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Eine rothe Rose auf Geroks Grab.

Die lichten Sterne funkeln
Am Himmel kalt und stumm;
Von Waffen klirrt's im Dunkeln,
Der Tod geht draußen um

So klang mir's fort und fort in den Januartagen 1890 durch Ohr und Herz. Werden reife Fruchtgarben schleunig gebunden und in die Scheunen geheimst, oder Schafe eilend vom Hirten heimgetrieben in die Hürden vor losbrechendem Sturm? Erfüllt sich das Wort: »Die Gerechten werden weggerafft vor dem Unglück?« Wer will es sagen? – Unter ihnen Karl Gerok. Kränze in Hülle und Fülle sind auf sein Grab niedergelegt worden, so reich wie selten einem Menschen; von der Hand der deutschen Kaiserin und dem württembergischen Königspaare an bis zu den Kränzen der Blinden und Waisenkinder Stuttgarts. An seinem Sarge sind Worte geredet worden, von welchen man nicht weiß, welches das bezeichnendste und ergreifendste, und den liederreichen Mund hat die herrliche Stuttgarter Liedertafel zu Grabe gesungen. Aber allenthalben her legten sich unsichtbar und lautlos Kränze nieder, bethaut von den Thränen Derer, denen Gerok ein Führer zum Licht und Leben gewesen; manch' köstliche Liederblume ist, rasch getrieben durch die Gluth des Schmerzes, aufgeschossen über dem Hügel des geliebten Sängers. Ihn kennen und lieben war ja eines; und wer ihn nicht liebte – der kannte ihn nicht. So legt auch das Daheim den Kranz dankbarer Erinnerung nieder. Ist Gerok ihm doch von seinem Entstehen an ein treuer Freund gewesen, hat ihm seine köstliche Jugendgeschichte, als einem verständnißvollen Leserkreise anvertraut, und wie manches seiner herrlichen Gedichte im Daheim traf zur rechten Zeit das lösende und befreiende Wort an den großen Wendepunkten unserer neueren Geschichte. So mahnte mich das Blatt an einen wehmüthig-süßen Liebesdienst, als Freund vom Freunde zu reden, nachdem das letzte, was Gerok ins Daheim schrieb, ein liebevolles Wort zu meinem eigenen Bilde war. Gewiß, bessere Federn werden seine Bedeutung für Kirche und Literatur preisen, wenn erst zum Verlieren das Vermissen gekommen sein wird; ist die Lücke gerissen, so versteht man leider erst voll und ganz den, der sie ausgefüllt. Und wie viel und wie Vielen wird er fehlen! So mag denn der Leser vergeben, wenn ich inzwischen nothgedrungen mehr von mir reden muß, als mir lieb ist. Ich tröste mich aber des Wortes, das mir geschrieben wurde: »Erzählen Sie uns, wie Sie Gerok kennen lernten und wie Sie sich liebgewannen. Das ist der beste Nekrolog, den ein Freund dem andern aufs frische Grab legen kann. Die Wärme geht vom Erzähler auf den Leser über, daß ihm wird, als hätte er selbst eben erst den Freund aufgenommen und nun verloren. Am Thatsächlichen liegt nichts. Der beste irdische Lohn eines wohlverbrachten Lebens ist der: in den Herzen edler Menschen fortzuleben. Nur der Eindruck, den wir auf unsere Vertrauten machen, verdient literarisch festgehalten zu werden.« – Wann ich Gerok zum ersten Mal gesehen! Ja, wenn ich das nur sagen könnte? Aller Liebesanfang ist wie aller Lebensanfang, dunkel und unbewußt. Mir schwebt vor, ich hätte ihn auf dem Stuttgarter Kirchentage im Jahre 1850 gesehen, wo er mir als »Helfer« an der Hospitalkirche gezeigt wurde. Er hatte damals weder Predigtbuch noch Gedichte herausgegeben. So verklang mir auch sein Name. Wiederum sah ich ihn in den sechziger Jahren, ich glaube 1868, zu Stuttgart. Da war er bereits ein vielgefeierter Mann, und ich traute mich nicht an ihn heran, wiewohl ich mit dem hochgewachsenen Manne mit dem blitzenden Auge und der schönen Stirne, dem wallenden Haare so gern angebunden hätte. Ich hörte ihn predigen und dachte, es werde nun ein Blumenregen über mich herabträufeln, irgend ein improvisirter Vers ihm entschlüpfen – aber nichts von alledem. Das ging so schlicht und verständlich, nüchtern und klar daher, alles durchsichtig, wie schon die Disposition, aber warm, lebensvoll und herzgewinnend. Das Geheimniß seiner Predigt und ihrer Wirkung war eben – er selbst, seine ganze Persönlichkeit, alles in ihm und an ihm predigte. Da war keine Kunst zu merken als die, alle Kunst zu verbergen und dem Hörer die reife Frucht zu bieten, daß er sie genieße und nicht erst den ganzen Werdeprozeß des Wachsens und Reifens mit durchmachen müsse. Das blieb auch – wenn ich anders ihn recht erfasse – der Zauber seiner Rede bis ins Alter. Gelesen sind seine Predigten oft wie der Christbaum im hellen Sonnenschein – immerhin ein Christbaum – gehört aus seinem Munde aber – wie beim Kerzenschein leuchtend und duftend. Es ist gefährlich für einen jungen Pfarrer, der ich damals war, so einen zu hören, und doch auch wieder so erquickend. Die Herren »Amtsbrüder« werden verstehen, was ich meine. – So las ich denn erst Geroks Palmblätter, bevor ich ihn eigentlich zu sehen bekam. Ich sah ihn im Worte. Aus seinen Liedern und Gedichten wehte es mich so wonnig an, und um ein Haar hätte ich ihn auch – angedichtet. 's war gut, daß ich's nicht gethan, denn wer weiß, was mir geblüht hätte bei diesem so demüthigen Mann. Denn »Bescheidenheit« ist doch nur ein zweifelhaftes Lob und ist oft mehr Klugheit als Gesinnung und Tugend dahinter. Ich hörte nämlich, daß eine arme Nähterin im brennenden Straßburg nichts von ihren Habseligkeiten gerettet, als »Geroks Palmblätter«, die sie sich in ihrer Armuth abgeschrieben habe. Darüber wollte ich ein Gedicht machen und ihn, zart und doch schlau, um ein Exemplar für das arme Mädchen bitten. Später hat er mich »arg« gezankt, als ich ihm erzählte, daß ich's nicht gethan. Ich hatte dann seine » Deutsche Ostern« gelesen. Ja das war, als ob er selbst mit dabei gewesen, wie warm hat dies Herz mit seinem deutschen und Schwabenvolke gefühlt! Er stand eben ganz in der Zeit, wie sein innerer Mensch ganz in der Ewigkeit wandelte. Aber weil er das Letzte that, darum konnte er auch das Erste thun. Durch seine Predigten »Aus ernster Zeit« zittert das ganze Leid, die ganze Hoffnung jener Tage durch; es sind »Gelegenheitspredigten« im besten Sinne; denn das Wort bleibt wahr auch für jene Kriegsjahre: »Des Menschen Verlegenheit ist Gottes Gelegenheit.« – Endlich im Jahre 1877 bekam ich ihn richtig zu Gesicht. Es war bei Gelegenheit eines Vortrages über Musik, dem am Abend eine herrliche Aufführung der Liedertafel folgte. Da saßen wir traulich am Tische, mit seinem Bruder, dem prächtigen Stadtpfarrer von Schwäbisch-Hall, zusammen. Die Brüder gemahnten mich in ihrer Liebe an den Bruderbund mit meinem Max, der jetzt so kurz vor Gerok heimging. »Das ischt Bruderliebe,« sagte einst ein badischer Bauer, als er uns Zwei mit einander sah – und so war's auch bei Gerok; war's doch auch sein einziger Bruder, der mit ihm alle Jugenderinnerungen getheilt, und ich kann's dem Bruder nachfühlen, wenn er am. Grabe sagte: »Wie viel Bruderliebe und Brudertreue sinkt uns in Dein Grab! Keine Freude, die Du nicht mit uns getheilt und brüderlich gewürzt, kein Leid, da Du uns nicht getröstet und aufgerichtet hättest.«

