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Carlyle

Es ist ungemein leicht, Carlyle zu tadeln, und es ist ungemein schwer, ihn zu loben. Wer irgendeine seiner Schriften gelesen hat, ja auch nur die ersten zehn Seiten irgendeiner seiner Schriften, der wird mühelos eine Menge von Schwächen, Fehlern, Mängeln, Unzulänglichkeiten an ihm entdecken können. Er wiederholt sich; er widerspricht sich; er übertreibt; er hat seine Mittel nicht in der Gewalt; er schreibt dunkel und weitschweifig; sein Pathos ist überheizt; sein Tempo ist unsicher; seine Bilder und Gleichnisse sind schief oder gesucht, seine Gedanken sind ungeordnet und barock.

Alle diese Defekte und noch viele andere lassen sich ohne weiteres herausfinden und genau bezeichnen; will man aber ebenso kurz feststellen, welche guten Eigenschaften ihnen gegenüberstehen, so gerät man in Verlegenheit. Wollte man zum Beispiel sagen, daß Carlyle Temperament, Denkschärfe, psychologische Feinfühligkeit, plastische Charakterisierungsgabe besitzt, daß er originell, interessant oder geistreich ist, so wäre damit so gut wie gar nichts über ihn gesagt. Es ist sehr wahrscheinlich, daß dies alles zutrifft, aber es trifft ihn nicht. Jeder, der ihn kennt, hat das unabweisbare Gefühl, daß mit solchen Worten an das Phänomen Carlyle nicht heranzukommen ist, daß sie vollständig an ihm abgleiten.

Die Verlegenheit beginnt sogar schon in dem Augenblick, wo man angeben soll, in welche literarische Kategorie er überhaupt gehört. Ist er Philosoph, Historiker, Kritiker, Soziologe, Biograph, Ästhetiker, Romancier; ist er dies alles zusammen oder vielleicht auch nichts von alledem? Ja, ist er überhaupt auch nur ein Schriftsteller? Er selber hat diese Frage verneint. »Wenn es etwas gibt«, sagte er, »wofür ich kein besonderes Talent habe, so ist es die Literatur. Hätte man mich gelehrt, die einfachste praktische Tätigkeit auszuüben, so wäre ich ein besserer und glücklicherer Mensch geworden.« Diese Selbstbeurteilung eines Mannes, dessen Bücher heute in Hunderttausenden von Exemplaren verbreitet sind, mag zunächst überraschen; indes, sobald man näher zusieht, wird man etwas an ihr finden. Wenn man nämlich unter einem Schriftsteller einen Menschen versteht, der die Gabe besitzt, seine Beobachtungen und Empfindungen leicht und glänzend zur Darstellung zu bringen, der gelernt hat, alles, was in ihm ist, gewandt und mühelos herauszusagen, kurz einen Menschen, der besonders gut imstande ist, seine Eindrücke auszudrücken, so war Carlyle ganz gewiß kein Schriftsteller. Die literarische Arbeit war ihm nie etwas anderes als eine Qual, niemand hat mehr unter den Hemmungen und Widerständen des Produzierens gelitten als er. Wenn er von einem Stoff erfüllt war, so fühlte er sich wie unter einer schweren Last wandelnd, er empfand nichts als einen unerträglichen Druck, die Freudigkeit des Gestaltens fehlte ihm vollständig. Und auch das fertige Werk trägt bei ihm noch die Spuren des Kampfes mit der Materie. Der Grundcharakter seines Stils ist eine merkwürdige Verbindung von Lebhaftigkeit und Schwerfälligkeit; es ist eine Ausdrucksweise, bei der man fortwährend im Zweifel ist, ob man sie feurig oder holprig nennen soll, ein Pathos, das unwiderstehlich mitreißt und dennoch immer mühselig mit sich selbst ringt, sich überstürzend, dann wieder hinkend und zurückbleibend, formlos und formell; mit seinen hunderterlei Einschiebungen, Einschränkungen, Rückbeziehungen, plötzlichen Parenthesen, angehängten Nachsätzen und zerreißenden Interjektionen die Verzweiflung vieler Leser; eben hierdurch erhält ja Carlyles Prosa ihren eigenartigen Rhythmus. Wollte man Carlyles Wesensart mit einem einzigen Worte bezeichnen, so könnte man ihn vielleicht, indem man dabei aus Carlyles eigenem Vokabular schöpft, einen Denkerhelden nennen. Carlyle hat die verschiedenen Äußerungen des Heldentums in allen menschlichen Betätigungen aufgesucht und aufgefunden: seine Auffassung war, daß im Grunde jeder wahrhaftige und tüchtige Mensch ein Held sein kann und daß daher die äußere Gestalt des Helden, so wechselnd sie ist, nur eine untergeordnete Bedeutung hat. Nur eine Form des Heldentums hat er übersehen: den » hero as thinker«; aus einem sehr einfachen Grunde: weil er sie nämlich selbst verkörperte. Indes ist gerade sie die wirksamste und umfassendste von allen. Der Denker ist gewissermaßen der Universalheld, er begreift alle Formen des Heldentums in sich: er ist Prophet, Dichter, Priester, Schriftsteller, Organisator. Sein Einfluß währt am längsten und reicht am tiefsten. Ohne es zu wissen, leben, fühlen und handeln die Menschen nach seinen Vorschriften, obgleich oder vielmehr weil seine Wirksamkeit oft eine geheime, unterirdische ist. Die Gedanken, die Jesus zu einigen einfachen Landleuten sprach, die sie zur Hälfte anzweifelten und zur Hälfte mißverstanden, haben gleichwohl die halbe Erdoberfläche revolutioniert. Die Erfolge der großen Eroberer und Könige sind nichts gegen die Wirkungen, die ein einziger großer Gedanke ausübt. Er springt in die Welt und verbreitet sich langsam und unwiderstehlich mit der Kraft eines Elementarereignisses, einer geologischen Umwälzung: nichts vermag sich ihm in den Weg zu legen, nichts vermag ihn ungeschehen zu machen. Und der Denker ist nicht nur die mächtigste Form des Heldentums, sondern auch die reinste, die menschlich größte; gerade weil er nicht im konkreten Handeln sein Ziel und seine Aufgabe sieht. Jede Handlung hat einen gewissen Grad von Beschränktheit, Blindheit, Ungerechtigkeit zur Voraussetzung: ihr Inhalt ist immer nur eine bestimmte, gegebene, momentane Wahrheit; aber der Denker will die ganze. Er versteht, durchschaut, durchdringt alles, erkennt alles in seiner Berechtigung.

Damit ist aber keineswegs gegeben, daß der Denker in temperamentlosem Indifferentismus alles gelten läßt. Im Gegenteil: jeder echte Denker ist ein leidenschaftlicher Reformator, ja, noch mehr: ein Monomane. Der Ton, in dem er spricht, ist nicht milde und konziliant, sondern rechthaberisch und gewalttätig. Es genügt ihm nicht, seine Wahrheiten für sich gefunden zu haben, er will sie zum Besitz der ganzen Welt machen, sie ihr beibringen, auch gegen ihren Willen. Er trägt Dinge in seinem Herzen, die gebieterisch nach außen drängen, die er jedermann ins Ohr schreien, über jeden Türpfosten schreiben, an jeder Straßenecke plakatieren möchte. Das schöpferische Denken ist eine Leidenschaft, und eine der fruchtbarsten und furchtbarsten.

Durch diese Züge ist Carlyles Schaffen bestimmt. Er fühlt sich nicht als Verfasser von Büchern, die der Belehrung oder Unterhaltung dienen, sondern als Träger einer Mission. Die Form ist ihm gleichgültig. Er wiederholt seine Leitsätze immer wieder, refrainartig, denn er weiß, man muß eine Wahrheit hundertmal sagen, bis ein einziger an sie glaubt. Er ist unmäßig im Lob und im Tadel wie ein grober wohlwollender Schullehrer. Er vermag nur in Majuskeln zu schreiben. Er geht immer zu weit; absichtlich. Aber schließlich: alle echten und tiefen Gefühle sind »übertrieben«, hyperbolisch, hypertrophisch; die Mutterliebe, der Patriotismus, die Geschlechtsliebe: das sind lauter Übertreibungen und gerade dadurch sind sie produktiv; man könnte fast sagen: alle wirklich lebendigen Empfindungen haben Überlebensgröße. Carlyles Technik besteht einfach darin, daß er sich von jeder starken Impression, die er hat, willig fortreißen läßt, bis zu den letzten, äußersten Konsequenzen oder Inkonsequenzen: die Technik aller großen Künstler. Und zudem fehlt es ihm auch nicht an der ausgleichenden Selbstironie. Wenn man genauer achtgibt, kann man ihn bisweilen hinterher über sich selber herzlich lachen hören.

Seine Äußerungen, so subjektiv in der Form, haben das denkbar empfindlichste Gerechtigkeitsgefühl zur Grundlage. Es gibt sicher wenige so objektive Beobachter und Beurteiler wie Carlyle. Es ist ihm vollkommen unmöglich, sich eine Sache für seinen Zweck herzurichten und zurechtzustutzen. Plötzlich fällt ihm mitten in einer Argumentation ein, daß er irgendeinen Umstand außer acht gelassen hat, und dann ist er imstande, die ganze Beweisführung umzukrempeln. Daherkommt es sehr oft vor, daß er sich widerspricht. Aber dies ist nur die natürliche Folge seiner Wahrheitsliebe und seiner Beobachtungsgabe. Er widerspricht lieber sich als den Tatsachen. Diese sind seine alleinige Richtschnur. Denn dieser extreme Idealist und Ideologe ist zugleich der praktischste, nüchternste, sachlichste Wirklichkeitsmensch. Seine Gabe zu sehen ist außerordentlich. Er vermag einen Menschen, ein Buch, eine Landschaft mit drei Worten so zu umreißen, daß wir das Original vor uns zu sehen glauben, obgleich wir zum erstenmal davon hören. Obgleich er immer von gewissen Abstraktionen ausgeht, so schreibt er doch niemals im geringsten abstrakt; er bewegt sich immer in einer greifbaren, tastbaren Welt, ja er hat sogar die Fähigkeit, Ideen so zu beleben, als seien sie wirkliche Menschen, persönliche Freunde oder Gegner. Er besaß selber im höchsten Maße jene Eigenschaft, die er » vision« zu nennen pflegt. Er trifft stets mit unfehlbarer Sicherheit den Kern jeder Sache, einerlei welchem Gebiete sie angehören mag. Es ist dies im Grunde das Wesen der Genialität; in allen Fächern. Sehen, worum es sich handelt, dies genau bezeichnen und alles andere beiseite werfen: auf dieser so einfachen Tätigkeit beruhten alle epochemachenden Fortschritte in der menschlichen Entwicklung, ob es sich nun um einen Erfinder, einen Künstler, einen Staatsmann oder einen Philosophen handelte.

In einem solchen Kopfe muß sich notgedrungen alles ganz von selber zum Weltbilde runden. Tatsachen haben eine unwiderstehliche Affinität zu Tatsachen und fügen sich völlig selbsttätig ineinander. Das erste ist jene geheimnisvolle Gabe der » vision«: man könnte sagen, diese allein ist schon eine vollständige Weltanschauung, ja vielleicht die einzige, die diesen Namen wirklich verdient.

 

Man kann Carlyles Leben recht wohl ein Heldenleben nennen, in dem Sinne, den er diesem Worte gegeben hat. Ein Leben in Stille und göttlichem Schweigen; nicht glatt und ebenmäßig, sondern rauh und kantig; unartikuliert; voll von Irrtümern, aber frei von Lügen; viele Schwächen lassen sich darin finden, aber nicht eine einzige niedrige Handlung. Ob es ein glückliches Leben gewesen ist, wollen wir nicht fragen, denn es ist zu gut für diese Frage. Es war das Leben eines Menschen, der immer seinen Weg ging, genau den Weg, der ihm innerlich vorbestimmt war. Und schließlich ist dies vielleicht die Definition des menschlichen Glücks.

Thomas Carlyle wurde am 4. Dezember 1795 in Ecclefechan, Distrikt Annandale, Grafschaft Dumfries geboren. Aber die Vorstellungswelt, in die er eintrat, war nicht die des achtzehnten Jahrhunderts, sondern der Reformation, und zwar der puritanischen, aus der John Knox und die Covenanters hervorgegangen sind. Diese Traditionen waren in seiner Heimat mit Zähigkeit festgehalten worden und hatten sich immer tiefer eingelebt; der Bibelglaube hatte sich seine ursprüngliche Reinheit und Strenge bewahrt, der Ritus hielt sich nach wie vor frei von allem äußeren Gepränge und die Gemeinden behielten ihre demokratische Kirchenverfassung. Aus diesem tiefreligiösen Geist, der sich durch Abstammung und Erziehung auf Carlyle übertrug, erklärt sich manches Seltsame in seiner Gedankenbildung und Ausdrucksweise, jene einzigartige Mischung aus modernen Bildungselementen und altertümlichen Ideen und Bildern, die unmittelbar dem Vorstellungskreis der Bibel und des schlichten schottischen Kirchenglaubens entnommen sind. Etwas vom hebräischen Propheten, so wie er der Einbildung seiner Landsleute sich darstellte, war zweifellos in Carlyles Wesensart und mag auch, bewußt oder unbewußt, ihm als Lebensideal vorgeschwebt haben: seine Lehrweise hat gar nichts von der abgeschliffenen, konzilianten Form des modernen Schriftstellers, der nur ungern widerspricht und dessen Ehrgeiz es ist, alles mit möglichst runden Manieren vorzubringen, sondern er gleicht sehr oft einem polternden Landpfarrer, der zu einer störrischen und denkfaulen Bauernversammlung spricht und dessen Predigten Strafgerichte sind. Carlyle gehört dem neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert an oder, wenn man will, dem sechzehnten und siebzehnten; aber das achtzehnte Jahrhundert mit allem, was es hervorgebracht hat, empfand er immer als seinen äußersten Gegensatz: es diente ihm nur dazu, das Falsche erkennen zu lernen und so durch Kontrastwirkung auf die richtige Bahn gelenkt zu werden.

So wenig die Zeit, in der Carlyle geboren wurde, für ihn charakteristisch ist, so sehr ist es das Volk, dem er entstammte. Carlyle ist durch und durch Schotte, und zwar ein Schotte des Tieflands, wo der keltische Einschlag viel geringer ist als bei den Hochschotten, und das niederdeutsche Element sogar stärker als bei den Engländern. Es mag damit zusammenhängen, daß er von allem Anfang an deutschem Geistesleben ein so tiefgehendes Interesse und Verständnis entgegengebracht hat und daß er andererseits in England anfangs so großes Befremden erregte. Seine Schriften bilden denn auch in der Tat bis heute in ihrer Vortragsart sowie in ihrer ganzen Form der Gedankenbewegung ein Unikum in der gesamten englischen Literatur. Obschon er nicht in einem heimatlichen Sonderdialekt schrieb, wie es sein Landsmann Burns getan hat, sondern sich des gewöhnlichen Schriftenglisch bediente, so fällt es doch schwer, ihn einen englischen Autor zu nennen. Und noch unenglischer ist seine ganze Art zu sehen: es ist die widerspruchsvolle, schwer zu entziffernde Natur des Schotten, die seinem Leben und Denken ihr Gepräge gibt, jene merkwürdige Verbindung von Verträumtheit und Lebensklugheit, von launischer Reizbarkeit und robuster Widerstandskraft, von Melancholie und Humor, Eigensinn und Anpassungsfähigkeit, Unzugänglichkeit und Geselligkeit; alles dies findet sich in Carlyle, und oft in jener unheimlichen Vergrößerung, in der geniale Menschen die Eigenschaften ihres Volkes zu verkörpern pflegen. Buckle bezeichnet als den Grundzug des Schotten den Hang zur Deduktion, und etwas davon hat auch Carlyle: indem er immer von einigen großen Prinzipien, innersten Überzeugungen, unmittelbaren seelischen Grunderlebnissen ausgeht; aber man kann dies nicht Spiritualismus nennen, denn das Gegengewicht dazu bildet ein anderer Charakterzug, der ebenso schottisch ist, nämlich ein sehr gesunder Tatsachensinn, eine scharfe und lebhafte Beobachtungsgabe und die Fähigkeit, sich der Wirklichkeit zu akkomodieren. Carlyle ist ungemein zäh und konservativ in Dingen der »Theorie« und ebenso beweglich und fortschrittsfähig in der Anwendung seiner Theorien auf die Praxis; und diese Doppeleigenschaft ist in der Tat die Voraussetzung alles fruchtbaren Denkens.

Und zum Schlusse vergessen wir nicht: Carlyle entstammt einem Volke, dem die Gabe des » second sight«, des zweiten Gesichts zugeschrieben wird. Mag diese Fähigkeit erwiesen sein oder nicht: in einem anderen und höheren Sinne besaß er sie gewiß, denn wenn man Carlyles Wesen und Bedeutung am kürzesten zusammenfassen wollte, so dürfte man vielleicht sagen: er war ein Geisterseher.

