hungern aber habe ich nicht gelernt.«

»Die Kunst geht nach Brot – das bedeutet doch: gleich nach dem Brote kommt die Kunst,« verbesserte ein dabeistehender Schauspieler.

»Mag sein. Dennoch pfeif' ich auf meinen Tenor!« entschied Friedebert.

Dorchen saß zusammengesunken da; so schnell rächt sich Schuld? … sie dachte an die weinende Mutter des Tischlers – alles Glück ging nach der Sünde auf einmal dahin … nicht einmal das Glück blieb, der guten alten Frau das Wort zu halten und den Narren Friedebert von seiner Narrheit zu bekehren.

Einmal noch hob Dorchen freier die Stirn: »Und was mich betrifft, Herr Weihrauch? Sie wollten mich doch heiraten?« Sie sagte es, wie halb im Scherz; aber die weiten, ängstlich erwartungsvoll blickenden Augen bezeugten den versteckten Ernst der Frage.

Friedebert errötete tief und nachhaltig. »Das – hm ja – erst wenn ich sicher bin, daß das nicht auch eine Narrheit wäre …«

»Sie beleidigen mich!« fuhr Dorchen auf und blitzte den Tolpatsch an.

Der ward klein wie ein gescholtener Schulbub. »Ich glaube, das mit dem Heiraten ist etwas, das ich ernst meine,« sagte er leis. »Aber, Sie sind so vornehm, Fräulein Weihrauch …«

»Ach was, ich heiße Dorchen Guckes, und meine Mutter hat einen Grünkramladen!«

»So …?« Er staunte sie enttäuscht an. »Ja – dann – –«

»Das hätte ich an Ihrer Stelle nicht verraten, liebe Kollegin,« tadelte der Schauspieler.

»Warum nicht?« widersprach das Mädchen fest. Und ein wenig leiser, doch nachdrucksvoll fügte sie hinzu: »Der Name Dorchen Guckes ist rein und sauber wie erster Schnee … wissen Sie denn, ob Dorothea Weihrauch das behaupten dürfte?«

Da rief just der Direktor: »Fräulein Weihrauch, Ihre Szene! Aber spielen Sie mir das Kokottchen so keck wie möglich. Nicht Wassersuppe – Sekt muß das sein. Wenn Sie nicht wissen sollten, was eine Kokotte ist, so fragen Sie jemand.«

Aber Dorothea Weihrauch glaubte ja, jetzt ein Kokottchen spielen zu können.

 

»Heiraten – daß ich dich nicht heiraten kann, darüber sind wir uns also im klaren,« schloß der Mann mit den Brillantringen das Gespräch. Er lehnte sich vornehm in seinen Stuhl zurück, in einer Haltung, die jede weitere Erörterung abschneiden sollte.

Dorchen, wieder einmal in der Wohnung Müllers, saß eine Weile still da, nur mit der Fußspitze den Saum des Atlasrockes aufwippend. Es lag Verachtung um den jungen Mund, als sie nun den weichlichen, in eine Seidenjacke gehüllten, Zigaretten schmauchenden Menschen ansah.

»Wir sind uns im klaren, ja,« gab sie zu. Dann warf sie die Locken zurück. »Ich verstehe nur nicht, weshalb du mich stets aufs neu beleidigst mit der langweilenden Wiederholung dieser abgeschmackt werdenden Wahrheit. Bestand ich überhaupt je darauf, du solltest mich heiraten?«

»Freilich nicht,« stellte er widerwillig fest. »Aber die Möglichkeit liegt doch immerhin nahe, daß Veränderungen eintreten, unter deren Wirkung du dir das Gegenteil in den Kopf setzen könntest.«

»Veränderungen …?« Sie staunte ihn aufs höchste verwundert an. »Was für Veränderungen?«

»Na, deutlicher: Folgen …«

»Wieso – –?«

Er wurde ungeduldig: »Na, Mädel, nu mach dich aber nicht frömmer als du bist!«

»Ich weiß tatsächlich nicht, was du meinst.«

»Herrgott! … nun gut, um ganz deutlich zu sein: ein Kind.«

Dem Dorchen schoß alles Blut zum Herzen zurück. Sie legte die Zigarette fort und sprang auf. Schweigend stand sie am Fenster, die Stirn gegen die kühlende Scheibe gelehnt. Und erst nach einer Weile murmelte sie: »Das hatte ich nicht bedacht.«

Herr Müller pfiff leis vor sich hin; in seinem Gesichte drückten sich Spott und frecher Unflat aus: das glaubte er ihr nun ganz und gar nicht. »Na, hörst du …!« rief er endlich lachend.

Dorchen trat vor ihn hin: »Das – sollte das der Fall sein allerdings – –«

»Nee, nee, nee – lieber Schatz!« winkte er ab. »Wir wollen bei der Stange bleiben, an den Abmachungen festhalten. Heute abend ist in eurer Schießbude Schluß, und du fährst morgen zu deiner Mutter zurück. Ich versprach dir, dich nach Frankfurt zu bringen. Und das halte ich auch. Muß ja ohnehin fahren. Also wir bleiben noch die kurze Reise beisammen, obwohl du dir verdammt wenig aus mir zu machen scheinst … sonst brächtest du es nicht übers Herz, dich mir seit vierzehn Tagen zu entziehen.«

»Ich bin dir zugetan – aber ich wollte mich mir selbst zurückgewinnen,« flüsterte sie mit gesenkten Lidern.

»Ach so?« höhnte er. »Und die Kleider – Geschenke – alles nur für naß?«

Ihre Seele empörte sich: wie gemein der Mann plötzlich lachen konnte. Ein gallig bitterer Ekel vor sich selbst wollte in Dorchen wachwerden.

»Gabst du mir denn nicht, weil du mich liebhast?« forschte sie mit gramvoll verzogenem Munde.

»Selbstverständlich,« lenkte er ein, denn nun tat sie ihm doch leid. »Sieh mal: das mit dem sich selbst zurückgewinnen, das ist doch nur Flause.«

»Nein, schwerer Ernst war mir's damit,« wehrte sie, entsetzt, daß er sie so niedrig stellte. »Ich bekam Furcht vor meinem Blute.«

»Ach, ich verstehe … weil ich dir einmal sagte, du hättest weniger Talent für die Bühne, desto mehr Anlage aber zum – – Weibchen …«

»Weibchen – ich wußte nicht, wie du das meintest. Aber meine Kolleginnen erklärten es mir. Der Zeunlein drückte es deutlicher aus; er sagte: Hündin! – Ja, und davor habe ich Angst, denn ich meine immer – du und er, beide hättet ihr recht.«

Sie schlug erschauernd die Hände vors Gesicht. Den Mann mit den Brillantringen fing das Gespräch zu langweilen an.

»Lassen wir doch diese stumpfsinnigen Erörterungen, die mit der Sache nischt zu tun haben,« warf er hin. »Ich verlange von dir nur eine klipp und klare, bündige Erklärung: du machst mich für nichts verantwortlich, im Falle – – na, du weißt ja.«

Sie richtete sich stolz auf, alles Mädchenhafte fiel von ihr ab wie ein Mantel. So stand sie vor ihm und sah ihm in die Augen, die er niederschlagen mußte in seiner Feigheit.

»Ein Kind bin ich nicht mehr … das verstandest du mir klüglich zu nehmen. Geschenke – Kleider – gut, damit machtest du mich – – zum Weibe, zum Weibchen noch nicht ganz. Und so sagt dir das Weib: Nein und tausendmal nein, zu dieser Erklärung bringst du mich nicht. – Du tatest, als kenntest du nur Ehre, Gewissen, nur Grundsätze und nur Redlichkeit. Und dabei halte ich dich. Gebe der Himmel, daß es mir erspart bleibt … verantwortlich aber machen muß ich dich!«

Sie wollte ihm die Hand auf die Schulter legen. Er aber schleuderte den Arm fort und wich knurrend zurück; ein feiger Hund, der den Schlag fürchtet und dennoch in seiner Angst die Zähne bleckt.

Da wandte Dorchen sich und verließ das Zimmer.

»Keine Zeugen!« knirschte er hinter ihr drein, als ihm beikam, er könne nichts nachweisen, was des Mädchens Ansprüche an ihn zu widerlegen imstande wäre. »Na warte, die Zeugen weiß ich mir zu schaffen!« –

Daheim wanderte Dorchen rastlos und ruhelos in dem engen Stübchen auf und ab. Der gelbe Holzkoffer »Dorothea Weihrauch, Schauspielerin« stand da und klaffte das Maul. Auf dem Bette gestapelt lagen die Kleiderchen, die sie mit Mutter Guckes zusammengestoppelt. War das wirklich erst ein Vierteljahr her? Und was würde die alte Frau sagen, sah sie die Seidenblusen und Atlasröcke, das Taftkleid und die Spitzenunterröckchen, die feine, dünne, fast durchsichtige Wäsche?

Als wolle Dorchen sich von der Qual dieses Nachdenkens befreien, indem sie die Sachen außer Gesicht schaffte, stopfte sie armvoll den Kram in den gelben Holzkoffer. Da war auch ein langes Nachtkleid … sie hatte es noch nicht getragen, denn das brachte Müller am zweiten Abend mit, breitete es über das Bett: »Sieh, so etwas mußt du anhaben, wenn ich mitkomme!«

Dies Nachtkleid legte sie beiseite, als käme ihr ein Entschluß.

Im Grunde genommen: was wollte sie von ihrem »Freunde«? Hatte er nicht lange vor der ersten Nacht gesagt, was er heute sagte? … nur nicht so brutal und rüdig, nicht so kalt, vielmehr mit dem Ausdruck aufrichtiger Bekümmernis hatte er davon gesprochen: es könne freilich nur eine Freundschaft bleiben, immer, auch beim letzten. – Lag nicht doch die Schuld bei ihr? Warum war sie darauf eingegangen, als er ihr das Blut so heiß gemacht, daß sie nur noch ein Begehren kannte – – ihn oder Zeunlein!

Laborius Zeunlein … den hatte sie seit jenem unseligen ersten Augusttage nicht wiedergesehen. Und der war auch nicht mehr der Mann, den man gewinnen konnte. Aber der Müller – der war feige, ein gut Teil charakterloser als der Uhrmacher. War er nicht stets weich, nachgiebig und wie Wachs in ihren Händen gewesen? Nun gut, jetzt zürnte er … vierzehn Abende lang hatte er vergeblich gebettelt. Aber morgen? … wenn sie ihn morgen fest zu gewinnen trachtete …?

Wie hatte doch die Alte im Theater gesagt, die nicht damit fertig werden konnte, auch sie wäre einmal jung und schön und begehrenswert, aber auch begehrenstoll gewesen? … Sie sagte: »Den ersten liebt man mit guten Vorsätzen, den zweiten mit Grundsätzen; aber die dann kommen, die liebt man ohne Vorsatz, ohne Grundsatz, ja nicht einmal mit Vorbehalt – nur weil man in ihnen das Leben und Lieben liebt. Dann wird man eine alte Vettel und lernt von der Gage leben.«

Furchtbar! … nein, soweit durfte es nicht kommen. Sie mußte den Müller an sich fesseln … noch war die Zeit der Grundsätze, da ihn ihr guter Vorsatz zu ernüchtern drohte. –

Am Tage darauf der Abschied aus dem Uhrmacherhäuschen, er war bitter und voller Verächtlichkeit.

Nur Frau Zwiebel stand mit offener Hand da und wartete auf das Trinkgeld.

»Der Herr Zeunlein hat sei Lädche zugemacht unn is in de Taunus,« sagte die Alte. »Den Hausschlüssel solle Se mir abliefern – oder wenn en der Herr noch hätt, soll der en bringe.«

Sie schien von dem gespendeten Dreimarkstück der jungen Dame mit dem reichen Liebhaber nicht sehr erbaut zu sein; denn sie sah untätig zu, wie Dorchen den gelben Holzkoffer »Dorothea Weihrauch, Schauspielerin« allein die Stiege hinabschleifen wollte.

»Rungeniern Se doch net em Herr Zeunlein sei Trepp!« schnauzte sie das Mädchen an. »Rufe Se sich halt de Kutscher eruff, der kann Ihne ja trage helfe.«

Erst im Zuge kam die Ruhe über Dorchen. Sie war heiter und gesprächig und überbot sich in Freundlichkeit gegen Müller. Der ließ denn auch sein zugeknöpftes Benehmen fallen.

»Es freut mich, daß du vernünftig geworden bist,« lobte er zufrieden.

Sie drängte sich an seine Seite: »Ich will's auch bleiben. Nur vor dem nüchternen Abschied auf dem Frankfurter Bahnhof fürchte ich mich.«

Er zuckte die Achseln: »Nicht meine Schuld.«

»Doch aber auch nicht die meine,« schmeichelte sie. »Solltest du wirklich gar nicht daran denken, daß wir nicht allein bleiben konnten in dem Uhrmacherhäuschen, nachdem dich der Zeunlein gesehen?«

»Hm … ja. Richtig – das bedachte ich bis zur Stunde wahrhaftig nicht. Sollte ich dir etwa unrecht getan haben?« Er sah sie neugierig und verwundert an, eindringlich fragend: »Wäre dir denn ein – hm – anderer, schönerer Abschied lieber gewesen … trotz deiner Grundsätze?«

»Tausendmal lieber,« hauchte sie in geschickter Schauspielerei und drückte ihr Gesichtchen an seine Schulter.

Da legte er langsam, mißtrauisch den Arm um ihre Mitte.

»Na, dann war's ja gut, daß ich dem Schaffner ein Trinkgeld gab – drei Viertelstunden, bis Frankfurt, bleiben wir allein.«

»Ach, das wäre nicht der Abschied, den ich meine,« sagte Dorchen; dann schwieg sie eine Weile, innerlich zitternd, ob ihr die Rolle auch gelinge. Dann hob sie ihren Mund dicht an Müllers Ohr und flüsterte nach einem Küßchen auf die weibisch zierliche Ohrmuschel verführerisch: »Mußt du denn unbedingt heute noch nach Homburg zurück? Bleib' doch in Frankfurt diese Nacht.«

»Es ist wie damals – du bist die Kirke,« stellte er ernsten Gesichtes fest. In seinen Augen aber glimmerte spöttisches Selbstzufriedensein.

»Kirke … wer ist das?«

Und nun mußte er doch lachen: dies kleine Mädel wußte auch gar nichts. Gut, dies kam seinen Absichten nur entgegen.

»Kirke war eine Zauberin, die Männer verführte,« erklärte er. »Was wird aber deine Mutter sagen, wenn du gleich am ersten Abend davonläufst?« wendete er vorsichtig ein.

Nun legte sie beide Arme über seinen Schoß und faltete so die Hände.

»Für Mutter komme ich erst morgen heim,« sagte sie entschlossen.

Er leckte lüstern über das blonde Schnurrbärtchen und lächelte eitel – denn er gewahrte nicht, daß tiefe Scham rot über Dorchens Wangen flüchtete.

»Und du denkst, das geht so leicht?« fragte er; aber nur scheinhalber, denn er hatte seinen Plan schon seit gestern bei der Hand.

»Ach, tu doch nicht, als wüßtest du dir – nein, uns! – nicht zu helfen!« Sie dachte nur noch an die erschreckende Möglichkeit: ein Kind. Es gab kein Weichen vor der letzten Sicherheit, wollte sie sich schützen vor dem Unglück, mit einem Kinde verlassen zu sein.

Er nahm Dorchens Anmerkung für einen Scherz, denn er verkannte die Bitterkeit, die in ihrem Lachen überquoll.

Von da an schwiegen beide in zitternder Erwartung. Er brannte vor Vergnügen … sie heckte alle möglichen Absichten aus, ihn an sich zu binden. Und sie sah heimlich nach ihrer Reisetasche hinauf: das seidene Nachtkleid. Sie hatte Fürsorge getroffen … und nun war schon halb geglückt, was sie so schweren Herzens beschlossen.

Auf dem Frankfurter Bahnhof mußten sie warten, bis das Reisegepäck ausgeladen war. Müller ließ sich einen schweinsledernen, höchst vornehmen Handkoffer aushändigen. Erstaunt gewahrte Dorchen, daß der Freund noch allerlei andere, große Gepäckstücke mit sich führte. Auf ihre Frage erklärte er: er müsse ja doch anfangs Oktober in Zürich auf der Universität sein, und da wolle er gleich die Gelegenheit heute benützen, in Frankfurt den Hauptteil seines Gepäcks aufzugeben, um alles vorzufinden, sobald er nach der Schweiz käme.

Nachher nahmen sie eine Droschke. Müller nannte dem Kutscher ein Gasthaus in der Alten Mainzer Gasse. –

»Wen darf ich eintragen?« erkundigte sich dort der unverschämt blickende Kellner, hielt das schmierige Fremdenbuch hin und leckte augenzwinkernd am Bleistift.

»Gutsbesitzer Fritz Nakel nebst Gemahlin,« wies Müller ihn an und steckte dem Menschen ein Trinkgeld zu.

Der Kellner schrieb. »Gnädige Frau – Herr Gutsbesitzer …!« Er verbeugte sich mit widerlicher Höflichkeit und scherwenzte frech aus dem Zimmer.

Bangklopfenden Herzens stand Dorchen am Fenster. Der Abend lag schon tiefdämmernd in der engen, schmuddeligen Gasse. Gelles Kindergekreisch hallte herauf, und manchmal eine keifende Weiberstimme. Irgendwo in einer Kneipe plärrte ein Orchestrion: Denke dir, mein Liebchen, was ich im Traume gesehn …

Müller entnahm seinem Handkoffer einiges und summte dabei die läppische Walzerweise mit.

»Ich fürchte mich in diesem Hotel,« gestand Dorchen plötzlich. »Es ist alles so unfreundlich, verwahrlost, und es stinkt förmlich nach Patschuli.«

»Mein Himmel – meinst du denn, Leute wie wir hätten da groß Wählen?« schnauzte mürrisch der Mann mit den Brillanten.

»Und dann – –«

»Ach, nun nöle doch nicht – ich habe dir nachgegeben – nun sei froh, daß es ein Dach überm Kopf ist. Besser: überm Bett. Bei Zeunlein war deine Angst am Platz. Hier ist sie nur sehr überflüssig.«

Sie fühlte, daß sie ihn auf keinen Fall verstimmen dürfe, wollte sie ganz zum Ziele kommen. Und so zwang sie sich zur Heiterkeit.

Als später der Kellner Wein und ein reichliches Abendessen aufgetragen hatte, ward Dorchen besserer Laune, denn auch der Hunger hatte ihr zugesetzt … der seit gestern leere Magen. Heimlich aber beschloß sie, nichts von dem Weine zu genießen … sie mußte klaren Kopf behalten. Und nun ordnete sie den Tisch gemütlicher, als der schlampige Kellner das getan.

»Ich möchte die Rechnung begleichen, um morgen früh ohne Aufenthalt zu sein,« sagte Müller dem Kellner. »Wir reisen um halb neun.«

»Sehr wohl,« scherwenzte der Kellner und zählte aus dem Gedächtnis die Summe zusammen.

Müller gab ihm einen Hundertmarkschein hin. Als der Kellner die Herausgabe auf den Tisch gezählt hatte, bekam er abermals ein Trinkgeld. Müller aber strich den Rest der Summe vom Tisch in die Hand und trug das Geld zu Dorchen hinüber.

»Da, Frauchen – dein Taschengeld,« bestimmte er und ließ die Münzen in des Mädchens Schoß klirren. Und zum Kellner gewendet, rühmte er sich: »Bin ich nicht ein nobler Herr Gemahl, Ober?«

»Sehr, sehr nobel, ganz außerordentlich!« würdigte der Kellner ernst die ungefähr achtzig Mark; aber mit einem zweideutigen Augenzwinken nach Dorchen fügte er hinzu: »Na ja, Herr Gutsbesitzer Nakel – Frau Gemahlin aber auch beneidenswert flott!« Dann erkundigte er sich nach weiteren Befehlen, wünschte eine angenehme Nacht und ließ das Pärchen allein.

»Warum sagtest du, daß wir um halb neun reisen würden?« forschte Dorchen.

»Weil um diese Zeit ein Zug von Homburg kommt – deine Mutter muß dir doch glauben können –«

»Ach so, ich verstehe,« lachte Dorchen. »Wie schlau du bist – ich hätte an so etwas nicht gedacht.«

»Na, und außerdem muß ich selbst ja mit dem um neun Uhr nach Homburg gehenden Zuge zurück.«

Dorchen errötete, als er gleich danach anfing, sich zu entkleiden …

Am andern Morgen. Der Kutscher war erst ein paar Häuser weit gefahren, als Müller plötzlich erschrocken an seine Brusttasche griff. Dann klopfte er wütend gegen die Scheibe: »Kutscher, halt – so halten Sie doch, zum Donnerwetter!«

»Was ist denn?« fragte Dorchen verwundert.

»Mein goldenes Zigarettenetui – ich ließ es auf dem Stubentisch liegen,« rief er erregt. »Schnell, Kind … lauf du zurück, denn ich muß doch nur wieder Trinkgelder geben.« Er drängte sie förmlich aus dem Wagen, und dem Kutscher befahl er: »Wenden Sie doch, Sie Esel, und fahren Sie langsam hinter der Dame her!«

Eine schlumpige Person war in dem Zimmer beschäftigt mit dem Abziehen der Betten.

»Was liege gelasse? Hier hat nix gelege!« pöbelte das Frauenzimmer Dorchen an.

»Aber mein Mann weiß doch bestimmt –«

»Hähä, Ihne Ihr Mann – ich versteh immer: Ihne Ihr Mann … lasse Se sich net auslache!« rief die Schlumpe. »Wenn hier was gelege hätt, läg's noch da.«

»So helfen Sie doch suchen,« drängte Dorchen.

»Mache Se jetzt net bald, daß Se enaus komme?« schrie die Person und griff drohend nach dem Besen. »Hier is nix unn war auch nix, unn ich hab nix gefunne oder genomme. Sage Se nor Ihr'm sogenannte Herr Gemahl, er soll selwer suche komme. Ich wer'n em schon weise …«

Ganz verzweifelt lief Dorchen aus dem Hotel, in dem sich kein Mensch um sie kümmerte. Sie begriff die Aufregung Müllers, denn sie kannte das Goldetui als ein Stück, auf dessen Besitz er sehr stolz war. Draußen sah sie nach dem Wagen aus – er war nirgends zu finden. Ein paar Weiber standen klatschend beisammen.

»Verzeihung, hier hielt doch eben eine Droschke?« sprach das Mädchen die Frauen an. »Sahen Sie vielleicht –«

»Die Kutsch? Ei, die is schon längst im volle Kajecker die Gaß enunner,« sagte eine und musterte mit offenem Munde das hübsche Geschöpf.

Es war dem Dorchen, als glitten alle Häuser vornüber. Der Himmel über der engen Gasse schien schwarz zu werden. Dort neigte sich der Weg wie in die Tiefe, so steil, daß Dorchen ihn willenlos hinabtaumelte …

»Die is wohl schon in aller Herrgottsfrüh besoffe,« rief eines der Weiber hinter ihr drein.