Ich wollte ihn nun in seinem Heim aufsuchen, so in der Dämmerstunde, aber – verfehlte ihn. Doch das schwäbische Mädchen, das mir den bitteren Bescheid gab, daß er ausgegangen, versüßte ihn mir, als ich meinen Namen nannte, mit dem Worte: »Aber dös wird einmal dem Herrn Prälat arg leid sein, daß Sie da waren!« Sie gestand mir, daß sie von meinen Büchern gelesen und den Namen oft gehört hätte von »mei'm Herrn Prälat«. Er schrieb mir dann den ersten Brief: »Hochwürdiger, hochverehrter Herr und Freund! Ihre freundlichen Zeilen geben mir erwünschten Anlaß, für Ihren leider von mir verfehlten, in romantischer Abendstunde zugedachten Besuch meinen herzlichen und schmerzlichen Dank nachzuholen. Er war aber auch so ein Ereigniß in meinem Hause, weil ich meiner Jugend Ihre hinterlassene Karte dahin erklärte, sie komme vom Verfasser und Helden des ›untersten Stockwerkes‹ und so mancher Erzählungen, an denen wir uns im vorigen Winter so köstlich ergötzt hatten. – Ich schließe mit der frohen Hoffnung, daß Sie das nächste Mal nicht genöthigt seien, in › meinem untersten Stockwerke‹ wieder umzukehren. Mit innigster Verehrung Ihr treuergebener K. Gerok. Stuttgart, am 28. August 1877, an Goethes Geburtstag.«