Carlyle war das älteste Kind aus der Ehe James Carlyles mit Margarete Aitken. Der Vater war Steinmetz; das Häuschen, in dem die Familie wohnte, war von ihm gebaut. Carlyle schildert ihn als einen schweigsamen, ernsten und ungemein wahrheitsliebenden Mann; doch fehlte es ihm, wenn er sich mündlich oder schriftlich über etwas äußerte, nicht an der Gabe kraftvoller Rede, und die Worte und Gleichnisse, die ihm ungesucht zuströmten, trafen immer den Kern der Sache. Von ihm scheint Carlyle die leidenschaftliche Aufrichtigkeit und die Verläßlichkeit, Tüchtigkeit und Genauigkeit im Arbeiten geerbt zu haben. Er selbst sagte von sich: er wolle seine Bücher so schreiben, wie sein Vater Häuser gebaut habe, und er betrachte sich nur als eine Fortsetzung und einen zweiten Band seines Vaters. Die Mutter, der es vergönnt war, ihren Sohn bis in sein hohes Mannesalter zu begleiten und seine ganze ruhmvolle Entwicklung mitzuerleben, war eine ungewöhnlich gottesfürchtige und kluge Frau, klug nicht durch Bücher oder gelehrten Umgang, sondern durch die natürliche und gesunde Anlage ihres Verstandes und Weltblicks. Sogar das Schreiben erlernte sie erst spät: ihrem Sohn zuliebe, um mit ihm korrespondieren zu können; gleichwohl gelang es ihr überraschend gut, in das Verständnis seiner zum Teil doch recht komplizierten Werke einzudringen; sie las alles, was er zu ihren Lebzeiten schrieb, und macht darüber in ihren Briefen oft sehr treffende Bemerkungen. Sie war sicher derjenige Mensch, den Carlyle am meisten geliebt hat, ihr gegenüber ging er auch am leichtesten aus sich heraus, und der Briefwechsel der beiden ist ein ebenso belehrendes wie rührendes Dokument. Von seinen Geschwistern scheint ihm sein Bruder John der liebste gewesen zu sein; aber er hatte zu allen ein überaus herzliches Verhältnis, denn ein starker Familiensinn gehörte zu den ausgeprägten Charaktereigenschaften aller Carlyles.

In dieser Welt des Glaubens und der Arbeit verbrachte Carlyle seine ersten neun Lebensjahre. Für seine Jugendgeschichte kann sein Roman » Sartor resartus« in vielem als eine Art autobiographische Quelle betrachtet werden, obschon das wenigste darin buchstäblich genau zu nehmen ist. Indes: bei einem bedeutenden Schriftsteller wird alles, was er produziert, mehr oder weniger eine Art Autobiographie sein; denn da er nie etwas schildert, was er nicht in dieser oder jener Form an sich und in sich erlebt hat, so werden alle seine Gedanken und Gestalten unwillkürlich die Züge ihm wohlbekannter Beobachtungen und Schicksale tragen. Wir brauchen uns daher keineswegs bloß an » Sartor« zu halten. So ist zum Beispiel Carlyles Schilderung der Jugendgeschichte Burns' sicher zum Teil ein Abbild seiner eigenen Kindheitsjahre: der wackere Vater, eine Art »stummer Dichter«,die munteren Geschwister, das friedliche und tätige Landleben, die tapfer ertragenen mannigfachen Entbehrungen, die gemeinsamen biblischen Erbauungsstunden und noch vieles andere; wie denn auch weiterhin für die Darstellung der Universitätsjahre Johnsons die eigene Studienzeit das Modell abgegeben haben mag.

Es hatte sich bald herausgestellt, daß Carlyle für das Lernen sehr begabt war, und so beschlossen denn die Eltern, aus ihm den üblichen Theologen zu machen. Er kam im Jahre 1804 auf die Schule zu Annan, wo er aber nicht besonders viel profitiert zu haben scheint. Der Unterricht bestand mehr in Prügeln und im Eindrillen toter Daten als in der Vermittlung wirklichen Bildungsstoffes. Im » Sartor« sagt Carlyle von den Professoren des Gymnasiums in »Hinterschlag«, das in vielem der Schule in Annan nachgebildet ist: »Sie wußten von der Syntax das Nötige; und von der menschlichen Seele im wesentlichen dies: daß man auf sie durch Vermittlung der Muskelhülle einwirken könne, und zwar unter Anwendung von Birkenruten«. Er war ein verträumtes und scheues Kind und daher der Gegenstand der Neckerei seiner Kameraden, und so war er denn froh genug, als er mit vierzehn Jahren die Universität in Edinburgh beziehen konnte.

Indes, auch diese Zeit war ziemlich freudlos. Edinburgh war damals eine sehr ärmliche Universität. Von dem fröhlichen Studententreiben deutscher Hochschulsitze oder der Eleganz englischer Universitätsstädte fand sich dort nichts. Die Schüler lebten sehr eingezogen und dürftig in ihren Mietsstuben, ihre Nahrung bestand in regelmäßigen Sendungen von Butter, Hafermehl oder, wenn es hoch kam, Eiern, die sie aus der Heimat empfingen. Im Frühjahr und Sommer war die Universität bezeichnenderweise überhaupt geschlossen, weil die meisten Hörer zu Hause bei den Feldarbeiten benötigt wurden. Die Reise vom Heimatsdorf wurde in der Regel zu Fuß zurückgelegt. Von den Kollegien befriedigte Carlyle nur das mathematische. Die klassischen Sprachen lernte er ziemlich gut lesen. Homer und Tacitus erregten seine Bewunderung, Horaz dagegen fand er egoistisch und frivol, und Cicero erschien ihm als eine »windige Persönlichkeit«. In diesen wenigen Urteilen, die uns aus jener Zeit aufbewahrt sind, entdecken wir bereits einige Grundlinien der Carlyleschen Weltanschauung; sie überraschen, wenn man bedenkt, in wie jugendlichem Alter sie gefällt wurden und daß damals Cicero als Philosoph und Prosaist ein kanonisches Ansehen genoß und Horaz als das Urbild eines großen Dichters galt. Es ist der gesunde Sinn für Tatsachen, Carlyles Haupt- und Grundeigenschaft, der sich hierin bereits ausspricht und ihn die knappe, präzise, sachliche Darstellung eines Tacitus und die ursprüngliche, ungesuchte Gegenständlichkeit eines Homer bevorzugen läßt. Aus derselben Wurzel entsprang wohl auch seine große Vorliebe für Geometrie, die zunächst befremden mag, da seine späteren Studien eine ganz andere Richtung genommen haben. Es ist jedoch merkwürdig, daß fast alle großen Denker der neueren Zeit von mathematischen und naturwissenschaftlichen Arbeiten ihren Ausgang genommen haben: wir brauchen uns bloß an Namen wie Bacon, Descartes, Spinoza, Leibniz oder Kant zu erinnern; es scheint, daß ein derartiger Entwicklungsgang in der Struktur des modernen Denkens tief begründet ist. Carlyles überhaupt erste Veröffentlichung in Buchform war eine Übersetzung von Legendres » Eléments de géométrie« mit Anmerkungen und Zusätzen und einer Einleitung über Proportionen, die in Fachkreisen allgemeine Anerkennung fand; und noch in seinem Testament an die Edinburgher Universität bestimmte Carlyle ein besonderes Stipendium für gute Leistungen in der Mathematik, denn dies sei allemal »ein Zeichen nicht nur von anhaltendem Fleiß, sondern auch von klarem, methodischem Verstande« und verspreche viel für alle Arten von Künsten und Studien.

Mit seinen Kameraden stand er sich in Edinburgh besser als in Annan; es waren manche junge Leute von scharfer Auffassungsgabe und liebenswürdigem Charakter darunter, und alle, mit denen er in nähere Berührung kam, erkannten seine geistige Überlegenheit. Man diskutierte lebhaft und viel, vor allem natürlich über die Fragen, die damals alle Welt bewegten: die Napoleonischen Kriege mit den mannigfachen politischen und sozialen Umwälzungen, die sie im Gefolge hatten; aber auch die Neuerscheinungen der Literatur, vor allem Byron und Scott, traten in den Gesichtskreis des Interesses. Carlyle hatte wegen seines geistvoll-sarkastischen Wesens den Spitznamen »Dean«, eine Anspielung auf Jonathan Swift. Ironische Schärfe ist ihm auch später stets zu Gebote gestanden, sie war ihm aber immer nur ein Mittel der Belehrung, niemals Selbstzweck, und ein Satiriker im landläufigen Sinne ist er niemals gewesen.

Nun war es aber Zeit, ans Geldverdienen zu denken, und so kam Carlyle, noch nicht ganz zwanzigjährig, als Lehrer der Mathematik nach Annan. Seinen Beruf erfüllte er gewissenhaft, denn er war von der »Heiligkeit der Arbeit« zu sehr überzeugt, als daß er irgendeine einmal übernommene Aufgabe je in seinem Leben vernachlässigt hätte; aber er fühlte sich keineswegs glücklich. Nach zwei Jahren erhielt er eine Berufung als Schulleiter nach Kirkcaldy. Auch dort blieb er nur zwei Jahre; aber die beiden Stellungen waren für damalige Verhältnisse anständig bezahlt, und so hatten diese vier pädagogischen Lehrjahre wenigstens den Vorteil, daß sie ihm für einige Zeit ökonomische Unabhängigkeit verschafften und es ihm ermöglichten, seinen Lieblingsbruder John, den er stets in aufopferndster Weise unterstützte, Medizin studieren zu lassen.

So eintönig diese Zeit auch war, sie sollte ihm doch zwei Erlebnisse bringen, die für seine spätere Entwicklung von großer Bedeutung waren: die Bekanntschaft mit der deutschen Literatur und mit Irving. Er las Goethe, Schiller, Novalis, Jean Paul und erkannte hier sogleich eine ganz neue Gedanken- und Gestaltenwelt, von der englischen himmelweit entfernt und ihr himmelweit überlegen, und er beschloß, diese neuen Werte seinen Landsleuten zu erschließen. Er begann mit einer Übersetzung des » Wilhelm Meister«, den er mit sicherem Instinkt als das Zentralphänomen dieser ganzen geistigen Bewegung erfaßt hatte. Seine Studien trieben ihn immer tiefer, und so wurde er bald der begeistertste und wohl auch der genaueste Kenner der deutschen Literatur, den es im damaligen England gab. Die Frucht dieser Arbeiten war eine Reihe meisterhafter Essays über neuere deutsche Dichtung und Philosophie; und nicht allein dies: seine ganze Produktion wurde neu orientiert und vertieft und bekam von da an jenes originale Gepräge, das ihn zu einem vielbestaunten und vielbefeindeten Kuriosum in seinem Lande gemacht hat.

In Kirkcaldy befand sich noch eine zweite Schule; ihr Leiter war Edward Irving, in dem Carlyle seinen ersten intimen Freund fand. Er kam als Konkurrent, aber die beiden jungen Männer traten sogleich in eine herzliche Beziehung. Irving war damals noch ebenso unbekannt wie Carlyle. Sein Aufstieg zum Ruhme sollte sich rascher vollziehen als der Carlyles, aber auch viel früher enden. Irvings Lebenslauf ist nicht ohne eine gewisse Tragik. Als er wenige Jahre später nach London kam, hatte er mit seinen Predigten einen derartigen Erfolg, daß er zur großen Saisonberühmtheit wurde. Herzoginnen drängten sich zur Kirche, Männer wie Brougham, Canning und Makintosh ließen Plätze belegen, er war eine Zeitlang » lion«. Aber das Interesse war eine bloße Modelaune der blasierten Londoner Gesellschaft gewesen, nicht tiefer gehend als die Huldigungen für einen Schauspieler oder Violinvirtuosen: nach kurzer Zeit war Irving wieder vergessen. Aber er konnte sich nicht mehr in die alte Rolle zurückfinden, die zahlreiche begeisterte Anhängerschaft hatte in ihm den Prophetenwahn gezüchtet, und er begann eine eigene Sekte zu gründen, die alsbald in die abstrusesten Verirrungen ausartete, in Glossolalie, Visionen und anderen Hokuspokus. Anfeindungen, Kirchenverbote und fortgesetzte Aufregungen steigerten das reizbare Temperament Irvings bis zu einer Art religiösen Wahnsinns, und er starb schon 1834 unter den betrüblichsten Umständen. Damals aber, in Kirkcaldy, war er mit seinem lebhaften warmen Naturell und seiner unbedingten Ehrlichkeit in Glaubensdingen der wünschenswerteste und förderlichste Freund, den Carlyle in seiner damaligen Verfassung finden konnte. Dieser war schon seit längerer Zeit von quälenden Gewissensfragen heimgesucht, die ihm das Festhalten an der theologischen Laufbahn immer unmöglicher erscheinen ließen. Die Erweiterung des Gesichtskreises, die er durch das Studium der neueren englischen, französischen und deutschen Literatur und die Beschäftigung mit den exakten Wissenschaften erfahren hatte, ließ in ihm die schwerwiegendsten Bedenken gegen die überlieferte Kirchenlehre erwachen. Die Lektüre Gibbons, die in jene Zeit fällt, hatte ihn noch hierin bestärkt. Er war nicht der Mann, solche Zweifel beiseite zu schieben, wie es damals die meisten Gebildeten taten, und hier gewährten ihm die offenen und rückhaltlosen Aussprachen mit Irving eine große Erleichterung. Aber eine völlige Befreiung vermochten sie ihm nicht zu verschaffen, die konnte naturgemäß nur durch ihn selbst kommen.

Zu diesen seelischen Indispositionen traten auch körperliche. Damals bekam er zum erstenmal seine dyspeptischen Zustände, die ihn sein ganzes Leben lang nicht völlig verlassen sollten. Sie waren manchmal sehr schmerzhaft, so daß er sie mit dem Nagen einer Ratte verglich, doch ließen sie, zumal in späteren Jahren, infolge rationeller Körperbewegung und Diät erheblich nach. Als Krankheit waren sie vermutlich nie besonders ernst zu nehmen, obschon sich Carlyle in vielen Briefen in den bittersten Worten über sie beschwert. Aber so heroisch er im Ertragen seelischer Leiden war, so gehörte er doch nicht zu jenen Menschen, welche körperlichen Attacken mit Ruhe standzuhalten vermögen. Wir dürfen daher wohl auf seine Klagen kein allzu großes Gewicht legen, obschon die Sache sicher oft mehr als lästig war. Trotzdem kann die Tatsache seiner Dyspepsie nicht leicht unterschätzt werden. Denn sie hat vermutlich auf seine Geistesrichtung einen bedeutenden Einfluß gehabt. Wir sind hoffentlich heutzutage über das Vorurteil hinaus, in den physiologischen Umständen eines Menschen bloße Äußerlichkeiten und Nebensächlichkeiten zu erblicken. Nur oberflächliche Köpfe werden Untersuchungen über solche Dinge oberflächlich finden. Es ist keineswegs bloß das Gehirn, das philosophiert, sondern ebensosehr der Blutkreislauf, die Verdauung, der ganze Stoffwechsel. Es ist durchaus möglich, daß Schopenhauer ohne seine habituelle Obstipation kein Pessimist geworden wäre. Und was Carlyle angeht, so erstreckt sich die Nachwirkung seiner Dyspepsie geradezu bis auf seinen Stil. Das soll selbstverständlich keinen Einwand gegen seine Schreibweise bedeuten, deren Reiz gerade zum großen Teil in dieser ihrer Charaktereigentümlichkeit besteht, die man vielleicht als schwerfällige Peristaltik bezeichnen könnte.

Schließlich fällt in jene Zeit auch Carlyles erstes Liebesabenteuer, wenn man es so nennen darf. Es war eine schwärmerische Beziehung zu Miß Margarete Gordon, einem liebenswürdigen und gebildeten jungen Mädchen; der Verkehr ist jedoch über die allerersten Stadien nicht hinausgekommen. An etwas Ernsthaftes haben wohl beide Teile niemals gedacht; die Sache verdient aber eine kurze Erwähnung, weil jene junge Dame das Urbild der Blumine im » Sartor resartus« ist. Die Frauen haben überhaupt in Carlyles Leben nur eine sehr untergeordnete Rolle gespielt: er hat in ihnen nie mehr gesehen als einen angenehmen Schmuck des Lebens oder eine anmutige kleine Erholung von der Arbeit, und einer wirklichen erotischen Leidenschaft war er wohl vermöge seiner ganzen Charakteranlage überhaupt nicht fähig. Das Problem der Geschlechter ist vielleicht das einzige, das sich in keiner seiner Schriften behandelt findet. Er spricht wohl bisweilen von »Liebe«, aber man hat nicht den Eindruck, daß er darunter etwas versteht, das von der Zärtlichkeit oder Verehrung, die man für eine Mutter, eine Schwester oder einen Freund empfindet, im innersten Wesen verschieden ist. Da auch Daten über erotische Erschütterungen irgendwelcher Art in seiner Lebensgeschichte nicht zu finden sind, so werden wir wohl nicht fehlgehen, wenn wir annehmen, daß diese Seite des menschlichen Wesens bei ihm ebenso schwach entwickelt war wie bei so vielen großen Denkern. Wie und warum er den Widerspruch beging, trotzdem zu heiraten und nicht lieber unverehelicht zu bleiben, wie es fast alle bedeutenden Philosophen von Heraklit bis Nietzsche gewesen sind, darauf werden wir noch zurückkommen.