Das Warten an den abdampfenden Homburger Zügen hatte den Entwischten nicht zurückgebracht. Da biß Dorchen die Zähne zusammen. Feigheit und Selbstmord? … nein, das durfte sie der ahnungslosen alten Frau in Bockenheim nicht antun. Die hatte schon zuviel im Leben tragen müssen. Aber der Schuft! Nun, was war leichter, als ihn in Homburg aufzutreiben; wenn nicht in Homburg selbst, dann von Homburg aus anderswo. Die Frage war nur, ob solch ein Lump es wert sei, daß man sich noch um ihn kümmere. Und in dem tiefen Ekel vor der Erbärmlichkeit und Feigheit dieses Menschen vergaß Dorchen, sich mit aller Gewalt zum Handeln zwingen wollend, sogar das Grauen vor dem Gespenste ihrer Unehre: … ein Kind? … was dann? Denn was auf die geschändete Seele einstürmte, mußte zurückgescheucht werden. Es gab nur noch den Weg zur Mutter … ein Verkriechen hinter dem Ladentisch, ein Verstecken in der Enge des Stübchens hinter dem Laden … bis alle Nerven ausgetobt und ruhiger waren … dann fing das Leben von neuem an. Und diesmal sollte es kein Irrweg sein. Tief gestürzt und doch nicht zerschmettert … es gab noch einmal ein Hinauf! …

Gut, daß Abend ward – Dorchen brauchte nicht im Hell vor die Mutter zu treten.

»Kind – Kind – ja, was is denn, du siehst ja aus wie e Geist?« rief Mutter Guckes.

»Ich hatte Ärger, Mutter,« flüsterte das Mädchen müde und hing am Hals der Frau.

»Wo warst de denn nur? De ganze Tag hab ich auf dich gewart' …«

Dorchen hob den Blick: »Wußtest du denn – –«

»Heut vormittag is doch schon dei Handtasch gebracht worde, e Brief war auch dabei. E Dienstmann war da, hat awwer weiter nix gesagt.«

Dorchen hatte etwas in der Stubenecke zu tun, um die brennende Röte im Gesicht zu verbergen.

»Die Handtasche, Mutter, die schickte ich vom Bahnhof voraus. Ich wollte ja gleich zu Goldstaub gehen, ob er ein neues Engagement für mich hätte. Und der Brief war doch für dich. Hast du ihn denn nicht gelesen? Ich schrieb dir doch, daß ich erst am Abend heimkäme. Wo ist er denn?«

Während sie alle Kraft aufwendete, um das belanglos so hinzusagen, suchte sie mit irr huschenden Augen nach dem Briefe, bereit, ihn der Mutter aus der Hand zu reißen, falls die alte Frau ihn öffnen wollte. Und sie wunderte sich: Wie leicht das Lügen war!

Da ging glücklicherweise die Ladenschelle. Frau Guckes verließ das Stübchen, nachdem sie auf die Kommode gedeutet hatte: »Ich hab gemeint, es wär e Briefche für dich, drum hab ich en unner die Deck da gelegt.«

Mit flatternden Händen riß Dorchen den Umschlag auf und las:

»Wertes Fräulein! Um Ihnen alle Möglichkeiten zu nehmen, unsere Abmachungen über den Haufen zu werfen, bezahlte ich Sie. Der Kellner im ›Eisernen Hut‹ ist mein Zeuge. Auch einige Ihrer Homburger Kolleginnen, deren Adressen ich mich versicherte, dürften ähnlich aussagen können. Ich unterlasse nicht, Ihnen zu danken. Denn Sie selbst hatten zunächst wohl nicht die Absicht, sich bezahlt zu machen, bis Sie gestern abend das Geld annahmen. Wollen Sie sich bei diesen, mich vor allen Ansprüchen schützenden Tatsachen außerdem noch stets vor Augen halten, daß ich Sie nicht um Ihre Bereitwilligkeit zur Preisgabe anging, sondern daß Ihre Bereitwilligkeit durchaus, wie vom ersten Male an, so auch gestern, lediglich Ihrem freien Willen entsprang.«

Eilig mit Bleistift hingekritzelte Zeilen mit unleserlicher Unterschrift. Dorchen vernichtete den Zettel und konnte sogar, wenn auch mit weißen Lippen, freundlich lachen, als Mutter Guckes aus dem Laden kam.

 

Seit jenem Ulk mit dem Krebs ging es in der Weißen Eule gesittet zu. Es wurde Karten gespielt, und wenn das vorüber war, packte Karl Heim die Zither aus. Der Adam Schlemper brachte eine Gitarre mit, und der eine oder andere sang dazu. Nicht immer blieb es bei sanften Liebesliedern, gar manchmal gab's auch kecke Strophen. Dann guckten die jungen Kerle nach Elisens Gesicht: sah sie gar zu ernst drein, so versöhnte und beruhigte man sie durch die »Teure Heimat oder »Röslein auf der Heiden« …

Eine seltsame Veränderung machte sich bei Laborius Zeunlein bemerkbar. Er hielt sich dem gemütlichen Treiben in der Kneipe nicht gerade fern, saß aber doch am liebsten allein in der gewohnten Ecke. Nur trank er anstatt des Bieres jetzt immer Schnaps. Danach lachte er denn manchmal häßlich auf und sprach laut mit sich selbst – unverständliches Zeug, das niemand begriff. Weil er jedoch nicht störte und auch ruhig blieb, sobald gesungen wurde, gewöhnte man sich an seine neue Art und ließ ihn ungeschoren.

Nur Elise achtete auf den merkwürdig veränderten Mann. Sie trug sich mit Besorgnissen, wie ihr mütterlich den Menschen zugetanes Herz begehrte, und sie hatte sich vorgenommen, ernsthaft mit Zeunlein zu reden. Sie unterschied mit ihrem feingearteten Weibsinne, daß es sich bei dem Uhrmacher um einen Kummer handeln müsse; und da das Theater nicht mehr spielte, dies Fräulein Dorchen längst aus der Stadt war, so quälte den Laborius gewiß nichts anderes als das Liebesleid. Sie wollte versuchen, ihm das auszureden.

Friedebert Weihrauch war auch ein paar Tage blaß umhergelaufen, hatte geseufzt und still hinter seinem Bierglase gesessen. Bei dem hatte sich das schnell gelegt; er taute bald wieder auf und machte eine stumm abwehrende Handbewegung, wiegte den Kopf und zog die Schultern hoch, als Elise ihn fragte: ob er denn von Fräulein Dorchen noch manchmal höre.

Daß der Tischler die Trennung so ruhig überwunden, erfüllte Elisens Herz mit ungetrübtem Frohsein. Nun war es denn auch an der Zeit, mit Friedebert einig zu werden. Sie hatte sich das in den Kopf gesetzt, und sie wollte zum Ziele gelangen … weil sie glaubte, dieses Zieles sicher zu sein. Aber die Weiße Eule konnte der Wirtin nicht entraten; einen Tag wie den andern mußte die Wirtschaft offen sein, einen Abend wie den andern mußte Elise Reul den Gästen dienen. Da gab es keinen Sonntag, keinen Feiertag, keine Kirche … geschweige denn einen Weg durch Gottes freie Natur. Und was konnte man vor andern Leuten schon von seinem Herzen reden? Gingen die Bierbrüder wirklich einmal eine halbe Stunde vor Feierabend, und machte sich der laut mit seinem eigenen Ich redende Zeunlein auf die Socken – –, dann glaubte auch der dumme Tischler, er müsse gehen.

Elise sah hinüber zu ihm. Da saß er mit dem hübschen, dummen Gesichte und erwiderte kopfnickend ihr freundliches Zulachen, indessen sich die andern bei den Karten stritten, wer falsch ausgespielt hätte. Elise winkte Friedebert zu sich; er brauchte wahrhaftig lange genug, bis er sie verstand. Dann kam er zögernd. Seit jenem Morgen, an dem er den Faßbock gebracht, duzten sie einander.

»In letzter Zeit haben sie sich angewöhnt, hier in der Gaststube nach Eßbarem zu fragen,« hob Elise an. »Ich muß dann immer erst in die Küche. Und während ich dort zu tun habe, gehen mir die Spitzbuben ans Bierfaß, zapfen sich selbst und freuen sich nachher, wenn sie mich um ein paar Glas betrügen können. Ich merk's freilich doch, wenn ich nachrechne, was das Faß an Gewinn brachte. Dann wasche ich ihnen den Kopf, und sie zahlen mit Lachen nach. Lieb aber ist mir diese Einrichtung nicht. Und darum hätte ich an der Wand hier hinten gern so eine Art Schrank, flach, mit Luftlöchern und so.« Sie hielt inne und dachte: mein Gott, wieviel muß man reden, wenn man's schlau anfangen will! Dann sprach sie ein wenig unsicher weiter: »Möchtest du nicht mal mit in die Küche kommen, Friedebert? Wenn du dir dort das Geschirr angesehen hast, weißt du besser, wie tief der Schrank werden soll, damit er mir hier nicht so arg Platz wegnimmt.«

»O, das weiß ich auch so,« behauptete er und guckte die Wand an statt das Mädchen. »Fünfunddreißig tief – und zwei dreiteilige Klapptüren, damit du sie zusammenlegen kannst beim Aufmachen … das wird wenig Raum brauchen.«

Elise errötete. Er war wirklich hölzern wie der Faßbock, den er gebracht.

»Es wäre mir aber doch lieber – in der Küche kann ich dir leichter erklären, wie ich den Schrank innen gern eingerichtet hätte.«

»Jenun, jetzt ist gerade viel zu tun – vor Weihnachten könnten wir ihn ja doch nicht liefern.«

Sie wollte ärgerlich werden: dies Abweisen war so demütigend. Sie beherrschte sich aber und legte die Häkelarbeit fort.

»Na, miß wenigstens mal hier die Wand ab,« bat sie. Die andern sollten sehen, daß es sich um geschäftliche Dinge drehte, wenn sie den Friedebert nachher mit in die Küche nahm.

Der Tischler zog einen gelben Zollstock hervor und nahm allerlei Maße, die er sich in ein Büchelchen aufschrieb.

Elise tat dabei sehr wichtig und luste nach den Bierbrüdern … die schöpften keinen Verdacht. Da zog sie den Hanstaps flink in die Küche. Dort brannte nur ein klägliches Küchenlämpchen. Elise Reuls dralle Brust hob und senkte sich stürmisch. Nun war guter Rat teuer – wie sollte sie's anfangen?

»Sieh, da in dem Schrank ist das Geschirr und der Topf mit Handkäschen, das Brot, der Schinken, die Wurst – und so weiter,« schilderte sie mit vor Furcht und Ratlosigkeit trockenem Munde.

Friedebert besah sich alles sehr ernsthaft: »Fünfunddreißig Zentimeter Tiefe ist reichlich,« versicherte er und wollte wieder in das Notizbuch schreiben, das er zu diesem Zweck auf den Küchentisch legte.

»So laß doch!« brummte Elise und hielt die Hand auf das Büchlein. »Merkst du denn gar nicht, Narr, daß ich – daß ich –«

Sie rang mit Worten, die ihr einfielen und schon wieder von hinnen waren.

Endlich begriff er und staunte: »Ach – Elise …«

»– – nur mit dir allein sein wollte,« ergänzte sie tapfer, als ihr endlich die Worte wiederkamen. Das große starke Mädchen flog an allen Gliedern.

Er trat ihr langsam näher und stotterte: »Ich – ich – ich bin …«

»Sag' mir doch, daß du mich liebhast,« bettelte sie und ward schwach.

»Ja, Elise, ja – das ist wahr – ich habe es noch nie bemerkt – aber jetzt – –«

Ach Gott, er war ja so leicht umzustimmen, der Friedebert, wie er denn immer nur das tat, was andere Menschen ihm einredeten, und wäre es Gott weiß was gewesen …

»So, du merkst es jetzt,« flüsterte Elise zufrieden. Einen angstvollen Augenblick wartete sie noch, ob er sie küssen werde; aber er stand nur da und guckte sie an, wie ein Kind den Christbaum.

Da fiel sie lechzend über ihn her, mit einem kleinen Schrei und mit liebkosenden Händen … in diesem Augenblick Weib, ganz Weib. Dennoch vergab sie sich nichts, wenigstens nicht allzuviel – – – dem Friedebert schien auch nicht danach.

Mit dem Gefühle des Sattseins vor Glück saß sie nachher neben dem Fasse. Ruhiger Hand führte sie den Häkelfaden und lächelte nur manchmal leis, unmerklich zu Friedebert hinüber. Der thronte stolz auf seinem Platz und trug das Haupt höher und sah auf die andern herab: Was wißt ihr! … gar nichts … aber ich! …

»Die Treppe hinab und einen Eimer Wasser drauf – Hund und Hündin!« sagte Laborius Zeunlein laut und hieb mit der Faust auf den Tisch.

Es ward einen Augenblick still in der Weißen Eule, und alle sahen nach dem Uhrmacher hin.

»Ja, meine Herren – das Richtige fällt einem immer zu spät ein,« gestand Zeunlein, antwortend auf die fragenden Blicke. »No, schadt nix und badt nix … zu spät is zu spät.« Er lachte grimmig. »Elise, noch einen Schnaps!«

»Sie haben für heute genug, Herr Zeunlein,« entschied das Mädchen.

Der Uhrmacher sah sie zuerst verblüfft an, dann griff er in die Tasche und schlug eine Handvoll Münzen auf den Tisch: »Haben Sie plötzlich Angst, ich könne nicht zahlen? Hier! Mehr als genug, daß sich einer damit totsaufen kann.«

»Ich gebe Ihnen nichts mehr,« blieb Elise bei ihrer Weigerung; aber sie sagte es im Tone einer herzlich Bittenden.

»Nicht …?« Er starrte auf das Geld, dann strich er es plötzlich ein und stand auf: »Gute Nacht miteinander.«

Draußen schritt er laut scheltend durch die Gassen der Altstadt und suchte den Weg zur »Grünen Flasche« … zum ersten Male. Das war eine Schnapskneipe für die Fuhrknechte und lag draußen am Eck des Glockensteinweges.

 

Seltsam früher Herbst ging über den Taunus. Die Bäume ließen die gilbenden Blätter fallen, eh man's gedacht. Das war gerade, als hätten sie sich besonnen und wären auf einmal müde geworden, an ihrer Last zu tragen. Nun streuten sie alles auf das vor Frost trocken bleibende Erdreich hin, alles, was ihnen überflüssig geworden war an Laub und dürren Zweigen.

Dabei blieb der Himmel blau und klar, wenn er des Morgens den Dunst zu sich aufgehoben. Unnahbare Klarheit, in der der Frost zu hängen schien, tückisch sich der alten Mutter Erde zu bemächtigen. Die Bauern sagten, es würde ein früher und grimmer Winter werden, da der Herbst so ohne Regen und Feuchtigkeit blieb.

Auf der Dornholzhäuser Landstraße daher, von der Saalburggegend kommend, wie auch auf der Großen Allee über die Elisabethenschneise knarrend, rumpelten die Bauernwagen mit Holz; Buchenklötze, Tannenscheite, Eichenprügel, auch viel Reisigwellen. Und die Kleinbauern fuhren mit den mageren Kühlein und den Leiterwägelchen in Homburg umher und schrien ihr halb klagendes, halb gellendes »Tannnn – äppeeeel!« Diese Tannäpfel waren gut zum Feueranmachen.

Elise Reul ward vom Herbsten nicht viel gewahr: sie lebte ihrem Liebesfrühling. Dennoch sorgte sie klüglich, daß es Winters warm sei in der Weißen Eule, kaufte Holz ein und ließ den Keller voll Kohlen tragen.

Dem Mädchen war die sich mählich in den Winter hinüberdämmernde Erde ein großes Glück geworden. Freilich mußte sie arg dahinter her sein, dies Glück zu gestalten, denn der Friedebert war doch ein gar Zager und überaus unbehilflich. Doch er lernte nicht allzu schwer und wußte um die Oktobermitte längst, daß das Verliebtsein auch ein Verliebttun erfordere mit Küssen und allerlei Handgreiflichkeiten. Er nahm das aber nicht so ernst … wie immer, tat er nur, was man von ihm verlangte.

Elise fragte in ihrer Sehnsucht nicht danach, wie es dem Tischler wirklich ums Herz wäre … sie genoß den Vorabend des Glücks und damit war sie einstweilen zufrieden. Nicht so zufrieden, daß sie sich begnügt hätte – o nein, ihr Blut hatte es gar eilig und drängte auf das Letzte und Beste und Schönste. Und da der Friedebert in seiner Seeleneinfachheit das Dasein so nahm, wie sich's gerade gab, mußte Elise in ihrer Sehnsucht nach Erfüllung sich entschließen, mit Vater Schorsch und Mutter Sinchen zu reden, damit man zur Hochzeit rüste. Selbstverständlich konnte das nicht geschehen, ohne daß sie sich mit Friedebert über den Weg zu seinen Eltern geeinigt hatte.

An dem Abend jedoch, an dem das geschehen sollte, blieb er der Weißen Eule fern; und auch den folgenden Abend kam er nicht. Tagsüber fand Elise keine Zeit, sich den Kopf darüber zu zerbrechen; sie hatte einen neumodischen Füllofen angeschafft, weil sie erfahren, daß der sehr an Feuerung spare, außerdem aber die Gaststube reinlicher halte, als das Hitze spuckende und danach rasch erkaltende, hohe Eisending aus Jean Reuls Zeiten. Das Abbrechen des einen und das Aufstellen des andern Ofens machte allerlei Wirtschaft, Schmutz und Putzerei. Und so hoffte denn Elise, der Friedebert käme am dritten Abend.

Aber auch da blieb er aus! …

Und dahinter stak das Verhängnis. Dies Verhängnis hieß – – Dorchen.

Als nämlich der Oktober begonnen, konnte Dorchen Guckes nicht länger im Zweifel sein, daß Dorothea Weihrauch dem Manne mit den Brillantringen ein Andenken verdankte, das sich nicht länger verhehlen ließ. Diese Erkenntnis war furchtbar für die so schuftig Verlassene. Und es gab nun auch keine beschönigende Hoffnung mehr. Die Freundinnen Dorchens – die im Frankfurter Stadttheater – wußten besser Bescheid als sie selbst. Mutter Guckes aber würde nun bald auch nicht länger glauben wollen, das Erbrechen käme von einem verdorbenen Magen her … es stellte sich zu oft ein …

Da überstand Dorchen Nächte des Entsetzens, und im Peinigen ihrer Angst entschloß sie sich, nach dem abtrünnigen Halunken zu suchen. Wenn er nicht sonstwie zu gewinnen war, vielleicht ließ er sich bei der Ehre packen. Ein nach Zürich mit der Universität als Abgabeort und an den »Herrn Studiosus Wilhelm Müller« gerichteter Brief kam zurück: Adressat hierorts unbekannt. Nun gut, aber der Onkel in Homburg, bei dem der Neffe zu Besuch geweilt, der mußte doch sagen können, wo der Feigling zu finden wäre. Falls der Mann mit den Brillantringen nachher nicht auf Briefe einging, auf Bitten und Flehen schwieg, wollte Dorchen zu ihm reisen, ihm ihren in Unsegen gesegneten Zustand vorführen.

Zunächst denn machte Dorchen sich nach Homburg auf.

Im »Taunusboten« empfing sie ein freundlicher alter Herr, der sich ihrer sofort erinnerte, nachdem sie sich als Dorothea Weihrauch zu erkennen gegeben.

»Aha, das Sonnenkind,« sagte der Zeitungsbesitzer erfreut. »Ich hoffe, Sie haben damals gelesen, was ich über Sie schrieb? Sie sahen immer so entzückend aus auf der Bühne. Und da mußte ich Ihnen mal ein Lob spenden. Weil aber wegen Ihrer allzu kleinen Rollen sich künstlerisch nichts sagen ließ, hob ich denn Ihre menschlichen Vorzüge hervor und nannte sie: das Sonnenkind. – Na, nun sehen Sie ja schon nach der kurzen Zeit gereifter aus.«

Dorchen saß mit einem erstarrten Lächeln da: neben der andern Erbärmlichkeit nun auch noch diese Lüge Müllers! … denn damit hatte er sie am meisten für sich eingenommen gehabt.

»So, das schrieben Sie selbst,« stellte Dorchen fest, um sich zu überzeugen, daß sie richtig verstanden.

»Jawohl, und ich hoffe, ich habe Ihnen damit eine Freude gemacht, Fräulein Weihrauch?« Der alte Mann begriff die Entgeisterung nicht, die wie eine wächserne Maske des Mädchens Züge überzog.

»Oh, sehr viel Freude – und ich danke Ihnen nachträglich. Ich war des Glaubens, Ihr Neffe hätte das über mich geschrieben … wenigstens ist mir so, als hätte er mir einmal davon erzählt.«

Der Alte sah über die Brille hinweg die Besucherin an: was war denn das für ein wunderliches Menschenkind?

»Ich bin im Zweifel, ob wir einander verstehen,« sprach er langsam, ein wenig unsicher. »Bis auf weniges in meiner bescheidenen Zeitung stammt alles aus meiner Feder, auch die Theaterkritiken … ja, und einen Neffen? Wenigstens hier in Homburg habe ich keinen.«

»Ganz recht – er war den Sommer über bei Ihnen zu Besuch.«

Der alte Herr erhob sich. »Ich fürchte sehr, daß ich Ihnen eine Enttäuschung bereiten muß,« schickte er voraus, denn allmählich kam ihm ein großes Begreifen: das bleiche junge Ding da … die Wangen so hager … die Augen so brennend … da mußte irgendein Leid sein. »Ich habe in diesem Sommer keinerlei Besuch gehabt, und mein Neffe ist im Ausland.«

Dorchen klammerte sich an die letzte Hoffnung: »Ganz recht – in der Schweiz, wo er studiert …«

»Nein, nein!« wehrte der Zeitungsmann, und sein gutmütiges Gesicht wurde dunkel vor Zorn. »Es scheint, man hat sich meiner bedient, um Gott weiß was für einen Schwindel auszuhecken. – Wie hieß denn der Herr?«

»Wilhelm Müller,« hauchte Dorchen verzagend.

»Ich kenne niemand dieses Namens,« bezeugte der Alte deutlich und bestimmt. »Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir Gelegenheit verschaffen könnten, diesen – – Neffen zur Rechenschaft zu ziehen.« Er wartete, daß sich das Mädchen entfernen würde; aber das saß da so schwer und stumm, wie gebannt. »Darf ich Ihnen ein Glas Wasser reichen?« sagte er, als Dorchen in sich zusammensank.

»Ich bitte darum,« lechzte sie. Und nachdem sie getrunken, ging sie, mit einem verzerrten Lächeln sich verabschiedend.

»Vielleicht könnten Sie auf der Polizei erfahren –« rief der alte Herr ihr noch nach.

Doch das Mädchen wankte bereits die Treppe hinab.

Die Frau, bei der Müller in der Luisenstraße gewohnt, ließ das Dorchen nicht einmal zur Flurtür herein.

»Ich verbitte mir Ihre Besuche – ich habe gerade genug vom Sommer her,« schalt sie, ohne das Mädchen zu Worte kommen zu lassen; sie wollte sofort die Tür schließen.

Verzweifelt drängte sich Dorchen dazwischen.

»Nur eine kurze Auskunft,« flehte sie in tiefer Scham. »Die Adresse des Herrn Müller … oder wohin er ist … ob wirklich in die Schweiz …«

»Schweiz? Herr Müller? Von was für einem Herrn Müller reden Sie denn? Glauben Sie, ich kenne alle Ihre Liebhaber? Und wenn Sie den Herrn Pistorius meinen sollten, dem Sie ja den ganzen Sommer nicht von der Schwelle wichen – – dem seine Adresse weiß ich nicht; und wenn ich sie wüßte, würde ich sie Ihnen nicht geben. Denn er hat mich gewarnt, wie zudringlich Sie sein können. Man sieht ja, wie recht er hatte, sonst stünden Sie nicht vor meiner Tür. Er will nichts mehr mit Ihnen zu schaffen haben – so wenig wie ich.«

Damit schlug die erboste Person die Tür zu und schob absichtlich laut den Riegel vor.

