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5. Nach den Bergen

Die ersten Boten des Frühjahrs kamen. Die Schneeglöckchen blühten, und der Fink erhob in den Hausgärten seinen mutigen Ruf. Die Kinder banden buntes Papier und Flittern an Fichtenreiser, liefen durch die Gassen und schrien, daß sie den Winter ausgetrieben hätten und den Sommer wiederbrächten; und wo sie von der Hausfrau Brezeln hofften, da sangen sie schmeichelnd von einer goldnen Schnur, die um das Haus gehe, und von einer schönen Frau Wirtin darin. Ach, das Gold war in den Häusern der Bürger selten geworden, aber die steigende Sonne übte doch ihren alten Zauber. Die Mutlosigkeit, welche unter den Schneewolken geherrscht hatte, schwand dahin. Die Bürger schritten wieder rüstiger einher, Augen und Herzen erhoben sich in neuer Hoffnung. Noch war es ein schüchternes Ergrünen, und der nächste Schneefall mochte es verderben, aber die Leute erzählten doch frohlockend, daß dem fremden Kaiser nicht alles geglückt war und daß oben in der Grafschaft und um die Grenzfestungen sich wieder Soldaten ihres Königs tummelten. Ein neuer Gouverneur war angekommen, und seine Husaren streiften weit in das Land, fast täglich kam Botschaft von kecken Unternehmungen, welche dem Feinde Schaden getan, daß sich die mutigen Reiter durch die engen Täler, über Eis und Schnee der Berge gewunden, um plötzlich über die Franzosen herzufallen, daß sie mit dem alten Husarenstolz schonungslos auf jede Übermacht einhieben und mit ihren Gefangenen und Beutepferden in der Ferne verschwanden, gleich Luftgestalten, welche der Berggeist Rübezahl aus seinem Reiche gesendet hat, die Fremden zu necken.

Seitdem wurde wie mit Geisterhilfe dem Feinde ein Tort nach dem andern getan, auch da, wo niemand an die Möglichkeit dachte. Die Franzosen wollten in der Münze der Hauptstadt Geld schlagen mit den vorhandenen Prägstöcken, welche jetzt in ihrer Gewalt waren; als sie den verschlossenen Raum öffneten, fanden sie alles leer, die Prägstöcke waren durch unsichtbare Hände in die Berge geschafft. Dem Feinde fehlten Hohlgeschosse zur Belagerung der Festungen, die Gußformen dazu verwahrte er in Eisenwerken Oberschlesiens; als die Arbeit beginnen sollte, wurden die Hütten bei Nacht von Bewaffneten umstellt, die Formen herausgeholt und zerstört. Und wieder weit abseits, an der polnischen Grenze, hatte ein wackerer Edelmann auf seinem Gute die Monturen aus den nächsten Garnisonen gesammelt und vermauert, die Feinde aber hatten davon erfahren, ihm den Hof verwüstet und besetzt. Da zogen in nächtlichem Ritt die Geister aus den Bergen über die Oder, quer durch das ganze Land, räumten heimlich aus und schafften alles fort.

Zuweilen kam dem Doktor vor, als ob auch um ihn herum etwas Geheimnisvolles vorgehe. Unter den jüngeren Männern der Stadt war ein Assessor sein Tischgenosse in dem kleinen Zimmer des Gasthofes. Der andere war immer schweigsam gewesen und hatte sich selten aufgetan; jetzt saß er noch verschlossener als sonst, bis er einmal nach dem Essen plötzlich die Hand des Arztes ergriff. »Wir nehmen heut Abschied, bewahren Sie mir ein freundliches Andenken.« Dies klang so feierlich, daß der Doktor befremdet fragte: »Sie wollen mich auf längere Zeit allein lassen?«

»Es gibt jetzt wenig zu tun,« antwortete der andere ausweichend, »und ich mache die Reise in eigenen Angelegenheiten.« Am andern Tage sagte die Wirtin, auf den leeren Platz weisend: »Der ist auch fort. Vorige Woche ist der Sohn meiner Schwester gegangen, wer weiß, ob wir sie wiedersehen.«

»Wohin?« fragte der Doktor.

»Wir wissen es nicht«, antwortete sie. »Einer ist wie der andere am frühen Morgen zum Tore hinaus, auf die Grafschaft zu. Seine Sachen hat der Assessor mir übergeben, aber das Gewehr, welches er sich gekauft hatte, ist nicht darunter, und vor einigen Tagen hat ein Fremder, der sich einen Pferdehändler nannte, eine Kiste von ihm in das Gebirge mitgenommen.«

Da fiel dem Doktor ein, daß er vor kurzem auch den Einnehmer mit einem Fremden im Gespräch getroffen. Der Besuch war bei seinem Eintritt mit kurzem Gruß davongegangen, der Einnehmer aber hatte auf des Doktors fragenden Blick ausweichend geantwortet: »Er macht Geschäfte mit Pferden und anderem nach der Grafschaft hin.«

Doch nicht jedermann war geneigt, die Geister der Berge zu rühmen. Auf der Bank der städtischen Promenade saß der pensionierte Major von Henner, bot seinen Rücken den Strahlen der Mittagssonne und stützte die gefalteten Hände auf seinen Stock. Er gehörte zum ersten Tisch, war als wackerer Mann in der Stadt geachtet und hatte auch in dieser Zeit der Schwäche seinen harten Mut nicht verloren. Heut sah er trübsinnig zu dem Arzte auf, als dieser nach seinem Ergehen fragte.

»Ich habe als junger Soldat manche Woche erlebt, wo die ganze Welt den König und seine Armee verloren gab, und unsere Soldaten machten doch alle Hoffnungen der Feinde zuschanden. Jetzt aber, Herr, traure ich, daß ich solchen Frevel erleben muß.« Und den Trost des Doktors abweisend, fuhr er fort: »Mit den Franzosen wären wir zuletzt fertig geworden, aber wir selbst geben uns den Rest. Was in der Grafschaft vorgeht, muß einem alten Preußen das Herz brechen. Der Mann, welcher dort im Namen des Königs regiert, befiehlt nicht wie ein preußischer Offizier, sondern wie der Räuber Karl Moor, der keinen Gott und keinen Herrn über sich erkennt. Die gute Zucht unseres Heeres hat er wie einen lahmen Hund totgeschlagen, der Unterschied zwischen Edelmann und Schneider ist aufgehoben, Gassenlaufen und Stock ist verpönt, jedermann muß als Gemeiner eintreten, jedermann kann Offizier werden, auch mein Bedienter, und die Gemeinen sollen vor allem durch das sogenannte Ehrgefühl gedrillt werden. Nicht preußische Soldaten erzieht er, sondern einen Haufen von Räubern, die in ihrer Höhle die Helden spielen und beim ersten scharfen Gefecht auseinanderlaufen. Daß mit dieser Flunkerei jetzt Tritt, Tempo und Subordination zum Teufel gehen, das ist das Anzeichen von unserem Ende.« So klagte finster der Alte.