Im Jahre 1818 verließ Carlyle fast gleichzeitig mit Irving Kirkcaldy; beide hatten die »Schulmeisterei« satt. Carlyle begab sich nach Edinburgh zurück, um Rechtsstudien zu betreiben, denn mit der Theologie hatte er, nicht ohne Widerstand seiner Eltern, endgültig gebrochen. Aber es wurde auch aus der Jurisprudenz nicht viel. Immer mehr erkannte er, daß der einzige Beruf, der seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprach, der des Schriftstellers war. Aber wenn er damit hätte auskömmlich leben und sich Anerkennung verschaffen können, hätten entweder die damaligen literarischen Zustände in England oder sein Talent und sein Charakter anders beschaffen sein müssen. Es standen ihm große Anstrengungen und Enttäuschungen bevor, aber es war doch schon ein Gewinn, daß er sich über seine Stellung und Bestimmung in der Welt, wenn auch nur in allgemeinen unbestimmten Umrissen, klar geworden war; und daß er keinen leichten Lebensweg eingeschlagen habe, dessen war er sich wohl bewußt. Sein Lebensmotto, schrieb er an seine Mutter, sei von nun an das Wort d'Alemberts: »Wahrheit, Freiheit und Armut«.

In diese Zeit fallen Carlyles erste Veröffentlichungen. Es sind eine Reihe von Beiträgen zu Brewsters Enzyklopädie, kurze Monographien über historische, literarische und geographische Gegenstände. Obgleich seine Artikel die anerkannt besten in dem übrigens ziemlich schwachen Werk waren, so konnte ihn natürlich eine solche kompilatorische Tätigkeit nicht befriedigen, und er hat später sehr geringschätzig über diese Arbeiten gesprochen. Seine ganze geistige Entwicklung näherte sich überhaupt jetzt einer gefährlichen Krise, die in dem Zustande der damaligen Kultur, seinem bisherigen Bildungsgang und seiner persönlichen Charakteranlage aufs tiefste begründet ist.

Es war ihm gelungen, sich im Laufe der Jahre eine ungewöhnlich genaue und umfassende Kenntnis der poetischen und wissenschaftlichen Literatur seiner Zeit anzueignen. Aber die Resultate, die er hieraus gewann, vermochten ihn nicht zu einer beruhigenden Weltanschauung zu führen. Auf der einen Seite stand die in Formeln und Riten erstarrte, nur noch gewohnheitsmäßig geübte Religiosität, der kritiklose Glaube an Dogmen und biblische Geschichten, die längst unglaubwürdig geworden waren, auf der anderen Seite Skepsis, Atheismus, Utilitarismus, Materialismus, schrankenloser Individualismus: lauter Theorien, die den Menschen, die Natur, den Staat, die Gesellschaft, das ganze Weltall in einen toten Mechanismus aufzulösen drohten und gegen deren Glaubwürdigkeit sich seine innerste Natur sträubte. So befand er sich in einem quälenden Dilemma: jenen alten Glaubenssätzen, die die Kirche bot, widersprach sein Verstand, und jenen neuen Lehren, die alles in einen trostlosen Atomismus verwandelten, widersprach sein Herz; ein Drittes schien es aber nicht zu geben. Der Engländer half sich in diesen Dingen von jeher mit dem bequemen Auskunftsmittel einer sauberen Zweiteilung: am Sonntag glaubt er an Gott und die Biblische Geschichte und an Werktagen an die Physik und den Börsenbericht, er vertauscht einen Tag in der Woche sein Hauptbuch mit der Bibel und hat so der Religiosität und dem gesunden Menschenverstand in gleicher Weise Genüge getan. Für Carlyle jedoch war ein solcher billiger Ausgleich unmöglich. Er empfand das Leben als eine Einheit; es galt, diese Einheit zu finden oder völlig zu verzweifeln. Eine Weltanschauung mit doppeltem Boden, wie sie das ganze achtzehnte Jahrhundert besaß und wie sie selbst einem so scharfen und unerbittlichen Denker wie Kant keine Schwierigkeiten bot, war für ihn überhaupt keine Weltanschauung. So drückte ihn denn die Erkenntnis, daß die Welt nichts sei als eine »enorme, tote, unermeßliche Dampfmaschine«, vollständig zu Boden. Er befand sich damals in Stimmungen, in denen er allen Ernstes an Selbstmord dachte. Es war jene Epoche völliger Ratlosigkeit und nihilistischer Verzweiflung, die wir im Leben fast aller großen geistigen Potenzen vorfinden. Es ist die Übergangszeit, in der der werdende Geist sich einerseits nicht mehr rein aufnehmend zu verhalten vermag und andererseits doch noch nicht die klaren Richtlinien einer kommenden Produktivität gefunden hat. Man hat bereits den geschärften Blick für die Widersprüchlichkeit, Unvollkommenheit, ja Sinnlosigkeit so vieler Dinge und Beziehungen des Daseins, und man hat noch nicht das, was allein diesem Pessimismus und der hohen Reizbarkeit, die die Vorbedingung alles genialen Schaffens bildet, die Waage zu halten vermag: das klare und sichere Bewußtsein einer Aufgabe.

In solchen äußerlich und innerlich traurigen Lebensumständen befand sich Carlyle die nächsten drei Jahre in Edinburgh, die wahrscheinlich die unglücklichsten seines Lebens waren, bis im Sommer 1821 eine Art Wendung eintrat, die er selbst in seinen Lebenserinnerungen als seine »Bekehrung« bezeichnet. Zugleich hat er bezeugt, daß die einzige Stelle im » Sartor resartus«, die für seine Lebensgeschichte als authentisch betrachtet werden darf, eben jene ist, die von der Bekehrung des Helden handelt. Dieser erzählt, daß ihm, als er eines Tages, von seinen Zweifeln gepeinigt, ruhelos durch die Straßen irrte, eine plötzliche Erleuchtung kam: »Mit einem Male stieg ein Gedanke in mir auf und fragte mich: Wovor fürchtest du dich eigentlich? Warum willst du ewig klagen und jammern und zitternd und furchtsam wie ein Feigling umherschleichen? Verächtlicher Zweifüßler! Was ist die Summe des Schlimmsten, das dich treffen kann? Tod? Wohlan denn, Tod; und sage auch die Qualen Tophets und alles dessen, was der Mensch oder der Teufel gegen dich tun kann oder will! Hast du kein Herz? Kannst du nicht alles, was es auch sei, erdulden und als ein Kind der Freiheit, obschon ausgestoßen, Tophet selbst unter die Füße treten, während es dich verzehrt? So laß es denn kommen! Ich will ihm begegnen und ihm Trotz bieten. Und während ich dies dachte, rauschte es wie ein feuriger Strom über meine ganze Seele, und ich schüttelte die niedrige Furcht auf immer ab. Ich war stark in ungeahnter Stärke: ein Geist; fast ein Gott. Von dieser Zeit an war die Natur meines Elends eine andere.«

Worin bestand nun diese Bekehrung? Sie war im Grunde nichts anderes als jene entscheidende Wendung, die den Ausgangspunkt und das fortlaufende Thema der ganzen neueren Philosophie bildet, vom cartesianischen » cogito ergo sum« bis zu Kant und dessen Schülern: die sichere und tröstliche Erkenntnis von der Priorität des Ich; ein Durchbruch zur endgültigen Befreiung von allen mechanistischen und materialistischen Theorien, eine Erkenntnis, die keine bloße logische Schlußfigur ist, sondern eine Willenshandlung, ein philosophischer Akt, der stärkste und bestimmendste, den der Mensch begehen kann. So hat Fichte die Sache gefaßt, und so erschien sie auch Carlyle: nicht bloß als ein erkenntnistheoretisches, sondern ebensosehr und noch mehr als ein moralisches Phänomen: die Selbstsetzung des Ich.

Damit war ein fester Punkt gefunden; aber wohin ihn seine innere Bestimmung treibe, das wußte Carlyle immer noch nicht. In jener Zeit versuchte er es auch mit Versen, aber er kam bald zu der Einsicht, daß hier sein Wirkungsfeld nicht liegen könne. Wenn man unter einem Dichter einen Menschen versteht, der schöne Reime machen kann, so war Carlyle gewiß kein Dichter; für ihn, den es zeitlebens die größte Mühe gekostet hat, seine gärenden Ideenmassen überhaupt in irgendeiner geordneten Wortfolge zu äußern, mußte das Umgießen von Gefühlen und Gedanken in eine Form, die durch Metrum und Gleichklang genau bestimmt ist, eine völlige Unmöglichkeit bilden. Zudem, so sonderbar es klingen mag: seine Wahrheitsliebe sträubte sich auch dagegen. Sein Ziel war immer: das, was in ihm war, auszusprechen; genau so, wie er es empfand. Wo aber das Gesetz der Schönheit an die erste Stelle tritt, da muß naturgemäß die Aufrichtigkeit kleine Konzessionen machen, und ohne Zurechtbiegen und Zurechtlügen geht es dabei niemals ab. Das Material, in dem Carlyle ein großer Dichter geworden ist, war ein ganz anderes. Was er am Ende seines Lebens in einem seiner Briefe einem jungen Dichter als Lebensaufgabe empfahl: »statt gereimter Verse ein gereimtes Leben zu versuchen«, das hat er selbst innerhalb der Grenzen der menschlichen Unvollkommenheit vollbracht.

Bald darauf bot sich ihm eine angenehme Stellung, die zu der Aufheiterung seines Gemütes das ihrige beitrug. Er wurde auf Irvings Empfehlung Hauslehrer bei den Söhnen eines Mr. Buller, zwei begabten und liebenswürdigen Knaben. Da ihn die Stellung nur unter Tags in Anspruch nahm, so blieb ihm genug Zeit für seine literarischen Arbeiten, und das ansehnliche Gehalt von jährlich zweihundert Pfund gab ihm völlige Unabhängigkeit und versetzte ihn in die Lage, seinen Bruder reichlicher als bisher zu unterstützen. Carlyle war gewöhnt, bei seinen Einnahmen immer mindestens ebensosehr an andere wie an sich selbst zu denken; und auch in späteren Jahren hat er nie eine größere Geldsendung erhalten, ohne seiner Mutter oder seinen Geschwistern etwas davon zu schicken.

In jene Zeit fallen seine zwei ersten größeren Publikationen: die Übersetzung des » Wilhelm Meister« und das » Leben Schillers«, das zuerst im » London Magazine« und ein Jahr später in Buchform erschien. Es zeigt Carlyle noch nicht in seiner vollen Originalität, aber die Methode, alles aus der gewaltigen menschlichen Persönlichkeit des Dichters zu entwickeln, war für England vollkommen neu, und die ganze Art, wie der Stoff aufgebaut und gegliedert ist, verrät bereits ein großes architektonisches Talent: es offenbart sich hier zum erstenmal jene Fähigkeit Carlyles, aus einer Fülle von verwirrenden Details immer das Wesentliche herauszugreifen und einen Lebensgang in seinem übersichtlichen Grundriß, gewissermaßen im Skelett vor dem Leser bloßzulegen. Indes: obgleich Carlyle Schillers Lebensschicksalen mit großer Lebendigkeit und Wärme zu folgen vermochte, schon weil sie den seinigen nicht ganz unähnlich waren, so stand doch schon damals nicht Schiller im Mittelpunkte seines Interesses. Was ihn an Schiller nicht völlig befriedigte, war dies, daß seine ganze Weltanschauung im wesentlichen rein ästhetisch orientiert war: die Kunst erscheint bei ihm als Zentralphänomen des menschlichen Lebens und höchstes Endziel aller Kultur. Dazu kam, daß Carlyle zu Kant, ohne den eine völlige Würdigung Schillers und der klassischen Ästhetik nicht möglich ist, keine rechte Beziehung finden konnte. Die Hauptperson der deutschen Literatur war für ihn Goethe.

Es mußte daher ein großes und beglückendes Ereignis in Carlyles Leben bedeuten, daß gerade Goethe einer der allerersten Menschen war, die sein Talent und seine Eigenart erkannten. Er hatte ein Exemplar seiner Übersetzung des »Meister« nach Weimar geschickt, Goethe hatte in freundlichster Weise geantwortet, und es entwickelte sich ein ziemlich reger Briefwechsel und Austausch von Büchern und kleinen Aufmerksamkeiten, der bis zu Goethes Tode andauerte. Über Carlyles » Life of Schiller« schrieb Goethe unter anderem: »Lassen Sie mich vorerst, mein Theuerster, über Ihre Biographie Schillers das Beste sagen. Sie ist merkwürdig, indem sie ein genaues Studium der Vorfälle seines Lebens beweist, so wie denn auch das Studium seiner Werke und eine innige Teilnahme an denselben daraus hervorgeht. Bewunderungswürdig ist es, wie Sie sich auf diese Weise eine genügende Einsicht in den Charakter und das hohe Verdienstliche dieses Mannes verschafft, so klar und so gehörig, wie es kaum aus der Ferne zu erwarten gewesen. Hier bewahrheitet sich jedoch das alte Wort: ›Der gute Wille hilft zu vollkommener Kenntnis.‹ Denn gerade, daß der Schotte den deutschen Mann mit Wohlwollen anerkennt, ihn verehrt und liebt, dadurch wird er dessen treffliche Eigenschaften am sichersten gewahr, dadurch erhebt er sich zu einer Klarheit, zu der sogar Landsleute des Trefflichen in früheren Tagen nicht gelangen konnten.« Goethe veranlaßte auch eine deutsche Übersetzung des Buches, zu der er ein Vorwort schrieb. Wie er über Carlyle im allgemeinen dachte, zeigen die Worte, die er am 25. Juli 1825 zu Eckermann sprach und die zugleich die vollständigste Charakteristik des damaligen Carlyle enthalten: »An Carlyle ist es bewunderungswürdig, daß er bei Beurteilung unserer deutschen Schriftsteller besonders den geistigen und sittlichen Kern als das eigentlich Wirksame im Auge hat. Carlyle ist eine moralische Macht von großer Bedeutung. Es ist in ihm viel Zukunft vorhanden, und es ist gar nicht abzusehen, was er alles leisten und wirken wird.«

Der Unterricht bei den jungen Bullers dauerte zwei Jahre; bald darauf unternahm Carlyle seine erste größere Reise. Er begab sich zunächst im Segelschiff, das damals noch das gebräuchlichere Beförderungsmittel war, nach London, wo er eine Reihe interessanter Personen kennenlernte, darunter Coleridge, den damaligen Literaturpapst, den er jedoch für »einen Mann von großem, aber nutzlosem Genie« erklärte, er sah Stratford, Birmingham und schließlich Paris. Die ausführlichen Schilderungen, die er in seinen Briefen von diesen Städten gibt, zeigen ihn als einen Beobachter von außerordentlicher Schärfe und Genauigkeit; die Landschaft, die Menschen, die Geselligkeit, das Straßentreiben, sogar die charakteristischen Geräusche: alles dies ist mit lebendigster Anschaulichkeit wiedergegeben.

Kurz nach seiner Rückkehr verlobte er sich mit Jane Welsh. Er war mit der jungen Dame schon fünf Jahre früher durch Irving bekannt geworden, der ihr Lehrer war. Sie lernten einander bald schätzen, und es entstand zwischen ihnen eine Freundschaft, die im Anfang einen rein literarischen Charakter trug. Wenn sie einander nicht sahen, so schrieben sie sich Briefe, in denen jedoch von Liebe nicht die Rede war. Anfangs hatte Carlyle es versucht, den Ton konventioneller Ritterlichkeit anzuschlagen, doch Miß Welsh hatte ihn in liebenswürdiger, aber bestimmter Weise ersucht, dies zu unterlassen. Der Mann, den sie liebte, war Irving, und es scheint, daß auch er ihre Gefühle erwiderte; aber er war nicht mehr frei. Wir haben uns unter der damaligen Miß Welsh eine geistig sehr selbständige, außergewöhnlich kluge und gebildete Dame von feinen und anziehenden Umgangsformen und sehr angenehmem Äußern vorzustellen, die ihre lateinischen Klassiker ebensogut zu lesen verstand wie ein Edinburgher Student und die sich für die literarischen und philosophischen Bestrebungen der Zeit eingehend und verständnisvoll interessierte. Ihr Gespräch war geistvoll, heiter, belebt, nicht ohne Spott und Ironie. Sie hatte Carlyle sogleich als einen ungewöhnlichen und genialen Menschen mit unberechenbaren geistigen Möglichkeiten erkannt, und dieser wiederum war glücklich, auf ein feines weibliches Nachempfinden zu treffen. Miß Jane wünschte nichts sehnlicher, als einen so bedeutenden Menschen von den Sorgen und Hemmnissen des täglichen Lebens befreit zu sehen, und sie sah schließlich ein, daß der einzige Weg für sie, ihm hierbei nach Kräften zu helfen, eben nur die Ehe war. Dieser mehr vernunftmäßigen Erwägung ist es zuzuschreiben, daß eine Heirat zustande kam, an die sie zunächst durchaus nicht gedacht hatte. Im Herbst 1826 wurden sie vermählt und bezogen eine kleine Wohnung in Edinburgh, Comely Bank.