Das war der Anfang einer Correspondenz, die sich nun von da ab die Jahre hindurch bis zum 7. Januar 1890 in Freude und Leid, in Poesie und Prosa herzerquickend und an Innigkeit sich steigernd gesponnen hat. Der »Hochwürdige und Hochverehrte« sank herab und der »Herr« mit ihm; und statt dessen stieg das trauliche »Du« und »geliebter Freund« empor. Diese Briefe und Lieder sind mein kleiner Hausschatz geworden unter dem Titel: »Flora Gerokiana«, den ich ungern zeige, weil zu viel Liebes drinsteht. Sie sind wie Brautbriefe, voll Duft einer zarten Liebe eines Aelteren zu einem Jüngeren, den er nie sein Jüngersein fühlen ließ. Er, der Schweigsame, der an dem munteren Geplauder seine Freude hatte, konnte so verständnißvoll zuhören, als hätte er eigentlich gesprochen, und einem die Gedanken aus der Seele locken, bereit, sofort darauf einzugehen, und noch was Besseres draus machend, so daß man schließlich nicht mehr wußte, was er, oder was man selbst gesagt. »Und all Dein Denken, all dein Sehnen – ob's Dein, ob's ihr, Dir ist's nicht kund,« so ging mir's mit ihm nach Geibels herrlichem Liede. Es ist etwas Eigenes um solche Freundschaften im Alter; sie sind wie ein Johannistrieb, der noch einen goldenen Herbst verheißt. Man hat eine Fülle von Anschauungen, von Erfahrungen und Beobachtungen in sich gesammelt, und wenn nun Zwei zusammenkommen, die Hände zum Nehmen und zum Geben haben (denn Manchem fehlt die eine oder die andere) und (in aller Bescheidenheit geredet) so ein Tröpflein Dichterblut auch in dem Andern sitzt, dem alles Vergängliche ein Gleichniß ist – dann fließt das kleine Bächlein bald in den vollen Strom fröhlich hinein und freut sich, daß es sich darin verliert und – sich gewinnt. Wenn so Manche Gerok schweigsam und nicht »ausgiebig« fanden, und ich dies Urtheil gar nicht theilte, so klärte mich ein guter Stuttgarter darüber auf, indem er sagte: »Ja, mit Dir ischt er halt au anders!« Dazu hatte er in mir und ich in ihm einen stillvergnügten Gesellen erkannt, der unter Thränen lacht und beim Lachen Anderer weint – jenen Schalk, den er freilich in so hinreißender, liebenswürdiger Weise verbarg und offenbarte. Es flogen hin und her die Brieflein, wenn gerade eine gute Stunde oder Gelegenheit kam; wir tauschten unsere Bücher, und die Kritik blieb auch nicht aus. So sandte er mir, nachdem ich ihm zum siebzigsten Geburtstage gratulirt hatte, sein Buch: »Der letzte Strauß.« Ich schrieb ihm zurück:

»Das war noch lange nicht dein › letzter Strauß!‹
Mit Deinem Sang ist's noch nicht aus!
Denn solch' ein klingend Schwabengemüth
Singt noch im Tod ein Schwanenlied.

Vor kurzem trug man Dir ins Haus
Von Blumen einen vollen Strauß;
Dafür gebührt sich neuer Dank,
Dein Dank war stets dann ein Gesang.