An demselben Mittag stand der Einnehmer vor seinem geöffneten Bücherschrank und musterte wählerisch die Bände. »Ich suche, was das Gemüt mit heiterer Ruhe erfüllt«, brummte er.

Die Haushälterin trat in die Tür. »Fräulein von Buskow wünscht den Herrn Einnehmer zu sprechen.«

Der Einnehmer schloß unwillig den Schrank: »Die Schwester des Meuchlers! Aha, seid ihr klein geworden? Ich denke, sie will um Verzeihung bitten. Lassen Sie ein!«

Das Fräulein trat schnell in das Zimmer, eine kleine, behende Dame in schwarzer Enveloppe und schwarzer Kapuze. Der Einnehmer verneigte sich höflich gegen ihren artigen Gruß, sah aber wieder sehr majestätisch aus, als er sie einlud, auf dem Sofa niederzusitzen.

»Ich komme, Sie um allerlei zu bitten,« begann das Fräulein leise, »was Sie vielleicht von Ihrer Garderobe entbehren könnten, vor allem, wenn Sie dicke, alte Stiefel haben, und vielleicht etwas Warmes unterzuziehen; am liebsten auch um Geld.«

»Von allem ist wenig vorhanden,« sagte der Einnehmer, verwundert auf die niedlichen Füße sehend, welche kaum bis zum Boden reichten, »da Sie aber die Stiefel doch nicht für sich brauchen, so sagen Sie mir auch, wem Sie damit seinen Weg durch dieses Jammertal besohlen wollen.«

»Armen Soldaten,« antwortete das Fräulein, »welche sehr abgerissen sind.«

»So ist es mehr als einer?«

»Ach, lieber Herr Einnehmer,« entschuldigte die Kleine schüchtern, »es ist eine ganze Kompanie, über achtzig Mann.« »Wo?« fragte der Einnehmer erstaunt. »Hier draußen beim Schießhause. Sie sitzen in der Scheune meines Hauswirtes, dort habe ich sie verlassen.«

»Sie?« fragte der Einnehmer. »Achtzig arme Marodeure können Ihnen und der Stadt große Unannehmlichkeit bereiten.«

Die Wangen des Mädchens röteten sich: »Es sind keine Marodeure, die meisten sind Grenadiere von der Kompanie, welche einst mein seliger Vater gehabt hat; sie waren bei unseren Truppen in der Grafschaft und wurden nach Böhmen gedrängt. Dort haben sie sich ranzioniert und sind über die Berge wieder in das Land gekommen. Sie wollen unsern König aufsuchen. Vorige Nacht lagen sie im Stadtwald; heut in der Frühe kam ein alter Sergeant, der meinen Bruder und mich von früher kennt, in einem Bauernmantel zu mir und fragte um Auskunft wegen des Marsches zu Seiner Majestät und ob ich der Mannschaft mit etwas helfen könnte, denn es geht ihr sehr schlecht; die wenigsten haben noch Schuhwerk und nichts Warmes in den kalten Nächten, und sie fürchten dem Franzosen in den Weg zu laufen. Ich bat meinen Hauswirt, den Fleischer, um Hilfe, und er bewies sein gutes Herz, denn er ging mit mir hinaus, öffnete seine Scheune und schenkte ihnen auch einen Hammel, etwas Speck und Brot. Aber das ist immer wenig für so viele. Herr Einnehmer, es ist ein Jammer, die armen Leute anzusehen.« Sie fuhr schnell in die Tasche, wischte mit dem Tuch ein paar Tränen ab und zog sogleich wieder entschlossen ihre Hülle zurecht.

Der Einnehmer sah ihr immer noch verwundert zu. »Also das ist der Charakter«, sagte er endlich. »Bevor ich Ihnen antworte, noch eine Frage: Warum wenden Sie sich gerade an mich?«

»Es ist mir von einem durchreisenden Bekannten geraten worden«, versetzte das Fräulein zögernd.

»Hieß er vielleicht Weiß?« fragte der Einnehmer.

Das Fräulein trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und hob den Zeigefinger. »Ich denke, Schwarz«, sagte sie.

Der Einnehmer stand auf. »Da haben wir die Bescherung. Dieser schwarze Peter spielt in seinem Leichtsinn einen königlichen Offizianten einem jungen Fräulein in die Hände, welches mehr Elfe oder Sylphe als Steuerzahlerin ist. Bleiben Sie ruhig sitzen, liebes Fräulein. Ich überlege nur, was wir zu tun haben. Unterdes und vor allem werden Sie einen Imbiß zu sich nehmen, das haben Sie heut gewiß noch nicht getan.« Er holte die Flasche aus dem Wandschrank und gebot der Haushälterin, schnell etwas aufzutragen. Während das Fräulein sich gehorsam an den Tisch setzte und einige Bissen aß, schritt er auf und ab und sah sie von der Seite an.

Der Einnehmer galt für streng in Beurteilung weiblicher Schönheit, es gefiel ihm nämlich selten eine, und zwar wegen einer Geschichte aus seinen jungen Jahren, die längst dunkel geworden ist, mit einer höheren Ratstochter, welche aus Eitelkeit treulos an ihm gehandelt hatte. Wie er aber heut die Sylphe so plötzlich an seinem Tisch essen sah, ruhig und ohne Ziererei, als ob das eine gleichgültige Sache sei, wurde sein Urteil milder. Er sah ein regelmäßiges Gesicht von klugem Ausdruck, hübsche, muntere Augen, dunkle Löckchen, welche aus dem Capuchon herausquollen, und eine zierliche Gestalt.