Sogar der Name eine Lüge! dachte Dorchen entsetzt. Sie hatte das Gefühl, ein Erdbeben mache das Haus wanken. Dann aber raffte sie sich zusammen mit einem Ruck, der ihre Nerven fast zerriß. Dem folgte eine kurze Schwäche. Die Welt schien eine Sekunde lang den Jahren voraus zu eilen … so deutlich sah Dorchen die Zukunft, als die Vermieterin drinnen hinter dem Vorhang der Tür laut genug das Wort Hure zeterte.

Dann wußte die Verlassene, was zu tun wäre.

Eine halbe Stunde später saß sie bei Sinchen Weihrauch, konnte plaudern, konnte lachen, sah feurig und freudig aus. Aber die Röte auf ihren Wangen entsprach nicht dem Blute ihres Herzens – sie entstammte dem kleinen Schächtelchen in der Handtasche … ein Hausflur hatte als Theatergarderobe dienen müssen, während Dorchen sich die Maske anschminkte zu der Rolle, die sie selbst sich in der nun aufzuführenden Tragikomödie zuerteilt.

Dann tätschelte Dorchen dem aus der Werkstatt heraufgerufenen Friedebert die Wangen und fuhr ihm zärtlich über die schlichten, farblos erscheinenden Haare. Und schließlich erwirkte sie von dem sie höchst mißtrauisch behandelnden Vater Schorsch die Erlaubnis, daß der Friedebert ihr die Saalburg zeigen dürfe. Im Sommer hatte das Theater dazu nie Zeit gelassen, wie Dorchen im Tone einer bedeutenden, vielbeschäftigten Künstlerin erklärte. Friedebert tat die Schreinerschürze ab und knöpfte sich einen schon bemakelten Stehkragen um … er trug wöchentlich nur einen. Wenig später war er willig und freudig zum Spaziergang bereit, sichtlich stolz und geschmeichelt, daß Dorchen ihn aufgesucht, glücklich sogar über die Ehre, die sie seinem väterlichen Hause erwies. –

Auf dem Heimweg von der Saalburg führte er das Dorchen über den Herzberg. Das Mädchen meinte, es wäre doch noch früh, und sie möchte einmal den so recht einsamen Herbstwald sehen.

Der Tag neigte sich, als die beiden droben auf dem weltentlegen im Tann verlorenen Holzturm des Herzbergs standen. Über die Fichtenwipfel hin glitt mit schattenden Schwingen der Abend nach der Ebene. Dorchen war von dem stundenweiten Fußweg zum Zusammenbrechen müde, erschöpft von den erlebten Aufregungen, matt vom Zittern und Beben der Nerven. Doch, sich vor dem Sturz in den Abgrund der Schande zu retten … soviel Kraft besaß sie noch, und auch den erzenen Mut. Der einfach besaitete Tischler war leicht zu gewinnen … er tat ja am liebsten das, was andere wollten. Und Dorothea Weihrauch war bei dem Manne mit den Brillantringen in einer guten Schule gewesen. Das nützte ihr jetzt: es galt die Kunst des Verführens …

Die alten Fichten rauschten ein dumpfes Hochzeitslied, mehr Klage als feierlicher Sang. Nicht weiße Brautgewänder, nein, schwarze Tannenzweige wehten. Nicht weiße Myrtenblüten wurden gestreut, aber der Frostwind ließ feine, weiße Flöckchen stieben aus dem Dunst, der, grauer Schwaden und Schleier der Nornen, über das Brautbett im Walde hinwegzog – langsam und schwer wie das Verhängnis. –

Im Weihrauchschen Häuschen war jenen Abend ein Donnerwetter, darob die Leute auf dem Schulberg zusammenliefen. Aber Dorchen hielt tapfer stand und biß die Zähne zusammen: lieber das ertragen, als das andere Elend!

Vater Schorsch ward abwechselnd blau und rot im Gesicht und war dem Schlagfluß mehr als einmal nahe. Aber Frau Sinchen hatte damals bei dem Besuch im Uhrmacherhäuschen einen gar zu guten Eindruck von dem blonden Mädel mit heimgenommen; sie gönnte dem Sohne die Feingliederige mit dem lieblichen Gesichtchen. Und der Friedebert bestand ja auch merkwürdig kräftig auf seinem Rechte als Mündiger.

»Ich hatte ihr schon im Laufe des Sommers die Heirat versprochen,« sagte er seelenruhig. »Und daran halte ich fest.«

Vater Schorsch brüllte: »Lumpenhund! … hattest du denn damals schon Ursache dazu oder ist das erst seit heute?«

Dorchens Herz setzte aus. Wenn der Friedebert diese Frage verstand, dann war das traurig-drollige Spiel gleich zu Ende, und über der Tragikomödie der »Dorothea Weihrauch, Schauspielerin« sank der Vorhang zu früh. Doch der einfältige Mensch antwortete dem Vater nur ein stolzes, weiß Gott so redlich gemeintes Ja.

Da ging der alte Meister eine Weile schweigend auf und ab. Endlich blieb er vor dem Mädchen stehen.

»Wenn Sie die Geschichte vom alten Fritzen und der Degenscheide und dem Degen nicht kennen sollten, so fragen Sie einen vernünftigen Menschen danach,« hob er endlich an. »Ich aber will hier nicht dem alten Preußenkönig nachtun. Ein Weihrauch, der ein Mädchen unehrlich machte, soll sie auch wieder ehrlich machen können. Das ist mein letztes Wort. Willkommen sind Sie mir als Schwiegertochter nicht.« Er dachte an Elise Reul und fuhr sich über die Augen. »Willkommen nicht – das sage ich redlich. Darum können wir beiden wohl auch nie eines Herzens sein.« Plötzlich wandte er sich an die weinende Frau Sinchen: »Verantwortest du alles, Mutter?«

»Schorsch – mei Herz sagt Ja und Amen.«

»Gut. – Mit dem Theaterkram ist natürlich Schluß?«

Dorchen hielt es für angemessen, die entsagende Primadonna zu mimen, so wie sie vorher die liebliche Sünderin gespielt hatte. Zwei Bombenrollen, die ihr auf jeden Fall besser gelangen in der Verzweiflung, als je eines der kleinen Röllchen, mit denen sie der Theatergeschichte Homburgs just kein bereicherndes Blatt beschrieben.

»Ach, Herr Weihrauch …,« sagte sie seufzend. »Leicht ist solch ein Verzicht nicht, aber ich will verzichten um mein und um Friedeberts Glück. Erst seit ich ihn nahe kennen lernte, glaubte ich oftmals, das Bühnenleben beginne für mich zu verblassen. Vorher freilich dachte ich anders. Nicht wahr, Mutter Sinchen?« Sie sah die alte Frau an, mahnend an jenen Besuch im Zeunleinschen Hause.

Und Mutter Sinchen neigte schuldbewußt den Scheitel.

»Ja, vielleicht bin ich selbst schuld an dem Zufall, lieber Schorsch,« bekannte sie. »Ich hatt des Fräuleinche sozusage gebete, sich um den Friedebert zu kümmern.«

Vater Schorsch knurrte just nicht freundlich, aber sonst schwieg er.

»Ganz recht,« fuhr Dorchen sogleich fort. »Und aus dem Bekümmern ward schnell mehr. Zum Schluß machte ich mir überhaupt nicht mehr viel aus dem Theater, trotz allen Strebens. Und dann fragen Sie nur den Friedebert, ob wir nicht von Anfang an nach einander guckten.«

Der Meister besah die Schönheit des Mädchens nicht ohne ein Kopfschütteln: er war Kunsttischler und traute sich gewissermaßen Geschmack zu. Also wußte er das Äußere der künftigen Schwiegertochter wohl zu schätzen. Um so weniger begriff er, daß diese Schönheit an dem dumm, wenn auch freundlich hübsch aussehenden Sohne Gefallen gefunden; soviel Gefallen, um sich mit ihm in das zu teilen, was man gemeinhin erst nach der Hochzeit miteinander teilt. Jetzt ärgerte er sich, daß dieser Friedebert ein Duckmäuser schien, der es faustdick hinter den Ohren haben mußte, wenn es ihm gelungen war, diese schöne Person zu gewinnen.

»Und du sitzest mit offenem Maule da und läßt uns über dein Leben entscheiden!« fuhr er unvermittelt auf den Erschreckenden los. Er hob die Fäuste: »Mensch … Lumpenhund … Heuchler!« Aber er beruhigte sich mit Macht. »Geh's denn wie's geht. Ich stehe keines Menschen Ehre und Glück im Wege. Gute Nacht!«

Er ging in die Schlafkammer und schloß sich ein. –

Als Dorchen sich von Friedebert zum letzten Frankfurter Zuge bringen ließ, Arm in Arm mit ihm die Luisenstraße hinabschritt, kam ihnen ein torkelnder Mensch entgegen, laut vor sich hin scheltend.

»Das war der Uhrmacher Zeunlein – der ist in letzter Zeit ein Schnapsbruder geworden,« sagte Friedebert mitleidig.

Da schlug Dorchen einen geschwinderen Schritt an: »Ich fürchte, ich erreiche es nicht,« sagte sie zitternd. Aber der Friedebert meinte, sie dächte an den bald abgehenden Zug.

 

Behaupteten die Leute nicht mit Recht, es wäre die schönste Hochzeit, die je in der Altstadt gefeiert wurde? Schon zur Trauung in der Kirche hatte sich alt und jung gedrängt … nun gar erst zu dem Feste, das Vater Schorsch veranstaltete. Grimmen Herzens, daß dies Fest einer andern galt, als er gedacht … aber mit einiger Verschwendung, denn es galt um so mehr zu bieten, je weniger die schmutzig gewordene Familienehre der Weihrauchs dabei zutage treten durfte. Man sah der Braut schon einigermaßen die Geschwindigkeit an, mit der das häusliche Glück unter Dach und Fach gebracht werden mußte.

Das Sälchen in der »Brauerei« faßte die Menschen kaum. Nur von der Weihrauchschen Verwandtschaft waren seltsam wenige erschienen. Vater Schorsch hatte niemand einladen wollen.

Friedebert und Dorchen wurden viel bewundert von den Homburgern. Der Tischler sah recht stattlich aus, fast prächtig im schwarzen Gehrock mit dem Sträußchen im Knopfloch. Und erst das Dorchen – – ah, das war eine Braut im weißen Atlaskleide! … von einer Lieblichkeit und Schönheit, wie kein Altstädter sie je vorher gesehen. Urteilte man nur nach der Schönheit der jungen Frau, dann konnte man wohl sagen: der Friedebert Weihrauch hätte sein Glück gemacht … und die alten Weihrauchs dürften überhaupt stolz sein, so etwas Schönes in der Familie zu haben, die nicht gerade im Rufe schöner Menschen stand. –

An jenem Hochzeitsabend blieb die Weiße Eule leer.

Friedebert hatte alle Bierbrüder zum Feste gebeten. Gegen halb elf jedoch kam der Uhrmacher Zeunlein in die Weiße Eule und setzte sich in die gewohnte Ecke. Zum ersten Male seit Wochen verlangte er wieder Bier statt Schnaps.

»Bier?« sagte Elise Reul verwundert, aber erfreut. »Ich habe noch nicht angestochen. Ich dachte mir ja, daß heute keiner käme; sie hatten alle gesagt, sie gingen samt und sonders die Hochzeit feiern. Es wäre also schade, verdürbe ich das Fäßchen Bier durchs Anzapfen. Nehmen Sie halt mit Ihrem gewohnten Kümmel fürlieb, Herr Zeunlein.«

»Nun hatte ich mal den guten Vorsatz, keinen Schnaps zu trinken, da wollen Sie mich dazu verleiten, Elise,« erwiderte Laborius traurig.

Elise sah ihn betroffen an. »Nein, die Sünde will ich nicht auf mich laden – Sie haben mir in der letzten Zeit leid genug getan,« meinte sie. »Warten Sie eine Weile, vielleicht kommen noch ein paar andere Gäste. Dann steche ich das Fäßchen an.«

Der Uhrmacher war's zufrieden. Schweigend und an die Wand gelehnt saß er im Eck, die Augen geschlossen, als ob er schliefe. Aber unter den Lidern hervor beobachtete er das Mädchen. Elise verstand es, sich zu beherrschen. Sie hatte den üblichen Platz neben dem Faßbock eingenommen und häkelte wie immer. Doch ihr Gesicht war starr, und zwischen den Brauen zeigte sich seit einigen Tagen eine Falte, die wie ein fadenfeiner Schnitt in die Stirn hinauf strebte. Der sonst so rote Mund schloß sich gewiß krampfhaft, denn die Lippen waren blaß und eingezogen. Das Schweigen ward nur ab und zu einmal unterbrochen, wenn im neuen Füllofen die Glut zusammenrutschte. Nun schlug die Uhr langsam elf. Elise hob das Gesicht und verfolgte aufmerksam das Zeitkünden, als wundere sie sich, daß dieser Tag überhaupt verstrich. Mit einem halben Blick nach dem Uhrmacher stand sie leis auf und sah ebenso leise nach der Feuerung.

»Sie brauchen auf mich keine Rücksicht zu nehmen,« sprach Laborius. »Ich schlief nicht, Elise … ich hing nur meinen Gedanken nach … genau wie Sie.«

Elise Reul hatte einen bitteren Zug um den Mund, als sie nun den gewichtigen Schütteimer mit einem Schwung heben und den Ofen nachfüllen wollte. Doch der Schwung mißlang … schwer setzte Elise die Kohlen nieder.

»Ja, ja, wenn einem das Herz schwer ist, dann ist andere Last auch nicht leicht,« murmelte Laborius.

»Mir das Herz schwer?« bemerkte Elise mit einem verächtlichen Lippenkräuseln. »Da sehen Sie zu, ob es der Fall ist.«

Sie schwang den Fülleimer auf, der mit dem Inhalte seine vierzig Pfund wiegen mochte. Die Kohlen rasselten in den Ofenschlund.

»Es wäre gut, könnte man auch seines Lebens Last so mit einem einzigen Schwung ins Feuer schmeißen,« neidete Zeunlein grimmig.

»Gewiß – nur, wenn sie von all den heimlich geweinten Tränen naß ist, wird sie nicht verbrennen wollen.«

Elise ging wieder an ihren Platz und saß regungslos da, mit ihren Gedanken hadernd.

»Sie sind eigentlich ein stattliches Mensch,« fing der Uhrmacher schließlich an. »Ich weiß nicht, ob der Friedebert Weihrauch überhaupt zu Ihnen gepaßt hätte? Solch ein Männlein Knochenzart und Ihre Fülle, Elise …? Das hätte schließlich doch nicht den richtigen Zusammenklang gegeben. Die Kleine mit dem blonden Wuschelkopf –«

»Ach, lassen Sie mich mit diesen Leuten zufrieden – was gehen sie mich an,« grollte Elise.

»Und dennoch waren Sie heute früh zur Trauung in der Kirche – ich habe Sie gesehen.«

»Aus Neugier – wie alle andern auch. Die Altstadt war ja voll von Geschwätz über die feine Braut. Warum sollte ich die einzige sein, die sie sich nicht anguckte? Und die Leute hatten recht: sie ist ein hübsches, zierliches Ding – die junge Frau Weihrauch.« Mit einem kurzen, harten Auflachen drehte Elise den Kopf zur Seite. »Dagegen bin ich freilich ein stattliches Mensch – wie Sie es eben ausdrückten, Herr Zeunlein.«

»Nahmen Sie mir den Ausdruck übel, Elise Reul? Das täte mir leid, denn er war nicht anders gemeint, als wenn man sagt: ein goldiges Mensch.«

»Übers Übelnehmen bin ich hinaus,« versetzte das Mädchen. »Seitdem die Weihrauchs so großspurig die Verlobung ihres Sohnes in die Welt setzten, habe ich mir alles abgewöhnt, was Übelnehmen heißt.« Sie dachte eine Weile nach; endlich schüttelte sie schwer das Haupt. »Die Weihrauchs! … nein, ich kann mich nicht genug wundern, daß sie zu solcher Heirat ihre Einwilligung gaben.« Sie sah mit festem Blick zu Zeunlein hinüber. »Es ist kein Neid in mir,« versicherte sie nicht ganz aufrichtig; aufrichtiger aber fügte sie hinzu: »Nur daß solch ein Tölpel, ein Narr, wenn auch ein kindisch guter Mensch, wie der Friedebert, von mir muß sagen können, ich hätte ihm das Garn gestellt – das ärgert mich grimmig. Ich war wie eine verliebte alte Schachtel. Pfui den Teufel!« Zornig riß sie am verknütterten Häkelgarn.

»Ich glaube, was das anbetrifft, können Sie ohne Sorge sein,« tröstete der Uhrmacher wegwerfend. »Der Friedebert Weihrauch ist zu dumm, sich dessen zu rühmen, dessen er sich rühmen könnte: nämlich, daß Sie ihm Ihre Liebe schenkten.«

»Liebe schenkten …?« wiederholte Elise. »Ich hoffe, Zeunlein, Sie trauen mir nicht mehr zu, als gerade bis zur Grenze der Ehrbarkeit reicht?«

Laborius nickte ernst. »Ich wollte nichts Schlimmes gesagt haben. Wäre wohl manch einer glücklich, er könnte sagen, was der Friedebert sagen kann. – Aber, Sie wundern sich über die Weihrauchs? Ich nicht. Elise, Sie kennen das Dorchen nicht. Die junge Frau Weihrauch ist ein seltsames Gemisch von Unschuld und Sünde, von Ehrlichkeit und Heuchelei, von Einfalt und Durchtriebenheit. Verlobung, Hochzeit … das alles kam viel zu schnell hintereinander, als daß dahinter nicht eine Teufelei stäke. Die Zukunft wird uns belehren.«.

Sinnend sah Elise den Uhrmacher stumm an. Dann griff sie für kurze Zeit zur Häkelarbeit, ließ sie aber bald wieder im Schoße ruhen.

»Und wie steht es denn nun um Sie selber, Herr Zeunlein?« forschte sie. »Sind wir nicht beide in der gleichen Lage? Die Theatermamsell nahm mir den Friedebert – der Friedebert nahm Ihnen das Mädchen.«

»Der? Mir das Dorchen?« Laborius lachte schallend. »Elise Reul, der Friedebert Weihrauch ist ein harmloses Huhn … der war gar nicht imstande, gar nicht der Kerl, einem andern solch ein Mädel zu nehmen. Nein, o nein! … der mir das Dorchen nahm, war einer, den Sie einst höchsteigenhändig hier zu Ihrer Tür hinauswarfen. Sie hatten mehr im Handgelenk als ich – – denn ich erwischte ihn in der Nacht auf meiner Stiege und schlug ihn nicht tot, wie ich hätte tun sollen.«

Elise war aufgesprungen; nun stand sie vor dem Tische, hinter dem Zeunlein saß. »So eine bekam der Friedebert? Eine, an der der Schmutz von fremden Händen schon haftet? Herr Zeunlein, und dazu schwiegen Sie? Sie sind ein Lump!«

Mit einem knurrenden Laut fuhr der Uhrmacher auf; aber er beherrschte sich, die Augen zukneifend.

»Es wird Zeit, daß Sie mir einen Schnaps geben,« sagte er kalt.

»Ich schenke Ihnen nicht,« weigerte sich das Mädchen. »Verlassen Sie das Haus.«

»Es ist erst in zwanzig Minuten zwölf … solange nicht Feierabend geboten, haben Sie kein Recht, mich vor die Tür zu weisen. – Und nun bitte ich um den Schnaps.«

Mit zitternden Händen trug Elise Flasche und Glas herzu und goß einen Kümmel ein. Der Uhrmacher genoß das Getränk mit einem Schwupp, der Übung verriet.

»Elise Reul,« redete er sie nachdem an. »Wir sitzen nun beide da und lecken uns die Finger, weil uns der knusprige Braten vor der Nase weggenommen ist. Sagt man nicht: Geteiltes Leid ist halbes Leid? Wie wär's denn, wenn wir zwei beiden uns über diesen Punkt einigten? Ich habe Sie seit einigen Tagen genauer betrachtet. Sie gefallen mir.«

»Aber Sie mir nicht,« erklärte Elise kurz angebunden.

»Elise, wäre das Dorchen nicht in die Netze dieses geschniegelten Herrn Müller gefallen, sie hätte einen Kerl aus mir machen können. Der Anfang dazu war im Gange. Ich hatte mich besonnen, daß es nichts ist, dies Altwerden vor der Zeit, dies Verschimmeln bei frischem Blute, dies Verstauben im grauen Alltag und dies Zerbröckeln bei lebendigem Leibe. Da stand das Mühlrad still in jener Nacht, in der dieser Müller das Korn vor mir gemahlen. Ich war zu spät dran. Wie stets in meinem Leben. Zeunleinsches Erbteil. Das Mädel sagte mir klar am Morgen danach dies Zuspät. Das war jedoch nicht der Grund, aus dem her ich mich an den Schnaps gewöhnte. Ich wollte vielmehr die Unruhe in mir betäuben. Unruhe – sie quälte mich beständig: bist du nicht schuld, daß dies Mädel in die Hände eines Schweinigels geraten? – Sehen Sie, Elise, wäre ich so klug gewesen, das zu tun, was das Mädel erwartete – sie gestand es mir mit eigenem Munde! –, dann feierte nicht der angeschmierte Friedebert Weihrauch, dann feierte ich Hochzeit. – Jenun, es gibt Menschen, die als den Wahlspruch ihres Geschlechtes ein ›Zu spät!‹ ins Wappen schreiben sollten.«

Plötzlich wurde er totenblaß und kämpfte mit sich stauendem Blute gegen eine Schwächeanwandlung.

»Lassen Sie dies Gespräch – es regt Sie auf,« mahnte Elise mitleidig.

»Nein, das ist es nicht,« stöhnte Laborius. »Es ist der Hunger, der den Schnaps heute nicht vertragen will. Ich nahm seit vorgestern nichts Festes zu mir.«

Er legte die Arme auf den Tisch, den Kopf hinein und wehrte sich gegen den Ohnmachtsanfall.

»Unglücklicher Mensch,« bedauerte ihn Elise. »Wie können Sie sich so gegen sich selbst versündigen! Das ist Ihr Fetzen von einer Theaterprinzessin wahrhaftig nicht wert.«

»Ach nein, sagen Sie doch nichts gegen das Dorchen,« flüsterte Zeunlein bittend, aus seinen Armen das schneebleiche Gesicht hebend.

»Sie müssen etwas genießen,« entschloß sich Elise. »In zwei Minuten ist in der Küche Feuer – ich mache Ihnen etwas Warmes zurecht.«

Sie verließ die Gaststube, just als es über der Stadt zwölf schlug – die Uhr in der Weißen Eule kam schläfrig hinterdrein. In der Küche klapperte Elise mit den Herdringen, und dann knackte das Feuer mit Tannäpfeln und Reisig.

Der halb bewußtlose Laborius hörte das Getuschel vor den Fenstern nicht. Draußen standen zwei Weiber Wacht. Gleich drauf kam die schrumpelige Frau Schnatter in die Wirtsstube.