Über diese Ehe, die vierzig Jahre währte, ist, zumal von englischer Seite, vieles und Widersprechendes gesagt und geschrieben worden. Was einstimmig zugegeben wird und wohl auch nicht gut geleugnet werden kann, ist dies, daß beide zwei außerordentliche und sowohl geistig wie moralisch ungemein hochstehende Menschen gewesen sind. Daß die Ehe Frau Carlyle manches Bittere gebracht hat, war bei dem Charakter ihres Mannes selbstverständlich und wurde von ihr gar nicht anders erwartet. Carlyle war nichts weniger als ein » homme à femmes«: epochemachende Denker und Gelehrte pflegen dies überhaupt selten zu sein. Aber auch für den gewöhnlichen Ehemann fehlten ihm so gut wie alle Voraussetzungen. Er war von Jugend auf an ein ungeselliges Leben gewöhnt, ja, er brauchte die Einsamkeit als notwendige Vorbedingung seines Schaffens. Er hat sich daher selbst öfters einen »Beduinen« genannt. Tagsüber war er rastlos geistig tätig: schreibend, lesend oder auch nur stumm mit seinen werdenden Gedanken ringend; und bei alledem mußte er allein sein. Noch mehr: der geringste Lärm brachte ihn außer sich. Ein Hühnerhof oder eine Jagd in seiner Nähe waren für ihn eine Katastrophe. In dem allergrößten Teil seiner Briefe befinden sich Bemerkungen über lästige Geräusche, vor allem über die ihm besonders verhaßten krähenden Hähne. Schopenhauers Klagen über Peitschenknallen und dergleichen waren auch die seinigen. Nachts konnte er aus demselben Grunde nur schwer die Ruhe finden: sein Schlafzimmer mußte ganz isoliert liegen. Die wenigen Erholungsstunden, die er sich gönnte, gehörten der Zigarre oder der Pfeife, die er sehr liebte, nächtlichen Wanderungen durch die Stadt und Spazierritten, die er seiner Dyspepsie wegen unternahm. Die Mahlzeiten erschienen ihm oft nur als unwillkommene Störung, zumal wenn er in einer Arbeit steckte. Er konnte zehn Seiten täglich übersetzen, was bei der großen Sorgfalt, mit der er das tat, eine enorme Leistung ist, oder zehn Stunden hintereinander lesen: die fünfundzwanzig Bände Diderot zum Beispiel, die er als Vorbereitung für seinen Essay durchzuarbeiten hatte, erledigte er in drei Wochen. Man wird zugeben, daß in einem solchen Leben eine Lebensgefährtin wenig berücksichtigt, aber andererseits auch nicht unumgänglich notwendig ist.

Dazu kam, daß Carlyle das war, was man einen Haustyrannen zu nennen pflegt. Er war in seinen körperlichen Bedürfnissen durchaus nicht verwöhnt; ein gutes Bett, eine ruhige Stube (unter Ruhe verstand er Grabesstille), sorgfältig zubereitetes Essen, das er schon seines Magenleidens halber brauchte, Und minutiöse Sauberkeit: das war so ziemlich alles, was er verlangte; wenn aber diese bescheidenen Ansprüche nicht peinlich erfüllt wurden, so konnte er sehr unangenehm werden. Er war den kleinen Dingen des Daseins gegenüber gänzlich hilflos, und wir finden auch bei ihm, wie bei so vielen geistigen Kapazitäten, eine große Kraft im Ertragen großer Leiden und Schicksalsschläge vereinigt mit völliger Widerstandsunfähigkeit gegen die Nadelstiche des Alltagslebens. Der Ruß der Eisenbahn, die Unzuverlässigkeit eines Lieferanten, die Nachlässigkeit der Dienstboten, die Mißhelligkeiten eines Umzugs, alle diese selbstverständlichen und unvermeidlichen Dinge geben ihm in seinen Briefen immer wieder Gegenstand zu den beweglichsten Klagen.

Alles dies, wozu noch in den ersten Jahren der Ehe materielle Beschränktheit kam, erforderte wohl ein großes Maß von Aufopferung; aber Jane Carlyle hat es besessen, ja, sie hat sich nie auch nur darüber beklagt. Sie wußte, wen sie zum Manne genommen hatte, und sie wußte, daß der Preis, den die Natur für Genie und ungewöhnlichen Geist zu verlangen pflegt, in dem Mangel an gewöhnlichen bürgerlichen Tugenden besteht; und sie hat diesen Preis gern bezahlt, der um so größer war, als Carlyle ihre Aufopferung gar nicht besonders anerkannte. Ebenso wie er es für etwas ganz Selbstverständliches hielt, daß er bei seinen Einkünften stets mehr an seine bedürftigen Eltern und Geschwister als an sich dachte und alles, was er besaß, in uneigennützigster Weise mit ihnen teilte, ebenso fand er es nur natürlich und angebracht, daß seine Frau mehr an sein als an ihr Wohlbefinden dachte, indem sie die ganze Last des Hauswesens auf sich nahm und ihrem zarten Körper oft zu viel zumutete. Er hat sie gewiß sehr geliebt, auf seine Art; aber es war ihm nicht gegeben, seine Liebe in der Weise zu zeigen, wie Frauen es wünschen; auch er war ein »unartikulierter Mensch«, wie er seinen Cromwell nennt; er konnte oft gerade seine tiefste Zärtlichkeit nicht mit Worten aussprechen, eher noch in den liebevollen und teilnehmenden Briefen, die er aus der Ferne an seine Gattin richtete. Aber auch hier geht der Ton nie über das Maß milder Freundschaft hinaus, er redet zu ihr bestenfalls wie zu einem Lieblingstöchterchen. Wir dürfen nach allem wohl annehmen, daß Frau Carlyle in dieser Ehe nicht glücklich war. Aber wir müssen uns fragen, ob sie überhaupt glücklich sein wollte. Sie hätte zweifellos das erlangen können, was man eine »Partie« nennt, denn sie hatte Bewerber genug; aber sie zog es vor, das Leben des düsteren, dyspeptischen schottischen Propheten zu teilen und die einzige Belohnung in dem Bewußtsein zu finden, daß sie, soweit eine Frau dies vermag, das ihrige dazu getan hatte, um eine große moralische und geistige Kraft zu fördern und zu ihren besten Möglichkeiten zu steigern. Denn obschon Carlyle niemandem in seiner Umgebung einen entscheidenden Einfluß auf seine Gedankenbildung einräumte, so hat sie ihn doch auch geistig vielfach unterstützt; er anerkannte stets, daß sie seine klügste und unparteiischste Kritikerin sei, und ihre Briefe und Erinnerungen, die erst nach ihrem Tode veröffentlicht wurden, zeigen, daß sie eine zweifellos hochbedeutende Frau gewesen ist.

Nur die ersten anderthalb Jahre ihrer Ehe verbrachten Carlyles in Edinburgh; dann übersiedelten sie nach Craigenputtock, dem Familiengute der Welshs. Dieser Ort wird von Froude, Carlyles ausführlichstem Biographen, in sehr düsteren Farben geschildert. Er nennt ihn »the dreariest spot in all the British dominions«. »Das nächste Bauernhaus ist mehr als eine Meile entfernt. Die hohe Lage hindert die Bäume am Wachstum. Das Haus mit seinen Feldern liegt wie eine Insel in einem Sumpfsee. Die Monotonie der Landschaft ist durch keinerlei Anmut oder Großartigkeit unterbrochen.« Wir haben jedoch Grund, anzunehmen, daß es nicht ganz so schlimm war. Als Goethe um jene Zeit Carlyle den Wunsch aussprach, etwas über seine näheren Lebensumstände zu erfahren, hat dieser eine ausführliche Schilderung der Lokalität gegeben, und da sieht das Bild wesentlich freundlicher aus. Für die immer etwas kränkelnde Mistress Carlyle war es freilich nicht der richtige Aufenthalt. Carlyle jedoch, niemals gewohnt und geneigt, auf die Vorgänge der Umwelt zu achten, ahnte nicht, wie schädlich das rauhe, feuchte und stürmische Klima Craigenputtocks für seine Frau war.

Dem » Wilhelm Meister«, der in England eine sehr geteilte Aufnahme fand, obgleich die Übersetzung als ein Meisterwerk anerkannt wurde, waren weitere Übertragungen gefolgt: vier Bände »Specimens of German romance«, Probestücke aus Musäus, La Motte Fouqué, Tieck, E. Th. A. Hoffmann, Jean Paul, Goethe, mit biographischen und kritischen Einleitungen. Francis Jeffrey, der damalige Chefredakteur der »Edinburgh Review«, war auf Carlyle aufmerksam geworden, und da er außerdem ein entfernter Verwandter von Frau Carlyle war, so traten sie bald in Beziehung zueinander und Carlyle wurde zur Mitarbeiterschaft aufgefordert. Das Resultat der Annäherung dieser beiden so sehr verschieden gearteten Männer war eine Reihe von größeren Beiträgen, die Carlyle in den nächsten sechs Jahren lieferte; er arbeitete aber auch gleichzeitig für die » Foreign Review«, die » Foreign Quarterly Review«, die » Westminster Review« und Frasers Magazin. Die Gesamtproduktivität jener Zeit ist sehr bedeutend; am wichtigsten sind die umfangreichen Monographien über Jean Paul, Burns, Novalis, » Goethes works«, Diderot, Johnson und das Nibelungenlied; daneben laufen eine Menge kleinerer Aufsätze über historische und literarische Themen. Die Grundlinien von Carlyles Lebensanschauung sind in diesen Untersuchungen mit fortschreitender Klarheit und Schärfe ausgeprägt; der Ton wird immer bestimmter, die Darstellung immer voller und beziehungsreicher. So findet sich zum Beispiel in den Aufsätzen über Diderot und Voltaire Carlyles Auffassung von der Französischen Revolution bereits vollständig vorgebildet: sie sei ein lediglich negativer Abschnitt in der menschlichen Geschichte gewesen, dessen Aufgabe darin bestand, falsche Götzen zu zertrümmern, eine Zeit des Unglaubens, fruchtbar im Zerstören, aber unfähig, etwas Dauerndes und Lebensfähiges zu erzeugen, ein Strohfeuer, das eine Zeitlang den Himmel verdüsterte, »aber die Sterne sind noch immer da und werden eines Tages wieder leuchten«. Die Bedeutung des Humors ist in dem Essay über Jean Paul schon ganz in dem Sinne erfaßt, den Carlyle ihm sein ganzes Leben hindurch beilegte: er kommt ebensosehr aus dem Herzen wie aus dem Kopf, seine Wurzel ist nicht Verachtung, sondern Güte, Mitgefühl, »warme brüderliche Sympathie mit allen Daseinsformen«. Und in dem Aufsatz über Boswells »Leben Johnsons« tritt uns zum erstenmal der Begriff der » hero-worship« entgegen. Der lächerliche, aufgeblasene, törichte Boswell verwandelt sich in einen bewunderswerten Menschenkenner, sobald er von seinem Helden Johnson spricht: die liebevolle verehrende Begeisterung für den höheren ermöglicht es einem der oberflächlichsten und wertlosesten Menschen, eine der tiefsten und wertvollsten Biographien zu schreiben. Carlyles eigener Held aber war Goethe. Er wird nicht müde, immer wieder diese Erscheinung seinen Landsleuten zu erklären und nahezurücken. Gerade hierin aber fand er den größten Widerstand. Man hielt in England die ganze neue deutsche Literatur für einen Versuch, überwundenen Standpunkten wieder Geltung zu verschaffen; Goethe erschien den meisten als ein Mensch, der sich in abstruse Mystik verloren hatte; seine Werke waren wenig bekannt und man fühlte kein Bedürfnis, diese Bekanntschaft zu erweitern. In der deutschen Literaturgeschichte William Taylors, der einzigen, die es gab, gipfelte die Entwicklung in Kotzebue. Zudem fand die Methode, die Carlyle in seinen Essays damals schon mit großer Vollkommenheit handhabte, wenig Verständnis. Das Interesse an historischen und ästhetischen Untersuchungen war durchaus nicht gering; schon die große Zahl ernster und gediegener Revuen beweist dies. Aber man verstand darunter etwas anderes als Carlyle. Ihm war es vor allem darum zu tun, eine Persönlichkeit aus dem innersten Kern ihres eigenen Wesens heraus zu erhellen und so gewissermaßen selbstleuchtend zu machen, während die damals gebräuchliche und beliebte Betrachtungsart sich damit begnügte, nur von außen Licht auf ihren Gegenstand fallen zu lassen, wobei sie naturgemäß nur die Oberflächen der Sache treffen konnte; aber diese verstand sie freilich glänzend zu beleuchten. So entstand die Kunstform der durch wissenschaftliche Gründlichkeit, umfassende Bildung und Menschenkenntnis und feine geschmackvolle Form veredelten Plauderei, und sie wurde zum Lieblingsgenre des Publikums. Ihr bedeutendster und populärster Vertreter ist Macaulay. Seine berühmten » Essays« sind Unterhaltungsliteratur im allerbesten Sinne des Wortes. Er besitzt die Gabe, ernste und spröde Themen einem breiten Leserkreis, dessen Bedürfnisse auf seichte Romane eingestellt sind, anziehend und genießbar zu machen, und er vergibt sich dabei niemals das geringste. Die Solidität und Vielseitigkeit seiner Kenntnisse ist außerordentlich, ohne jemals aufdringlich hervorzutreten; seine Untersuchungsweise ist ruhig, vornehm und klug, sein Stil von mustergültiger Klarheit und Anmut.

Man halte nun dagegen Carlyle, den Bauernsohn aus Annandale, dem die Form nichts, das Gefühl alles ist, dessen Sätze dahinschießen wie die Wasser eines Gebirgsbachs über Steine und Gestrüpp, dessen Gedanken sich gewaltsam nach außen entladen wie die glühenden Eruptionen eines Vulkans, der niemals bereit war, einer anderen Partei zu dienen als der Sache, die er darzustellen hatte, der überhaupt unter Kritik niemals Tadel verstand, sondern begeistertes Nacherleben. »Bevor wir einem Manne vorwerfen, was er nicht ist, sollten wir uns lieber klarmachen, was er ist«: in diesen Worten lag Carlyles kritisches Programm. Selbst seine Abhandlung über Voltaire, den er als seinen Antipoden empfindet, wurde unwillkürlich zu einem künstlerischen Gemälde des großen literarischen Revolutionärs. Für die » Edinburgh Review«, die einflußreichste und angesehenste aller damaligen Zeitschriften, war aber Kritik in erster Linie Bemängelung, Aufdecken von Fehlern und Irrtümern, Besserwissen. Vor allem waren bestimmte Regeln zu beobachten, deren Vernachlässigung man sozusagen am Korrekturrand peinlich vermerkte; und auch die politische Richtung eines Künstlers war keineswegs gleichgültig. So wurde zum Beispiel Burns verurteilt, weil er nicht gesetzmäßig gedichtet hatte, und als Carlyle nachwies, daß gerade das Ursprüngliche, Naturwüchsige dieses Poeten seine Genialität ausmache, stieß er auf großen Widerspruch. Seine Verehrung für Goethe erschien Jeffrey als » foeda superstitio,« die ganze Vorliebe für die deutsche Literatur als »Extravaganz «. Es kam infolgedessen zu mancherlei Reibereien, zumal Carlyle nicht die geringsten Konzessionen machte und bei aller Bescheidenheit, die er von Natur besaß, dennoch im literarischen Verkehr jenes selbstbewußte diktatorische Wesen zur Schau trug, das aus der Überzeugung entspringt, daß man die Wahrheit besitzt. Er ist deshalb in dieser Rücksicht bisweilen mit Johnson verglichen worden. Doch darf man andererseits nicht verkennen, daß Jeffrey seine Gaben vollauf würdigte und den besten Willen hatte, ihn zu fördern; auch hatte er mit manchen Schwächen, die er ihm vorhielt, wie »Wortreichtum« und »Neigung zum Übertreiben«, gar nicht so unrecht, obgleich sie zu der ganzen geistigen Physiognomie Carlyles notwendig gehören, und daß er diese neuartige und in England unerhörte Erscheinung völlig hätte verstehen sollen, kann man billigerweise nicht verlangen. Und wenn er auch nicht Carlyles bester Kritiker war, so war er doch einer seiner wohlwollendsten Freunde, indem er ihn unermüdlich, oft gegen seine eigenen Ansichten nach allen Richtungen unterstützte. Als sich herausstellte, daß Carlyle möglicherweise von seinen Arbeiten nicht auskömmlich werde leben können, tat er alles, um sie günstig zu placieren, und bot ihm sogar aus seiner eigenen Tasche ein Jahresgehalt von hundert Pfund. Doch Carlyle lehnte das Anerbieten ab; er haßte jede Abhängigkeit, auch die, welche aus allzugroßer Dankesschuld entspringt.