Wenn dich der Herr im sel'gen Land
Ins › Sträußlein der Lebend'gen‹ band –
Wenn Du im letzten Kampf hieltst aus –
Das war allein Dein › letzter Strauß!‹

Flugs kam darauf die beschämende Antwort, die ich leider nicht schuldig bleiben darf:

Ein goldnes Herz und ein goldner Humor
Das Herz in der Brust und der Schalk hinterm Ohr –
Ob er grüßt zu dem Fest, ob er dankt für den Strauß –
Der goldene Fromme! schaut immer heraus!

Ein ander Mal eilte ich nach Stuttgart, ihn aufzusuchen, um auf seiner von Winden und Rosen umspielten Veranda ein paar Stündlein auszuruhen und schwäbische Luft zu schöpfen. Da hörte ich zum Schrecken, daß er vor wenig Stunden nach Baden gereist sei, mich aufzusuchen. Ich konnte leider nicht mehr umkehren, so setzte ich mich an seinen Schreibtisch und schrieb auf das nächste beste Blatt:

»Ach, ich fühl's: er ist verschwunden,
Weilt von hier nur wenig Stunden,
Und mein heißerträumtes Glück
Bringt kein Dampfroß mir zurück.

Dichter gleichen sehr den Schwanen –
Ihnen thut bisweilen ahnen,
Daß von ferne Jemand käm',
Der ihn'n Licht und Luft wegnähm'.

So entflohst Du allzuflüchtig,
Mit dem Schnellzug allzurichtig,
Und mein heißerträumtes Glück
Bringt kein Dampfroß mir zurück.«

Die Antwort ließ nicht auf sich warten, bald erschien der Schalk:

» Karl an Emil.

Die Sage ging, im Badischen
Sei nur der Freund zu finden,
In lieblichen, arkadischen
Bekannten Schwarzwaldgründen.

Da warf ich flugs in froher Hast
Mich in den nächsten Schnellzug,
Und Frommel war der erste Gast,
Nach dem ich im Hotel frug.

Im Hirsch und Lamm, in Sonn' und Stern
Sucht' ich den goldnen Emil,
Gleichwie der Pudel seinen Herrn,
Wie seinen Schatten Schlemihl.

Nicht im Hotel, nicht auf der Flur,
Auf Wald- und Wiesenwegen
Fand ich von Emil eine Spur,
Dagegen reichlich Regen!

Und als mein hastig Reiseglück
Ich sattsam durchgenossen,
Kam ich durchweicht nach Haus zurück
Bis auf die Haut begossen.

Da ließ Dein Brief mich lesen, ach!
Mit schmerzlichem Entzücken,
Du thät'st die Stadt am Nesenbach,
Dieweil ich fern, beglücken.

Drum ob zwei Dichtergenien
Sich leiblich auch verfehlen; –
In leichtbeschwingten Xenien
Begrüßen sich die Seelen!«