»Natürlich der Herr Zeunlein!« stellte sie mit dem breiigen Munde geckernd fest. »Es tut mer so leid, daß grad immer ich störe tu. Awwer der Dorscht von mei'm Mann … mer hatte heut nämlich Heringskartoffel.«

Elise kam aus der Küche.

»Ich zapfe heute nicht, Frau Schnatter,« wies sie, unter der Tür bleibend, die alte Huzzel fort.

»Ach nää, so was – und dabei hawwe Se Gäst?«

»Herr Zeunlein ist nicht mehr als Wirtshausgast hier.«

»So so, guck emal ääner an – no, entschuldige Se nur.«

Die alte Schlurre verzog das Gesicht, wie eine Katze, die am Meerrettig geschnuppert hat. Dann drückte sie sich, wobei sie aus den geschwinden Augen boshafte Blicke in der Weißen Eule umherschweifen ließ.

»Schließen Sie die Haustür ab, Herr Zeunlein,« bat Elise. »Ich muß vor der Pfanne bleiben, sonst brennt mir das Schnitzel an. Ich wärme bloß auf.«

Während sie in die Küche zurücktrat, erhob sich der Uhrmacher, schwankend vor Schwäche, und ging auf den Flur.

»Da gucke Se emal – gucke Se nor … der is da schon so derhääm, daß er sogar 's Häusi zumächt!« zischelte Frau Schnatter der Freundin zu. »Wir bleibe jetzt hier uff Poste, unn wenn ich mir en Schnuppe hol, daß die Sacktücher tröppele. Des wolle mer doch beobachte, wie lang se 'n im Haus behält. Fui Deiwel, so e Sippschaft! Bis zur Hochzeit könne se net warte … wann se iwwerhaupt an Hochzeit denke.«

Und nun duckten sich die beiden Weiber in das Hoftor des Kutschers Pfaff gegenüber der Weißen Eule. Der Emil Pfaff hielt eine Unterstellung für fremde Fuhrwerke, Pferde – – aber auch für Rindvieh offen. –

Elise stellte dem Uhrmacher den Teller vor, nachdem sie das Schnitzel in mundgerechte Häppchen zerschnitten. Doch der Fettgeruch erregte dem verhungerten Manne Übelkeit. Matt vor Schwäche lehnte Laborius in seiner Ecke.

»Kommen Sie her, Sie armer Kerl,« sagte Elise und setzte sich neben ihn. So nahm sie ihn in den Arm, und während er das müde Gesicht auf ihre Schulter legte, fütterte sie ihn wie ein Kind. Nach wenigen Bissen schon schlief er ein vor Elend und Ermattung, denn das bißchen Genossene gab dem Körper wie den Nerven Frieden.

Elise setzte sich bequemer, nachdem sie ein wenig weiter abgerückt war, so daß sie Zeunleins Kopf auf ihrem Schoße betten konnte. Still und geduldig sich ruhig verhaltend, ließ sie ihn schlafen.

Die Zeit verrann …

»In der Wirtsstub is noch immer Licht,« sagte Frau Schnatter drüben hinter dem Pfaffschen Hoftor, schnappernd vor Kälte. »So e Säuzeug – wenn se wenigstens enuff in die Schlafstub ginge.«

Stunden waren vergangen, als die beiden alten Schrumpeln das Warten aufgaben, weil der Novemberwind denn doch gar zu arg zu schnauben anhob.

»Zwei Uhr … nää, des is ja gar net zu sage!« schimpfte Frau Schnatter. »No, awwer des genügt ja schließlich aach.«

»Und das Datum wolle mer uns merke: es war der zwätte November,« stellte die andere Alte fest. »Merke Se sichs e bissi mit, Schnattern.«

»Da is net viel zu merke: es war am Friedebert Weihrauch sei'm Hochzeitstag,« erwiderte Frau Schnatter.

Dann gingen sie heim, schimpfend über die Verderbtheit der Jugend.

Elise war selber müde geworden; sie lehnte den Kopf an die Wand und schlief ein. Da rutschte wieder einmal mahnend die Glut im Füllofen zusammen. Im Augenblick war das Mädchen munter …

Aber nicht das Rumpeln der Kohlen hatte Elise erweckt.

»Herr Zeunlein, was tun Sie …!« sagte sie und wehrte sich nur schwach.

Die behagliche Wärme in der Stube, die Last des Mannes auf ihrem Schoße, das um Friedebert ertragene Leid, sich irgendwie Erleichterung suchend – das alles wollte sie geduldig machen. Da kam ihr noch rechtzeitig die Besinnung.

»Elise … Elise …,« bettelte Laborius.

Sie drängte ihn fort. »Wenn Sie wieder ganz gesund sind und keinen Schnaps mehr trinken!« versprach sie – – nur um ihn loszuwerden.

»Elise, wenn Sie sich meiner nicht annehmen, verkomme ich.«

»Ich nehme mich Ihrer an … für wen und für was soll ich mich denn auch noch lange aufheben.«

Sie war dennoch bis zur Küchentür geflüchtet, um sich dahinter einschließen zu können, wenn's not tat.

Aber der Zeunlein blieb auf seiner Bank sitzen und sah Elise nur an; nicht gierig und nicht unkeusch, sondern wie ein armer, armer Mensch, der reichen Überfluß sieht und sehnsüchtig Verlangen trägt nach einem bescheidenen Geschenk.

»Sie fürchten sich vor mir, Elise,« redete er zu ihr hinüber. »Ich vergaß mich nur einen Augenblick. Jetzt sehen Sie mich ruhig. Mir war, als wäre ich einen weiten Weg gewandert und rastete dann unter einem Baum, an dem goldene Äpfel hingen. Niemand ringsum. Wer sollte mir wehren, nach dem am nächsten hängenden Goldapfel zu greifen? Es war ein schöner, weicher Traum.«

»Sie schliefen auf meinem Schoße,« sagte Elise stillen Herzens und verzieh ihm wortlos. »Kommen Sie erst selbst zur Ruhe, und lassen Sie mich zur Ruhe kommen. Es wäre möglich, wir fänden dann ein gemeinsames Glück.« Sie seufzte leis. »Denn andere sind ja auch glücklich heute …!« Sie kam weiter vor in die Stube. »Und nun gehen Sie, bitte.«

Der Uhrmacher schauerte zusammen. »Es muß hundekalt sein bei mir; ich hatte diesen Herbst noch nie Feuer im Ofen. Seither merkte ich nichts davon, heute aber käme ich einmal nüchtern heim. Darf ich nicht hier in der Wärme schlafen?«

»Sie verrechnen sich, Zeunlein, wenn Sie auf die Art zum Ziele zu kommen hoffen. Ich habe kräftige Fäuste und kann meine Ehre verteidigen.«

»Elise, denken Sie doch nicht so schlecht von mir …«

Sie sah ihn voll Erbarmen an: »Nun gut, ich schlafe ja außerdem droben.« Damit ließ sie ihn allein, kam aber bald wieder und brachte ein Kissen nebst einer Wolldecke.

»Ist es Ihr Kissen, Elise?« fragte er, sich bettend.

»Eines davon –«

Da drückte er den Kopf hinein und atmete zufrieden und hielt still wie ein Kleines, als das Mädchen ihn fürsorglich in die Kolter hüllte.

Elise stand ein paar Minuten unschlüssig da. Dann beugte sie sich über ihn, strich ihm das wirre, von der Ohnmacht noch immer feuchte Haar hinters Ohr und berührte mit warmen Lippen flüchtig des Mannes Wange. Er schlief schon fest in seiner Mattigkeit. Elise verlöschte die Glühbirnen und ging durch die Küche hinaus. Leis drehte sie den Schlüssel hinter sich um … es war besser so.

Im Füllofen setzte sich die Glut, neue Kohlen rutschten nach, ein Flammenspiel entstand. Auf dem Fußboden tanzte der rote Schein eine Weile, unruhig, bald da, bald dort, verglomm und flammte stärker auf und ward endlich ein stetiges Ruhenbleiben.

Genau so war Elise Reuls Herz. Das hämmerte jetzt, blieb jetzt ruhig und wollte dann plötzlich wieder rasen. Das Mädchen war an sich selbst irre geworden. Ihr tiefstes, reinstes Gefühl war jene Menschlichkeit, die gibt, auch wenn sie sich dabei beraubt. Laborius Zeunlein ahnte wahrlich nicht, daß er kein liebesüchtiges Mädchenherz gewonnen, dafür aber das Herz eines Mädchens, in dessen innerstem Grunde stark und fast leidenschaftlich ein mütterliches Regen war, das schützen und behüten möchte. Daher denn Elise Reul auch den Friedebert geliebt hatte: das war einer, der in seiner Einfalt torengleich dem Leben gegenüber stand, von den Menschen alles hinnahm, als müßten sie doch auch einen Narren haben, wenn sie lachen wollten. Und diesen Narren hatte er widerspruchslos gemacht, sobald ihm die Rolle auferlegt war. Just mit dieser kindlichen Hilflosigkeit, mit diesem Harmlosbleiben, mit diesem Schutzlossein hatte Friedebert Weihrauch Elisens Herz gewonnen.

Das Mädchen lag die halbe Nacht wach und dachte daran, wie es dem nichtsahnenden Menschen in der Ehe ergehen werde. Aber sie dachte auch daran, daß der Verlorene nun mit seiner jungen Frau allein wäre …

Da kamen Elise die Tränen des Entsagenmüssens und – – des Neides.

 

Mit einem Grimm ohnegleichen hatte der Eismann im Taunus gehaust. Monatelang war der Schnee nicht zergangen, tagtäglich fast sich erneuend; bis er wahrhaftig Gletscherberge in den Gassen bildete, als barbarischer Frost alle Bäche in der Umgegend erstarren machte. Aber das wendete sich von einem Tag auf den andern.

März! … in der Nacht fingen plötzlich die Dachrinnen zu tröpfeln an. Und manch einer, dieses Geräusches seit vier langen Monaten entwöhnt, stand aus dem Bette auf, lauschte eine Weile und sah dann zum Fenster hinaus. Um sich zu überzeugen, daß es nicht ein Feuer wäre, was droben im Dache knisterte, was summend überall zu sein schien. Doch jenes Gesumm kam vom Südwind.

Da glichen die steil in die Altstadt hinab führenden Gassen bald starken Gießbächen. Und Plautz auf Plautz rutschten die Lawinen von den Dächern. Die Dachrinnen bogen sich von der Last der Schneeschmelze, deren Naß sie nicht mehr zu fassen vermochten; so pladderten von den Häusern herunter breite Wasserfälle. Die ganze Stadt war ein Schmutz und Mutt und Matsch.

Vorbei der Winter! … die Erde fuhr aus dem Schlafe …

Da atmete Dorchen Weihrauch auf. Gott sei Dank! – dieser langweilige, trostlose, öde, einsame Winter hatte ein Ende. O, er war weit schlimmer für Dorchen gewesen, als sie vorher gedacht; hätte sie das geahnt gehabt, so würde sie darauf bestanden haben, daß Vater Schorsch dem Friedebert in Frankfurt eine Tischlerei einrichtete. Dort war doch Leben – Leben, Menschen – Menschen. In Homburg aber? Die Gassen blieben oft so leer, die Stadt mit den vielen geschlossenen Fensterladen so tot, als schliefe die gesamte Bürgerschaft, um sich erst dann den Schlaf aus den Augen zu reiben, wenn die Engländer zur Kur kamen.

Mutter Sinchen war gut zur Schwiegertochter. Meister Weihrauch aber sah nur den Eindringling in der jungen Frau, behandelte sie barsch und abweisend. Da gab das Dorchen die Mühe auf, ihn zu gewinnen. Sie haßte diesen in lauter Ehrenhaftigkeit versteinten Mann, der von ihr über jeden Schritt und Tritt Rechenschaft begehrte: Was tatest du in der Stadt droben – bei wem warst du – was wolltest du da – warum bliebst du so lange – konntest du nicht daheim bleiben?

Zuerst meinte Dorchen, er sei eifersüchtig auf die schöne, feine Schwiegertochter und mißgönne sie andern Leuten. Bald aber erkannte sie, was an Mißtrauen hinter diesen Fragen lauerte. Und sie fing an, ihn zu fürchten. Unheimlich! … sah er denn mit den redlichen Augen so tief in die Unredlichkeit ihrer Seele …?

Dorchen schauerte zusammen, als sie all das bedachte, was ihr selbst ein Rätsel war: seit sich das Kind unterm Herzen regte, ward sie beherrscht von absonderlichen Gelüsten.

Sie konnte in keinen Laden gehen, ohne heimlich etwas zu nehmen, sobald sie nur einen Augenblick unbeobachtet war. Und wenn sie zu Hause dann vor dem Gestohlenen saß: bald ein Stück Seife, bald ein Pappdeckel mit Spitzen, heute ein paar Strähnchen Nähseide, morgen einige Rollen Garn, diesmal ein Strumpfpaar, ein andermal eine Waschbluse, aus dem Buchladen ein Buch, aus dem Papierladen ein Kästchen Briefpapier – wenn sie daheim vor diesen Sachen saß, die sie in dem zufällig aufgeschlissenen Futter des weiten Mantels mitbrachte, dann überkam sie ein Grauen. Sie nahm sich vor, nirgends mehr hinzugehen – – und ging, mit einer Ausrede vor sich selbst, den nächsten Tag doch wieder fort, anheimgegeben dem unheimlichen Triebe. Sie ballte die Hände in den Taschen des weiten Mantels, unter dem sie nach junger Frauen Art ihren gesegneten Zustand verbarg – sie ballte die Hände krampfhaft, um der Versuchung zu widerstehen … da blieb sie einige Augenblicke allein, oder der Ladeninhaber drehte sich einmal um: ein hastiger, lautloser Griff … und das Mantelfutter versteckte wieder irgend etwas.

Alles häufte sie in der guten Stube hinter dem Schranke auf, der dort eine Tür so verstellte, daß zwischen beiden ein freier Raum blieb.

Und oftmals stand Mutter Sinchen kopfschüttelnd vor dem Blechkästchen, darinnen sie das Haushaltsgeld aufbewahrte, und konnte, konnte nicht begreifen, wieso sie sich immer und immer wieder verrechnete. Da Vater Schorsch sparsam war, nicht gern den Ausgaben nachhalf, nein, sogar verlangte, daß von dem Monatsgelde noch etwas erübrigt werde, so traute Mutter Sinchen sich nicht, mit dem Meister über das Rätsel dieses ständigen Verrechnens zu reden. Sie mußte knapsen und knapsen; und schließlich ging sie zu Freundinnen borgen.

Und dann: heute machte die alte Frau ein Töpfchen Eingemachtes auf – tags drauf war es ausgenascht. An diesem Tag gab sie ein Gläschen Apfelgelee in den Küchenschrank – am Abend schon war es leer. Doch darüber sagte Mutter Sinchen nichts; sie wußte, wie genäschig Schwangerschaft machen kann. Aber das mit dem ewigen Verrechnen kam ihr unheimlich vor. Freundlich stellte sie das Dorchen zur Rede. Da geriet die junge Frau in aberwitzige Erregung, tobte gegen die Anschuldigung und drohte das Haus zu verlassen, sage man ihr je wieder Diebereien nach.

»Es war ja doch nicht bös gemeint, Kind,« entschuldigte sich Friedeberts Mutter. Und sie sprach nie wieder ein Wort davon. Aber vor dem jungen Ehemann nahm sie das Geldkästchen ferner in acht; denn wenn's nicht Dorchen tat, so tat es der dumme Mensch in seiner Einfalt, wo er doch bloß vom Vater zu verlangen brauchte. Freilich, des Vaters karger Wille zum Geben … Mutter Sinchen begriff, daß sich der Sohn nicht gern an ihn wenden mochte. Und so schwieg sie weiter über das an heimlicher Abzehrung leidende Haushaltsgeld. –

Daß sie am Stehltrieb litt, das wußte also Dorchen. Aber daß gerade davon Vater Schorsch etwas bemerkt hätte, darüber blieb sie ruhig; sie kannte den Alten längst gut genug, um zu wissen, der nähme kein Blatt vor den Mund.

Aber das andere, fast schlimmere in ihrer Seele? Warum fragte er so viel … hatte er davon etwas bemerkt …?

Begieriger als je vorher war sie erpicht auf das, was für sie Leben hieß. Und erst recht, seit sie sich Mutter fühlte, gewann dies Begehren eine gewaltige Übermacht. Übermacht, die Hunger und Durst verdrängte, nur ein Dürsten in Leidenschaft und ein Hungern nach Liebe schuf. Was hier die leer und nichtig bleibende Ehe mit dem trocken-nüchternen Friedebert zurückdämmte, versagte, vergaß, das äußerte sich im Trieb zum Nehmen, als suche die widersinnig gewordene Natur den Ausweg aus dem Chaos erregten Blutes in dieser Form. Und Dorchen – früher die Ehrlichkeit selbst in der Achtung vor fremdem Eigentum – litt unsäglich unter dem diebischen Ansichraffen. Am meisten aber litt sie an der Ursache dieses Triebes: am Entbehren alles dessen, was ihr hitziges Blut als »Leben« fühlen wollte, sich kühlend am Erleben dieses Lebens.

Bei dem innigen Verlöbnis auf dem Herzberg und am ersten Tage der Ehe war Friedebert ein Stückchen Mann gewesen … wenn auch längst nicht so Mann, wie ein junges, gehrendes Ding sich das wünschte und dachte. Ward nicht das in der Ehe Recht und auch Pflicht, was sonst Sünde heißt? Von Pflicht schien der Friedebert nicht viel zu halten, von Recht noch weniger … wenigstens soweit er als Ehemann hätte rechten und pflichten sollen.

Nun hatte Dorchen ihn aber gleich in den ersten Tagen nach der Hochzeit auf das Kind vorbereiten müssen, denn die Zeit war knapp genug, um just noch für den siebenten Monat zu reichen. Und von dem Tage an, da sie ihm mit ausgezeichnet gespielter schämiger Frauenfreude das große Geständnis gemacht, von diesem Tage an tat er erst recht, als wäre die junge Mutter das Tabernakel selbst, als wäre das Höchstselbstverständliche der Ehe von jetzt an Entweihung.

In dieser Frommheit ihres Mannes stand Dorchen Höllenqualen aus. So unsagbar litt sie, daß sie sich vorkam als das, was Zeunlein sie genannt: Hündin! … oder was der Schurke Müller vornehmer ausgedrückt: Weibchen! Es war eine Gier in ihr, die so sehr alle Fesseln sprengte, daß Dorchen manche Tage ununterbrochen weinen mußte … vor Sehnsucht.

Sie zermürbte sich in stillem Gram, denn sie fühlte: wenn sie nicht mehr entbehrte, was zu entbehren ihr auferlegt war, würde auch der Stehltrieb schwinden. Bei dem Friedebert half kein Kosen und kein Betteln. Der studierte aus einem schmierigen Buche die Schwangerschaft, berechnete die Geburt des Kindes für die Mitte des Monat Mai und sagte um des kommenden Kleinen willen immer wieder standhaft nein … weil das so in dem närrischen Schmöker stand. Und er war ja auch, wie Dorchen schon auf dem Herzberg erkannt, kaum ein Halbmann, geschweige denn ein ganzer. Hätte sie Elise Reul gekannt, so hätte sie vielleicht mit ihr gesagt: steif und fühllos, wie der Faßbock in der Weißen Eule …

Nun, da hatte sich denn ein junger Frauenarzt in Homburg ansässig gemacht. Die Homburgerinnen mieden ihn wie Gift, denn er war – wie es sich nach Homburger Meinung für sein Fach geziemte – nicht weiß von Haaren, nicht taperig und kein Mümmelgreis … ein forscher, strammer Kerl. Dem war zunächst weniger um die Praxis zu tun, weshalb er sich aus seinem leeren Wartezimmer keinen Kummer machte. Der Dr. Stauber sah sich vielmehr nach einem warmen Neste um und hatte sich in Homburg niedergelassen, unter den Töchtern der Stadt Umschau zu halten. Was sie an Frauenleiden verschwiegen und ertrugen, das schierte ihn nicht … er sah sie nur daraufhin an, was sie an Mitgift bekämen. Er war nun eben einmal ein armer Teufel, wußte, daß er zu Großem berufen sei in seiner Wissenschaft, und glaubte, mit Geld in Händen könne er sich leichter und sicherer durchsetzen.

Mit der Zeit fand der gute Mann jedoch heraus, daß solch ein Winter in einem verschlafenen Sommerkurort der Annehmlichkeiten nur wenige birgt, noch dazu wenn die Zeit einem ohne ernsthafte Arbeit verstreichen muß … es sei denn, man beschränke das Dasein auf die Annehmlichkeiten von Essen, Trinken, Schlafen und auf die Unannehmlichkeit der Entbehrung dessen, was gemeinhin Liebe heißt. Und er gehörte nun einmal zu den Leuten, die die Liebe nur sehr schweren Herzens zu entbehren vermögen. Von den Mädchen aber, auf die er um der Mitgift willen ein Auge hatte, konnte er ein so reiches Maß an Liebe zunächst noch nicht verlangen, und außerdem gefiel ihm von diesen keine so, daß er der Liebe höchste Lust gefühlt hätte. Auch hielt er es für klüger, in diesen Kreisen den Tugendsamen zu spielen. Das schuf ihm denn einen mit Ehrerbietung genannten Namen, der sogar bis in das Weihrauchsche Häuschen am Schulberg scholl, Dorchen vernahm vom Dr. Stauber – und in ihrer Seelennot und Herzenspein beschloß sie, bei ihm Rat und Trost zu suchen.

So kam es, daß eines schönen Morgens der Doktor zu seinem größten Erstaunen sein Wartezimmer »belebt« fand von einer lieblich schönen, jungen Frau. Nachdem ihm das üppige und gut mollige Weibchen ihr Leid geklagt, von ihrem Leiden erzählt und auch die Ursache von Leid und Leiden unverhüllt preisgegeben, äußerte Dr. Stauber bedenklichen Gesichtes: der Fall sei pathologischer Art und schlage eigentlich in das Fach des Psychologen. Dorchen verstand diese wissenschaftlichen Ausdrücke nicht, erkannte jedoch, daß sie in Dr. Stauber zwar nicht den richtigen Arzt, auf jeden Fall aber den richtigen Mann gefunden. Wenigstens gab er ihr das ziemlich eindeutig zu verstehen, nachdem er sie körperlich ernsthaft untersucht. Das blonde, bildhübsche Geschöpf mit den seltsam hungrigen Augen war das einzige weibliche Wesen, das ihm von allen bisher in Homburg gesehenen gefiel. So gestand er in dem immer noch ein wenig studentischen Freimute, er hätte ein warmes Herz für Dorchens Not … ein Herz, das nicht nur heilen, mehr noch: trösten wolle. Vor seinem Gewissen rechtfertigte er seine Handlungsweise ohne irgendein Unehrlichsein: reinen Sinnes durfte er sich sagen, daß er nur annahm, was ihm frei und offen dargeboten wurde.

Und je mehr nun Dr. Stauber sich in den anregenden Fall vertiefte, desto eifriger oblag er dessen Studium. In der Tat, er konnte feststellen, daß Mutter Natur trotz aller neuzeitlichen Enthüllungen immer noch ein gut Teil Sphinx geblieben. Aber er war wohl ein sonderlich Glücklicher, denn er löste das Rätsel richtig, das die Sphinx ihm in Gestalt Dorchens aufgegeben. Früher hatte die junge Frau genommen … jetzt gab sie. Und sie gab gern, weil ihr das schreckliche Leiden des Nehmenmüssens darüber verflog, rasch und restlos.