Endlich hatte er seinen Entschluß gefaßt: »Die Leute müssen morgen in der Frühe fort. Nicht nach Ostpreußen, wohin sie gar nicht mehr dringen können, sondern nach der Grafschaft. Wer marode ist, wird gefahren; meine Stiefel und Röcke tun's nicht, es muß einiges geschafft werden. Sie und ich dürfen hier nicht allein als Verschwörer auftreten. Der Stadtdirektor muß Mitschuldiger sein.«

»Aber er meldet aus Furcht alles an die Franzosen.«

»Wenn wir beide allein das Geschäft machen, so erfährt er doch davon, und wir werden von ihm ohne Zweifel in der Hauptstadt angezeigt, aus reiner elender Angst vor Verantwortung, die ihn treffen könnte. Ich gehe sogleich zu ihm.« Das Fräulein faßte ängstlich seinen Arm und klagte: »Mir ist, als verriete ich meine Freunde.« Der Einnehmer aber sagte, an ihr Glas mit dem seinen rührend, achtungsvoll: »Vertrauen Sie mir und erwarten Sie meine Rückkehr. Ich wollte, ich könnte die Flasche mit Ihnen austrinken.« Er gab seiner Bedienung einige Befehle und eilte zum Stadtdirektor.

Als er zurückkam, fand er seinen Gast beschäftigt, die Sachen in ein Bündel zu schnüren, welche er aus seiner Garderobe preisgegeben hatte. »Um den feinen Rock ist's schade,« sagte das Fräulein, »er ist auch nicht warm, den kann der Herr Einnehmer noch tragen; dagegen ist eine alte Friesdecke vorhanden« – »die Motten waren darin«, unterbrach die Haushälterin – »wenn Sie diese schenken wollten, würden die Leute dankbar sein.« Bereitwillig gewährte der Einnehmer, der Bund wurde gepackt. »Und jetzt erlauben Sie, daß ich Sie begleite,« sagte der Einnehmer, »es ist auf dem Wege noch einiges abzumachen. Überlassen Sie das Bündel meiner Bedienung.«

»Ich muß es heut noch hinaustragen«, bat das Fräulein.

»Sie wollen doch nicht bis zum Stadtwald gehen mit dieser Last auf den Schultern?«

»Ja, Herr Einnehmer,« antwortete das Mädchen entschieden, »die armen Leute draußen frieren; es hilft doch einigen, die kalte Nacht leichter zu überstehen.«

»Ihr Fleischer soll anspannen; ich habe ohnedies noch mit ihm zu reden.«

Während die Dienstmagd das Bündel voraustrug, gingen beide auf den Markt. »Der Stadtdirektor ist ein noch größerer Hase, als ich gedacht«, erzählte Herr Köhler seiner Begleiterin wie einer alten Bekannten. »Ich sagte ihm also, der Sergeant sei zu Ihnen gekommen, Sie hätten mich gefragt, wie Sie sich verhalten sollten, die Ranzionierten wären in der Scheune einquartiert. Da hatte er Lust, die Bürgschaft gegen sie aufzubieten. Ich überzeugte ihn aber, daß ein Kampf mit den desperaten Menschen sehr bedenklich sei.«

»Sie haben ja keine Waffen, Herr Einnehmer«, sagte das Mädchen lachend.

»Vielleicht haben sie die Armatur versteckt,« antwortete der Einnehmer, »holen sie plötzlich hervor und rennen brüllend durch die Straßen. Auch bedeutete ich ihn, daß dieselben Unholde zu ihm kommen würden, um im Namen des Königs achtzig Paar Stiefel und warme Decken zu requirieren, außerdem natürlich Lebensmittel und Getränk und einen bis zwei Wagen. Und als er über diese Zumutung in die größte Aufregung geraten war, gab ich ihm zu bedenken, daß man seine Weigerung falsch deuten werde, wenn unsere Soldaten wieder ins Land kämen. Da verlor er vollends den Kopf und klagte fast mit Tränen über die fürchterliche Zeit und seine schwierige Stellung. Zuletzt kapitulierte ich mit ihm und erbot mich aus alter Hochachtung, die Sache so einzurichten, daß er außer Verantwortung bleibe. Es fand sich, daß im städtischen Stall einige eingebrachte Soldatenpferde stehen, welche von den Franzosen noch nicht abgeholt sind. Diese werden morgen mit einem Wagen nach dem Stadtwald fahren, dort wird Ihr Sergeant sie gewaltsam requirieren; wo er mit ihnen hinfährt, ist seine Sache. Unterdes schaffen wir allerlei hinaus, was die Leute brauchen.«

»Wer aber soll das bezahlen?« fragte das Fräulein ängstlich.

»Hm, ich denke der Direktor. Seien Sie ruhig, es wird alles unserm guten König berechnet werden.« Das Fräulein drückte in freudiger Aufregung den Arm ihres Begleiters. »Es freut mich, daß ich zu Ihnen ging; ich hatte vorher Angst.«

Die Angst war nun wieder dem Einnehmer angenehm, und er fuhr behaglich fort: »Offen und gesetzlich verfahren ist immer vorteilhaft. Sie äußerten eine Vorliebe für wollene Decken, der Kaufmann hier führt dergleichen, ich will sogleich anfragen, wenn Sie ein wenig warten wollen.« Und als er herauskam, fuhr er fort: »Gefunden; jetzt aber müssen wir uns trennen; ich will meinen Schuster zu Rate ziehen, er ist ein nachdenklicher Kopf.« Das Fräulein schwebte davon. Schuster Schilling saß mit Frau, Kind und Lehrjungen vor dem Kaffeetopf und sah verwundert auf den Besuch: »Lassen Sie sich nicht stören, Meister, ich habe Zeit.« Zum Glück war der Meister fertig und führte in die gute Stube gegenüber.