So gern wären wir einander näher gewesen. Als ich darum im Scherze ihm einmal sagte: ich wollte gern »Prälat von Degerloch« (einem Dörflein auf den Höhen Stuttgarts) werden, schrieb er: »Nein, weißt Du was? Werde Du Abt von Hirsau und setz' Dich zur Ruhe, dann werde ich Propst im Kloster Lorch, und wir besuchen einander je und je auf einen Becher kühlen Klosterweines, und Du erzählst mir vom alten Kaiser Weißbart.« – Mag's denn genug sein von dem, was unter uns im heiteren Austausch verhandelt ward. – Mich zog ja noch Tieferes zu dieser lieben, lichten Gestalt. Gerade seine »Unnahbarkeit« hatte für mich einen besonderen Reiz. Sie war ja nicht eine angenommene, vornehme Haltung, die einem frechen Eindringling ein » Quos ego« zurief (was er übrigens auch practizirte) – sondern ein Ausfluß seines nach innen gekehrten Sinnes. Er war wie in einen lichtgewobenen Schleier jungfräulichen Wesens gehüllt, den er nicht gestattete anzutasten; er war eine Art Sensitive, rauhe Hände und Menschen meidend, die ihm seine Kreise störten. Wie seine Dichtungen den Stempel des Wohllautes, des Maßvollen in sich tragen, eine seltene Vollendung der Form aufweisen bei allem ursprünglich sprudelnden Leben, so hatte auch der ganze Mensch etwas Gehaltenes, Maßvolles. Alles »Zuviel« verletzte ihn. Die wahre Weihe alles Verkehrs zwischen Menschen bildet aber die Nähe und die Ferne; wer nicht fern sein kann, kann auch nicht nahe sein. Diese Gehaltenheit war bei Gerok nicht blos Naturanlage, sondern zugleich innere sittliche Errungenschaft. Durch tiefempfindende, zartbesaitete Menschen gehen auch starke Aufwallungen, und in den Aeolsharfen heult auch einmal der Sturmwind. Es hat dieser Johannesseele nicht am Aufflammen heiligen Zornes gefehlt in seinem Predigeramte – die Stuttgarter wissen wohl davon zu sagen – das läßt aber schließen, daß er auch mit seiner »Psyche«, dem seelischen Menschen, manchen Strauß in jungen und alten Jahren wird bestanden haben. Ich genoß ja wesentlich den Abendsonnenschein seines Lebens. Die sinkende Sonne ist zwar größer als die aufgehende – aber sie sticht nicht mehr. So ist's auch mit der Sonne unsers Lebens. Es goß sich ein milder Schein (wie äußerlich sein Haupt ein Silberglanz umfloß) auch über seine Worte und sein Wesen – und das that einem so leicht erregbaren, streitbaren Menschen wie mir so erquickend wohl. Feststehend auf dem Felsen göttlicher Wahrheit und im göttlichen Worte, eine anima naturaliter lutherana, mit heiliger Pietät für alles kreatürlich Geordnete und geschichtlich Gewordene genährt von dem besten theologischen Marke seines schwäbischen Stammes, bewahrte er doch die Weitschaft des Blickes und des Herzens und hatte etwas Oekumenisches in seiner religiösen Ueberzeugung. Die liebevolle Anerkennung alles Trefflichen, wo er es auch fand, die tragende Geduld mit den Schwachen und Irrenden kam aus seiner Liebeskraft, die gern Allen Alles sein wollte, um ihrer Etliche für Christum zu gewinnen. Er wollte, wie er einmal in einer Vorrede zu seinen Predigten sagte, »ein Thürhüter sein am Heiligthum, dessen Amt aber wesentlich nicht im Zuschließen, sondern im Aufmachen« bestehe. Er ist vielleicht darin von Manchen mißverstanden worden, und sein »Es reut mich nicht« hat da und dort böses Blut gemacht. Es will aber Jeder aus seiner Natur und Anlage, aus seiner Führung und besonderen Berufung heraus verstanden sein. Aber dazu haben eben die Leute heutzutage keine Zeit und noch weniger – Liebe. Man schlägt Einem lieber gleich einen ordentlichen Hieb über den Kopf, dann ist er abgethan, und man ist flugs fertig. Wie ließ sich aber Enge und Weite in Gerok so gut verstehen, wenn man ihn nur ein wenig liebte! Wie viel danke ich ihm darin, daß er oft mit einem einzigen Worte schwäbischer »Weisheit« den brennenden Kopf und das wallende Herz zurechtrückte!

Nur noch zwei Begegnungen. Es kam der Tag von Lützen 1882, das fünfzigjährige Jubiläum des Gustav-Adolf-Vereins. Wir Beide sollten zusammen dort auf freiem Felde predigen. Es war ein sehr kühler, rauher Tag, und mir bangte für ihn. Wir fuhren zusammen aufs »Schlachtfeld«. Da stand er denn oben auf der freien, hohen Kanzel, in seinem seidenen Talar und dem goldenen Prälatenkranz, dem wehenden Silberglanz um die Schläfe – eine wahre Prophetengestalt – und hielt jene herrliche, unvergeßliche Predigt vor der lautlosen vieltausendköpfigen Menge. Die Stimme drang durch, so klar wie das Silberglöcklein auf seiner Stiftskirche. Ich wickelte ihn dann ordentlich ein in Decken und besorgte ihm warmen Trank. »Diesmal mußt Du folgen,« sagte ich ihm, »denn ich muß Dich wieder heil nach Stuttgart liefern.« Denn nebenher war er ein unbesorgtes Kind und wäre gewiß manchmal recht hülflos gewesen, hätte ihm nicht seine treue Prälatin und sein trautes Töchterlein Emma zur Seite gestanden. Das war so ein Höhetag; und an solchen Höhetagen muß man ihn gesehen haben bei Gustav-Adolfs-Festen und Kirchentagen. Wie wußte er da » ad hoc« zu sprechen, den Leuten ihre Heimath, ihre Stadt selbst zu einem Text umzuwandeln – ich denke an die Feste in Eisenach, in Schwäbisch-Hall, in Ulm. Wie wird er uns überall fehlen! Jene Lützener Feier hatte noch ein Nachspiel in Leipzig; das ist aber zu schön, als daß man davon reden könnte. Aber Freund Kögel und Pank wissen davon zu sagen, und in der Flora Gerokiana liegt ein herrlich Albumblatt darüber.