Während Carlyle eine so vielseitige und ausgedehnte publizistische Tätigkeit entfaltete, arbeitete er daneben in aller Stille an der Vollendung eines Werkes belletristischer Natur, des ersten und letzten dieser Gattung, das er geschrieben hat, wenn man es überhaupt dahin rechnen darf, denn man ist in Verlegenheit, als was man den nachmals so berühmten » Sartor resartus« ansprechen soll. Seiner Anlage und Bestimmung nach muß man ihn in die große Gruppe der »Bekenntnisromane« einreihen; die Form ist jedoch noch lockerer, als es bei diesem Genre von jeher üblich war. » Life and opinons of Herr Teufelsdroeckh« lautet der Untertitel: aber Leben und Meinungen des Helden sind nicht zu einem organischen Ganzen ineinandergearbeitet, sondern laufen getrennt nebeneinander her. Obgleich das Buch gewiß keine genaue und gegenständliche Beschreibung von Carlyles eigenen Lebensschicksalen ist, so kann man es doch in einem höheren Sinne eine Autobiographie nennen, insofern es eine Darstellung der geistigen Kämpfe und Ergebnisse bildet, die Carlyles erste Lebenshälfte erfüllt haben. In der äußeren Einkleidung knüpft es an jene literarischen Mystifikationen an, die seit Jean Paul und den Romantikern oft angewendet worden sind und etwa in Kierkegaard ihren Höhepunkt erreichen, der sich bisweilen als Herausgeber des Herausgebers geriert, und dann noch unter Pseudonym. Ein höchst bizarres Buch, vielleicht der echteste Carlyle, den wir besitzen, aber eben darum auch mit allen Absonderlichkeiten und Schwerverständlichkeiten Carlyles behaftet, dazu noch im Zustand unfertiger Halbreife, auch äußerlich unvollendet, da es plötzlich abbricht; ein genialischer Torso, von dem man ohne Verwunderung vernimmt, daß er von dem damaligen englischen Publikum, das noch nicht einmal Carlyles Vorbilder kannte, nicht im geringsten verstanden wurde. Zunächst erschien das Werk in Fortsetzungen in Frasers Magazin; es regnete erbitterte Zuschriften der Abonnenten über den »tollen Schneider«; die Zeitschrift » Sun« erklärte es in einer Kritik für eine »Sammlung verrückten Unsinns«. Heute ist es eines der gelesensten englischen Bücher; es gehört aber sicher nicht zu Carlyles Meisterwerken, und der deutsche Geschmack hat sich auch nie damit befreundet. Carlyle war kein Romanschriftsteller, er war weniger und mehr als das.

Damals konnte Carlyle für das Buch keinen Verleger finden; die Reise, die er zu diesem Zwecke nach London machte, verlief resultatlos. Sie gewährte ihm aber doch insoweit einige Befriedigung, als er sehen konnte, daß er kein ganz Unbekannter mehr war; besonders die heranwachsende junge Generation ergriff für ihn Partei. Auch lernte er in London einige neue wertvolle Persönlichkeiten kennen, so vor allem Leigh Hunt und John Stuart Mill. Mit beiden blieb er befreundet, obgleich der letztere sich später in seiner geistigen Entwicklung sehr weit von ihm entfernte. Kurz nach seiner Rückkehr erfuhr er eine weitere Anerkennung, die ihn nicht weniger erfreute, durch den Besuch eines jungen Amerikaners, der in vielem eine ähnliche Entwicklung genommen hatte wie er und nun gekommen war, den um acht Jahre älteren Geistesgenossen seiner Zustimmung und Bewunderung zu versichern. Es war Ralph Waldo Emerson, dessen Name mit dem Carlyles so oft zusammen genannt zu werden pflegt. Auch Emerson war von der Theologie ausgegangen und nach ernsten inneren Konflikten schließlich auf das eigene Ich als den einzigen würdigen und sicheren Gegenstand menschlichen Forschens zurückgelenkt worden. Auch er hatte in einer Welt, die der Industrialisierung zu verfallen drohte, den Kampf gegen die Alleinherrschaft des Dollars aufgenommen. Und die schriftstellerische Wirksamkeit, die er dann entwickelte, erinnert in vielem an Carlyle, wobei es sich weniger um eine Beeinflussung durch diesen als um eine natürliche innere Solidarität handelt. Wenn man etwa Emersons » Representative men« mit Carlyles » Hero-worship« vergleicht, so springt die Ähnlichkeit, die bis in die äußere Architektonik geht, sofort in die Augen. Obgleich die beiden sich nur selten sehen konnten und hauptsächlich auf den Briefverkehr beschränkt waren, so bestand doch zwischen ihnen von allem Anfang an eine herzliche und bis zum Schlusse ungetrübte Freundschaft, und sie erkannten sogleich bei der ersten Begegnung die tief begründete Wahlverwandtschaft, die sie verband. Doch darf man über dem Übereinstimmenden auch nicht die Verschiedenheiten übersehen. Emerson war die harmonischere und ausgeglichenere, aber auch die weichere und zerfließendere Natur. Beide wirken vermöge ihrer vollendeten Ursprünglichkeit und Echtheit wie eine Naturkraft, nur daß Carlyles Art die elementare Wucht eines alles mit sich fortschwemmenden, über seine eigenen Ufer tretenden wilden Gewässers hat, während Emersons Erscheinung mehr an das sanfte Dahingleiten eines Wiesenflusses erinnert, der sich langsam und friedlich sein Bett gräbt. Etwas vom Prediger hatten beide; aber Emerson ist kein ungestümer, zürnender Prophet wie Carlyle, sondern spielt mehr die Rolle eines milde überredenden Pastors. Emersons konzilianter Optimismus enthält in der Tat, besonders in späterer Zeit, bisweilen etwas »Mondschein«, wie Carlyle es in seinen letzten Lebensjahren auszudrücken pflegte. Auch Emerson vermag allem, was er sagt, den geheimnisvollen, beziehungsreichen Charakter des Unendlichen zu geben, so gut wie Carlyle, aber der unbegrenzte Ozean, in dem wir uns bei ihm befinden, enthält im ganzen zu wenig Salz, wir schwimmen in einem Meer von Süßwasser; womit aber andererseits wieder zusammenhängt, daß Emerson die ruhigere Hand hat.

In der Vorrede, die Carlyle im Jahre 1841 zu Emersons Essays schrieb, nennt er diese sehr treffend » a true soul's soliloquy«. Es ist damit das Gemeinsame beider bezeichnet und zugleich die Grenzlinie, die ihn von seinem Freunde schied. Immer mehr zog sich dieser auf sich selbst zurück, es genügte ihm, wenn es ihm gelang, die Einwirkungen der Außenwelt in seiner Seele zu einer inneren Harmonie zu bringen. Keine der Schriften Carlyles könnte man einen Monolog nennen; sie tragen ausnahmslos dialogischen und rhetorischen Charakter. Carlyle spricht immer zu einem fiktiven Hörer oder vielmehr zu einer Menge von Hörern, die er mit allen Mitteln belehren, widerlegen, anfeuern will. Still die Dinge auf sich wirken zu lassen, war nicht seine Sache; er wollte vielmehr auf die Dinge wirken. Worin sich Emerson und Carlyle aber immer wieder fanden, das war die Liebe zur Wahrheit.

Das Jahr 1832 brachte Carlyle zwei Verluste, die er, jeden in seiner Art, sehr tief empfand: den Tod seines Vaters und Goethes; dazu kamen die literarischen und materiellen Mißerfolge und der zunehmende Überdruß an dem in vieler Hinsicht doch recht beschwerlichen und monotonen Leben in Craigenputtock. So wurde denn die endgültige Übersiedlung nach London beschlossen, und nach Überwindung von allerlei Schwierigkeiten zog man in der neuen Wohnung in Chelsea, Cheyne Row 5, ein. In diesem Hause hat Carlyle sein ganzes ferneres Leben verbracht. Die Vorstadt Chelsea bot in glücklicher Verbindung die Vorteile des Landes und der Stadt; soweit es ihm bei seinem Temperament überhaupt möglich war, hat sich Carlyle dort recht wohlgefühlt.

Damit schließt die erste Lebenshälfte Carlyles ab. Es beginnt jetzt nicht bloß äußerlich, sondern auch innerlich ein neuer Abschnitt. Bisher war Carlyles geistiges Schaffen vorwiegend literarisch orientiert gewesen, und dies konnte gar nicht anders sein. Er war ein Suchender gewesen und da ergab sich ihm naturgemäß die Vermutung, daß ihm die Welt der Bücher Aufschluß und Trost geben könne. Und gerade jene Führer, die er sich erwählt hatte, die deutschen Dichter und Denker des achtzehnten Jahrhunderts, mußten diese Richtung noch in ihm verstärken und vertiefen. Ganz Deutschland war um die Wende des achtzehnten Jahrhunderts in Literatur aufgelöst, das Leben war zu einem philosophischen Dialog geworden, nur Goethe hatte die von niemand begriffene Wendung zur Wirklichkeit genommen. Wie Faust begann auch Carlyle zunächst mit der Introspektion und als Stubengelehrter. Aber nun sollte seine geistige Entwicklung die entscheidende Richtung aufs Leben nehmen. Dies bedeutet, obschon es in seiner ganzen Natur tief angelegt und lange vorbereitet war, eine vollständige Umwandlung der Prinzipien, Methoden und Ziele, die von nun an seine Geistestätigkeit organisieren.

Der große wirtschaftliche und industrielle Aufschwung, in dem England seit dem Beginn des Jahrhunderts begriffen war, hatte nicht eine entsprechende Verbesserung der sozialen Zustände zur Folge gehabt. Man stand damals noch ausschließlich auf dem Standpunkte der Lehren der »klassischen Nationalökonomie«: zu einer Arbeitergesetzgebung waren nicht einmal Ansätze vorhanden. Schon 1819 war es in Manchester zu einer bewaffneten Revolte des Proletariats gekommen; andere gewaltsame Reformversuche folgten. Irland befand sich in fortwährender Gärung, die Lostrennung von England wurde teils mit friedlichen, teils mit kriegerischen Mitteln ungestüm und unablässig betrieben. Diese beiden Bewegungen, durch geschickte Agitatoren wie O'Connell und O'Connor verstärkt und beschleunigt, vereinigten sich zu dem allgemeinen dringenden Ruf nach Reformen. »The people's charter« und »The repeal of the union« waren die aufregenden Losungsworte der Dreißiger- und Vierzigerjahre. Als dritter Faktor der Unzufriedenheit kamen noch die Gesetze über die Kornzölle hinzu, die dadurch, daß sie jegliche Einfuhr fremden Getreides verboten, die einheimischen Preise immer höher hinauftrieben und nun auch die bürgerlichen Kreise Englands der Opposition zuführten. Es kam zur Bildung der »Anti-corn-law-ligue«, die aber sehr bald allgemein politischen Charakter annahm. In Irland kam es zu Hungersnot und Auswanderung, in den Fabrikstädten zu tumultuarischer Arbeitsverweigerung (einen organisierten Streik gab es damals noch nicht), im Parlament lösten Torys und Whigs einander ununterbrochen ab, ohne daß eine der beiden Parteien etwas allgemein Befriedigendes zustande brachte. Die Chartisten beriefen sich auf die modernen Staatstheorien und forderten allgemeines und gleiches Wahlrecht, geheime Abstimmung, jährliche Neuwahlen und dergleichen; die Liguisten beriefen sich auf die modernen Wirtschaftsprinzipien und verlangten Aufhebung aller Zölle und sonstigen staatlichen Eingriffe in Handel und Gewerbe; die Iren schließlich waren nicht weit entfernt von anarchistischen Grundsätzen.

In diesen Wirren war der weitaus einsichtigste, vorurteilsloseste und weitblickendste Kopf Sir Robert Peel, der, anfangs strenger Tory, allmählich eine liberalere Richtung eingeschlagen hatte und, mit bewunderungswürdiger Anpassungsfähigkeit an die Tatsachen, zwischen den extremen Wünschen und Antrieben der Parteien die Mitte zu halten verstand. Daß Carlyle zu seinen persönlichen Anhängern zählte, ist nicht erstaunlich. Er erkannte, daß dieser Staatsmann, den seine Gegner schwach und inkonsequent schalten, weil er häufig das Programm wechselte, dies eben aus einem sehr gesunden Wirklichkeitssinn tat, indem er nicht nach einer starren Parteidoktrin vorging, sondern sein Verhalten nach den jeweiligen Umständen und Gegebenheiten richtete. So gelang es ihm, die irische Frage wenigstens soweit zu regeln, daß es nicht zu einer Katastrophe kam, die Chartistenbewegung in parlamentarische Formen zu lenken und die Abschaffung der Kornzölle durchzusetzen.

Unter dem Eindrucke dieser Ereignisse vollzog sich in Carlyle die entscheidende Wendung von der Literatur zur Geschichte und Soziologie. Er lebte jetzt in der größten, belebtesten und modernsten Stadt Europas und war gezwungen, sich mit den Wirklichkeiten, die ihn umgaben, auseinanderzusetzen. Es war ihm unmöglich, eine Zweiteilung in Theorie und Praxis vorzunehmen, sich nur mit seiner eigenen inneren Vervollkommnung zu beschäftigen und die Vervollkommnung der äußeren Beziehungen der Menschen anderen zu überlassen, das stille Dasein eines Denkers oder Künstlers zu führen und bloß neben dem Leben zu schaffen und zu gestalten, ebenso wie es ihm seinerzeit unmöglich gewesen war, in Glaubenssachen Theorie und Praxis voneinander zu trennen. Er sah die Mißstände und er fühlte sich gezwungen und verpflichtet, über sie zu sprechen. Aber er war weit davon entfernt, in einem unklaren und unverständigen Radikalismus das Heil zu sehen. Er blickte tiefer. Er sah, daß diese vielfachen Schäden nicht durch notdürftige äußere Reparaturen zu heilen waren, sondern daß die Wurzel des Übels entfernt werden mußte. Die meisten Menschen, auch die wohlwollendsten und vernünftigsten, verwechselten, wie das so oft vorkommt, die Symptome mit der Krankheit und glaubten, es genüge, diese Symptome zu entfernen. Die Entwicklung der Technik, des Verkehrs und des Handels hatte zur Folge gehabt, daß man glaubte, diese Kräfte seien die einzigen realen, das Resultat davon war ein erschreckender Mangel an allen höheren Impulsen. Die Gesellschaft befand sich damals in den Anfangsstadien jener Krankheit, die wir heute als »Amerikanismus« bezeichnen. Der Mensch drohte zu einem bloßen häßlichen Automaten zu werden, der nicht durch edle Begeisterung und große Ideen, sondern durch Geldstücke in Bewegung gesetzt wird. Nichts Geistiges war mehr in den Beziehungen der Menschen zueinander. Die Armen waren zu stumpfen Arbeitsmaschinen geworden, die Reichen zu ebenso stumpfen Genußmenschen. In allen Schichten der Gesellschaft erblickte Carlyle die Anzeichen der Entartung: der Adel hat sich von seiner ursprünglichen Bestimmung, zu regieren, abgewandt und vertreibt sich die Zeit mit müßigem Sport; die Geistlichkeit huldigt dem Lippenglauben und äußerlichen Zeremonien; die Schriftsteller haben ihre Aufgabe, das Publikum, auch gegen seinen Willen, aufzuklären, zu belehren und zu bessern, völlig vergessen und schmeicheln seinen Wünschen, um möglichst schnell Geld und Ruhm zu erlangen; die Rechtsgelehrten sehen ihre Lebensaufgabe im Ersinnen spitzfindiger Sophismen; die Politiker setzen ihren Ehrgeiz in rhetorische Spiegelfechtereien. Überall herrschen die Unaufrichtigkeit und der Glaube an Scheinrealitäten. Alle lügen, bewußt oder unbewußt, um ihr materielles Wohlbefinden zu steigern, das einzige erstrebenswerte Gut, das sie kennen. Das moderne Leben ist auf einem einzigen großen System des Betrugs aufgebaut, dem sich auch der Redliche und Tüchtige unwillkürlich einfügen muß.