»Sie haben alles richtig prophezeit, wie es geworden ist«, sagte der Einnehmer. »Es ist eine schwere Zeit gekommen.«

»Ja,« sagte der Schuster, »die Konjunktion in der Politik war so, daß dies alles kommen mußte, und, Herr Einnehmer, glauben Sie mir, es kommt noch mehr.«

»Das sag' ich auch«, bestätigte dieser. Und sich dem Ohre des Schusters nähernd, sprach er leise: »Achtzig Paar Bauernstiefel müssen binnen zwei Stunden in aller Stille ankommen.«

»Das ist unmöglich«, antwortete der Schuster; »es arbeitet jetzt niemand auf Vorrat, denn er könnte ihm genommen werden.«

»Diesmal wird bezahlt, und ich bin Ihnen gut dafür.«

»Für wen soll's denn?«

»Nicht für die Franzosen«, sagte der Einnehmer. »Ich fordere gute Stiefel in einer Marktkiste, je mehr, um so besser.«

»Also je mehr, um so besser«, wiederholte der Meister. »Das ist mir ganz recht, Herr Einnehmer. Eine Stunde, nachdem zwischen den Potentaten der Friede geschlossen ist, sollen Sie dreißig Paar haben, Kernstiefel, meine eigene Arbeit.«

»Also haben Sie die Stiefel fertig?«

»Ich habe sie,« bestätigte der Schuster geheimnisvoll, »aber ich kann nicht dazu. Ein Familienvater, der für Weib und Kind zu sorgen hat, muß in dieser Zeit seine Stiefel einmauern.«

»Und leise in Socken auftreten,« sagte der Einnehmer, »das tun jetzt viele. Die dreißig Paar aber schlagen Sie sogleich heraus und mauern für Ihre Kinder neue ein. Es kommt jetzt eine andere Konjunktion, Meister, das Glücksrädlein könnte sich drehen.«

»Gott geb's«, sagte der Schuster.

Auf einer Waldblöße in der Nähe der Scheune fand der Einnehmer die Soldaten um lodernde Feuer versammelt, der Waldbelaufer trug ihnen hilfreich Holz herzu. Es waren in der Mehrzahl jüngere Männer, dazu einige alte Unteroffiziere; ein Sergeant mit grauem Schnurrbart befahl. Wohl hatte das Fräulein recht, sie zu bedauern, so hager und bleich die Gesichter, mit struppigem Bart und tiefliegenden Augen, die Monturen zerrissen und durch Sonnenbrand und Winterschnee entfärbt. Aus dem klaffenden Schuhwerk ragten die erfrorenen Zehen, viele hatten Lappen darüber gebunden oder abgezogene Felle. Aber die Leute saßen und regten sich mit fester Haltung, stramm und selbstbewußt, und man erkannte hinter dem Elend eine Zucht und harte Kraft, die nicht gebrochen war. Mitten unter der Kompanie wirtschaftete das Fräulein; es zerriß alte Leinwand zu Verbandszeug für einen Fußkranken, wachte über einigen großen Töpfen, in denen die Suppe kochte, und antwortete nach allen Seiten auf Fragen und Bitten, befahl den Leuten und schickte sie hin und her. Sie nickte von dem Holzscheit, auf dem sie saß, dem Einnehmer freundlich zu. »Zwei von der Mannschaft haben Frau und Kind in ihrer Garnison zurückgelassen und möchten diesen zu wissen tun, daß sie noch leben. Könnten Sie vielleicht helfen?« Der Einnehmer zog seine Brieftasche und nahm die Leute beiseite, und er hörte, wie die Kleine unterdes einem andern zurief: »Alle Wetter, Kerl, untersteh' dich nicht, mit deinen schmutzigen Fingern in den Topf zu fahren; willst du hinsetzen, du Tolpatsch! – Hier ist einer, Herr Einnehmer, der die Hand beschädigt hat und sich nicht selbst helfen kann; für diesen wird Ihre Decke zu einem Kapotrock zusammengeheftet. Man kann das auf mancherlei Art machen, am schnellsten geht's so, wenn man in der Mitte ein Loch schneidet.« Die kleinen Hände flogen bei der Arbeit, und wenn sie die Kälte spürte, blies sie darauf und heftete weiter, sah dazwischen wieder nach den Töpfen und redete tröstend mit einem und dem andern über seine Not.

»Sie ist nur mit Puk oder Ariel zu vergleichen,« dachte der Einnehmer, »das putzige Ding weiß die ganze Kompanie zu kommandieren wie ein Hauptmann, es muß im Blute liegen. Jetzt aber, Sergeant,« begann er, »sollen Sie in Empfang nehmen, was wir bringen: Decken, Stiefel, Lebensmittel, soviel sich in der Eile beschaffen ließ. Sie müssen unterschreiben, was Sie empfangen haben, ich brauche meinen Beleg. Morgen früh, vor Sonnenaufgang, wird ein großer Korbwagen mit Strohschütten und zwei Pferden wie von ungefähr herauskommen. Ich rate Ihnen, Wagen und Pferde in Beschlag zu nehmen, verstehen Sie? Lassen Sie Ihre Kranken aufsitzen. Dieser mein Kutscher wird mitkommen, er ist eines Bürgers Sohn und zuverlässig und wird Sie gern durch den Stadtwald auf Seitenwegen der Grafschaft zufahren. Denn dort ist jetzt unser Generalgouverneur, und dorthin will Sie der König haben. Sie haben die Waffen in Böhmen abgeliefert, sind also wehrlos?« fragte er teilnehmend.

»Wir haben sie in den Bergen versteckt,« antwortete der Sergeant; »sind wir erst glücklich in der Grafschaft, so holen wir sie wieder.«

»Die französischen Vorposten stehen auf Ihrem Wege, Sie müssen ausweichen.« Und er gab leise die Richtung an, nannte ihm das Dorf, wo er einen getreuen Führer finden werde, und den Namen des Mannes.

Auch das Fräulein wunderte sich jetzt, daß der Herr, den sie bis dahin aus der Ferne nur als einen Lebemann gekannt hatte, in Verschwörungsgeschäften so guten Rat wußte.

»Und jetzt, Fräulein,« schloß Herr Köhler, »bitte ich, daß Sie auch an sich selbst denken. Die Sonne sinkt, und Sie haben sich gegen die kalte Nachtluft nicht vorgesehen. Erlauben Sie, daß ich Sie mit mir zurücknehme.« Das Fräulein erhob sich ohne Weigern und überreichte einem der Leute den fertigen Überwurf. »Sie müssen noch sehen, wie gut Ihr Geschenk einem preußischen Grenadier steht«, sagte sie froh. »Fahrt hinein, Mann, damit der Herr Euch betrachtet.« Der Soldat streifte die warme Hülle über. »Wie ein Herold aus dem Volk der Samojeden«, sagte der Einnehmer.

Die Mannschaft hatte unterdes emsig Kisten und Fässer abgeladen, und die Unteroffiziere hatten von dem Inhalt verteilt, jetzt umstand die Kompanie mit neuem Lebensmut die Scheidenden.