Erinnert sich sodann noch Freund Köstlin (Geroks trefflicher Schwiegersohn) der herrlichen Fahrt nach Hirsau? Ja, da kam er von Stuttgart, wo er eben vor Kaiser und Reich gepredigt, und Kaiser Wilhelm ihm in so sinniger Weise Stern und Kreuz verliehen als »deutschem Dichter«. Und nun lud die Wirthin, die »große Wäsche« hatte, ihn, den eben Besternten, ein zu »Rothkraut und Leberknöpfle«! Das durchschauerte ihn mächtig, und er wollte lieber ins »Bädle« Liebenzell fahren. Aber auf welchem Gefährt! das kaum für Zwei Platz hatte, wir selbfünft mit dem Kutscher, und mit dem »Gäule«, von welchem der Lenker sagte: »'s ischt e ganz ordelichs Gäule, er beißt nor vornen, un hintenaus schlagt er.« Wie's im Sturmwind hinabsauste, daß uns Hören und Sehen verging, bis wir im »Bädle« ankamen! Gerok wurde bewundert und verwundert angeschaut in seinem großen Schlapphute, und die Frau Wirthin wollte es gar nicht glauben, daß dieser Herr sollte die ›Palmblätter‹ gemacht haben! Sie hatte sich schon gespitzt auf ein Gedicht von ihm ins Fremdenbuch – aber er gab nichts her als seinen Namen und drang in mich, ein Gedicht zu machen. Ich aber schrieb hinein, auf Gerok deutend:

»Im Schwabenland ischt ›Elles‹ weggedichtet –
Wer da noch dichtet, ischt gerichtet.«

Ja, denkst Du daran! wie gottversunken er durch den Kreuzgang Hirsaus wandelte, dann mit uns der Beethovenschen Sonate lauschte und der süßen Töne nicht satt werden konnte! Welch wonniger, sonniger Herbsttag an seinem Herzen – der letzte mit ihm!

Nun ist's genug. – Das Lied ist aus, er ist daheim, sein Wunsch erfüllt: »Ich möchte heim.« Heimgegangen wie die Sonne, die er auf einem seiner letzten Gänge mit dem Ausrufe sinken sah: »So stirbt ein Held,« so starb er, ein Held und ein Kind im Glauben. In der letzten Nacht flammte noch einmal die müde Lebenssonne auf, er feierte mit den Seinen das Mahl des Herrn. Sein Testament lautete: » Fest im Glauben, eins in der Liebe, selig in der Hoffnung.« Das war seine letzte Predigt, gehalten auf der Kanzel seines Sterbebettes in der Alba seines Sterbekleides. Unter Liedern hat sich der Psalmsänger durchgerungen, nicht mit seinen eignen, aber mit denen, die ihm die Kirche aus dem Herzen gesungen und die darum doch »sein eigen« waren.

Sie begraben schnell in Süddeutschland. Am Dienstag entschlief er, und Donnerstag war schon der Gang zum Kirchhof. Ich konnte Stuttgart nicht mehr erreichen, da die Todesnachricht zu spät mich traf. – So durfte ich nur blutenden Herzens und doch hochgetrost über dem Grabe des Psalmsängers, der zum Palmenträger geworden, mit dem Blitze schreiben:

An dich zu denken, war Erquickung,
Von Dir geliebt sein, war ein Ruhm –
Ich bete weinend an die Schickung
Und suche Dich im Heiligthum!

Die ihn kannten und liebten, denen er Freund war, werden mit mir klagen: »Es ist mir leid um Dich, mein Bruder Jonathan! Ich habe große Freude und Wonne an Dir gehabt, und Deine Liebe ist mir sonderlicher gewesen, denn Frauenliebe ist.« Die aber in Kirche und Christenvolk groß genug denken, fremdes Verdienst anzuerkennen, werden mit mir an seinem Grabe bekennen: Er war eines Hauptes länger, eines Herzens weiter als alles Priestervolk!



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