Nach einigen Wochen wurde der Dr. Stauber indes gewahr, daß nicht mehr nur sein Drang nach den letzten Erkenntnissen der Wissenschaft, daß beinah noch inniger sein Herz für Dorchen eingenommen ward. Und da er über dem Dorchen nicht vergessen, zu welchem Lebenszwecke er ureigentlich nach Homburg übergesiedelt war, sagte er sich als kluger Mann, wenn auch nicht ohne einiges Herzeleid: die Freundschaft mit der jungen Frau könnte letzten Endes doch seiner Umschau unter den wohlhabenden Töchtern der Stadt einen unerwünschten Abschluß bereiten. Er war redlich genug, sich offen zu Dorchen auszusprechen, und seine Hoffnung auf Verständnis ward nicht zur Enttäuschung.

Wie Dorchen bis dahin weder den Zeunlein noch den Müller oder gar den Friedebert geliebt, im heimlichsten Winkel ihres Herzens sogar überzeugt war, niemals einen Mann lieben zu können, so verletzten des Doktors Eröffnungen sie nicht im mindesten. Im Grunde genommen war sie sogar froh, die Freundschaft aufgeben zu können. Längst war der Rausch verflogen, das Leiden geheilt, der Hunger gestillt. Was konnte es Schöneres geben, als nun zu zehren von der Erinnerung an eine Art von Glück. Mit milden Worten hieß der Doktor sie gehen. Und sie ging … mit einem milden, dankbaren Lächeln … dem Lächeln jener, die einen Blick in die Seligkeit getan.

Dr. Stauber aber setzte sich auf die Hosen und studierte den »Fall« nachträglich mit kühlem Klugsein und warmem Eifer, mit der Grübelei des Forschers, aber auch mit dem ehrlich-stillen Gedenken an das ihm von einem engelgleichen Wesen geschenkte Glück. So mit Gemüt und Sinnen, Verstand und Sinn die tiefsten wissenschaftlichen Ergebnisse jener Glückstage zusammenfassend, schrieb er Aufsehen erregende Abhandlungen für die Münchner Medizinische Wochenschrift. Er behandelte darin von ganz neuen Gesichtspunkten aus die Wirkung der Mutterschaft auf die Psyche des Weibes, wie auch die Möglichkeit der durch die Schwangerschaft auftretenden pathologischen Erscheinungen.

So war von beiden Menschenkindern einem jeden sein Teil geworden. Das Auseinandergehen war nicht bitter und behielt daher einen süßen Nachklang ruheverheißender Freiheit.

Das Dorchen blühte nun zusehends auf, und Mutter Sinchen konnte aus fraulichen Kenntnissen her eine leichte und glückliche Entbindung prophezeien. Der Friedebert aber ward nicht müde des Studiums in seinem alten Schmöker; weniger daß er lernen wollte, was der künftigen jungen Mutter zum Wohl gereiche … vielmehr schöpfte er schulweise Erfahrungen über das Verhalten des Ehemannes. Wie stets, so war ihm auch hier die Meinung eines andern, der Wille eines Fremden maßgebend. Und der Verfasser des alten Buches hatte in seiner Klitterung just nicht die ehelichen Lehren weiland Martin Luthers gutgeheißen. –

So war endlich der März gekommen mit seinem Tauen bei südlichem Winde. In Dorchens Blut war Ruhe eingekehrt. Vater Schorsch brauchte nicht mehr zu fragen: wo warst du – bei wem – warum – und alle die andern nörgelichen, mißtrauischen Fragen.

Soweit war alles gut. Es galt nun vorsichtig sein, damit das Kind nicht etwa gar vor Anfang Mai zur Welt käme … wenngleich sich der alberne, gutgläubige Friedebert vielleicht über dies Wunder nicht einmal den Kopf zerbrochen hätte. Aber die beiden Alten – –!

So saß denn Dorchen untätig in dem engen, winkeligen Häuschen am Schulberg und pflegte der Mutterschaft. Ach, dies Haus! Was hatte sie geweint, als sich nirgend sonst für den Winter in Homburg ein Unterkommen finden ließ. Nur bei den Schwiegereltern, mit Einschränkungen und mit dem Ertragen alles dessen, das häßlich, erniedrigend und beschämend war.

März! … nun konnte denn der Hausbau beginnen draußen an der Gonzenheimer Landstraße. Dort besaßen die Weihrauchs einen breiten Acker mit einer Doppelzeile von Apfelbäumen. Aus diesem Grundstück sollte Hof und Garten werden … vorn das Wohnhaus, dann ein Hof mit einem Kuhstall links, und über die Quere eine neumodisch eingerichtete Tischlerwerkstatt zum Großbetrieb. Das alles konnte recht wohlhabend werden. An den unendlich langen Winterabenden hatte Vater Schorsch die Baupläne oftmals auf den Tisch gelegt und sie salbadernd erklärt. Und der Friedebert saß dabei, ließ fünfe grade sein und nickte zu allem, was der Alte wollte. Unerträglich! … Dorchen verabscheute ihren Mann, der nie aus dem Gleichgewichte kam. Ob er auch so zufriedenen Herzens und platten Gemütes geblieben wäre, wenn er von Dr. Stauber erfuhr? Dorchen hatte oft den wahnsinnigen Drang ihm zuzuschreien: Wach' auf, du leerer Habersack – deine Frau ist schlecht!

Aber es lohnte sich nicht, und es durfte ja auch nicht sein. Wozu wäre dies Sichgefangengeben in einer die Schande deckenden Ehe dann noch nütze gewesen!

März, Sonne und früher Lenz! Der Acker trocknete schnell. Da wurden die Fundamente für das Haus, den Kuhstall und die Tischlerwerkstatt gelegt.

Dorchen wartete auf das Kind. Sie meinte, wenn das erst da wäre, dann würde nicht nur äußerlich, nein, auch in ihrem Innern alles gut sein. Dennoch fürchtete sie sich vor der schweren Stunde. So sehr hatte sie Angst vor den Mutterschmerzen, daß sie überzeugt war, sie würde nachdem nie mehr an einen Mann denken. Jene Furcht und die Mutterliebe … sie sollten Wunder bewirken. Und diese Wunder selbst zur Erfüllung zu bringen – den guten Willen hatte Dorchen.

 

Dorchen genas am 7. Mai eines Mädchens. Das Ziel war erreicht wenigstens insofern, als auch die alten Weihrauchs nicht an der Richtigkeit des Datums zweifeln konnten, da sie ja nicht vom Hochzeitstage an rechneten. Sie mußten vielmehr, nach jenen Verhandlungen am Verlobungstage, das Vorher in Betracht ziehen.

Für Dorchen waren die Tage vor der Entbindung fürchterlich gewesen. Als die ersten Wehen wie Wellen des Schmerzes durch den Körper der jungen Frau hin ebbten, versuchte Dorchen sie zu unterdrücken. Törichter Glaube … sie meinte, es gelinge ihr dadurch, die Geburt um einige Tage aufzuhalten – und wäre es nur bis zu der von Friedebert ausgerechneten Maimitte. Denn kein vernünftiger Mensch würde dies Kind als ein Zeugnis der Lendenkraft Friedeberts anerkennen, wenn die Mutterschaft auf nur sechseinhalb Monate anzurechnen wäre … kein Mensch – vielleicht sogar die beiden Alten nicht.

Da brachte Mutter Sinchen selbst ahnungslos den Ausweg aufs Tapet; sie hatte natürlich die Wehen erkannt und nahm sich liebevoll der Schwiegertochter an.

»Das hätt ich doch nie gedacht, daß der Friedebert solch e Donschuan wär,« äußerte sie und drohte scherzend mit dem Finger. »Sonst hat er mir all sei Geheimnisse anvertraut … no ja, iwwer so was awwer spricht mer schließlich net emal zur Mutter. – Ihr müßt doch awwer schon sehr früh angefange hawwe? Und so leucht' mir denn auch ein, warum er damals so drauf bestanne hat: ich heirat des Mädche! – Mein Mann lacht sich en Buckel iwwer'm Friedebert sei Courage, sagt freilich: die Courage wird wohl mehr das Dorche gehabt hawwe.«

Dorchen atmete auf … kam nun, was kommen wollte … auf dies Vertrauen der beiden Alten hin konnte sie sicher sein. Und wenn der Friedebert dennoch erstaunt sein sollte? Wenn er doch nicht so dumm blieb, aus seinem Schmöker das Richtige herausstudiert hätte? Dann wollte Dorchen ihn zwingen, an die Möglichkeit rechtzeitiger Geburt zu glauben.

Sie nahm sich nämlich vor, und führte dies Vorhaben auch aus, ihm begreiflich zu machen, auf ein lebendiges Kind dürfe er nicht hoffen. Dieser wunderliche Gedankengang entstammte freilich nur ihrem von allem Verbergen und Verheimlichen wirren Kopfe, in dem sich der seltsame Glaube festgesetzt hatte, das Kind würde noch am Tage seines Kommens verscheiden. Und im stillen grämte sie sich jetzt, weil sie seit zwei Monaten just das Gegenteil von dem getan, was einen Mißfall hätte herbeiführen können.

Aber das Kind lebte, war sogar kräftig und urgesund. Die Geburt ging so leicht und schnell vonstatten, daß die Hebamme scherzte: »Wie e Katz, Frau Weihrauch – no, Sie wer'n 's net immer so leicht hawwe.«

»Es ist doch auch ein Siebenmonatskind,« sagte Dorchen vom Bette her.

»Des da …?« machte Frau Leppert erstaunt – sie war die Mutter des ewig heisern Friedrich Leppert, der in der Weißen Eule dem Friedebert so gern eins angehängt hatte. »Des da e Siwwemonatskind?«

Dorchen hatte die Kraft, einen für die weise Frau verständlichen, mit Lächeln warnenden Blick nach Mutter Sinchen zu werfen.

»... wenigstens nach meines Mannes und meiner Berechnung,« sagte sie betont und blinzelte Frau Leppert zu.

Die Hebamme betrachtete für Sekunden die Wöchnerin, die mit dem mädchenhaften, blonden Wuschelkopf da ein wenig theatralisch in den Kissen lag und vollendet die glückliche junge Mutter mimte.

»E Siwwemonatskind meine Sie?« Sie blickte das Neugeborne von allen Seiten an. »E Mädche halt – die komme immer es bissi frühzeitiger als Bube.«

»Ja, nicht wahr?« stimmte Dorchen freudig zu, gierig die für Mutter Sinchen und andere Leute so bestimmende Meinung der Geburtshelferin aufgreifend. »Erzählen Sie das nur überall.«

Aber Frau Leppert schwieg und kam wortlos ihren ferneren Verrichtungen nach.

Mutter Sinchen entschied: von Friedebert hätte das Kindchen nicht das geringste, obwohl Mädchen doch meist dem Vater ähnelten; dies Mädelchen aber würde blond werden wie die Mutter.

»Des könne Se in de erschte Stund ja gar net unnerscheide,« belehrte die Hebamme. Und mit einem kurzen, etwas schielig lächelnden Blick auf Dorchen äußerte sie: »Ich glaab als ehnder, es gibt e Rotköppche.«

»Was – e Rotköppche? Des wär awwer 's erste in der Weihrauchsche Familie!« meinte Mutter Sinchen, merklich enttäuscht.

Und dann durfte Friedebert herein. Er benahm sich so tölpisch, aber auch so kindlich fröhlich wie ein kleiner Bub, dem man das »neue Schwesterchen« zeigt. Dorchen war sehr zufrieden mit ihrem Manne.

 

September malte den Äpfeln rote Bäckchen, da stand das Haus der jungen Weihrauchs schlüsselfertig an der Gonzenheimer Landstraße. Mutter Sinchen überwachte das Fensterputzen, der Tapezierer zog ab, die neuen Möbel wurden gebracht; und alle Öfen brannten Nacht und Tag, damit das junge Paar vor Eintritt der kalten Jahreszeit das wohntrockene Häuschen beziehen könne.

Was alles hatte Dorchen von dem Kinde erhofft! … und nun fand sie sich tief enttäuscht. Alle Welt behauptete, das Kind wäre der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Dorchen aber sah in den Zügen des kleinen Wesens immer wieder das Gesicht des blonden Schurken Müller: die blutroten, straff gefüllten und wie gequollenen Lippen … die blauen Augen mit den weiten Pupillen … das an Rot gemahnende Blond der Haare … das Spältchen im Kinn …

Und deshalb haßte sie das blonde, schuldlose Geschöpf, haßte es je bitterlicher, desto mehr es gedieh. Und aus diesem Hassen fiel Dorchen in Unrast, denn nun bekümmerte sie sich nur widerwillig um das Kleine, strebte von ihm fort, wußte aber nicht, wie das beginnen. Ja, in einer Nacht weinte sie trotz allen guten Zuredens ihres Mannes wie eine Sterbende. Da war ihr der furchtbare Gedanke genaht, ob sie das Kind nicht töten solle.

Aus einer Art Selbstzerfleischung her tat sie ihrer Mutter den Kummer an, in einem ausführlichen Briefe des Kindes Herkunft zu bekennen. Sie hoffte, dadurch von der entsetzten Frau Rat zu gewinnen, wie sich die Trennung von dem kleinen Mädchen, aber auch die Scheidung der Ehe bewerkstelligen ließe.

Mutter Guckes, die so lange in Seelenglück und Herzenszufriedenheit gelebt, brach wie unter Axthieben zusammen. Sie hatte ernstlich gemeint, Dorchen habe sich in Vernunft besonnen, dem Theater Lebewohl zu sagen, im bürgerlichen Berufe der Hausfrau und jungen Mutter ein gesegnetes Glück zu finden. Unsäglich beglückt gewesen war Mutter Guckes in ihrem Stolze, daß Dorchen eine nach Bockenheimer Begriffen glänzende Partie gemacht hatte. Und Dorchens Brief nun peitschte ihr ins Gesicht und spie Unrat auf die Ehre dieses in Ehren ergrauten Hauptes …?

Die alte Frau nahm alle Kraft zusammen, um aufrecht zu bleiben. In ihrer krakeligen Handschrift schrieb sie nur wenige Zeilen: »Ich kann nach dem von Dir bekannten Schandmal den ehrlichen Weihrauchs nicht unter die Augen treten. Sprechen aber muß ich Dich. Also komme nach Bockenheim.« Und an Mutter Sinchen richtete sie schweren Herzens die im Grunde nicht einmal lügende Nachricht: sie fühle sich nicht so recht und bäte, man möge ihr das Dorchen auf ein paar Tage überlassen. –

Die Aussprache in dem Stübchen hinter dem Laden verlief soweit ruhig.

»Träne? Nein, die hab ich net mehr!« sagte Mutter Guckes traurig. »Du hast mir fünf Tag und Nächt Zeit gelasse, mich satt zu weine. Zorn gege dich? Den hab ich erstickt. Denn wie könnt eins Zorn fühle gege jemand, den er verachte tut. Von mir verlangst du Rat, wie de dich von dei'm Mann und dei'm Kind trenne könntst?« Die alte Frau lachte bitter und mit zuckenden Lippen und schüttelte den Kopf. »Ich versteh net, wie de des meinst – Rat für so was. Auch wenn ich da Rat wüßt, gäb ich'n net. Denn du sollst doch dei Mutter net für so schlecht halte dürfe, wie de selwer bist.«

Das Dorchen saß da in aller Lieblichkeit und Mädchenhaftigkeit, von denen sie trotz des Wochenbettes und alles andern nicht das geringste eingebüßt hatte.

»Mutter – das Kind wird fünf Monat alt. Weißt du, was mein Los war in dieser langen Zeit? Zusehen, wie mein Mann sich nur um den Hausbau kümmerte. Zuhören, wie er nur vom Hausbau sprach. Schweigen, wenn er abends müde heimkam, das Essen verschlang, ins Bett ging und schlief – falls er nicht mit der Gabel in der Hand schon einnickte. Dulden, wenn er mich beiseite schob, so, wie man mit dem Fuße die Katze beiseite schiebt, die einem durch ihr Buckelmachen und Anschmeicheln lästig wird.«

Mutter Guckes zuckte die Achseln: ob Dorchen ihrem Manne denn mehr zutraute, als sie ihn kennen gelernt? forschte sie mit gesenkten Lidern, sich schämend, derlei erörtern zu müssen.

»Nun, so wenig denn doch nicht!« gestand Dorchen verbissen.

»Du willst Rat,« sprach Mutter Guckes, nachdem sie schweigend lange in dem engen Stübchen auf und ab gewandert war. »Es is mei Pflicht, dir zu rate … des hab ich mir ewe iwwerlegt. Awwer ich weiß kein' annern Rat als den: Sprich dich aus mit deinem Mann!«

Dorchen lachte bitter: »Glaubst du wirklich, Worte vermöchten mehr als ein junger gesunder Körper, heißes Blut, frische Lippen? Ach, Mutter, deine Gemüsekörbe haben mehr Gefühl, als dieser traurige Mensch.«

»Er hat dir mit sei'm Name dei Ehr wiedergegebe …«

»Sieh einer an!« grollte Dorchen auf, nicht länger sich beherrschen könnend. »Und deshalb soll ich mit meinen zwanzig jungen Jahren auf alles verzichten, soll in Keuschheit Buße tun für meinen Sündenfall, soll eine Betschwester werden, soll verschrumpeln und verkrumpeln – nur damit die Ehre der Weihrauchs sauber bleibe, wenn sich dafür auch der Schmutz um mich häuft, der so oder so mein Leben ersticken muß?«

»Was du auch getan hast – alles war Sünd: dein Fall war Sünd – Sünd war awwer auch das Unrecht, mit dem deinen Fall hinter dem ehrliche Name von dei'm Mann verborge hast.«

Dorchen schlug die Fäuste gegen die Schläfen: »Ach, Mutter – wir verstehen uns nicht!« Trostlos rief sie es dahin.

Dann nötigte sie die verzweifelte alte Frau auf das Sofa, nahm die rauh verarbeiteten Hände in die ihren und sprach ruhiger: »In den Nächten, in denen ich auf dem Wochenbette lag, bin ich mit mir zu Gericht gegangen. Seit dem ersten Tage meiner Ehe wußte ich, was mich erwartet, und da mußte ich mir klar sein, was werden solle, wenn das immer so weiter ging. Solange ich das Kind stillte, hatte ich Ruhe. Aber nach wenig Wochen schon versiegte mir die Brust, weil ich zuviel stummen Ärger in mich hineinfressen mußte, mich zuviel härmte über meine Zukunft. Und von dem Tage an, wo das Kind nicht mehr trinken konnte, kam es über mich: das Brennen und Begehren, das Sehnen und Süchten. Zeiten, in denen ich die Zähne aufeinanderbiß, um nicht zu schreien vor lauter Drang und Wollen und Wünschen. Ich wartete in Geduld, daß mein Körper wieder mir gehörte, nun ich das Kleine doch nicht mehr stillen konnte. Ich wartete auf meinen Mann. Aber der baute das Haus – – und schlief nachts. Das ist, als ob man Feuer zum Auslöschen bringen will, indem man trockenes Reisig darauf türmt.«

»O ja, ich verstehe dich schon, armes Kind,« murmelte Mutter Guckes enttäuscht.

»Es wäre ein leichtes gewesen, mir aus der Not zu helfen, Mutter,« fuhr Dorchen fort. »Nicht wenige haben diesen Sommer in Homburg nach mir geguckt. Aber noch einmal mich fallen lassen? … das war ja, wovor ich mich so gern, so unsäglich gern bewahren wollte.« Sie erschauerte, wie unter einem kalten Wasserguß und verdeckte ihre errötenden Wangen, denn sie hatte an Dr. Stauber gedacht. »Ich habe Furcht vor mir selbst – wie ich sie auch damals hatte, als ich bei Zeunlein wohnte,« flüsterte sie. »Nicht nur dem Kinde einen Vater geben wollte ich – – ich wollte auch die Ehe. Weil ich meinte: wenn du alles hast, was in dir drängt und lockt und ruft und satt werden will, dann brauchst du keine Furcht mehr vor dir selbst zu haben. Und ich kam an diesen Mann …! Mein guter Wille zur Zucht fand keinen Lohn … er fand nur eine Fessel, gegen die er jetzt knirscht, weil er sich betrogen sieht.«

»Darfst du deinem Mann einen Vorwurf mache? Du bist doch selwer schuld an dei'm Los,« wendete Mutter Guckes schüchtern ein.

Dorchen brauste auf. »Schuld … schuld!« schrie sie, wie ein gequältes Tier. »Das ist ja, was mich zum Aberwitz treiben will: selbst schuld! – Hätte ich das geahnt!« Sie lachte krampfhaft. »Was wäre das bißchen Unehre mit dem vaterlosen Kinde gewesen? Eine Flaumfeder gegen die Zentnerlast, die mich jetzt immer tiefer drücken will. So tief, bis es kein Empor mehr gibt … bis das schmutzige Wasser über mir zusammenschlägt, das vor meinen Füßen gurgelt. Gurgelt und – – lockt!«

Mutter Guckes brach nun doch in Tränen aus: »Dorchen – von wem hast du das … von mir nicht … vom Vater auch nicht.«

»Das also ist das einzige, was dir Sorge macht – das einzige, was dich bewegt?« Dorchen sah die Mutter kopfschüttelnd an. »Wir sind aus zwei getrennten Welten und reden zwei verschiedene Sprachen,« sagte sie verzichtend.

»Nein, ich versteh dich auch nicht,« bekannte die alte Frau schluchzend.

»Ich kann nichts klarer und deutlicher sagen, als wenn ich ein einziges Wort ausspreche: Scheidung!«

»Und den Grund dazu …?«

Dorchen machte eine ratlose Gebärde. »Wenn du als alter Mensch mir nicht einen andern Grund sagen kannst? … ich weiß, wie ich meinem Manne Grund genug zur Scheidung geben kann … es gibt außer dem Friedebert ja auch noch andere Männer!«

»Das – wenn de mir das antust, geh ich ins Wasser,« rief Mutter Guckes in vollem Entsetzen.

Da blieb das Dorchen eine ganze Weile stumm.

Endlich griff sie nach ihrem Hute und setzte ihn vor dem verblindeten kleinen Spiegel auf. In ihrem Gesichte war etwas, das von einer plötzlich über sie kommenden Leichtfertigkeit sprach, die lieblichen Züge gemeiner machte, die Augen lüstern, das Wesen dirnenhaft.

»Ich habe fast ein Jahr lang alles entbehrt, was Licht und Freude heißt,« begann sie schließlich ganz ruhig. »Ich denke, Mutter, du mißgönnst mir nicht, wenn ich jetzt einmal über die Mauer gucke, die um mich war, wie eine große Einsamkeit oder wie ein bitterer Zwang. – Ich möchte einmal wieder ins Theater gehen.«

»Tu das, mein Kind – vielleicht kommst de dort auf annere Gedanke,« stimmte seufzend Frau Guckes bei.

»Ja, das glaube ich sogar sehr,« bekräftigte Dorchen mit einem eigentümlichen Seitenblick. Dann nahm sie die alte Frau in die Arme: »Es war gut, mein armes Mutterchen, daß du mich herkommen ließest, nicht selbst nach Homburg kamst. In jeder Hinsicht gut. Ich kann nun ein paar Tage bleiben, ohne den Weihrauchs zu nahe zu treten. Vielleicht finde ich den Weg, wenn ich einmal ein bißchen leben konnte, nicht wie ein alter Schirm sein muß, der hinter einen Schrank gestellt wird, um dort – zu – verstauben – –«

In diesem Augenblick zusammenschreckend, hauchte sie die letzten Worte nur.