»Des Himmels Segen über Sie, liebes Fräulein, und über Sie, guter Herr!« rief der Sergeant.

»Hier, nehmt die Schere, Nadel und Zwirn«, sagte das Fräulein mit nassen Augen. »Die Laterne behalten Sie,« riet der Einnehmer noch aus dem Wagen, »und geben Sie ja acht, daß der Stadt kein Schaden geschieht. Lebt wohl, ihr braven Männer, und wenn Ihnen alles gelungen ist, Sergeant, so lassen Sie mich's durch den Mann wissen, den ich Ihnen genannt habe.«

Als der Einnehmer mit seiner Begleiterin zurückfuhr, begann er ernster, als sonst seine Art war: »Alle tragen wir Schweres, aber keiner von uns allen leidet und wagt so viel, und sie gehen freiwillig wieder hinein. Und keiner klagte, wie diese armen Leute. Sie kommen aus unablässigem Elend, und alle waren dankbar. Wir lassen uns gern durch erdachte Geschichten rühren, welche in Büchern erzählt sind, aber diese freiwillige Hingabe und die wortlose Treue sind größer, als alle Erfindung, und sie sind jetzt nichts Unerhörtes« – und er zog plötzlich sein Taschentuch heraus und kämpfte mit einer Bewegung, die ihm stark zusetzte. Da auch das Fräulein schwieg, fuhr er nach einiger Zeit in seinem Selbstgespräch fort: »Doch einen gibt es, der auch in Büchern versteht, das Edelste menschlicher Gefühle lebendig zu machen. Ich denke, Jean Paul ist auch Ihr Liebling.«

»Ich habe nichts von ihm gelesen«, sagte das Fräulein.

»Dann müssen Sie mir erlauben, daß ich Ihnen morgen etwas von ihm zuschicke.«

Das nahm das Fräulein dankbar an.

Als am nächsten Abend der Sohn des Fleischers zurückkam und berichtete, daß er Wagen und Mannschaft glücklich einige Meilen in das Land gebracht hatte, schlug Herr Köhler vergnügt sein Buch in eine alte Zeitung und übersandte es mit höflichem Gruße dem Fräulein.

Der Einnehmer erzählte dem Freunde von seinem Abenteuer und war gekränkt, daß dieser finster und, wie ihm vorkam, mit geringer Teilnahme zuhörte und zuletzt nichts weiter sagte als: »Es geht jetzt mancher nach jener Landecke, dem die Fremden das Herz empört haben.« Doch wenige Tage darauf sollte der Doktor selbst Gelegenheit erhalten, von einer ähnlichen Begegnung zu berichten.

Auf einer Fahrt über Land hielt sein Wagen am Gasthofe eines nahen Marktfleckens; er wickelte sich aus dem Bärenpelz und trat in die gefüllte Wirtsstube. Als wohlbekannter Mann empfing er höfliche Grüße, die Wirtin wischte mit der Schürze einen Schemel ab; bald war er der Mittelpunkt eines Kreises von Zuhörern und mußte von den Neuigkeiten erzählen, die aus dem fernen Osten durch Reisende nach der Kreisstadt gebracht wurden.

»Unser König soll zu uns kommen,« rief ein stämmiger Ackerbürger mit einer entschlossenen Miene, »wir Schlesier werden ihn nicht im Stiche lassen, wie mancher vornehme Verräter getan hat.« »Guter Wille tut's nicht«, sagte der Doktor, dem Manne zunickend. »Wollen Sie für ihn fechten, Herr Krause?« »Warum nicht,« antwortete dieser, »wir haben es satt, anzusehen, daß die Feinde unsere Pferde aus dem Stalle führen und den Hafer vom Schüttboden, und daß die Dickköpfe aus dem Reiche mit ihrer groben Rede durch das Land ziehen und den Bürger mißhandeln; von uns kommen mehr als zehn oder zwanzig auf einen von den Fremden; wenn zehn von uns nur immer einen totschlagen, so sind wir sie los. Warum geschieht das nicht? Warum sind die Vornehmen so bereit, dem Feinde zu gehorchen? Einmal über das andere wird uns befohlen, alles zu liefern, was die Schufte verlangen. Wenn wir Führung hätten, so stünde die Sache anders.« Ein beifälliges Gemurmel begleitete die entschlossenen Worte. »Geben Sie mir Ihre Hand,« sagte der Doktor und schüttelte dem Mann die Rechte, »möchte die Zeit kommen, wo dem König solche Gesinnung zu helfen vermag.«

»Habe ich recht gehört, so war hier von unserem König die Rede«, klang eine feste Stimme aus dem Hintergrunde, und ein Fremder trat heran. Es war ein großer junger Mann in einfachem Reiserock: »Ich komme in meinen Geschäften aus Preußen und bin auf dem Wege der Königin und den Kindern des Königs begegnet; sie fuhren auf offenem Schlitten im Schneesturm über die Heide, um den französischen Reitern zu entgehen. Es war bitter kalt, der Wind heulte und die Kälte drang mir bis in das Mark. Als ich meinen Schlitten anhielt und mich erhob, grüßte die Königin, aber es war ein trauriger Blick, und die kleinen Prinzen nahmen still ihre Mützen ab, während der Schnee ihnen um die freundlichen Gesichter flog.«

Die Wirtin rang die Hände. »Unser armer König in dem kalten Lande, und seine Frau und die Kinderchen bei dem Wetter auf offenem Schlitten.«

Niemand sprach, die Leute sahen scheu vor sich nieder.

»Was der König jetzt in der Stille erträgt und leidet,« fuhr der Fremde fort, »das vermag wohl keiner von uns zu ermessen; ich denke, wenn er wüßte, wie treu seine Schlesier ihm zugetan sind, würde er in seinem Unglück eine Freude haben.« Er wandte sich zu dem Doktor: »Ich vernahm, daß Sie nach der Kreisstadt fahren, durch einen Schaden am Fuhrwerk werde ich hier aufgehalten. Darf ich die Bitte wagen, daß Sie einen Geschäftsreisenden mitnehmen? Freilich würde Ihnen auch ein Mantelsack lästig werden.« Der Doktor gab das bereitwillig zu, denn die Art des Reisenden gefiel ihm und die beiden traten aus der Wirtsstube, alle Anwesenden folgten ihnen bis zum Wagen. »Kutscher, lege den Mantelsack des Herrn unter die Decke, meinen Arzneikasten stelle obenauf.« Der Fremde sah den Doktor dankbar an; die Leute umstanden den Wagen und nahmen schweigend die Mützen ab, als die Pferde anzogen.