Diese gegenwartfeindliche Richtung, die auf dem Kontinent erst viel später ihre Vertreter gefunden hat, weil dieser sich wirtschaftlich nicht so schnell entwickelte, bildet den Grundbaß in allen Schriften, die Carlyle in den nächsten Jahrzehnten schrieb. Die besondere Eigentümlichkeit seiner Stellungnahme, die damals von den wenigsten richtig begriffen wurde, besteht in seiner völligen Parteilosigkeit und Unparteilichkeit. Man hat ihn als einen Tory bezeichnet, weil er gegen das demokratische Gleichheitsdogma kämpfte; als einen Whig, weil er gelegentlich die Adeligen als schmarotzende Müßiggänger und die Hochkirche als eine heuchlerische Institution bezeichnete; als einen Peeliten, weil er mit Robert Peel befreundet war; als einen Chartisten, weil er für die Hebung des Arbeiterstandes eintrat; als einen Radikalen, weil er gegen die Korngesetze schrieb; und als einen schwarzen Reaktionär, weil er die Aufhebung der Sklaverei in den britischen Kolonien für eine nutzlose Sentimentalität erklärte; und wenn man will, so war er tatsächlich etwas von alledem. Sein Maßstab war immer und überall die Wahrheit; und wer ihm diese zu haben schien, dessen Partei ergriff er. Sein Urteil orientierte sich immer an den realen Verhältnissen und war daher ebenso variabel wie die Beobachtungen, aus denen es gezogen war. Das Publikum aber will für jede öffentliche Erscheinung eine bestimmte Chiffre und Etikette und wird durch eine solche Fähigkeit, sich an die Dinge anzupassen, nur verwirrt und enttäuscht.

Das erste Werk aus dieser zweiten Periode Carlyles hatte aber zunächst kein aktuelles politisches Thema, sondern war historischen Charakters: es ist die berühmte Geschichte der Französischen Revolution. Gleichwohl ist es nicht aus einer bloßen Versenkung in die Vergangenheit, sondern aus dem unmittelbaren Erleben der Gegenwart hervorgegangen. Bei der Betrachtung der Verwirrungen, in die seine Zeitgenossen geraten waren, hatte Carlyle erkannt, daß der Ausgangspunkt der gesamten modernen Entwicklung in der großen französischen Explosion zu suchen sei, von der alle Bewegungen des neuen Jahrhunderts mit ihren guten und schlechten Wirkungen herzuleiten sind. Keine Arbeit hat Carlyle solche Mühe gekostet wie diese; keine ist aber auch so abgerundet und bis ins feinste Detail künstlerisch ausgearbeitet. Schon das Zusammensuchen der dokumentarischen Daten, das bei dem damaligen Zustand der Londoner Bibliotheken viel schwieriger war als heutzutage, brachte ihn zur Verzweiflung. Die Form der Darstellung genügte ihm immer erst dann, wenn alles eine organische Einheit bildete, nirgends Risse oder Nähte sichtbar waren, und da dies auch bei stärkster Anstrengung und Fähigkeit nicht immer vollständig gelingt, so befand er sich in einem permanenten Zustand der Unzufriedenheit. Dazu kam noch ein ganz besonderes Mißgeschick. Er hatte das Manuskript des ersten Bandes John Stuart Mill zum Lesen gegeben, dieser hatte es einem zweiten Freunde geliehen, und dessen Magd hatte es bis auf das letzte Blättchen zum Feueranmachen benützt. Die ganze Arbeit war verloren; zudem hatte Carlyle bei seinen mißlichen Vermögensverhältnissen mit dem Ertrag des Buches zu rechnen. Für das letztere kam zwar Mill auf: er sandte zweihundert Pfund, von denen Carlyle jedoch nur die Hälfte akzeptierte; aber die zweite Konzeption der Arbeit war fast noch aufreibender als die erste. Schließlich kam sie aber doch zustande, und 1837 konnten die drei Bände: »The French Revolution. A History« erscheinen.

Carlyle wollte mit dieser Geschichte seinen Landsleuten ein warnendes Exempel vorhalten. Er erblickte in dieser »ungeheuern Feuersbrunst« eine Art göttliches Strafgericht, gesandt wider die falschen Herrscher und Priester, die sich ein Recht über die anderen angemaßt hatten, zu dem sie nicht durch wirkliche Überlegenheit befugt waren. Er ist daher kein unbedingter Verurteiler der Revolution: er zeigt ohne Entrüstung, wohin der mißgeleitete und durch allzu unerträgliches Unrecht erbitterte Mensch gelangen kann. Als ein bemerkenswerter Rückschlag gegen seine literarische Periode ist es anzusehen, daß er das ganze Phänomen nur vom sozialen Gesichtspunkt aus wertet, eine sicherlich zum Teil einseitige Betrachtung, die den wichtigen vorbereitenden Einfluß der gesamten französischen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts außer acht läßt. Es ist sehr leicht möglich, daß Carlyle zehn oder fünfzehn Jahre früher die Sache gerade umgekehrt gesehen hätte.

Die Darstellungsform, in der der Gegenstand dem Leser vorgeführt wird, ist einzigartig in der englischen und vermutlich in der Weltliteratur. Das Ganze ist in der Technik eines genialen Dekorationsmalers breit hingekleckst und macht den Eindruck eines reichbewegten gespenstischen Figurentheaters. In der Architektonik erinnert es an ein richtiges Drama oder vielmehr einen Dramenzyklus mit Vorspiel, ansteigender und fallender Handlung und klar herausgearbeiteten Peripetien. Der Held der ganzen Tragödie ist das französische Volk, das, von mächtigen Kräften und Gegenkräften geheimnisvoll vorwärtsgetrieben, sein blutiges Schicksal erfüllt. Das Buch hat etwas Magisches: die Vorgänge sind in eine undefinierbare Atmosphäre von unendlicher Bedeutsamkeit getaucht und darum muß man es eine Dichtung nennen. Es wird heute vielfach behauptet, daß es »überholt« sei. Aber ein Kunstwerk steht über dem jeweiligen »Stande der Forschung«. Herodot ist nicht überholt, obgleich er größtenteils Dinge berichtet hat, die heute jeder Volksschullehrer zu widerlegen vermag. Montesquieu ist nicht überholt, obgleich seine Geschichtsdarstellungen voll von handgreiflichen Irrtümern sind. Herder ist nicht überholt, obgleich er historische Ansichten vertrat, die heute für dilettantisch gelten. Winckelmann ist nicht überholt, obgleich seine Auffassung vom Griechentum ein einziger großer Mißgriff war. Denn wenn sich auch alles, was diese Männer lehrten, als unrichtig erweisen sollte, eine Wahrheit wird doch immer bleiben und niemals überholt werden können: die der künstlerischen Persönlichkeit, die hinter dem Werk steht, des bedeutenden Menschen, der diese falschen Bilder innerlich erlebte, sah und gestaltete. Wenn Schiller zehn Seiten bester deutscher Prosa über eine Episode des Dreißigjährigen Krieges schreibt, die sich niemals so zugetragen hat, so ist dies für die historische Erkenntnis wertvoller als hundert Seiten »Richtigstellungen« nach neuesten Dokumenten ohne philosophischen Gesichtspunkt und in elendem Deutsch. Und was war Homer anderes als ein Historiker »mit ungenügender Quellenkenntnis«? Dennoch wird er in alle Ewigkeit recht behalten, auch wenn sich eines Tages herausstellen sollte, daß es überhaupt kein Troja gegeben hat.

Carlyles neues Werk erregte beim großen Publikum zunächst wiederum nur Befremden; aber bei der geistigen Elite Englands fand es sogleich Eingang. Dickens, Thackeray, Southey, Hamilton, Mill bewunderten es; selbst Jeffrey gab zu, daß es ein außerordentliches Buch sei. Mit den Genannten trat Carlyle auch bald in näheren oder entfernteren Verkehr; Leigh Hunt gesellte sich hinzu; John Sterling, ein liebenswürdiger und kluger junger Theologe, faßte für ihn eine schwärmerische Freundschaft. Er war der Sohn eines einflußreichen Redakteurs der »Times« und versuchte Carlyle in diese Zeitung zu bringen; aber die Verhandlungen scheiterten an der Unnachgiebigkeit Carlyles, der sich um keinen Preis in den Dienst eines bestimmten politischen Programms stellen wollte. Es war ihm eben einfach physisch unmöglich, einen Satz zu schreiben, den er nicht aufs tiefste empfand. Es war jedoch für ihn dringend nötig geworden, sich nach einem Erwerb umzusehen, denn die Ersparnisse drohten auszugehen. Man kam daher auf die Idee, ihn Vorträge veranstalten zu lassen. Durch lebhafte Agitationen seiner Verehrer und Verehrerinnen gelang es noch in demselben Jahre, ein Auditorium von etwa zweihundert Subskribenten zusammenzubringen, vor denen er eine Serie von Vorlesungen über deutsche Literatur hielt. Durch den großen Erfolg ermutigt, las er im nächsten Jahre über »europäische Kulturperioden von Homer bis Goethe«, im übernächsten über moderne Revolutionen, und den Beschluß machten 1840 die Vorträge »on heroes, hero-worship and the heroic in history«, die einzigen, die in Buchform erschienen sind. Bei dem ersten und dritten der vier Zyklen war dies weniger geboten, da sie im wesentlichen das enthielten, was er teils in seinen literarhistorischen Essays (die 1839 gesammelt erschienen waren), teils in seiner » French Revolution« niedergelegt hatte. Der zweite Kursus über Kulturperioden hingegen scheint viel Neues gebracht zu haben, Gedanken, die freilich in seinen späteren Schriften wieder auftauchen, aber von ihm niemals wieder in systematischer Form behandelt worden sind. Das allgemeine Schema, nach dem er in dieser Vortragsreihe die geschichtliche Entwicklung gliedert, ist die abwechselnde Aufeinanderfolge von Perioden des Glaubens und des Unglaubens. Carlyle beginnt mit den Griechen, die in der Blütezeit ihrer Kultur ein Volk des Glaubens waren, während der ewig logisierende Sokrates bereits den Verfall ankündigt: eine merkwürdige Antizipation der Auffassung Nietzsches. Auch die Römer waren in ihrer guten Zeit ein gläubiges Volk, ihr Haupttalent war ein tüchtiger, kraftvoller Sinn für Methode. Das Kaiserreich bringt dann den Niedergang, weil der Skeptizismus zur allgemeinen Herrschaft gelangt. Das Mittelalter ruhte bei aller geistigen Enge doch auf sicherem Grunde, der Mensch erkannte sich in seiner wahren göttlichen Natur, als ein sittliches Wesen, gestellt zwischen zwei Ewigkeiten. Auch die Reformation war ebenfalls eine Auflehnung des Glaubens gegen den Unglauben; ihre Helden Shakespeare, Knox und Cromwell wurden eingehend betrachtet. Dann ging Carlyle zum achtzehnten Jahrhundert über, und mit einer Charakteristik der »modernen Krankheit« des »Wertherismus« und »Byronismus« und einem Ausblick auf deren mögliche Heilung schloß dieser längste der vier Zyklen.

Die Vorträge waren mit steigendem Zulauf und Beifall vor sich gegangen und brachten Carlyle für die nächste Zeit genügenden materiellen Gewinn. Seine ökonomische Lage verbesserte sich auch anderweitig. Durch den Tod seiner Schwiegermutter kam er in den Besitz einer kleinen Rente, sein Bruder John hatte einen reichlich dotierten Posten als Reisebegleiter einer vornehmen Dame erhalten, so daß er nun für sich selber sorgen konnte, und Emerson hatte in Amerika Buchausgaben des » Sartor« und der » Revolution« veranlaßt, die gut honoriert wurden. Infolgedessen gab Carlyle seine Vorlesungen auf. Wenn man bedenkt, welche eigenartige und schöne Befriedigung darin liegt, mit tiefer und starker Wirkung zu einem größeren Auditorium sprechen zu dürfen, so muß dieser Entschluß zunächst Verwunderung erregen. Es ist außer Zweifel, daß Carlyle ein ganz außergewöhnliches Rednertalent besaß. Alle, die jemals mit ihm persönlich verkehrten, rühmen seine Fähigkeit, andauernd auf das anregendste zu sprechen. Sein breiter Annandaler Dialekt wirkte wie eine Art Gesang; alle Mittel des Vortrags standen ihm mühelos zu Gebote; eine überwältigende Fülle von Bildern, Gleichnissen, Beispielen, Zitaten, Sarkasmen strömte ihm ganz von selber zu. Man hat ihn » the best talker of England« genannt. Auch sprach er offenbar sehr gern, und wenn er einmal im Zuge war, so konnte er oft stundenlang reden, ohne sich zu unterbrechen oder auch nur von einem anderen unterbrechen zu lassen. Er sagte zwar nach dem Abschluß seiner öffentlichen Vorlesungen: »Zwei Dinge fehlen mir zum Reden: Gesundheit und Unverschämtheit«; aber wir werden annehmen dürfen, daß es damit nicht ganz so schlimm stand. Wenn auch die Vorträge, die er vollkommen frei sprach, ihn geistig und physisch stark in Anspruch nahmen, so war doch seine kräftige schottische Konstitution diesen Strapazen durchaus gewachsen; und wenn auch »Unverschämtheit« zweifellos zu jenen Eigenschaften gehörte, von denen er keine Spur besaß, so wird doch andererseits von allen bezeugt, daß er als Redner eine große Sicherheit und Unbefangenheit besaß und, einmal in Fluß gekommen, auch Widerstrebende mit sich fortriß. Wer den gedruckten Text der Vorträge über »Heldenverehrung« liest, wird zu der Vorstellung gezwungen, daß der Sprecher dieser Worte auch ein gewaltiger faszinierender Redner gewesen sein muß. Die Erklärung für Carlyles Abneigung gegen das öffentliche Reden kann nur wiederum in seiner radikalen Wahrheitsliebe gesucht werden. Jeder vollkommene Vortrag ist eine künstlerische Leistung und als solche die Sache einer bestimmten Technik und Wirkungsweise; und das hat zur Folge, daß das Material der Gedanken und Empfindungen eine gewisse Umformung, eine Adaptierung an den bestimmten Zweck erleidet. Dies aber war im Sinne Carlyles schon eine Art Heuchelei. Er hätte, wenn man ihn darum befragt hätte, sicher auch die Schauspielkunst als eine Art Lüge bezeichnet; und von der Dichtkunst hat er mehrfach geäußert, daß sie niemals etwas erfinden dürfe, sondern nur wirkliche Gefühle und Tatsachen darzustellen habe; und dies bedeutet offenbar die Verurteilung eines großen Teils der Weltliteratur. Die erste seiner sozialpolitischen Schriften erschien 1840 und führte den Titel » Chartism«. Carlyle gibt sich aber darin durchaus nicht als Chartist; er erblickt das Heilmittel keineswegs in parlamentarischen Reformen, allgemeinem Wahlrecht und dergleichen, sondern in einer weisen und menschenfreundlichen Regierung, die im Arbeiter nicht ein bloßes Werkzeug erblickt, sondern einen Gegenstand sittlicher und körperlicher Fürsorge. Er weist darauf hin, daß das Proletariat gerade durch seine soziale Selbständigkeit in die ärgste Abhängigkeit von den Unternehmern geraten ist, daß die Sklaverei früherer Zeiten ein viel menschenwürdigerer Zustand war und daß der Arbeiter im Grunde nicht viel mehr besitze als die Freiheit zu verhungern. Auf breiterer Grundlage wurden diese Gedanken drei Jahre später in dem Buche » Past and Present« ausgeführt. Es zerfällt, wie schon der Titel sagt, in zwei Teile: in dem Abschnitt, der von der Vergangenheit handelt, wird an der Hand einer alten englischen Klosterchronik aus dem zwölften Jahrhundert, die das damalige Mönchsleben schildert, ausführlich dargetan, wie sehr die gesellschaftliche Organisation jener Zeit trotz ihrer Primitivität der unsrigen überlegen war. Nicht in romantischer Verklärung erscheint jene Welt, sondern gerade ihr gesunder Realismus wird gerühmt. Diese mittelalterlichen Menschen wußten noch, was echte Arbeit, was echter Gehorsam und echte Herrschaft war. Sie riefen ihren Königen kein » Laissez faire!« zu, sie ließen sich gern von Besseren und Stärkeren regieren. Das Verhältnis zwischen Landesherr und Untertan, Lehnsherr und Vasall, Gutsherr und Hörigem war in erster Linie ein moralisches, gegründet auf gegenseitige Treue, nicht ein bloß materielles, gegründet auf Ausbeutung. Die Beziehungen der Menschen waren nicht durch das Gesetz von Angebot und Nachfrage reguliert, sondern durch das Gesetz Gottes. Die Nutzanwendung auf die Gegenwart ergibt nun freilich nicht, daß wir einfach zu jenen Zuständen zurückkehren sollen. Aber das Gute können wir recht wohl aus ihnen übernehmen. Wir müssen vor allem von jenen Menschen zweierlei lernen: den Glauben an Höhere und die Heiligung der Arbeit. Ungleichheit ist der natürliche Zustand; es ist nur recht und billig, daß der Klügere und Tüchtigere über die anderen herrsche. Arbeit ist nicht etwas, das mit Geldstücken gekauft werden kann; alle echte Arbeit hat mit Gott zu tun: laborare est orare.