»Was ist dir?« fragte Mutter Guckes besorgt.

»Nichts weiter,« entgegnete Dorchen mit einem bleichen Lächeln der Angst. Dann nahm sie eilig Abschied, um mit sich allein zu sein. Die erdiebten Sachen waren ihr eingefallen, die sie immer hinter dem Schrank versteckt hatte. Sie mußte sich auf eine Ausrede besinnen … der Friedebert hatte sich das ungefüge Möbel von den Alten erbeten. Wenn man den Schrank nun nach dem neuen Hause brachte, das Stehlgut fand? Dorchen schauerte vor den Folgen, als sie an Vater Schorsch dachte: der ehrversteinte Mann würde nicht Weib, nicht Sohn, geschweige denn die verhaßte Schwiegertochter schonen, wenn es galt, Ehrlosigkeit wieder gutzumachen.

Doch als im Opernhause der Vorhang aufging, das bunte Treiben auf der Bühne enthüllend, als Musik in den Nerven prickelte, die verdürstete Seele sich satt sah und satt hörte, schlug Dorchen alle Sorgen in den Wind. Sie erkannte die Freundinnen, in deren Reihen auch sie geschminkt und geputzt gestanden hatte, bevor Siegmund Goldstaub ihr eingeredet, man könne eine große Künstlerin werden auch ohne Talent, nur durch Schönheit und Liebreiz.

Und drunten sangen sie: Die Liebe, die Liebe ist eine Himmelsmacht! … und Dorchen summte mit, vergaß Homburg, vergaß das Leben ohne alle Liebe im Schreinerhäuschen … aber sie vergaß nicht, daß – was sie Liebe nannte – ihr eine längst verwehte Erinnerung an den Dr. Stauber war.

Nach Schluß der Vorstellung wartete Dorchen beim Bühnenausgang auf ein paar Mädchen, die sie kannte. Die umringten die Wiedergefundene mit freudigem Jubel und schleiften sie ins Kaffee Metropole. Ach, dort oben war Theaterluft, Lebenslust, Menschen aus einer froheren Welt als der stickig spießigen des Häuschens am Schulberg … helles Licht, lachende Stimmen, verliebte Leutchen – nicht der Muff und Tuff, das Mürrischsein und das platte Geschwätz vom Mittagessen morgen und vom Abendtisch heute – nicht das üble Duften nach Hobelspänen und kochendem Leim – nicht das trostlos einfältige Gesicht Friedeberts, nicht der von Ehre und Ehre und zum tausendsten Male von Ehre salbadernde Vater Schorsch. Und vor allem nicht das im ersten Zahnen ständige Greinen des verhaßten Kindes …

Und ein flotter, hübscher Kerl saß neben ihr, redete große Töne von ihrer molligen Schönheit, legte den Arm um sie und schlüpfte mit der Hand unter ihrer Achsel hindurch und machte sie heiß und lechzend – – –

Um zwei Uhr in der Nacht mußte Mutter Guckes im Unterrock und in der Nachtjacke an die Haustür hinunter zum Aufschließen, nachdem Dorchens Begleiter ein paarmal gell gepfiffen hatte, um die Rufe »Mutter – Frau Guckes – Aufmachen!« zu unterstützen. Und während die alte Frau drinnen die Schlüssel durchprobierte, um den seit Aberzeiten nicht mehr gebrauchten Hausschlüssel herauszufinden, sagte der hübsche Flotte noch allerlei Dreistes aber Süßes.

»Na, ich danke! … ich habe ja einen weiten Weg zurück bis zur Allerheiligengasse – aber macht nix! … dafür war's auch wunderschön, Schatz,« flüsterte er und griff zu.

»Und morgen abend um acht Uhr bist du bestimmt zu Hause?« fragte Dorchen mit schwergehendem Atem und drängte sich schmeichelnd seinen Händen entgegen.

»Jeden Abend – bis du nach Homburg zurück mußt!«

Dann ging endlich die Haustür auf, und der Schimmer von Mutter Guckes Küchenlämpchen floß heraus … wie wenn aus allen Dunkeln stets ein Leuchten werden sollte für die draußen Wartende.

 

Oktobermitte hatten die jungen Weihrauchs das ihnen erbaute Häuschen an der Gonzenheimer Landstraße bezogen. Der Hausstand machte sich recht bürgerlich-wohlhabend. Ein Dienstmädchen schaltete und waltete in der Küche und nahm sich, kinderlieb, auch der Kleinen an.

Ganz gegen die christlichen Grundsätze Vater Schorschs hatte man mit der Kindtaufe gewartet, um sie im neuen Hause feiern zu können. Das brächte gleich großes Glück, behauptete Mutter Sinchen. Aus Seulberg und aus Oberroßbach, aus Königstein sogar waren Verwandte gekommen, nachdem sie ihren Groll überwunden, daß man sie nicht zur Hochzeit geladen hatte. Natürlich kam auch Mutter Guckes aus Bockenheim, denn mittlerweile war ja in allem Ruhe eingekehrt, und das Dorchen schien sich eines Besseren besonnen zu haben. Da meinte die alte Frau, sie könne es wieder wagen, den Weihrauchs vor die Augen zu treten.

Wider den Einspruch Dorchens war das Kind von Anfang an Brigitta genannt worden … die junge Frau hätte einen klangvolleren poetischen Namen lieber gehabt, ergab sich in ihrer Abneigung gegen das Mädelchen aber darein, daß man es Grittchen rief. Mutter Sinchen hatte ja denn auch immer beteuert, seit langen Jahren wäre der Tante Brigitta Stengel in Königstein die Patenschaft bei Friedeberts erster Tochter versprochen gewesen.

Diese Tante Stengel, eine bolzenstracke, männlich und mürrisch aussehende Person, ganz ein Weihrauchsgesicht, ganz Weihrauchsgehabe – diese Tante war gleich mit einem zahlreichen Verwandtenanhang nach Homburg gekommen. Während der Feierlichkeit in der Kirche hielt sie ihr Patchen auf dem Arm, doch weit von sich ab, und machte dabei eine Flappe, als fürchte sie angenäßt zu werden. Aber das fast halbjährige Kind verfolgte mit seinen klugen Augen und mit ernstem Gesichtchen alle die ihm merkwürdigen Vorgänge und war sehr brav. Bei der Feier im Hause verhielt sich diese Tante Brigitta höchst widerborstig gegen Dorchen, tat so, als erwiese sie der jungen Frau Gott weiß was für Ehre mit ihrem Dasein, und hatte im Blick wie um den Mund beständig etwas Spöttisches.

Schließlich war Dorchen froh, als am Abend die ganze Sippschaft von dannen zog, das Haus leer wurde. Friedebert sagte, er müsse seine Eltern in die Altstadt bringen und werde danach in der Goldenen Rose noch einen Schoppen trinken. Dorchen hatte nichts einzuwenden.

Als Mutter Sinchen noch einmal nach dem in der Schlafstube untergebrachten Grittchen sah, war sie wenige Minuten mit der Schwiegertochter allein.

»Schon neulich mal wollt ich dich frage, was de dir denn da hinner'm Kleiderschrank für e Magazin eingericht' hatt'st,« fing sie freundlich an. »Mei Mann und ich, mir war'n ganz eweg, wie des Möbel abgehobe worde is.«

Dorchen wurde glühend rot; nun kam die Stehlgeschichte doch zur Sprache. Aber die alte Frau fuhr in ihrer zutraulichen Art fort, bevor die Schwiegertochter antworten konnte.

»Schwangerschaft bringt so allerlei seltsam Gelüste mit sich – ich kenn's von mir selwer,« sagte sie. »Ich hatt ja eigentlich den Friedebert im Verdacht mit mei'm Haushaltsgeld … awwer seit mer die Sache hinnerm Schrank gefunde hawwe, weiß ich, warum mei Gröschercher immer die Verschwindsucht hatte.« Dorchen wollte widersprechen, doch Mutter Sinchen winkte vergnügt ab. »Da brauchst de dich gar net groß zu entschuldige,« verbot sie mit einem lieben Lachen. »Ich wollt dich nur dran erinnern, wie grob du damals geworde bist, als ich dich fragte, ob de dir von mei'm Geld nimmst. Und damals wollt ich dich doch nur warne, so wie ich's heut will. Es is doch unser größt Hoffnung, daß dem Grittche bald e Bübche folge wird. – Nein, nein, da brauchst de gar net so zu lache,« scherzte sie, als Dorchen sich mit einem bitteren, höhnischen Gelächter abwendete. »Wann de also soweit bist, dann unnerdrück derartige Gelüste, mei lieb Dorche … mei Mutter selig hat behauptet, sie täte sich aufs Kind vererbe. – No, des wolle mer also net hoffe …«

Dann nahm sie die junge Frau in den Arm und tätschelte sie zärtlich.

Dorchen mußte weinen: wie schlecht, wie gemein, wie niedrig kam sie sich vor bei dieser Herzensgüte der alten Frau.

»Ich weiß, Mutter Sinchen, Sie haben es gut mit mir gemeint und hatten mich lieb seit jenem ersten Tage, wo Sie im Uhrmacherhäuschen droben im Stübchen bei mir waren wegen dem Friedebert,« konnte sie endlich sagen. »Aber das mit dem Bübchen, das schlagen Sie sich nur aus dem Sinn,« bat sie mit feuchten, traurigen Augen. »Ich glaube, ich möchte kein zweites Kind … und dann, dazu ist mein Mann – – auch – – zu – faul …«

Mutter Sinchen sah ganz erschrocken aus. Nach längerem Nachdenken meinte sie: »Ich weiß, du hast mehr Leben in deine Adern, als er in de seine. Und ich hab mir auch so halb und halb etwas Ähnliches gedacht – denn dei kummervoll Gesichtche hat e deutlich Sprach geführt. In de letzte Zeit bist de doch awwer so aufgeblüht, daß ich dacht, es hätt sich zwische euch zwei zum bessere gewandt. No, vielleicht wenn ihr jetzt für euch wohnt … es war ja auch grad kein schön' Hause in dem kleine Zimmerche bei uns, und ungeniert seid ihr wirklich net gewesen.«

Vor wenig Tagen noch wäre für Dorchen diese Meinung der guten Alten eine Verheißung gewesen, ein Antrieb zu geduldigem Harren. Nun war es dazu längst zu spät. Der Weg zur Tiefe war beschritten … es gab kein Herauf, nur noch ein Weitergleiten. Niemand kann wider seine Natur. Auch Dorchen fühlte, ein Kampf wäre vergeblich. Es fehlte ihr dazu die Kraft, vor allem der Wille – – jetzt noch! Ein Taumel war über sie gekommen, und dieser Taumel war süß, immer aufs neue süß, als stamme er aus einem Rausch von ungegorenem Weine. Dem Flotten aus dem Kaffee Metropole war rasch ein anderer gefolgt, und daß es mit diesem Nachfolger auch nicht länger währen würde, das wußte Dorchen. Wie angebissene, nicht mehr schmeckende Äpfel wollte sie die Männer fortwerfen. Aber in all der schrecklichen Angst vor einem zweiten Ich, das anders war als weiland Dorchen Guckes, anders als die Schauspielerin Dorothea Weihrauch, anders als die junge Tischlersfrau – in dieser schrecklichen Angst hatte die Unglückliche immer noch einen Hoffnungsstern. Und der war von absonderlicher Art:

Dorchen meinte, an ihrer Seele fräße allein der Schimpf weiter, den ihr der Mann mit den Brillantringen angetan. Immer aufs neu, so glaubte sie, träte der sie in den Schmutz. Friedebert war kein Mann, dies Toben auszurotten. Und – so dachte Dorchen – wenn sie sich einmal wahllos, ziellos, widerstandslos diesem Toben überlieferte, mußte dann nicht endlich ein großes Befriedigtsein kommen? Konnte das nicht so sein: ein Mensch weiß, daß jenseits lächelnde Ruhe, sonniges Gestade, seelische Sauberkeit … und so nimmt er die Gefahren des einzig dorthin führenden Weges auf sich – aber dieser Weg führt durch den tiefsten Morast, den eines Menschen Sinne sich vorzustellen vermögen.

Die ehrliche Regung, hinter diesem Ergrübelten ein schmutziges Gelüst zu erkennen, diese Regung unterdrückte Dorchen, sich dessen selbst jedoch völlig unbewußt. Sie schloß die Augen vor ihrem schlechteren Ich, wollte sich besser dünken, als sie sich redlich hätte eingestehen müssen.

Und so hatte sie beschlossen, dies Toben auf sich zu nehmen, damit es nacheinst ein Austoben gewesen sein sollte. Dies war für sie der Ausweg, Mutter Guckes nicht durch die Scheidung weh zu tun, ferner ein Ausweg, mit Friedebert doch noch eine ruhige, wenn just auch nicht glückliche Ehe zu führen. Sie kam sich dabei vor, als kaufe sie eine Begräbnisstätte, am Leben hangend und dennoch des Sterbens gewiß. –

Als Friedebert spät heimkam, wortlos in sein Bett kroch, sprach sie ihn an:

»Alles ist nicht so in der Wohnung, daß ich sagen könnte, es gefällt mir,« erklärte sie. »Das liegt an Kleinigkeiten. Doch in dem jetzt schon einschlafenden Winternest Homburg bekommt man ja gar nichts dergleichen. Ich werde morgen meine Mutter nach Frankfurt begleiten. In einem Tage aber kann ich die Einkäufe nicht besorgen, ich muß Zeit zum Wählen und Suchen haben.«

»Was du nur immer in Frankfurt zu tun hast, seit dem Tage, da wir das neue Haus bezogen,« meinte Friedebert schläfrig; er hatte schon angefangen zu schnarchen.

»Solange wir bei deinen Eltern hausten, konnte man ja keinen Schritt tun, ohne deinem Vater tausend Fragen vorher und nochmals tausend nachher beantworten zu müssen.«

»Alte Leute haben ihre Eigentümlichkeiten … man muß sie ihnen lassen.«

»Nein, das ist nicht wahr!« Es kam gleich wieder Erbitterung über Dorchen. »Nur weil du immer das kleine Kind spieltest, haben deine Leute – ich meine vor allem deinen Vater! – sich angewöhnt, dich wie einen Hemdenmatz zu behandeln. Und das überträgt der Alte nun auch auf mich.«

»Ach, laß doch … ich bin müde.«

Er wälzte sich auf die andere Seite und atmete mit geschlossenem Gaumen aus dem offenstehenden Munde.

»Siebenschläfer!« knirschte Dorchen auf. Dann rüttelte sie ihn: »Du – denkst du nicht an mich?«

»Wa– was?« grunzte er aus dem Einschlafen heraus.

Sie versuchte, ihn munter zu erhalten … aber dieser Mensch war fühllos, wie eine seiner neuen Hobelbänke in der Werkstatt.

»Friedebert,« gurrte sie. »Bleib doch nur dies eine Mal wach.«

»Ich mag nicht – so müde …,« antwortete er, als spräche er mit dem Magen statt mit den Lippen.

Sie konnte sich nicht länger meistern und versetzte ihm einen Faustschlag.

»So schlaf, Kerl – ist ohnedies das Klügste, was du tun kannst!« Dann wieder riß sie ihn bei den Haaren, um ihn aufzuschrecken: »Friedebert, du wirfst dir und deinem Weibe ein schwarzes Los mit deiner Kraftlosigkeit … deine Frau ist schlecht.«

»Nein, nein – Dorchen ist – gut,« lallte er überzeugt und zog, um unbehelligt zu bleiben, ärgerlich die Bettdecke über die Ohren.

Dorchen saß die Nacht über wach im Bette, kümmerte sich auch nicht um das Kind, das einmal zu nölen anfing, glücklicherweise gleich wieder einschlief. Die frohen Tage im Opernhause und in den Reihen der geschminkten, lebenslustigen, lebensdurstigen Mädchen – die Sommermonate mit Müller … damals, als er ihr nur den Hof gemacht und den Ehrbaren gespielt hatte – die verträumten und verhofften Stunden im Uhrmacherhäuschen – die Proben im Homburger Theater – Bild um Bild in diesen letzten frohen Zeiten ihres Lebens zog an ihren Gedanken vorüber. Und eine Weile liefen stille Tränen über die Wangen der vereinsamten Frau, die vereinsamt war, weil die Rätselhaftigkeit ihres Wesens von keinem verstanden wurde. Der Schurke Müller, der Flotte aus dem Kaffee Metropole, ja, auch der Dr. Stauber letzten Endes – was sahen sie denn weiter in ihr als das Fleisch, das schmackhafter war als jenes unsaubere, das sich noch dazu teuer bezahlen ließ. Keiner versuchte den Blick in ihre Seele, keiner lotete auf den Grund ihres Gemütes, das sich vor den Geheimnissen eines zweiten Ichs entsetzte und lediglich Gift für das Gegenmittel dieses Entsetzens hielt.

Als der Tag dämmerte, warf sie noch einen Blick auf den schnarchenden Menschen an ihrer Seite … es war ein Abschiedsblick. Nimmer würde sie zu diesem Manne gehören, wenn auch in seinem Hause sein müssen. Wenn je, so hatte er sie heute für immer verloren – heute, bei dem letzten Versuche, die Meinung Mutter Sinchens zur Wahrheit zu machen: das Ungestörtsein im neuen Hause. Nein, dieser Friedebert war ein Klotz. Aber sie verdammte ihn nicht als den Schuldigen an ihrer Not – er konnte nichts für sein Froschblut, wie sie nichts konnte für das Blut des »Weibchens«, der »Hündin«. Tiefes menschliches Erbarmen mit dem Betrogenen erfaßte sie noch einmal kurz: er lag zusammengekrümmt als fröre ihn … drum zog sie ihm die verrutschte Bettdecke höher. Und das blieb ihre letzte gute Tat an ihm.

Drüben in dem Zimmer regte sich's, wo Mutter Guckes auf dem Sofa genächtigt hatte. Dorchen stand schweigend auf und kleidete sich leis an. O, dies Erheben war Erlösung … Erlösung aus allen den durchgedachten Bitternissen einer letzten Nacht. Die junge Frau riß das Schlafstubenfenster auf … scheußlich, wie es aus den auf einem Stuhle liegenden Kleidern ihres Mannes nach Leim und Hobelspänen roch … es war in diesem neuen Hause nichts anders, als in dem kleinen Häuschen am Schulberg. Nichts hatte sich geändert – trotz des guten Glaubens Mutter Sinchens – nichts, nichts. Und es würde alles immer so bleiben … alles, alles! –

Auf der Fahrt nach Frankfurt fragte Mutter Guckes besorgt: Dorchen sähe so merkwürdig entschlossen aus – was sie denn vorhabe?

»Nichts weiter,« antwortete die junge Frau. »Ich will einige Einkäufe besorgen und fahre mit dem Abendzug heim.«

»Dann kommst du nicht mit nach Bockenheim?«

»Nein …«

Und erst nach einer halben Stunde, kurz vor der Einfahrt in den Frankfurter Hauptbahnhof, brach Mutter Guckes noch einmal das Schweigen: »An eine Scheidung denkst du nicht mehr, Dorchen?«

»Fällt mir gar nicht ein,« erwiderte Dorchen. »Als Frau Weihrauch bin ich sicher.«

»Sicher …? Vor was?«

»Vor allerlei. Frage nicht.«

Es war ein herzloser Abschied. Mutter Guckes ging mit starrem Gesicht. Dorchen sah ihr gleichgültig nach und schritt mit freierer Seele der Kaiserstraße zu. Hier war Stadt … kein [Bauernnest] wie Homburg – Menschen eilten dahin, nicht Schlafmützen – Männer wandelten dort, nicht schlappe Dusler. Als Dorchen den Roßmarkt erreichte, kramte sie eine Adresse aus dem Handtäschchen. Beim letzten Besuch im Kaffee Metropole hatte ihr eine diese Adresse gegeben mit der Einladung, die Blonde solle sie doch mal besuchen; es war ein zierliches rosenfarbenes Kärtchen: Fräulein Mieze, Rosengasse Nr. 5 … Und über dieser Aufschrift befand sich ein Herz, umkränzt von Blumen, durch die hin eine Fackel gesteckt war … Hymens Fackel.

Eine enge, steile Treppe in einem engen Bauwerk des engen, menschenleeren Gäßchens. Auf der breiten Straße, von der dies Gäßchen abzweigte, schritten Tugend und Ehrbarkeit ahnungslos, so nah und doch so unberührt von der schmutzigsten Sünde – der Sünde, die sich verkauft.

In dem Hause kümmerte sich niemand um den weiblichen Besuch. Ja, wenn's ein Mann gewesen wäre! Ratlos rief Dorchen den Namen: »Fräulein Mieze!« Eine Tür ging auf – eine schlumpige Person, im Hemd, mit zerwühlten Haaren, eine brennende Zigarette in der von falschen Steinen gleißenden Hand.

»Freilein Mieze hat jrade eenen – kommen Se man inzwischen 'n bisken zu mir rin.«

Dann saß das Dorchen wartend in der Stube, deren Wände mit billigen Japanfächern bekleckst waren. Wenn in der Gasse drunten ein fester Schritt laut ward, sprang die jetzt nachlässig in einen verluderten Schlafrock gekleidete Berlinerin vom Lotterbette auf und eilte ans Fenster; manchmal auch klopfte sie an die Scheibe und winkte zum Heraufkommen, doch immer vergeblich. Es war ja Tag … nur bei Nacht tritt man unversehens in den Schmutz.

»Det is'n Saujeschäft hier in det olle Nest,« schimpfte die Berlinerin jedesmal und bei jedem Male erbitterter.

Endlich erschien Fräulein Mieze. Sie zeigte der Kollegin in stillem Triumph ein Goldstück, das sie bespuckte und oben in den Strumpf schob. Hiernach erst begrüßte sie die Besucherin und führte sie nach dem zweiten Stockwerk.

Das Zimmer droben sah ordentlich aus, heimeliger als das der Berlinerin. Hier hingen stille, schöne Landschaften an den Tapeten, dazwischen da und dort ein Tierbild.

»Wie mer zu so'me Geschäft komme kann, danach fragt keiner – und es soll ääm auch nur keiner frage … glaube tun se einem ja doch nie die Wahrheit; nur wenn mer recht lügt, sind se zufriede.« So äußerte sich Fräulein Mieze, die aus Mainz stammte, im Laufe der Unterhaltung. »E Mensch hawwe se schnell aus einem gemacht – das Mensch. Den Menschen awwer, den braucht mer noch lang net aus sich heraustreibe zu lasse. Gehört hab ich noch keinem – und mir hat auch noch keiner gehört. Er kauft, ich verkauf. Des Herz tut einem net weh dabei … des is dumm' Zeug. Awwer die Seel, die Seel – – was weiß so e Kaufender von meiner Seel.« Sie erhob sich und öffnete eine Tapetentür … dahinter sah es aus wie ein Jungmädchenzimmer. »Sehn Se, hier bin ich bei mir daheim – bei mir selbst. Und wenn Se als emal in Frankfurt iwwernachte möchte, hier könne Se getrost bleibe.«

Und in dieser Nacht blieb Dorchen zum ersten Male.

 

Winterabende … lange und langsam verschleichende … da war die Weiße Eule ein behaglich Quartier. Elise Reul hatte nicht über das Geschäft zu klagen. Sie war auf den Gedanken gekommen, die Wirtsstube könne noch behaglicher wirken, wenn die aus Jean Reuls Zeiten stammenden, übermäßig breiten und unschönen Tische verschwänden. Diese alten Dinger hatten auch den Nachteil, daß immer alles zusammensitzen mußte, was häufig nicht einmal zusammensitzen wollte.