»Ich bin erst seit kurzem in dieser Gegend,« begann der Doktor, »aber in solcher Zeit gewinnt man unser Volk lieb.«

»Wer war jener Mann, der so tapfer sprach?« fragte der Reisende.

»Ein wohlhabender Ackerbürger, der erst vor kurzem geheiratet hat, aber mit der Waffe umzugehen weiß, denn er ist Schützenhauptmann; ich glaube, daß er nicht mehr gesagt hat, als er tun würde.«

»Wie will er wohl die zehn Mann zusammenbringen,« fragte der Fremde wieder, »welche den Feind, der auf ihren Teil kommt, unschädlich machen sollen?«

»Wahrscheinlich meinte er, daß sich alle Einwohner des Kreises, welche eine Waffe führen können, zu einer Landwehr vereinigen müßten.«

»Gut!« rief der andere, »einfaches Exerzitium und einige militärische Disziplin können in sechs bis acht Wochen eine Kreiswehr herstellen, welche zu vielem brauchbar wäre, vorausgesetzt, daß Waffen und Uniformen zu schaffen sind und daß der Feind nicht die Ausbildung hindert, indem er die Rädelsführer erschießt. Können Sie mir mitteilen, wo in diesem Teil der Provinz Truppen der Franzosen stehen?«

Der Doktor erzählte, was er wußte.

»Mir wurde gesagt, daß in Ihrer Kreisstadt und der Umgegend kein Militär zu finden sei.«

»Das ist wahr, aber wir sind keinen Tag vor Streifpartien und Durchzügen des Feindes sicher. Holla!« rief er einem Bauern zu, der ihnen eilig entgegenkam, »es sind doch keine Soldaten auf dem Wege?« Der Bauer wies nach rückwärts: »Sie halten im Dorfe vor der Schenke«, und mit einem Fluch setzte er hinzu: »Es sind bayrische Reiter!«

Der Doktor sah seinen Begleiter an: »Wir wollen umkehren, wenn Sie es wünschen.« Der Fremde blickte scharf in die Ferne. »Zu spät«, sagte er halb für sich. »Sie sehen uns, wie wir sie. Es tut mir leid, daß ich Sie in Ungelegenheit bringe; ich habe allerdings den Wunsch, von den Herren dort nicht festgehalten zu werden.«

»Sie traten unsicher auf, als Sie in den Wagen stiegen. Ich vermute, Sie haben einen Schaden am Fuße.«

»Nehmen wir an, eine Verstauchung«, antwortete der Fremde.

»Dann sind Sie mein Patient und ich bringe Sie zur Kur in meine Wohnung. Ich für meinen Teil habe einen Reisepaß.«

»Ich auch,« sagte der Fremde, »Kaufmann Heller aus Löwenberg.«

»Fahre zu, Kutscher!« gebot der Doktor.

Bayrische Reiter hielten den Schlitten an. Ein höherer Offizier ritt heran, die Reisenden grüßten. »Herr Doktor König!« sagte der Major, während der Doktor seinen Paß herauszog, »ich habe Sie bereits in Ihrer Stadt gesehen. Wer ist Ihr Begleiter?«

»Mein Patient, den ich zur Kur in die Stadt bringe.« Der Bayer öffnete einen Augenblick das Papier, welches der Fremde ihm hinreichte, beide sahen einander fest in die Augen; dem Doktor pochte das Herz.

Ein alter Wachtmeister, welcher das Wagenleder aufgeknöpft hatte, meldete respektvoll: »Der Mann dort hat einen preußischen Offiziersäbel zwischen den Beinen.«

»Sie sind jetzt billig zu kaufen«, sagte der Fremde.

So schmerzlich war der Klang dieser Worte, daß der bayrische Offizier schweigend das Papier zurückgab, und der Mannschaft zurief: »Passiert!«

Der Kutscher fuhr im Schritt an den Reitern vorüber, und dem Doktor dünkten die Minuten eine Ewigkeit, sein Gefährte hatte sich zurückgelehnt und schwieg lange; endlich begann er: »Es ist Zeit, daß ich mich und meinen Säbel vorstelle: Rittmeister Helwig von den Husaren.«

Der Doktor wandte sich erstaunt zu ihm. Unter vielen Geschichten von Schwäche und Hilflosigkeit, welche seit dem letzten Herbst von Mund zu Mund getragen wurden, war eine andere gewesen, welche so ermutigend klang, daß die Hörer sie gar nicht glauben wollten. Ein junger Husarenleutnant sollte mit einer halben Schwadron ein Bataillon der Feinde zersprengt und einen großen Transport Kriegsgefangener, man sprach von zehntausend Mann, befreit haben. Der junge Husar war deshalb außer der Reihe zum Rittmeister befördert worden.

Dieser Tapfere war der Reisegefährte. Der Doktor sprach mit warmen Worten seine Freude über den Zufall aus und beide fuhren als gute Genossen in eifriger Unterhaltung der Stadt zu.

»Wir haben unerhörtes Unglück gehabt,« sagte endlich der Rittmeister, »wir haben es ja wohl in vielem verschuldet; aber wenn uns auch die französische Führung im großen überlegen war, glauben Sie mir, unsere Soldaten sind da, wo die Tüchtigkeit des einzelnen den Ausschlag gibt, fester und kriegstüchtiger als die Feinde; und sie wissen das auch. Nehmen sie den Franzosen einen Mann, und wir treiben sie wieder über den Rhein zurück. Ich hoffe, den Tag zu erleben, wo wir auch mit dem Feldherrn die letzte Abrechnung halten. In der Grafschaft befiehlt jetzt als Gouverneur Graf Götzen, einer der besten, die wir in Preußen haben. Ich muß ohne Aufenthalt zu ihm. Können Sie mir dabei helfen? Denn wie ich sehe, wird der Weg unsicher.«

»Ich bin bereit, in der Stadt sogleich einen andern Wagen zu nehmen, was bei meinem Berufe niemandem auffällt, und ich begleite Sie nach jeder Richtung, die Sie wünschen, im Fall Sie meine Gesellschaft für vorteilhaft halten.«