Inzwischen ging auch Carlyles zweites historisches Werk der Vollendung entgegen. Schon seit längerer Zeit plante er eine Geschichte der englischen Reformation, aber immer mehr konzentrierte sich sein Interesse auf die Gestalt Cromwells. Dabei kam er zu der Überzeugung, daß das landläufige Bild, das man sich von Cromwell damals in England machte, ganz falsch und geradezu die Umkehrung der Wahrheit war. Man sah in ihm einen gewalttätigen, habgierigen, ehrsüchtigen Usurpator, der alles durch Heuchelei, Intrige und Spiegelfechterei zu seinem eigenen Vorteil betrieben hatte. Niemals redete er die Wahrheit, immer trug er eine Maske. Carlyle suchte diese Maske zu erforschen und kam zu seinem Erstaunen auf eine sehr einfache Entdeckung: die Maske war das wahre Gesicht! Cromwell war gar kein Hypokrit, sondern ein gottesfürchtiger, redlicher Mensch: seine Briefe und Reden, richtig verstanden, taten dies überzeugend für jedermann dar, der sehen wollte. Carlyle beschloß, diese Dokumente, entsprechend kommentiert, herauszugeben, und so entstand das Werk: » Letters and Speeches of Oliver Cromwell«. Es führte einen vollständigen Umschwung in der öffentlichen Meinung herbei. Daß Cromwell und seine Puritaner die wahren Schöpfer des modernen England waren, die Begründer der englischen Macht und Freiheit, und dies nicht durch List und Gewalttat, sondern durch den Sieg der Idee, die in ihnen wirkte: das für alle Zeit einleuchtend dargetan zu haben, ist das große Verdienst dieses Buches.

Die Vorgänge des Jahres 1848 veranlaßten Carlyle zu einigen Aufsätzen im » Examiner«. Er konnte die neuen Revolutionen ebensowenig billigen wie die früheren, aber er erblickte in der Vertreibung des »Scheinhelden« Louis Philippe eine göttliche Nemesis. Großes und unliebsames Aufsehen erregte seine Stellungnahme in der Negerfrage. Er erklärte in einer Abhandlung über diesen Gegenstand, daß die Befreiung der Nigger eine falsche Maßnahme gewesen sei, die ihnen nur geschadet habe. Das Recht auf Freiheit besitze nur derjenige, der sie würdig zu benützen verstehe. Hingegen gebe es ein anderes Recht, das jedermann besitze, nämlich das Recht, zu arbeiten und, wenn man nicht arbeiten wolle, dazu gezwungen zu werden. Dieses Recht habe man den Negern genommen und damit nur erreicht, daß sie in tierischen, nichtsnutzigen Müßiggang versanken. Es nütze nichts, mit großen Phrasen zu erklären, daß die schwarze und die weiße Rasse gleich seien, denn tatsächlich seien sie nicht gleich, und die überlegenen Weißen haben nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, die Schwarzen zu beherrschen. »Die Götter sind lange nachsichtig; aber es steht von Anfang geschrieben: wer nicht arbeiten will, soll von der Erde verschwinden; und auch die Geduld der Götter hat ihre Grenzen!« Man kann sich den Sturm vorstellen, den diese Äußerungen im damaligen liberalen England hervorriefen.

Dieser Aufsatz war nur die Einleitung zu einer Reihe von politischen Flugschriften, die unter dem Gesamttitel » Latterday Pamphlets« im Laufe des nächsten Jahres erschienen. Es sind im ganzen acht; Carlyle mußte sie auf eigene Kosten drucken lassen, da keine Zeitschrift es wagen wollte, sie aufzunehmen. Sie enthalten eine rücksichtslose und leidenschaftliche Kritik der damaligen englischen Gegenwart, wobei gerade diejenigen Institutionen, auf die man sich am meisten zugute tat, am allerschärfsten mißbilligt und als widersinnig und schädlich erwiesen wurden. Gleich die erste Flugschrift wendet sich mit aller Entschiedenheit gegen den Wahn, daß die Gesellschaft in der Einführung des allgemeinen Stimmrechts ihr großes Heilmittel finden werde. Da die Menschen offenbar nicht gleich sind, so können auch ihre Stimmen nicht gleiches Gewicht haben; das Wort eines Judas kann nicht ebensoviel wiegen wie das Wort eines Jesus; das moderne Regierungssystem gleiche einem Schiff, das durch Abstimmung aller Matrosen von »Schattenkapitänen« gelenkt werde, der Untergang eines solchen Schiffes sei unausbleiblich. Diese Gedanken werden dann in den weiteren Schriften näher ausgeführt unter heftigen und tiefdringenden Angriffen gegen die einzelnen Regierungsformen. Eine Schrift, die die übertriebene Sentimentalität in der Organisierung des Gefängniswesens behandelt, hat Carlyle den Vorwurf der Herzlosigkeit eingetragen; aber sein Standpunkt in dieser Sache wurzelte, wie alle seine anderen Ansichten, auch hier wiederum in seinem gesunden Sinn für Realität: eine Verbrecherfürsorge auf Kosten der Armenfürsorge empfand er als Widersinn, und zudem war er, wie alle wirklich guten Menschen, nicht ohne Härte, indem er wohl wußte, daß wahlloses Mitgefühl mit allen erdenklichen Lebensformen ein Unrecht an denen ist, die auf Güte und Sympathie einen wirklichen Anspruch haben.

Die Grundtendenz aller dieser Schriften ist der Protest gegen den weichlichen Liberalismus mit seiner Nivellierungssucht, seinem » Laissez faire«, seiner politischen Geschwätzigkeit und Phrasenhaftigkeit. Die Grundkrankheit der Zeit ist, wie die letzte Flugschrift resümierend darlegt, der Jesuitismus, die allgemeine Unaufrichtigkeit und Spiegelfechterei: die Lehre Loyolas ist äußerlich abgeschworen, aber in Wahrheit ist sie das Glaubensbekenntnis fast aller Menschen in England. Nirgends ist Wahrheit der Ausgangspunkt und das Ziel der menschlichen Bestrebungen, immer nur eine armselige sophistische Amalgamierung von Wahrem und Unwahrem; ein feines Gift der Lüge durchdringt die ganze Gesellschaft.

Wie dieser moderne Kampf zwischen Glauben und Unglauben sich in einer einzelnen Persönlichkeit gestaltet, hat Carlyle in dem bald darauf erschienenen » Life of John Sterling« in ergreifender Weise geschildert. 1844 war Sterling in noch jugendlichem Alter an der Schwindsucht gestorben. Der Archidiakonus Hare hatte ein Buch über ihn geschrieben, aber dabei den Schwerpunkt auf die kurze theologische Tätigkeit Sterlings gelegt und ihn gewissermaßen für die Orthodoxen reklamiert. Gegen diese Auffassung ist Carlyles Darstellung gerichtet, aber sie ist ein Bild der ganzen geistigen Kämpfe jener Zeit geworden und zugleich ein kleines Meisterwerk der psychologischen Porträtierungskunst, das heute noch als eine der besten Biographien in englischer Sprache gilt.

Die geistige Tätigkeit der nächsten vierzehn Jahre war fast ausschließlich einem einzigen Gegenstande gewidmet, dem schwierigsten, beziehungsreichsten und umfassendsten, den Carlyle jemals behandelt hat: der Geschichte Friedrichs des Großen. Es handelte sich auch hier wiederum um ein historisches Läuterungsverfahren, ähnlich wie bei Cromwell, nur daß das Material ein noch weit ausgedehnteres und widerspenstigeres war. Die nächste Notwendigkeit, die sich aus diesen Arbeiten ergab, war Carlyles erste Reise nach Deutschland, gemeinsam mit Neuberg, seinem ersten deutschen Übersetzer, der in seinem Leben eine Art Eckermannrolle gespielt hat. Man begab sich zunächst über Rotterdam nach Bonn, wo Carlyle einige Bibliotheksstudien betrieb, dann nach Coblenz, Bad Ems, Mainz, Frankfurt am Main, in die »Spielhölle« Homburg, auf die Wartburg, nach Weimar, nach Leipzig, wo gerade Messe war, nach Teplitz, Herrnhut, Lobositz, Kunersdorf: lauter Orte, die einem so genauen Kenner der deutschen Geschichte und Literatur bedeutsame und anregende Eindrücke vermitteln mußten. Den Beschluß machte Berlin, wo Carlyle den alten Tieck, Rauch, Cornelius und andere kennenlernte. Man wäre jedoch im Irrtum, wenn man annehmen wollte, daß ihm diese Reise ein Vergnügen bereitet hat. Die interessanten Studien waren reichlich aufgewogen durch allerlei kleine Mißhelligkeiten, die auf einer größeren Reise in der damaligen Zeit unvermeidlich, für Carlyle aber unerträglich waren. Die Klagen über zu kurze Betten, tutende Nachtwächter, unsorgfältig bereitete Speisen, lästige Reisegenossen nehmen in seinen Briefen aus Deutschland einen fast ebenso großen Raum ein wie die Erinnerungen, die der Rhein, Goethe, Schiller, Luther, Dürer und die schlesischen Schlachtfelder in ihm erweckten. So atmete er denn auf, als er wieder in Chelsea ankam, wo ihn seine alten Gewohnheiten erwarteten und zudem noch eine besondere Überraschung, ein »geräuschfestes« Studierzimmer mit Oberlicht und doppelten Wänden, das seine liebevolle Gattin für ihn hatte anlegen lassen.

Noch ehe das Jahr zu Ende ging, traf ihn ein ungemein schwerer Verlust. Um Weihnachten starb seine Mutter, vierundachtzig Jahre alt. Er traf sie noch lebend und bei Bewußtsein. Ihr Tod war ruhig und freundlich. Ihren Abschied von der Welt hat Carlyle in seinem Tagebuch rührend geschildert. Sie war von allen Menschen, die Carlyle kannte, vermutlich der einzige, der ihn ganz verstanden hat.

Dasselbe Jahr brachte den Ausbruch des Krimkriegs. In dem genannten » Dial«, das er seit dreißig Jahren mit größeren und geringeren Unterbrechungen führte, hat Carlyle sich auch über dieses Ereignis geäußert, wiederum gar nicht im Sinne der herrschenden liberalen Strömung. Er mißbilligt es aufs äußerste, daß England sich dazu hergab, die Sache der unzivilisierten Türken zu unterstützen, an der Seite eines politischen Scharlatans, der durch Intrigen und Gewalttaten zur Kaiserwürde gelangt war.

In diese Zeit fällt auch die Bekanntschaft mit Ruskin, die zu einer dauernden Freundschaft wurde. Die Ausgangspunkte der beiden größten geistigen Reformatoren, die England im neunzehnten Jahrhundert gesehen hat, waren ja zunächst sehr verschieden. Ruskin kam von der Malerei her, sein Denken war anfänglich rein artistisch orientiert. Allmählich aber nahm er eine ähnliche Wendung zum Praktischen wie Carlyle, die sozialen Probleme traten mehr und mehr in den Gesichtskreis seines Interesses. Gemeinsam ist beiden der Haß gegen die Maschine und überhaupt gegen den ganzen modernen Betrieb, eine gewisse Vorliebe für die ländliche Kultur, weil diese noch nicht den Zusammenhang mit der Erde und der Natur verloren hat, und vor allem die Überzeugung von der Heiligkeit der Arbeit, ein Evangelium, das sie beide ihr Leben lang begeistert gepredigt haben. Es ist daher sehr wohl erklärlich, daß Carlyle einmal an Ruskin schrieb, er freue sich, daß er sich nunmehr in einer Minorität von zwei Stimmen befinde. Andererseits darf aber doch nicht übersehen werden, daß der Kampf gegen die Mechanisierung des modernen Lebens, in dem sie sich trafen, bei Ruskin aus künstlerischen Antrieben hervorging, während er bei Carlyle einen ethischen und religiösen Ursprung hat. Für Ruskin war und blieb bis zuletzt die Kunst das, was dem Leben seinen höchsten Sinn verleiht, für Carlyle besaß die Kunst überhaupt keine selbständige Existenzberechtigung. Für Ruskin ist das Mechanische in erster Linie unästhetisch, für Carlyle in erster Linie unmoralisch. Freilich sind die Beziehungen zwischen Kunst und Sittlichkeit so innige, daß eine völlige Trennung niemals möglich ist; und es hat daher oft den Anschein, als ob die Anschauungen Ruskins und Carlyles sich völlig deckten.

Die » History of Friedrich II. called Frederick the great« erweiterte sich im Verlaufe der Arbeit zu einer Art Kulturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. Hunderte und Tausende von Dokumenten mußten geprüft werden, denn Carlyle verließ sich niemals auf Berichte aus zweiter Hand und ging, wo es nur irgend im Bereich der Möglichkeit lag, immer auf die Quellen zurück. Er mußte auf dem höchst verwickelten und für ihn völlig neuen Gebiete der Kriegswissenschaft eingehende Forschungen machen, zeitgenössische Bücher, Zeitungen, Memoiren, Akten studieren und dabei alles so ineinander arbeiten, daß die aufgewendete Mühe für den genießenden Leser nicht sichtbar wurde. Sieben Jahre kämpfte er mit dem ungemein spröden Stoff, bis endlich 1858 die zwei ersten Bände erscheinen konnten. Sie hatten sogleich einen außerordentlichen Erfolg. Man hatte die Gestalten Friedrichs des Großen und seines Vaters aus dem allbekannten und vielbewunderten Essay Macaulays in Erinnerung und war nun sehr erstaunt, sie in so verändertem Lichte zu erblicken. Für Macaulay war Friedrich Wilhelm nicht viel mehr gewesen als ein brutaler Kommißknopf und sein Sohn ein eitler, hinterlistiger, ländergieriger Despot von einigen strategischen Talenten. Carlyle zeigte nun, daß die Kehrseite der gewalttätigen Strenge, mit der Friedrich Wilhelm seine Soldaten drillte und seine Untertanen bevormundete, Tüchtigkeit, Ordnungsliebe und wohlwollende Fürsorge waren. Er zeigte die liebenswerten Züge, die dieser urwüchsige Sonderling trotz allem besaß, vor allem den gesunden Sinn für Tatsachen, der alle seine Maßregeln leitete und den er auf seinen Sohn vererbte, dessen größtes Verdienst es war, daß er inmitten des verlogenen, windigen achtzehnten Jahrhunderts ein Mann der Realitäten war. Friedrich war keiner von den großen Gläubigen im Sinne Carlyles, aber doch so gläubig, als es in seiner Zeit überhaupt möglich war. Er vermochte sein Leben nicht völlig von Lüge frei zu halten, aber er belog die anderen immer nur, wenn er mußte, und vor allem: er belog niemals sich selbst. So hat er durch seine aufopfernde Pflichttreue, seine unermüdliche Arbeitskraft und seine geniale Fähigkeit, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, die Großmacht Preußen geschaffen. Vieles in dem Buch wirkte wie eine Prophezeiung. Carlyle verteidigte die Wegnahme Schlesiens, die Macaulay als perfiden Raub verurteilt hatte, indem er dartat, daß die spätere Entwicklung Friedrich recht gegeben habe, denn unter ihm und seiner Dynastie habe sich das Land besser entwickelt, als es unter den Habsburgern der Fall gewesen wäre. Er setzte auseinander, daß die Reformation das fernere Schicksal aller europäischen Staaten entschieden habe, damals, als jedem von ihnen die große Frage vorgelegt wurde, ob er sich für die Freiheit und Wahrheit erklären oder weiterhin an die »papistische Lüge« glauben wolle; und diese Lehren fanden durch die Ereignisse neuerlich eine Bestätigung, denn schon die nächsten Jahre brachten die Abrechnung des protestantischen Hohenzollernstaates mit der »habsburgischen Schimäre«.

Eine zweite Reise nach Deutschland, die Carlyle in demselben Jahre unternahm, in dem die beiden ersten Bände erschienen, dauerte nur einen Monat und hatte lediglich den Zweck, einige Schlachtfelder zu besichtigen: Zorndorf, Liegnitz, Chotusitz, Kolin, Hochkirch, Roßbach. Trotz der Kürze des Aufenthalts hatte Carlyle sich alle Details mit bewundernswerter Genauigkeit eingeprägt: seine Schilderungen der militärischen Operationen und der Terrains gelten noch heute als klassisch und werden in den deutschen Kriegsschulen auswendig gelernt. Der dritte Band des Werkes erschien 1862, der vierte 1864, die beiden letzten 1865. Aber das Riesenwerk, das nun endlich vollendet vorlag, hatte Carlyles Arbeitskraft bis zum äußersten angespannt. Es folgte eine Periode der Erschöpfung.