So war Elise denn zu Schorsch Weihrauch gegangen, um über die Herstellung kleiner, gemütlicher Tische zu reden. Der Alte aber sagte, er nähme so große Aufträge nicht mehr an, sondern er lasse derlei Arbeit wenn möglich dem Sohne zukommen.

Einige Tage rang Elise mit sich, ob sie in die neue Werkstatt an der Gonzenheimer Landstraße gehen solle oder nicht. Schließlich siegte die Neugierde, die junge Frau Weihrauch einmal zu sehen, von der man in der Weißen Eule allerhand nicht gerade Sauberes erzählte.

Friedebert schien sich nicht im mindesten bewußt zu sein, welch schweres Leid er dem Mädchen zugefügt. Für die Jahre dieses Mannes war das Begriffsvermögen so stumpf, daß er der früheren Freundin sogar einen lebhaft freudigen Empfang bereitete, wo einen andern das Gefühl des Beschämtseins scheu und zurückhaltend gemacht hätte. Daß dies Mädchen ihn geliebt, und daß er diese Liebe – und damit vielleicht auch ein Glück – verscherzt … der Gedanke lag seinem einfachen Sinne weltenweit. Daher vermochte Friedebert voller Stolz Elise Reul den Neubau zu zeigen. Vor allem prahlte er mit der Tischlerwerkstatt, hinter deren taghellen und hohen Fenstern vier Gesellen und zwei Lehrlinge arbeiteten; sogar bei elektrischem Lichte, wenn's um vier Uhr schummerig wurde.

Er nahm die Bestellung auf die Tische gern entgegen, wobei er sich mit nicht geringer Einbildung auf den »Meister« hin aufspielte. Er tat, als erwiese er Elisen eine Ehre, als er versprach, er werde sogar selbst in die Weiße Eule kommen und die Maße ausrechnen. Dann wollte er sie in einer Art Herablassung verabschieden.

»Na, und deine junge Frau zeigst du nicht?« fragte Elise danach und wurde glühend rot.

»Das Dorchen ist in Frankfurt bei meiner Schwiegermutter,« sagte er nach einigem Zögern. »Ja, – da reist sie jetzt oft hin, denn die alte Frau ist seit neuerer Zeit immer leidend und kann Freitag und Samstag ihr Gemüsegeschäft nicht mehr allein regieren. Da hilft Dorchen denn beim Verkaufen. – Aber die Wohnung und das Kindchen, die kannst du dir ja ansehen.«

Nun fiel Elise plötzlich ein, daß sie doch nicht soviel Zeit habe.

»Es ist Samstag … für Sonntag muß ich mich immer gut vorsehen, denn bei dem Schneewetter hocken sie den lieben langen Tag in meiner Weißen Eule. Da wird häufig zu essen begehrt. Ja, die Weiße Eule wird mehr und mehr zur Goldgrube!« Und die bescheidene Elise betonte das nicht grundlos ein bißchen stärker … Friedeberts Protzerei hatte sie verstimmt.

»Hm, das freut mich,« erwiderte er seufzend und leierte weiter herunter: »Bei mir im Hause geht es still zu – meine Frau so oft fort – das Dienstmädchen macht alles – viel Arbeit in meiner neuen Werkstatt – ich falle abends nur so ins Bett – ins Wirtshaus komme ich fast gar nicht mehr – und der Weg zur Weißen Eule ist mir auch viel zu weit –«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen,« bemerkte Elise. »Ich bin darüber hinweg und hatte längst vergessen, daß du dich nicht mehr blicken ließest seit deiner plötzlichen Verlobung.«

Sie musterte ihn, wie er so dürftig dastand: die hängenden Schultern, die nichtssagenden Augen, die, wenn sie wirklich einmal etwas ausdrücken wollten, wie in Not gleich irr und wirr hin und her flackerten … und dies wunderliche Flackern war Elise vorher niemals aufgefallen.

»Du hast einen scheuen Blick bekommen,« sagte sie zu ihm.

»Ich? Ja, meine Mutter meinte es auch schon – vielleicht schlafe ich zu wenig … aber die viele Arbeit … und dann meine Frau und das Kind … immer so um einen herum …«

»Lebst du etwa nicht glücklich mit deiner Frau?«

Nun verschönte sich sein Gesicht denn doch: »O, mein Dorchen? … ich habe sie sehr lieb, drum ist es mir auch gar nicht recht, daß meine Schwiegermutter sie so in Anspruch nimmt. Aber man hat doch nie vollkommen seine Ruhe in der Ehe …«

Und sein Gesicht war schon wieder leer und flach. Die baumelnden Arme, die nach vorn gebogenen, wie ständig müden Knie – – nein, sagte sich Elise, ein Kerl war er wirklich nicht! Es war nicht Haß, der Elisens Blick so unbarmherzig schärfte … Leid und Kummer um den ihr verlorenen Mann, verstummt und überwunden, wie sie nun einmal waren, brachten das klare Urteil zuwege: Er wäre wohl doch nicht der Mann für mich gewesen! Beschützen und mütterlich zu ihm sein – o ja, das hätte Elise gern vollbracht damals. Sie fragte sich jedoch, ob sie des Pflaumenmännleins später nicht überdrüssig geworden wäre …? Und im gleichen Augenblick hatte sie das Gefühl, man müsse doch eigentlich erst einmal Bescheid wissen über diese Ehe, bevor man Steine auf die junge Frau warf. Fast reute sie, daß sie die Tische bei Friedebert bestellt – es wäre am Ende besser gewesen, sie hätte nichts an Erinnerungen aufgefrischt und dadurch den Mann in besserem Andenken behalten, als jetzt der Augenschein sie so hart belehrte. Doch, an der Bestellung ließ sich nun einmal nichts mehr ändern.

»Also dann komme heute abend aber bestimmt, denn ich kann nicht auf die Tische warten,« sagte Elise kurz und ging. –

Auf der Luisenstraße warfen die Kinder Schneeballen nach einem Manne und schrien: »Er hott – er hott!« So rufen sie in der Taunusgegend den Betrunkenen nach.

Elise fuhr unter die Rangen und jagte sie zum Teufel.

Da blieb der taumelnde Mensch stehen. Elise sah ihn an und wandte sich erschrocken schnell in die Kisselefstraße. Aber der Betrunkene torzelte ihr nach, und so flüchtete sie in die beschneiten Wege des Kurparks. Dort aber konnte sie der Begegnung erst recht nicht mehr ausweichen. Das eilige Gehen in der Kälte schien den Mann nüchtern zu machen, denn er holte Elise ein und ging jetzt ziemlich gerade.

»Ja, Elise Reul, das Flüchten nützt Ihnen nicht,« sagte Laborius Zeunlein, als er endlich neben ihr herging. »Hätten Sie die Bälger ihre Schneeballen schmeißen lassen, so hätte ich nicht auf Sie geachtet. Das gute Herz, einen Besoffenen zu schützen, das kann nur eine haben, sagte ich mir trotz meines Dusels sofort. Na und, Elise Reul, da sind Sie ja nun.«

»Sie armer Mensch,« bemitleidete Elise den Verkommenen.

Der Uhrmacher schlenkerte die Hand durch die Luft und lachte rauh.

»Das Beklagen kommt zu spät, Elise. Damals, wo ich so oft vor Ihnen auf den Knien lag – vor einem Jahr! –, damals hätten Sie mich retten können. Ich hatte den guten Willen, die Sünde Dorchen bei Ihnen zu vergessen … ungefähr so, wie ich in der ersten Zeit des Suffs Wasser nachtrank, wenn mir der Schnaps zu sehr die Gurgel kratzte. Damals! – Heute kann er mir gar nicht kratzig, billig und gemein genug sein. Auch die Weiber nicht.«

»Wollen Sie mir die Schuld an Ihrem Unglück beimessen?« erregte sich das Mädchen. »Damals – vorigen Winter – fragte ich Sie nach Ihren Absichten. Wären die redliche gewesen, so hätte ich keinen Menschen zu scheuen brauchen, wollte ich mich selbst verschenken. In schlechten Ruf geraten mit Ihnen war ich nun doch einmal – mit Ihnen, wenn auch nicht durch Sie. Da wär's also schon einerlei gewesen; denn es hängt mir heute noch so nach, daß sich keiner finden will, der sich um mich kümmert. Ich brauche freilich auch keinen. – Aber damals – als Sie mir einmal sagten … und Sie wiederholten es ja diesen Augenblick mit andern Worten! … als Sie mir sagten: es wäre Ihnen nur um meine Strammheit und um mein Bett zu tun – damals hatte ich genug von Ihnen. Zum Fetzen …? Nein, dazu war ich mir zu gut. Und eine Frau wollten Sie ja nicht.«

»Man fährt nicht nachher auf dem Schubkarren, wenn man vorher die Kutsche haben konnte, so dumm war, dies Glück in den Wind zu schlagen,« versetzte Laborius. »Nein, heiraten wollte ich Sie nicht – wollte ich überhaupt nicht.«

»Na also – was sollte ich Ihnen denn sein?«

»Das fragen Sie mich heute zu spät, Elise. Ich wußte es damals nicht recht … heute weiß ich es schon gar nicht mehr.« Dann richtete er den schon schnapsstur gewordenen Blick auf das Mädchen. »Schade – ein so prächtiges Menschenkind! – Und all dies heiße, weiße Fleisch … all der Bombast an Schenkeln, Hüften, Brüsten und andern runden Dingen verkommt um eines Kerlchens willen, wie diesen Friedebert Weihrauch. Gottssakrament, Elise – tut Ihnen denn das nicht selbst leid?« Er schlug ihr mit flacher Hand aufs Hinterteil.

Elise tat einen Schritt seitwärts in den tiefen Schnee und blieb stehen. Funkelnden Auges ballte sie die Fäuste.

»Sie sind besoffen, Zeunlein – und Sie tun mir leid –, sonst lägen Sie schon dort im Schneehaufen.«

Dabei klopfte ihr Herz zum Zerspringen. Und dieses Herzens Güte weinte um den verlorenen Menschen, der dastand, als sei er sich seiner Frechheit nicht einmal bewußt geworden – dastand, wie einer, der träumt von einer Zeit, die er gern noch einmal zurückriefe.

»Ich fahre jetzt manchmal nach Frankfurt,« begann er plötzlich zu erzählen, als habe er die dem Mädchen soeben zugefügte Beleidigung längst vergessen. »Und diese Fahrten unternehme ich, weil ich hier in Homburg in den Wirtshäusern auf der Säuferliste ausgehängt bin.« Ein derbes Gelächter kam über seine verkniffenen Lippen. »Manchmal kommt dann der Hang zu einem besseren Leben über mich in der schönen, lebendigen, von allem Kleinlichen freien Stadt. Da gebe ich mir denn mein eigenes Ehrenwort, lasse den Fusel und gehe ins Theater. Da sangen sie neulich: Die Liebe, die Liebe ist eine Himmelsmacht! – Ja, Elise Reul, das ist sie – hätte sie auch bei mir und für mich sein können, wenn ich ihrer nicht nur von meiner Seite aus teilhaftig geworden wäre. Jenen Abend, an dem ich das Lied gehört hatte, bin ich nüchtern wie ein Frosch heimgefahren. Die ganze Nacht ging mir's im Kopfe um: Die Liebe, die Liebe ist eine Himmelsmacht! – Wissen Sie, was ich glaube, Elise? Nicht mehr und nicht weniger als das: Sie und ich, ich und Dorchen, Dorchen und der Tischler Weihrauch – das heißt, wenn der nicht zu dumm dazu! – wir alle haben diese Himmelsmacht verscherzt.« Plötzlich liefen ihm Tränen über die Wangen.

»Zeunlein …,« sagte Elise bittend und trat ihm mit gefalteten Händen näher.

»Ach, lassen Sie nur,« wehrte er sie fort. »Die Tränen müssen Sie nicht ernst nehmen … Säufer heulen gar leicht.« Er fuhr mit dem Ärmel über das Gesicht. »Wenn diese Tränen aber einen Grund haben, so gelten sie nicht mir, nicht Ihnen, Elise … sie gelten einer, die ich dort in Frankfurt einmal traf – in einem Elend traf, wie es tiefer keine Menschenseele hätte ausdenken können für das arme Luder.« Nun sah er Elise förmlich gehässig an. »Ja, Ihre Ehrbarkeit – die reinliche, nichts Schlimmes wissende, nichts Schmutziges ahnende Ehrbarkeit, Elise, die macht sich keinen Begriff von der Tiefe des Elends gottverlassener Menschen. – Und ich bin das Seitenstück zu Dorchen Weihrauch …«

»Zeunlein, kommen Sie wieder in die Weiße Eule,« unterbrach in tiefer Erschütterung Elise bittend. »Es kann noch Rat werden.«

»Rat? … bei einem Kerl, der sich nicht nur in den Gossen Homburgs, nein, auch in den Frankfurter Gossen herumtreibt?« lachte er. »Elise Reul, das glauben Sie ja selbst nicht! Ihr Herz ist gut – – aber so gut denn doch nicht, daß es sich des erbärmlichsten Drecks erbarmte …«

»Ich will weiter nichts von Ihnen, Zeunlein.«

»Eben drum!« schnitt er ihr das Wort ab. »Und das genügt mir nicht. In Frankfurt habe ich das billig und bequem. Dort kostet es mich in der Rosengasse nur einen Taler – bei Ihnen würde es mich den ganzen Kerl kosten … den Kerl, der ich heute bin – – und ganz gern bin. Glauben Sie denn, das Schwein wälze sich in der Suhle, wenn es nicht einen Genuß dabei hätte?«

Auf einmal schien er das Mädchen vergessen zu haben. Er wandte sich stracks um, torkelte den Weg zurück, stolperte über Schneehaufen und gröhlte: »Die Liebäh, die Liebäh – ist eine Himmelsmacht …«

Da stand Elise Reul hilflos unter den beschneiten Bäumen und weinte.

 

»Gerappelt voll« sagt der Homburger, wenn sich die Leute in der Stube drängen. Und so war es diesen Abend in der Weißen Eule. Doch die Wirtin war unfreundlich gestimmt und vergaß zu oft des Füllofens. Da murrten einige und brachen frühzeitiger auf als sonst. Nur die Getreuesten blieben, und das waren immer noch der heisere Friedrich Leppert, der Zither spielende Ratsschreiber Karl Heim, der Gitarre zupfende Adam Schlemper.

Friedebert Weihrauch hatte sich frühzeitig eingefunden. Das Maß der Tische war ausgerechnet, und nun saß der junge Meister hinter einem Schoppen. Er vertrug auch ganz gut die alten Witze, die man sich mit ihm machte, denn eben weil es noch die alten Witze waren, so waren sie just nicht dümmer, auch nicht witziger geworden. Der Friedebert war sogar wunderlich bei Mundwerk heute und blieb nichts schuldig – vielleicht darum, weil er an die alten Witze gewöhnt war, sie gut genug kannte.

»Was is denn mit dei'm Tenor, Weihrauch?«

»Weil er so dünn war, hat mei Frau e Wäscheleine draus gemacht,« erwiderte Friedebert verblüffend schlagfertig.

Und alle lachten. Sogar Elise Reul.

Aber der immer heisere Leppert konnte die Schandschnauze nicht bezähmen.

»No, und gelt – wann dei Frau die Wäschelein' net braucht, mächt se e Narrenseil draus und führt dich dran?«

Es wurde mucksstill in der Gaststube. Elise legte die Häkelarbeit fort und hielt sich eingriffsbereit. Doch der Friedebert blieb seelenruhig, wie früher bei allen Späßen.

»Ein Narrenseil? … nää, des braucht's net bei uns,« sagte er stolz. »Awwer wenn du die Wäschleine emal hawwe willst? … sie steht dir zur Verfügung, damit de dich dran uffhänge kannst. Dann wirst de jawohl dei Dreckmaul endlich halte müsse.«

Karl Heim hatte an der Zither gestimmt; nun ließ er einen flotten Walzer los. Der abgeschlagene Friedrich Leppert saß verbissen da und dachte über eine andere Bosheit nach, die den Friedebert verwunden sollte; so tief, daß er diesmal die Entgegnung nicht fände. Der heisere Bursche gehörte zu den Leuten, die fürs Leben gern andere Menschen bewitzeln, selbst aber keinen Scherz vertragen. So grimmte er vor sich hin und musterte mit den kleinen Gänserichaugen den ruhig und würdig trinkenden Tischler.

Draußen stapfte jemand den Schnee von den Sohlen. Zum freudigen Schrecken Elisens, zum Staunen der andern trat Laborius Zeunlein in die Gaststube. Er hatte sich besser gekleidet und sah ordentlich aus, wenn auch alt und verfallen.

»Kann ich ein Glas Bier und etwas zu essen bekommen?« bat er bescheiden und ernst und sah sich nach seinem von einst gewohnten Plätzchen um. Friedebert hatte es eingenommen, so setzte sich Zeunlein daneben.

In Elisens Händen klirrten Glas und Teller aneinander, als sie dem Uhrmacher ein Schinkenbrot und einen Schoppen vorsetzte. Sie sah blaß aus und atmete kurz und schwer.

»Derfe Se denn dem Zeunlein iwwerhaupt was verkaufe – – vor allem zu trinke, mein ich,« sagte Leppert und deutete auf das an der Wand hängende Polizeiverzeichnis jener Personen, denen der Schankinhaber keine alkoholischen Getränke verabreichen durfte.

»In meiner Weißen Eule bin ich selbst die Polizei,« entgegnete Elise finster, während Karl Heim dem Schwätzer heimlich einen Knuff versetzte. Elise wendete sich an Laborius, dem sie nun die Hand reichte: »Ich freue mich, Herr Zeunlein, daß Sie den Weg in die Altstadt wiedergefunden haben. Das dort –« … sie deutete auf das Plakat … »das enthält keinen Namen, den ich aus meiner Gaststube weisen müßte. Den einzigen dieser Namen habe ich mit eigener Hand heute von der Liste gestrichen. – Also denn: Willkommen und auf gute Kundschaft, Herr Zeunlein.«

Sie nahm des Uhrmachers Glas, nippte daran und stellte es wieder so vor ihn hin, daß er an der gleichen Stelle trinken mußte, die ihre Lippen berührt hatten. Dann ging sie an ihren Platz neben dem Faß, zu häkeln wie immer.

»Wenn Sie das Lied spielen können, Karl Heim – das Lied, das alle Welt jetzt singt –, bitte, dann spielen Sie's doch,« wendete Zeunlein sich an den früheren Kneipfreund. Er pfiff leise die Melodie.

Mit allerlei Schleifern und Tönebibbern brachte Karl Heim den Sang von der Liebe Himmelsmacht auf seinen Saiten zuwege. Und Adam Schlemper verhalf mit einigen Gitarreakkorden der Zither zu vollerem Klang.

»Vergeßt nicht, daß oft der Storch das Glück ins Haus gebracht …,« summte Zeunlein nach, als die beiden Instrumente verstummt waren.

»E werklich schön Liedche,« stellte der heisere Leppert fest. Und nun hatte er die für Friedebert gemünzte Bosheit denn auch schon bei der Hand. »Du, Weihrauch – sag emal, wo is denn der Storch jetzt, der dir so schnell dei Glück ins Haus gebracht hat?«

»Ich glaube, im Winter sind die Störche in Afrika,« antwortete Friedebert in alter Harmlosigkeit und meinte diese Antwort völlig ernst.

Die Wände wackelten von dem Gelächter in der Kneipe.

»Du bist doch werklich e saudumm Luder!« erklärte Leppert, nachdem er wieder zu Atem gekommen war. »Mei Mutter, die Hebamm' is, hat doch dei Frau entbunne … die hat gemeint – als se von der Entbindung heimkam –, der Friedebert Weihrauch hat's so eilig gehabt, Vatter zu wer'n, daß er sogar e Wunnerkind von sechs Monat fertig gebracht hat.«

»Geben Sie dem Menschen keine Antwort,« sagte Laborius zu dem Tischler, verächtlich mit dem Kinn nach Leppert hinweisend.

»Ja ja, wenn des Kind kää rote Haar hätt, könnt mer meine, Sie wär'n der Storch gewese, der's e bissi viel zu früh gebracht hat, Herr Zeunlein,« rief Leppert boshaft herüber. »Sie hätte's ja aach sehr bequem gehabt – nur e korz Stiegelche enuff – und dann enei mit'm Storchschnawwel ins Kinnerbrünnelche. Da braucht sich der Friedebert Weihrauch weiter net anzustrenge.«

»Spricht denn der Mensch von meiner Frau?« forschte Friedebert zögernd.

»No, von der Fraa Zwiwwel net, denn die hat'm Herr Zeunlein nur sei Stuwwe geputzt … geschlafe hat se wo annerster,« höhnte Leppert.

»Ja, richtig – meine Frau hat ja bei Ihnen im Hause gewohnt,« erinnerte sich der Tischler und sah den Laborius nachdenklich an. »Und in dem Buche stand damals auch, daß die Zeit – –«

Vor Staunen, daß er jetzt erst begriff, was er während der Schwangerschaft Dorchens in dem alten Schmöker gelesen, verstummte er und bewegte nur noch lautlos die Lippen.

»Und wenn der Zeunlein net selbst der Storch war – vielleicht hat er'n drowe in dem Stübche manchmal klappern gehört,« schrie Leppert, so gut die heisere Kehle hergab.

Gleich darauf traf ihn Zeunleins Bierglas an der Stirn – eine blutige Schramme klaffte – ein rotes Streifchen rieselte über Lepperts Gesicht. Eine kurze Keilerei entstand, dann war die Weiße Eule leer bis auf Zeunlein, Friedebert und den Ratsschreiber Heim.

»So also ist's, wenn man den Weg zurück sucht,« sagte Laborius keuchend zu Elise. »Sie sehen, im Sumpfe ist nur Sumpf, und keiner dort nimmt sich das Recht heraus, am lieben Nächsten mäkeln zu wollen. Der Schnaps macht uns alle zu Brüdern und einen dem andern gleich an Wert. – Es tut mir leid, Fräulein Reul, daß ich Ihnen gute Gäste vertrieben haben werde.«

»Sie sollen mir der liebste Gast sein – wenn Sie sich nur treu bleiben,« versicherte Elise. »Und – treu – auch mir!« setzte sie nach kurzer Pause aufrichtig hinzu.

»Wollte ich beides nicht versuchen, wäre ich dann hergekommen?« erwiderte Zeunlein und sah das Mädchen ehrlich an.

Friedebert, der sich zuerst auf den blutenden Leppert gestürzt hatte, aber auch die meisten Püffe davontrug, saß atemlos da.

»Wie kommt der Kerl dazu, so von meiner Frau zu reden?« rief er nach Luft jappend. »Am Montag bin ich auf dem Rathaus und gehe gegen den Lump wegen Ehrabschneiderei vor.«

»Wenn ich dir einen guten Rat geben kann, so laß die Hände davon,« warnte ihn der Ratsschreiber Heim, der vergeblich das aus seiner Nase rinnende Blut zu stillen suchte.

Den Tischler überkam die Wut der Verzweiflung; er schluchzte, als er entgegnete: »Ich kann das doch nicht auf meiner Frau sitzen lassen …«

»Laß sitzen, was sitzt – aber sag' deiner Frau, sie soll sich von jetzt ab so verhalte, daß die Leut nix iwwer se rede könne,« belehrte ihn mit einem kurzen Auflachen Karl Heim.