»Gewiß,« antwortete der Rittmeister, »wenn Sie mir erlauben, als Ihr Gehilfe mitzufahren; einige Meilen von hier finde ich auf dem Gute eines Bekannten ein Pferd, von da helfe ich mir weiter.«

Als der Doktor seinen Begleiter glücklich durch die feindlichen Kommandos gebracht hatte und am späten Abend nach Hause kam, fand er eine Gestalt auf der Treppe sitzen. Die Erscheinung machte Platz, stieg aber hinter ihm die Stufen herauf. Es war ein Mann in einem Bauernmantel, der mit abgezogenem Hut in das Zimmer trat. Der Doktor erkannte den flüchtigen Knecht, der ihm die Nachricht von der verlorenen Schlacht zugetragen hatte. Hans drehte den Hut in den Händen. »Ich wollte Sie nur fragen, weshalb Sie mir damals das Geld auf den Weg geworfen haben.«

»Weil ich dir das Geld geschenkt hatte, und weil ich annahm, daß du nicht auf redlichem Wege erworben hattest, was du mir zurückgeben wolltest; vor allem aber, weil mir mißfiel, daß du dich über das Unglück unserer Soldaten freutest.« Der Mann sah vor sich nieder. »Herr Doktor, ich will auch unter die Soldaten gehen, wenn Sie meinen.«

»Du? Wie kommst du zu dem Entschluß?«

Hans holte tief Atem. »Mir ging die Geschichte im Kopfe herum. Ich bin kein schlechter Kerl, und Sie sollen mich nicht dafür halten. Aber ich lasse mir nichts Unrechtes gefallen, und ich war damals im Zorn über die großen Herren. Jetzt sehe ich, wie die fremden Spitzbuben mit unsern Bauern umgehen. Hafer, Stroh und Heu ist weg, Pferde und Kühe, Gänse und Hühner sind weg, und wie haben sie die armen Leute mißhandelt! Da fiel mir ein, daß sie kein Recht dazu haben. Letzten Sonntag hatte ich mich auf das Gut des Kammerherrn geschlichen und sah von weitem, wie mein Mädchen zur Kirche ging. Ich wagte mich auch hinein, bevor die Türe zugemacht wurde, und stand ganz hinten. Da hörte ich, wie der Prediger zuletzt seine Bitten sprach für das gequälte und geängstigte Land. ›Wer helfen kann, der helfe‹, sagte er; ›die beste Hilfe aber ist beim Herrn.‹« Hans faltete bei dem Bericht die Hände. »Sogleich fiel mir ein, daß ich auch helfen kann, ebensowohl mit dem Säbel, als mit der Trompete, und ich möchte Trompeter werden bei den Husaren. Am Abend sah ich aus meinem Versteck, wie ein verdammter Franzose, der auf dem Schlosse liegt, mit meinem Mädchen schöntun wollte, und das schlug dem Fasse den Boden aus. Die Hunde müssen fort, so oder so«, rief er. »Das meinte auch das Mädchen, als ich abends mit ihr zusammentraf. Sie klagte über die Dreistigkeit und verlangte, daß ich Sie befragen sollte.«

Der Doktor fühlte den Zorn des Mannes mit und verstand die Mahnung, welche auch an ihn selbst gerichtet wurde. »Du hast jetzt noch weniger gutes Leben unter den Soldaten zu erwarten, als zu anderer Zeit: schweren Dienst, schlechte Kost und tägliche Gefahr.«

»Das tut mir nichts,« antwortete Hans, »ich war unter den Paschern, Herr; dort heißt's auch, heut' trinken und morgen sinken, und ich wollte fragen, ob Sie mir zu den Husaren helfen können.«

»Kannst du dich einige Tage in der Nähe aufhalten, ohne von der Obrigkeit gefaßt zu werden, so gehe ich selbst mit dir in das Gebirge.«

»Ich wünsche mir nichts besseres,« rief Hans erfreut, »wenn Sie mir sagen wohin, so führe ich Sie über die Berge auf Wegen, die kein Franzose betritt.«

Am Morgen suchte der Doktor seinen Freund auf, welcher mit stillem Anteil einen Schmerz beobachtet hatte, dessen Grund ihm der andere verbarg. »Ich verlasse die Stadt auf mehrere Wochen und gehe nach der Grafschaft; dort fehlen in den Lazaretten die Ärzte, und die Not ist groß. Während meiner Abwesenheit soll mein Vetter, der als junger Arzt in der Hauptstadt lebt und nach Wissen und Charakter durchaus Vertrauen verdient, mich hier vertreten. Er wird noch heut eintreffen. Fragen Sie nicht, mein Freund, was mich bestimmt, jetzt von hier zu gehen; vielleicht kommt der Tag, wo ich gegen Sie ohne Schmerzen davon reden kann.«

Der Einnehmer faßte seine Hand: »Wenn ein gewissenhafter Mann wie Sie solchen Entschluß faßt, so muß er gehen, und es nützt nichts, Worte darüber zu machen. Aber sobald Sie dürfen, kehren Sie zurück; denn es gibt Leute hier, kranke und gesunde, welche Sie jeden Tag vermissen werden.«

Darauf besprachen die beiden, was für die Reise durch feindliche Truppen nötig war.

Der Einnehmer sah dem Scheidenden von der Treppe ernsthaft nach. »Du bist nicht der einzige, der mit sich herumträgt, was ihn plagt.« Er griff rückwärts nach seinem Zopf. Darauf gebot er der Haushälterin, den Friseur zu holen. Als der Alte eintrat mit der demütigen Vertraulichkeit, zu der sein Beruf berechtigte, sah ihn der Einnehmer feindselig an: »Blaschke, schneide Er mir den Zopf ab. Ich will mit seinesgleichen nichts mehr zu tun haben.«

Blaschke erschrak sehr und sein großer Beutel fiel auf die Diele. Denn die Zahl der Zöpfe, welche er band, wurde mit jedem Jahre kleiner, und das ansehnliche Geflecht des Einnehmers erschien ihm zuweilen als das letzte Tau, welches seine Kunst in den empörten Wogen der neuen Zeit vor dem Untergang bewahren könnte. »Aber Herr Einnehmer«, bat er.