»Sie haben«, schrieb Bismarck am 2. Dezember 1875 an Carlyle, »den Deutschen unseren großen Preußenkönig in seiner vollen Gestalt, wie eine lebende Bildsäule hingestellt.« In der Tat ist nicht bloß für England, sondern auch für viele Kreise Deutschlands das wahre Bild Friedrichs des Großen erst durch Carlyle geschaffen worden. Und es ist ein Denkmal nicht bloß Friedrichs, sondern seiner ganzen Zeit; alle die zahlreichen Figuren, die sich um ihn gruppierten, sind auf dem Standbilde mit zur Darstellung gebracht, je nach Rang und Bedeutung sorgfältiger oder flüchtiger, in größerem oder kleinerem Format, freistehend, in Hochrelief oder Flachrelief; aber keiner ist vergessen. Mit der geheimnisvollen Gabe der Totenerweckung, die der geniale Historiker mit dem Dichter gemeinsam hat, sind die längst dahingesunkenen Gestalten ins Leben zurückgezaubert, und ohne Schminke und künstliche Beleuchtung treten sie vor uns hin und lassen uns ihre Gefühle mitfühlen, ihre Befürchtungen mitfürchten und ihre Hoffnungen mithoffen.

Die steigende Bewunderung und Zustimmung, die sich Carlyle mit seinen Werken errang, hatte zur Folge, daß ihm eine der größten Ehrungen zuteil wurde, vielleicht die größte, die einem Schriftsteller in England erwiesen werden kann: er wurde zum Rektor der Edinburgher Universität gewählt. Es war dies die Anerkennung der Jugend, die damit manifestierte, daß sie ihm glaube und seine moralischen Wahrheiten zu den ihren machen wolle; denn die Wahl geht in Edinburgh nicht von den Professoren, sondern von den Studenten aus. Gleichwohl zögerte Carlyle, denn die Würde war mit der Verpflichtung einer öffentlichen Ansprache verbunden; aber schließlich nahm er doch an. Einer seiner Freunde, der Naturforscher Tyndall, begleitete ihn; Frau Carlyle, die die Aufregungen der ganzen Veranstaltung fürchtete, blieb in London zurück; nicht ohne Besorgnisse. Er hatte seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr öffentlich gesprochen; sein unmittelbarer Vorgänger im Amt war Gladstone gewesen, einer der besten Redner seiner Zeit, der mit seiner Abschiedsrede über Homer unbeschreiblichen Beifall geerntet hatte. Gleichwohl ging die Feierlichkeit ohne den geringsten Zwischenfall vonstatten und gestaltete sich für Carlyle zu einem glänzenden Erfolg. Anfangs ein wenig befangen und unsicher, wurde er bald von seinem Gegenstand fortgerissen und brachte seinen Vortrag, durch zustimmendes Gelächter, Beifallsausbrüche und begeisterte Zurufe unterbrochen, ohne Mühe zu Ende. Inhaltlich bot die Rede wenig Neues, sie war eine Art Revue über die Grundüberzeugungen und Leitgedanken seines Lebens; die große Wirkung wurde durch den Ton ergreifender Schlichtheit, Natürlichkeit und Aufrichtigkeit erzielt, in dem Carlyle seine Worte vorbrachte; dazwischen fehlte es auch nicht an scharfen sarkastischen Seitenblicken. Als Gladstone geendet hatte, ertönte endloser Applaus; aber auf Carlyles Rede folgte zunächst ergriffenes Stillschweigen, das erst allmählich in einen Beifallssturm überging. Hunderte von jubelnden Studenten begleiteten ihn bis zu seiner Wohnung, die Zeitungen brachten stenographische Protokolle, die Buchausgabe wurde in ganz England gekauft und gelesen. Tyndall konnte die volle Wahrheit berichten, als er an Frau Carlyle telegraphierte: »ein vollständiger Triumph«.

Dies war aber die letzte große Freude, die Frau Carlyle erlebte. Drei Wochen später starb sie ganz plötzlich, ohne ihren Gatten vorher wiedergesehen zu haben. Sie hatte etwa zwei Jahre früher einen Straßenunfall erlitten und kränkelte seitdem; bisweilen schien es, als ob sie sich völlig erholen sollte. Eines Nachmittags hatte sie eine ihrer gewohnten Spazierfahrten unternommen; als der Kutscher den Wagenschlag öffnete, fand er eine Leiche. Ein Herzschlag hatte ihrem Leben ein Ende bereitet. Sie war nicht ganz fünfundsechzig Jahre alt geworden. »Ich war wie betäubt«, schreibt Carlyle in seinen Erinnerungen. »Zwei Tage lang vermochte ich die unermeßlichen Tiefen der Nachricht nicht zu ergründen und den unendlichen Schmerz, der in einem einzigen Augenblicke mein Leben der Hülle beraubt und meine arme Welt unter Trümmern begraben hatte.« Und zu dem Kummer über den Verlust kamen noch Gewisssensbisse. Carlyle hatte in dem Nachlaß seiner Gattin Briefe und Tagebuchnotizen gefunden, aus denen hervorging, daß sie sich oft an seiner Seite wenig glücklich gefühlt hatte. Er erinnerte sich, daß er gegen seine Frau häufig schroff gewesen war und daß er sich mit ihr weniger beschäftigt hatte, als sie gewünscht haben mochte, daß sie mehr entbehrt hatte, als sie zeigen wollte. Die Distanz, in der er diese Dinge jetzt sah, war nicht geeignet, sie zu verkleinern, sondern mußte sie beträchtlich vergrößern. In dieser Stimmung schrieb er seine » Erinnerungen an Jane Welsh Carlyle«, eine rührende Selbstanklage, die kurz nach seinem Tode von James Anthony Froude als zweiter Band der » Reminiscences« herausgegeben wurde. Zusammengehalten mit den ebenfalls von Froude edierten » Letters and memorials of Jane Welsh Carlyle« sind sie ein lehrreiches und erschütterndes Bild einer Gelehrten- und Künstlerehe. Irgend etwas anderes kann jedoch nicht darin erblickt werden. Untersuchungen über das Maß von Schuld, das den einen oder den anderen der beiden Teile trifft, wie sie in England und anderwärts an diese Publikationen geknüpft wurden, sind völlig unstatthaft. Es ist sinnlos, eine Verbindung, die von zwei außergewöhnlichen Menschen zu außergewöhnlichen Zwecken eingegangen wurde, mit Maßstäben beurteilen zu wollen, die lediglich auf das Eheleben des Durchschnittsmenschen anwendbar sind.

Von hier an könnten wir eine dritte Periode im Leben Carlyles ansetzen. Es ist die, in der er fast nichts mehr produziert und sich von der Außenwelt und den Menschen immer mehr abkehrt. Sein Wesen in diesem seinem letzten Lebensabschnitt hat etwas Jenseitiges, fast Unkörperliches. Er war jetzt über siebzig Jahre alt und hatte alles gesagt, was er zu sagen hatte; die Welt hatte ihm nichts mehr mitzuteilen und er der Welt nichts mehr. Von nun an hält er seinen Verkehr mit der Menschheit gewissermaßen nur noch formell aufrecht. Sein Zustand bekommt etwas von jener geheimnisvollen Weltentrücktheit und Durchsichtigkeit, wie wir sie bei genialen Menschen im hohen Alter bisweilen beobachten können: bei Michelangelo, Goethe, Ibsen, Tolstoi; es ist ein langsames organisches Einschlafen oder vielmehr ein Hinüberschlafen in eine andere Welt, die ihre Schatten bereits vorauswirft.

Es ist daher über die letzten fünfzehn Jahre nur wenig zu berichten. Abgesehen von einigen belanglosen kleinen Gelegenheitsaufsätzen trat er nur noch zweimal an die Öffentlichkeit, um das Gewicht seiner Stimme in die Waagschale zu werfen, als sich sein Vaterland vor gefährlichen politischen Experimenten befand. Das einemal während des Deutsch-Französischen Krieges. Anfangs waren die Sympathien der Engländer auf der Seite Deutschlands gewesen, als aber die Franzosen Niederlage auf Niederlage erlitten und die Annexion Elsaß-Lothringens zu einer Gewißheit wurde, da erhoben sich immer mehr Stimmen, die für ein Eingreifen Englands zugunsten der Besiegten plädierten. Daraufhin schrieb Carlyle am 18. November 1870 an die » Times« den » Letter on the Franco-German war«, in dem er seinen Landsleuten den wahren, historischen Sachverhalt darlegte: daß die Deutschen nur zurückgenommen hätten, was ihnen einst durch hinterlistigen Überfall geraubt worden war, und daß das »edle, fromme, geduldige und solide Deutschland« nicht nur die Macht, sondern auch das göttliche Recht bewiesen habe, an Stelle des »windigen, ruhmgierigen, gestikulierenden, streitsüchtigen Frankreich« die Königin des Kontinents zu werden. Dieser Brief machte in ganz England den tiefsten Eindruck und hatte einen völligen Umschwung in der öffentlichen Stimmung zur Folge.

Das zweite Eingreifen Carlyles bezog sich auf den sechsten russisch-türkischen Krieg. Nachdem die Erhebung in der Herzegowina und in Bulgarien, die auch von Serbien unterstützt wurde, durch die Türken niedergeschlagen worden war, machte Rußland Anfang November 1876 sechs Armeekorps mobil und erklärte Ende April 1877 den Krieg. In diesen beiden kritischen Momenten wandte sich Carlyle wiederum an die » Times«. Der erste Brief ist vom 24. November 1876 datiert; er ergreift aufs entschiedenste die Partei der Russen gegen die Türken. Der Türke wird als das Element der Anarchie in Europa bezeichnet, das nichts anderes verdiene als die nachdrückliche Aufforderung, »sein Antlitz quam primum nach Osten zu kehren«. Für die Lösung der orientalischen Frage proponiert Carlyle eine gerechte Teilung der europäischen Türkei zwischen Österreich und Rußland, wobei Bismarck das Schiedsrichteramt übernehmen solle, ein Vorschlag, der freilich viel zu einfach und gradlinig war, als daß er bei den Diplomaten etwas anderes als Lächeln erregt hätte.

Da aber die Stimmen nicht verstummten, die einen ähnlichen Anschluß der Westmächte an die Türkei empfahlen, wie er im Krimkriege stattgefunden hatte, sah sich Carlyle zu einem zweiten Brief veranlaßt, der am 5. Mai 1877 erschien und eine noch schärfere Tonart anschlägt. England habe keine anderen Interessen im Orient als die Sicherung des Suezkanals und müsse es als eine Schmach empfinden, als der Bundesgenosse des Türken aufzutreten. Die Erbitterung der Presse gegen Rußland sei nichts als eine Folge tiefster Unwissenheit und elender nationaler Eifersucht und »ungefähr ebenso beachtenswert wie der ohrenbetäubende Lärm eines Tollhauses«. In der Tat war England damals nahe daran, Rußland durch aufreizende Maßregeln zu einem Kriege zu zwingen, und Carlyles Einfluß hat sicher das seinige zur Beruhigung der öffentlichen Meinung beigetragen. In dem ersten der beiden Briefe findet sich auch das Wort vom » unspeakable Turk«, das nachmals geflügelt wurde, meist aber fälschlich Gladstone zugeschrieben wird.

Das äußere Leben Carlyles verfloß nun noch ruhiger als bisher. Mit Ausnahme eines Aufenthalts in Mentone, währenddessen er seine Erinnerungen an Jeffrey, Southey und Wordsworth schrieb, die aber erst nach seinem Tode erschienen, und einiger kurzer Reisen nach Schottland, hat er London nicht mehr verlassen. Die einzige Tätigkeit, der er sich mit unverminderter Anteilnahme hingab, war seine ausgedehnte Korrespondenz und der Empfang von Besuchern, die ihn um Ratschläge angingen. Fast alle Briefe, die an ihn gerichtet wurden, beantwortete er, obschon sie oft die absurdesten Anliegen und Anfragen enthielten; viele, besonders an junge Leute, sind von liebevollster Ausführlichkeit. Eine Lähmung der rechten Hand, die 1875 eintrat, beschränkte ihn aber auch hierin. Die äußeren Ehrungen verschiedenster Art mehrten sich von Jahr zu Jahr, aber sie wurden ihm immer gleichgültiger. 1874 erhielt er den von Friedrich dem Großen gestifteten Orden pour le mérite: es ist die einzige derartige Auszeichnung, die er jemals angenommen hat; »denn«, äußerte er sich, »sie war für wirkliches Verdienst bestimmt«. Nicht ebenso scheint er über einheimische Dekorierungen gedacht zu haben. Bald darauf schrieb ihm Disraeli einen Brief, in dem er dem Wunsch der Regierung Ausdruck gab, einem so verdienten Manne ihre Anerkennung zu bezeugen, und ihm die Baronetswürde, das Großkreuz des Bathordens und eine jährliche Pension anbot. Wenn man Carlyles Charakter und Lebensgang bedenkt, so entbehrt dieser wohlgemeinte Antrag nicht der unfreiwilligen Ironie. Von allen diesen Dingen hätte vielleicht das königliche Jahresgehalt für ihn vor fünfzig Jahren einen Wert gehabt. Aber seine Verhältnisse hatten sich in erfreulicher Weise gebessert; seine Hinterlassenschaft betrug zirka fünfunddreißigtausend Pfund, also nach heutigen Geldbegriffen mindestens eine Million Mark, ein Vermögen, dessen Ertrag seine Bedürfnisse, die sich in nichts geändert hatten, weit überstieg. So lehnte er denn mit bestem Dank alles ab.

Sein achtzigster Geburtstag war ein Festtag für ganz England. Von allen Seiten kamen Medaillen, Adressen und Briefe. Am meisten erfreute ihn ein Schreiben Bismarcks, das mit den Worten schloß: »Was Sie vor langen Jahren von dem ›heldenhaften‹ Schriftsteller gesagt, er stehe unter dem edlen Zwange, wahr sein zu müssen, hat sich an Ihnen erfüllt; aber glücklicher als diejenigen, über welche Sie damals sprachen, freuen Sie sich des Geschaffenen und schaffen weiter in reicher Kraft, die Ihnen Gott noch lange erhalten möge.«

Bismarck hat irrtümlich geglaubt, Carlyle sei erst siebzig Jahre alt; er konnte ihm daher eine lange Fortdauer seines Lebens wünschen. Carlyle teilte diesen Wunsch nicht mehr. Er war, wie es in der Bibel von den Patriarchen heißt, »alt und lebenssatt«. Gleichwohl verbrachte er noch ein halbes Jahrzehnt in seiner bisherigen Lebensform. Seine Kräfte nahmen nicht merklich ab, er machte seine gewohnten Spaziergänge, las und diktierte bisweilen, empfing auch nach wie vor Besuche. Erst gegen Ende des Jahres 1880 begann er schwächer zu werden; vermutlich infolge des besonders strengen Winters. Er starb am 5. Februar 1881, um halb neun Uhr morgens im sechsundachtzigsten Lebensjahre. Als Froude zu ihm kam, war er schon eine Stunde tot. »Ruhig und still lag er da, ein Ausdruck liebevoller Zartheit hatte seinen Zügen eine fast weibliche Schönheit verliehen. Ich habe Ähnliches auf katholischen Bildern verstorbener Heiliger gesehen, aber niemals vorher oder nachher auf irgendeinem menschlichen Antlitz.« Man wünschte ihn in der Westminsterabtei beizusetzen; aber er hatte in seinem Testament bestimmt, daß er in der alten Familiengruft in Ecclefechan begraben werde, nach presbyterianischem Ritus, ohne alle Zeremonien.

 

Die Vorträge » Über Helden, Heldenverehrung und das Heroische in der Geschichte« sind Carlyles repräsentativstes Werk. Wie alle bedeutenden und fruchtbaren Bücher, ist auch dieses von einem einzigen großen Gedanken getragen, um den sich alles andere zwanglos und zwingend gruppiert, und wie alle bedeutenden und fruchtbaren Gedanken ist auch dieser sehr einfach und naheliegend. Man hatte bisher unter einem Helden etwas besonders Glänzendes, Pomphaftes verstanden, eine Art dankbare Bühnenfigur. Carlyle zeigt nun, daß der Held sich gerade durch seine Schlichtheit von den anderen abhebt, durch sein stummes, anspruchsloses Wirken im Dienste einer Idee, die ihn erfüllt und geheimnisvoll vorwärtsleitet. Seine Haupteigenschaft besteht darin, daß er immer die Wahrheit redet, immer auf Tatsachen fußt; alle anderen Merkmale sind sekundär. Er ist der tapferste Mensch; aber seine Tapferkeit hat nichts Blendendes, Theatralisches: er besteht keine bunten, wunderbaren Abenteuer mit Drachen und Zauberern, sondern er kämpft den weit schwierigeren Kampf mit der Wirklichkeit.


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