»Also nicht nur der Leppert, auch die Leute reden über meine Frau?« Friedebert machte ein Gesicht wie ein Kind, dem man etwas selbst nach Kinderbegriffen höchst Unwahrscheinliches erzählte.

»Es ist so,« bestätigte Karl Heim, und zu Zeunlein sagte er: »Das Blickemachen und Anschubbsen nützt nichts … es ist besser, der arme Teufel erfährt die Wahrheit einmal bei Butz und Stingel. Sie selbst, Herr Zeunlein, haben ja darüber den Mund nicht gehalten.«

»Ich …?« Der Uhrmacher ward verlegen rot.

»Mit Andeutungen ist hier nicht gedient,« unterbrach Friedebert. Dann geriet er plötzlich in Zorn: »Heraus mit der ganzen Wahrheit – – oder ich schrecke vor nichts zurück!« Er sah in diesem Augenblick gefährlich aus, und seine Erregung wirkte um so beängstigender, weil man nur die harmlose, dummgute Ruhe an ihm kannte.

»Deine Frau kennt die wenigsten Homburger, denn sie war zu hochnäsig, sich um die Leute zu kümmern,« hob Karl Heim an. »So darf sie sich nicht wundern, wenn sie in Frankfurt von Leuten gesehen wurde, die sie nicht sah.«

»Was ist weiter dabei, wenn meine Frau in Frankfurt ist? Sie fährt ja nicht ohne mein Wissen hin …«

Kurz stutzte Karl Heim, als besinne er sich des Weitersprechens – er warf einen zweifelnden, hilflosen Blick auf Elise Reul und Zeunlein.

»So … du weißt davon … natürlich – aber vermutlich doch ohne dein Wissen sitzt sie bis in die späte Nachtzeit in einem Kaffeehaus, in dem die Leute vom Theater verkehren.«

»Meine Frau war beim Theater, und daß sie das noch nicht völlig überwunden hat, ist nichts Ehrenrühriges.«

»Es verkehrt aber auch allerlei Gesindel in dem Café.«

»Dafür kann meine Frau nichts.«

»Schneppen – Zuhälter –«

»Das wird sie nicht wissen, sonst ginge sie nicht hin.«

Karl Heim wurde ungeduldig und schnob nervös: »Du machst's einem redlich schwer …«

»Es handelt sich um meine Frau.«

Alle drei sahen den Friedebert erstaunt an.

»Wie dir der Kopf klar ist,« wunderte sich Elise. »Hättest du nur früher damit angefangen, Friedebert … damals, als man dich zum Narren machte.«

»Da ging's nur mich selbst an – jetzt wirft man Schmutz nach meiner Frau – das trifft mich ins Gesicht.«

Dem Karl Heim kam das Besinnen wieder: »Ich weiß nicht, – – ich glaube, es wäre klüger gewesen, hätte ich mir den Mund nicht verbrannt.«

»Du hast neun gesagt, so sag' auch zehn,« beharrte Friedebert. »Ich bestehe darauf … oder ich stelle morgen ganz Homburg auf den Kopf. Meine Frau – ist – ehrbar!«

»Ach, verdammt noch eins!« ergrimmte Karl Heim. »Das ist ja, wie wenn man gegen eine Wand redet.«

»An meiner Frau ist nichts, das schmutzig wäre.«

»Herr Zeunlein, nun müssen Sie reden,« sagte Karl Heim niedergeschlagen und seufzte.

Laborius warf einen stummen Blick auf Elise. »Das Unheil Schnaps! … es vergiftet nicht nur den, der davon trinkt. – Elise, nehmen Sie sich meiner an,« bat er. »Ich wollte heute damit brechen – wie damals … wissen Sie's noch, Elise?«

»Ich weiß es,« sagte Elise bedrückt und gedachte jener Novembernacht, in der Laborius auf einer Bank in der Weißen Eule genächtigt hatte. Nun glitt das Mädchen neben ihn und nahm seine Hand: »Damals hatte ich keinen Mut – heute habe ich ihn. Sprechen Sie nur in Gottes Namen … ich werde alles ertragen. Es soll gewiß das letztemal gewesen sein …?«

Karl Heim sah ein wenig erstaunt auf die beiden Menschen, dachte sein Teil, sagte aber in einem aufwallenden Gefühle herzlicher Zufriedenheit nichts.

Friedebert rückte schweigend von Zeunlein fort.

»Wenn der Schnaps aus mir redete,« sprach Zeunlein nach einem traurigen Blick auf den Tischler weiter, »wenn ich mich nicht mehr kannte, dann ging mir das Mundwerk durch. Und bei solch einer Gelegenheit habe ich einmal erzählt, wo man jeden Samstag Ihre Frau treffen kann.«

»Meine Frau hilft Samstags meiner Schwiegermutter im Laden,« erklärte Friedebert unbeirrt. »Aber weshalb reden gerade Sie schlecht über meine Frau?«

Zeunlein schlug die Augen nieder. »Ich war im Haß gegen sie. Warum … das lassen Sie mich lieber verschweigen. Weil ich aber aus diesem Hasse her trank, hatte ich die Macht über ihn verloren. Und darum schmähte auch ich Dorchen Weihrauch.«

»Wie konnten Sie nur! Meine Frau, – die Liebe, Güte, Tugend selbst …«

»Ihr fester Glaube ist rührend,« sagte Zeunlein kopfschüttelnd. »Das Herz tut einem weh, daß man Sie enttäuschen muß.«

»Meine Frau enttäuscht mich nicht.«

Karl Heim hielt es nicht länger aus; er sprang auf und lief, mit dem blutigen Taschentuch vor der Nase, knurrend in der Gaststube auf und ab.

»Wohnt Ihre Schwiegermutter in der Rosengasse?« hob Zeunlein hervor.

»Nein – und deshalb kann man meine Frau dort auch nicht gesehen haben.«

»Wissen Sie, was die Rosengasse ist?«

»Wenn man Dorchen wirklich dort sah –«

»Ja … ich selbst,« warf Zeunlein ein.

»... dann ist diese Gasse gewiß nichts Schlimmes,« fuhr Friedebert unbeirrt fort.

»Hirnverbrannt …!« ächzte Karl Heim verzweifelt.

»Was ich selbst nicht mit eigenen Augen sah, das glaube ich nicht. Meine Frau ist ehrbar.«

»So renn halt selwer hin, Rindvieh, verbohrtes!« brüllte Karl Heim auf.

Friedebert sah seelenruhig auf die Uhr: »Es ist halb zehn – um halb eins bin ich in Frankfurt. Länger als drei Stunden laufe ich auch bei dem Schnee nicht. Schade, daß der letzte Zug schon ab ist.«

»Seien Sie kein Narr – warten Sie, bis Ihre Frau zurück kommt, und stellen Sie sie dann zur Rede,« mahnte Zeunlein.

Aber alles Einreden der drei – diesmal half bei Friedebert kein fremder Wille. So, wie er halsstarrig die Ehre Dorchens verteidigte, so halsstarrig blieb er bei der nächtlichen Wanderung nach Frankfurt bestehen.

»Mitten in einer Dezembernacht – Friedebert, sei vernünftig,« bat Elise.

»Und wenn ich tot nach Frankfurt komme, hin komme ich,« wies der Tischler alle ab. Schon hüllte er sich in seinen Überzieher: »Und was ist denn nun eigentlich mit dieser Rosengasse los?«

»Das erfrage in Frankfurt und in Nummer fünf,« brummte Karl Heim.

»Nummer fünf – Nummer fünf – so wie: fünf Finger hab' ich an der Hand,« murmelte Friedebert, um sich die Nummer einzuprägen. Dann war er zur Tür draußen.

»Wir dürfen ihn nicht allein gehen lassen,« rief Zeunlein aus und sprang in den Flur. »Weihrauch, wir kommen mit,« schrie er draußen.

»Gut – ich warte,« antwortete der Tischler und stapfte vor dem Hause im Schnee auf und ab.

»Nää – so verrückt müßt ich sein!« lachte Karl Heim ärgerlich auf und setzte sich. »Elise, gewwe Se mir noch en Schoppe … mich bringe kää zehn Gäul uff de Weg hinter dem Weihrauch seiner Frau her … ich bleib.«

»Sie tun ein gutes Werk, Zeunlein,« sagte Elise zu dem Uhrmacher. »Weit könnt ihr bei dem Schnee nicht kommen. Bestimmen Sie den armen Menschen bald zur Umkehr.«

»Das ist ja meine Absicht,« bekannte Laborius; dann schritt er hinaus.

Elise folgte ihm auf den Flur. Als Zeunlein kurz gute Nacht sagte, legte sie ihm die Hand auf die Schulter.

»Ich danke Ihnen, daß Sie kamen …«

»Hat es Sie wirklich gefreut, Elise?«

»Sehr … o so sehr …«

»Und Sie wollen mir helfen?«

»Ich will!«

Dann wartete sie ein paar Sekunden. Doch als er regungslos dastand, nahm sie allen Mut zusammen. Ihre Hand glitt zögernd über seine Schulter hinweg, und dann lag Elise Reuls Arm um des vor Glück zitternden Mannes Nacken. Mit wehem Herzen vernahm sie sein zweifelndes Aufseufzen. Sie beherrschte sich nicht länger, streichelte ihm das Gesicht, umschlang ihn und bettelte: »Sei wieder gut … sei gut …«

»Ich will es sein – ein ganzes, schönes, langes Leben lang,« gelobte er stillen und heiligen Herzens.

Dann küßten sie einander zum Abschied.

»Und wenn du den Weihrauch bald zum Umkehren bringst –«

Nun stockte sie doch und drückte ihr Gesicht an Zeunleins Hals.

Laborius lachte leise und glücklich: »Ich weiß, Elise – dann darf ich noch einmal in die Weiße Eule kommen …«

»Darf …? Du sollst!«

Dann flüchtete sie in die Tür der Gaststube zurück.

»So, Weihrauch – nun los. Wir wollen sehen, wie weit wir kommen. Ich trage den versoffenen Zeunlein in die Winternacht hinaus und verscharre ihn dort im Schnee, wo ihn die Krähen fressen mögen … der Zeunlein ist gewesen … der Laborius aber wird leben. Dann soll er seinem Namen Ehre machen … denn labora heißt: Arbeite!«

Das hörte Elise ihn noch sagen, dann verschollen die vom Schnee gedämpften Schritte in der Gasse.

Ein hochaufgerichtetes junges Weib, stark an Gliedern, stärker noch an Willen, trat in die Schenkstube, reckte sich in den Schultern, wiegte die Hüften und bot dem Leben die vollen Brüste dar. Sie setzte dem Ratsschreiber Heim das Bier vor und nahm dann den gewohnten Platz neben dem Faßbock ein.

»Na nu, Elise Reul … Sie trudeln ja die Häkelarbeit wieder auf?« wunderte sich der letzte Gast eine Weile später.

»Ich will versuchen, ob ich ein Jäckchen für ein ganz kleines Kindchen fertigbringe,« erwiderte sie und errötete unter einem schönen Lächeln.

 

Holzhacker hatten vor der Ledermühle für den Haushalt des dort wohnenden Vorarbeiters August Denhard Scheite gespalten. Frischer Schnee war schon wieder auf die noch liegengebliebene Klafter gefallen. Der Hackklotz stand an der Wand. Das Beil stak darin …

»Für alle Fälle!« sagte Friedebert kurz, riß das Beil heraus und schob es mit dem Stiel voran in die Überziehertasche.

Laborius hielt den Augenblick für gekommen, dem Tischler zuzureden.

»Das mit der Axt ist ja Unsinn,« fing er an. »Mit Gewalt schlägt einer nicht die Knorze aus seiner Ehre.«

»Gewiß nicht. Aber mir ist nun einmal rot vor Augen. Und so schlage ich denn Sie tot, wenn ich in der Rosengasse meine Frau nicht finde. Denn dann haben Sie gelogen, wie die andern.«

Friedebert sagte das so ruhig und überlegt, als spräche er von der einfachsten Sache der Welt.

Zeunlein lachte verärgert: »Sie sind nicht bei Sinnen, Weihrauch.«

»Das haben mir die Menschen bis jetzt bei allem gesagt, was ich auch immer tun mochte. Auch meine Mutter. Und erst recht mein Vater. Nur mein Dorchen sagte es nie … nie … nie.«

»Es fängt an zu schneien. Lassen Sie uns umkehren, und fahren Sie morgen mit dem ersten Zug nach Frankfurt.«

»Aha!« machte Friedebert mit gellem Triumph. »Fällt Ihnen das Herz in die Hosen? Wenn Sie umkehren wollen, so kehren Sie um. Ich finde Sie mit dem Beil auch morgen früh noch zeitig genug. – Ich komme nach Frankfurt, und wenn ich auf allen vieren durch den Schnee kriechen müßte.«

Zeunlein sah ein, daß er den so seltsam im Wesen veränderten Mann nicht allein lassen durfte. Auch hoffte er auf den schwierigen Weg und war still überzeugt, die aufflammende Charakterkraft des Tischlers wäre nur Strohfeuer, würde früher oder später auslöschen, nüchtern werden, wenn sich der schwächliche Mensch erst einmal müde gelaufen. Der Weg bis Bommersheim war allein schon weit genug und führte auf der Urseler Landstraße einmal durch eine sicherlich vom Schnee verwehte Senkung. Und diese Stelle war erst ein Viertel der Wanderung nach Frankfurt.

Seltsame Helligkeit war rings. Licht, das von nirgend her und doch von überall zu kommen schien. Der hinter den Schneewolken verhüllte Mond verbreitete dies Licht, und die schneeglatten, schneeweißen Äcker sogen es auf und gaben es der Nacht zurück, als ob aus einer tiefen Flut empor eine versunkene Sonne leuchte. Dies wunderlich tote Licht war unheimlich und doch wohltätig zugleich … wenigstens war in seinem Schimmer die Landstraße gut zu erkennen, auf der halbrunde Rillen den Weg wiesen: Schlittenspuren, deren scharfe Gleise der aufs neu fallende Schnee ausfüllte, die steilen Ränder zu sanftgebogenen Riefen modellierend.

Dann kam die Senkung, halbwegs zwischen Homburg und Oberursel. Hier hatte der Wind sein Werk getan. Der Schnee lag völlig eben und spurenlos, wie auf einer unter ihm verborgenen Eisfläche.

Zeunlein zögerte, doch Friedebert stapfte voran. Mitten in der Wehe – sie reichte beiden Männern weit über die Knie – blieb Laborius stehen.

»Seien Sie doch vernünftig, Weihrauch – lassen Sie uns heimgehen – bis Frankfurt kommen wir nicht mehr diese Nacht.«

»Ich komm' hin!« sagte der Tischler, in seinen Gedanken verbissen. Er nahm den Hut ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn, dann watete er weiter.

Zeunlein hielt sich in Friedeberts Spur, so hatte er einige Erleichterung. Nun vertraute er auf Oberursel … in einer halben Stunde mußten die Lichter der kleinen Stadt zu sehen sein. Er wollte Friedebert zwingen, in der Wirtschaft nahe dem Bahnhof Rast zu machen, und dort glaubte er ihn zur Heimkehr überreden zu können.

»Die Flocken werden größer und fallen dichter,« sagte Laborius, als sie die Schneeverwehung hinter sich hatten.

Doch Weihrauch, scheinbar nicht im geringsten ermüdet, hielt unverdrossen den schwierigen Weg ein.

Plötzlich war das fahle Hell verschwunden. Ein hohles Sausen zog vom Taunus herüber und fiel wie körpergewordene Nacht, ein unsichtbarer Wolf, die beiden Männer an. Dann schwieg das Finster plötzlich wieder eine Weile. Und dann im Nu stob mit wüstem Geheul Nordwind von der Höhe, wälzte sich über den Abhang der Taunusberge herab, trieb kreischend den wimmernden Schnee vor sich her und tollte mit satanischem Geheul nach der Mainebene hinüber.

»Wir müssen umkehren, wir kommen ja nicht einmal bis Oberursel,« gellte Zeunlein durch das Sausen und packte den Tischler beim Arm.

Der machte sich mit einem Stoße frei, stand da und zückte das Beil zum Zuschlagen. Da ließ Zeunlein von ihm ab. Sie kämpften sich weiter, gegen den Wind ringend, der fest wie eine Wand war, gegen die Schneewirbel, die gleich eisigen Mänteln um sie flatterten. Keuchend vor Anstrengung stemmten die nächtigen Wanderer ihre Leiber wider den Sturm und eine Anhöhe hinauf.

Und da droben gewahrte Zeunlein einige Lichter; es waren die Häuser am Rande Oberursels. Schweigend nahm er sich vor, dort auszurasten und dann allein nach Homburg zurückzuwandern. Der Nordwind trug verwehten Glockenklang herzu … es mochte das Elfuhrschlagen der Urseler Pfarrkirche sein. Zeunlein bedachte, wenn er sich nur zehn Minuten in der Blauen Traube wärmte, könne er um halb eins bei Elise sein. Daß er den Tischler nicht ohne Not verlassen hätte, das würde ihm das Mädchen glauben … falls Weihrauch auf dem Irrsinn des Nachtmarsches durch Schneetreiben und Sturm bestand.

Und das war der Fall! …

Als die Landstraße nach Bommersheim abzweigte, marschierte Friedebert diesen Weg.

»Weihrauch, lassen Sie uns den kurzen Umweg über Oberursel machen und rasten,« schrie Zeunlein und blieb mit zitternden Knien stehen.

»Ich raste bei meinem Dorchen,« rief der Tischler zurück und verschwand auch schon in einem Flockenwirbel.

Laborius ließ ihn ziehen. –

Erschöpft saß der Uhrmacher in der Blauen Traube auf der Bank. Der vollkommen beschneite, froststarre und dabei in Schweiß gebadete Mann, kraftlos wankend, hatte beim Betreten der Gaststube nicht geringes Aufsehen erregt.

»Bier wolle Se trinke bei dem Zustand?« sagte der Wirt Hasselbach. »Mann, des friert Ihne ja die Därm zusamme. Nehme Se lieber e paar kräftige Schnäpscher.«

»Nein, keinen Schnaps; dann bitte ich um eine Tasse Kaffee.«

»Kaffee? Den gibt's net bei mir.«

»Also gut, ein Bier. Es ist mir ja nicht ums Trinken, es ist mir nur ums Ausruhen zu tun. Ich breche gleich wieder nach Homburg auf.«

Aber der eigenmächtige Wirt stellte statt des Bieres Schnaps hin – nur ein kleines Gläschen.

»Bier wär e Sünd, wann Se bei dem Wetter noch den weite Nachtweg nach Homburg mache wolle,« sagte er gutmütig.

»Schnaps wäre Sünde … wenigstens für mich.«

»Ach, mache Se doch net so en Bräampel – enunner damit, und Sie solle sehe, wie Se ufftaue. Dann lääft sichs noch emal so gut.«

Einige Minuten stand das Schnapsglas unberührt. Der Wirt Hasselbach hatte sich wieder zu seinen Gästen gesetzt und fuhr in der durch Zeunleins Kommen unterbrochenen Erzählung fort.

Und nach einer Weile rief Zeunlein fast schüchtern: »Noch ein Glas, Herr Hasselbach …«

»No also, uff ääm Bää geht mer aach net heim,« lobte der Wirt und kam mit der Flasche; er stellte sie neben das Gläschen, nachdem er eingegossen hatte.

Es schlug halb zwölf auf der Kastenuhr der Gastwirtschaft, als Zeunlein den Wirt zum Bezahlen rief.

»Um ha–halb eins bi–bin ich – in – in Homburg,« meinte der Uhrmacher schlicksend.

»E bissi später schon,« verkündete Hasselbach lachend. »Mei Uhr da, die geht nach von wege der Bollezeistund.« Dann maß er mit drei Finger den Rest der Flasche. »No, prost – Sie hawwe sich ordentlich derzu gehalte! Also sage mer: sechsmal fuffzehn mächt neunzig Pfennig. Es könne awwer auch siwwe Gläsercher gewesen sei. No, uff e Stampche Nordhäuser kimmt's ja net an.«

Dann suchte Zeunlein mit glasigen Augen die Tür und tappte hinaus.

Draußen schrie der Schneesturm. Aber er wirbelte nicht mehr Flocken, er trieb sandharten, mehlfeinen Eisstaub über das Land. Die Apfelbäume an der Urseler Landstraße ächzten mit den gefrorenen Zweigen, in den kahlen Schlehdornbüschen raschelte es gespenstisch, häufte sich zu schlohweiß geduckten Gestalten.

Der trunkene Mann taumelte des Weges, vom Sturm bald da, bald dorthin gezerrt, kreuz und quer getrieben vom Wirbeln des schnapsbetäubten Hirns. In der Schneewehe verlor er die Kraft und fiel nieder. Droben am Rain seufzte und pfiff und wimmerte der Sturm in einem Brombeerengebüsch.

»Ach, Elise – sei gut – es war ja das letztemal – gewiß das allerletztemal,« lallte Zeunlein, der in den dürren Stauden klagenden Sturmstimme antwortend.

Das letztemal …

Und dies Versprechen hielt Laborius Zeunlein heilig.

Am nächsten Morgen scheuten die Pferde eines Schlittens, der durch die Schneewehe nach Homburg wollte. Der Kutscher hieb auf die Gäule ein, aber sie bäumten und brachen seitwärts aus. Der Schlitten kippte auf einer Unebenheit um, die Tiere standen zitternd und mit pumpenden Flanken. Durch die Schlittenkufen bloßgelegt, lag ein dunkler Körper zutage …

Plötzlich stand inmitten des tiefen Schnees eine schwarze Gestalt. Die Pferde rissen an den Sielen und schnaubten vor Entsetzen. Der schattenhafte Mensch ging ruhig zu den Tieren hin und deckte jedem eine knochige Hand über die Nüstern. Von da an standen die Gäule geduldig und ohne Furcht.

Mit dem knöchernen Gesicht unter dem breiten Schlapphut, mit den in ihrer Eingesunkenheit wie leeren Augenhöhlen, aus denen die Augen ernst, schwarz wie dunkle Löcher, sahen, mit der hageren Gestalt glich der Fremde dem Tode selbst. Er beugte sich nieder und fühlte nach dem Herzen Zeunleins. Dann schüttelte er stumm den Kopf und sah wie zufrieden in das stille, weiße Gesicht des Erfrorenen. Der Fuhrmann redete allerlei, doch der Mann gab keine Antwort. Wortlos half er den Toten auf den Schlitten betten. Obwohl der Fuhrmann ihn mahnte, mit nach Homburg zurückzukehren und vor der Polizei über den traurigen Fund auszusagen, wandte sich der geisterhafte Mensch des Weges. Ärgerlich wollte der Fuhrmann ihn zwingen und eilte ihm nach. Aber weit, weiß und einsam lagen rings die tief unter dem Schnee begrabenen Äcker, öde und leer die ganze Winterlandschaft, als ruhe sie in tiefem Erschrecktsein ermattet aus von den in dieser Nacht erduldeten Qualen, die der wütende Sturm, der treibende Schneestaub über sie dahin gebraust.

Ein wunderlicher Zufall wollte, daß der Kutscher seine müden Tiere und das Gefährt bei dem Fuhrwerksbesitzer Pfaff unterstellte … gegenüber der Weißen Eule …

So sah Elise Reul den Laborius Zeunlein wieder, auf den sie die Nacht hindurch gewartet hatte … mit so süßen und heißen und frohen Hoffnungen.


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