»Fort mit dem Zopf und fort mit Ihm selbst«, gebot der grimmige Kunde zum zweitenmal. »Er ist ein Spion.«

»Hochverehrter Herr Einnehmer«, flehte der entsetzte Blaschke, »Sie kennen mich doch seit vielen Jahren als einen redlichen Bürger.«

»Einer von Seinem Handwerk hat eine Festung an die Franzosen verraten, und Er würde es auch tun. Er ist an mir und meinem Zopf zum Judas geworden. Gesteh' Er zur Stelle, wer hat Ihn bestochen, damit Er zutrage, was bei den Honoratioren und in der Bürgerschaft zu erhorchen ist. Wenn Er nicht alles bekennt, so schneide ich den Zopf eigenhändig mit der Papierschere ab und werfe den Zopf und den Blaschke zum Fenster hinaus.«

Der Alte legte die Hand auf das Herz: »Niemals hat mir jemand einen solchen Antrag gestellt«, beteuerte er in ehrlicher Entrüstung.

Der Einnehmer stillte ein wenig seinen Zorn: »Es wäre auch unnötig; Er schwatzt ohnedies gegen jedermann alles aus, was Er weiß.« Er setzte sich: »Abgeschnitten aber wird doch. Fortan Tituskopf, Blaschke, die Welt ist zu schlecht.«

»Herr Einnehmer, mir ist zumute, wie bei einem Begräbnis«, klagte der Friseur und hielt mit unsicherer Hand die Schere.

»Welcher von den dreizehn Zöpfen in der Stadt mag wohl einem Franzosen gehören?« fragte der Einnehmer mit plötzlicher Milde.

»Kein einziger, das kann ich als Vaterlandsfreund attestieren.«

»Der pensionierte Rat drüben ist ja wohl auch ein guter Preuße?«

»Der gehört zu den besten; Sie glauben gar nicht, mit welcher Verachtung er von dem Feinde zu mir redet.«

»Mein alter Blaschke unterhält sich also gern über allerlei mit dem braven Manne?«

»Ja, das gestehe ich aufrichtig.«

Der Einnehmer wandte sich um und sah den Alten fest an: »Er hat neulich bei mir den reisenden Händler gesehen. Als der Herr Rat von da drüben wegen dieses Kaufmanns mit Ihm sprach, und Ihn ausfrug, was hat Er dem Herrn Rat berichtet?«

»Nichts als die volle Wahrheit,« antwortete der Friseur gekränkt: »daß ich den Fremden frühmorgens bei dem Herrn Einnehmer fand, und daß der Fremde mir hier auf dem Sofa als ein hübscher Herr erschien, der recht militärisch aussah.« Und schlau fuhr er fort: »Ich sah auch später, als er in den Wagen stieg, daß er etwas Schweres hereinhob und daß er Pistolen bei sich hatte.«

Der Einnehmer pfiff vor sich hin. »Es ist richtig. Der Zopf ist schuld, daß ich den Franzosen in der Hauptstadt angegeben bin. Fort mit den Haaren und fort mit Ihm selbst!«

Am Nachmittag richtete sich Herr Köhler so ein, daß er zu einer Stunde, wo Minchen von Buskow auf dem Stadtwall zu gehen pflegte, ihr begegnete. »Bitte, Fräulein, bewundern Sie dort unten die goldenen Ränder der schwarzen Wolke.« Er trat mit ihr zwischen die Bäume.

Das Fräulein sah neugieriger auf die neue Haartracht, als auf die Wolken. »Es gibt wieder Regen.«

»Wohl möglich«, bestätigte der Einnehmer und hob vor ihren Augen seinen Finger. »Sollten Sie einmal an Ihren Günstling Schwarz oder Neger schreiben, so bitte ich, ihm mitzuteilen, daß ich von jetzt ab auf einer anderen Behandlung bestehen muß. Die Besuche nicht mehr in meiner Wohnung, sondern im Amtslokal und nicht allein, sondern mit wenigstens zwei Begleitern, ihre Uniformen unter dem Zivilmantel erkennbar. Ich muß auch fordern, daß mir eine bis zwei Pistolen auf die Brust gesetzt werden, und bitte nur dafür zu sorgen, daß keine Kugeln darin sind, damit nicht durch Zufall ein Unglück geschieht. Am Ende des Besuches jedoch, bevor die Herren auf ihren Wagen steigen, darf eine Kugel in die Wand gefeuert werden.«

»Was ist geschehen?« fragte das Fräulein erstaunt.

»Ein Besuch, den der erwähnte Herr mir abgestattet hat, ist in der Hauptstadt angezeigt worden, und ich erhielt von einem Beamten eine klägliche Warnung. Da der Kaiser sich unsere Provinz angeeignet hat und unsere hohen Behörden so pflichtgetreu sind, ihm dabei jeden Vorschub zu leisten, so sollen auch wir gezwungen werden, ihm die Steuern in seine Tasche zu liefern. Wer sich nicht fügt, wird beseitigt. Man behauptet, daß Ihr Schwarzer hier Kassengelder erhoben hat. Das Morgenrot der Freiheit geht endlich bei uns auf, liebes Fräulein, und es fehlt in dieser Stadt und Umgegend nicht an Lerchen, welche die neue Sonne ansingen. Auch wer Briefe schreibt, mag sich hüten.« Das versprach das Fräulein. Als aber der Einnehmer beim Abschiede fragte: »Nun, wie gefällt ›Quintus Fixlein‹?« Da antwortete sie ehrlich: »Herr Einnehmer, das ist mir zu hoch.«

»Wie ist das möglich?« fragte Herr Köhler enttäuscht.

»Ich bin ein einfaches Soldatenkind. Seit die liebe Mutter starb, habe ich dem Vater und dann meinem armen Bruder gekocht, gestrickt und genäht, denn das Bügeln war für mich zu schwer, und bin wenig mit Büchern umgegangen. Wenn ich einmal lese, so sind mir die Reisebeschreibungen am liebsten; dabei denke ich, daß ich mich auch in der Fremde durchschlagen könnte, wie Robinson. Dann laufe ich in meinen Gedanken mit Papagei und Sonnenschirm durch den Busch und freue mich über die vielen Lama, welche um mich herumspringen. Die Wilden würden dem kleinen Wichtel nichts tun.«

Sie war so anmutig in ihrer Einfalt, daß der Einnehmer nichts Feindseliges zu erwidern vermochte, und auf dem Heimwege seiner Menschenfreundlichkeit nur den bedauernden Ausdruck gab: »Schade, jede Poesie fehlt.«


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