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Klein-Gottfried.

Es gibt Kinder, auf die der Tod schon bei ihren: Eintritte in's Leben einen verlangenden Blick geworfen zu haben scheint. Das Merkmal dieses Todtenblickes bleibt dem kleinen Erdenwaller durch die ganze Zeit seines kurzen Daseins als ein Zeichen, das auf eine baldige Heimkehr deutet, gerade wie der erbleichende Sternenschein das Nahen des Morgens verkündet. Und es sind dies auch jene Kinder, die einem erbleichenden Sterne gleichen, so still und dämmernd, das Herz des Beschauers mit sanfter Wehmuth und zugleich mit leiser Sehnsucht nach dem Unbekannten erfüllend. Während die rothbackigen Altersgenossen sich wild und lärmend am Spiele ergötzen, sitzen sie still bei Seite. Das feine, bleiche Gesichtchen ist von einem Lächeln erhellt, aber die großen, träumerischen Augen scheinen in unsichtbare Ferne zu schauen. Manchmal, wenn ein Spiel zu Ende ist, tritt eines der kleinen Kamerädchen zu dem Kinde heran und ruft: »Du da, willst du nicht einmal mitthun?« Das Angeredete schaut fast verwundert auf, als wär's aus einem Traume erweckt worden. Mit dem Kopfe schüttelnd lächelt es dem kleinen Genossen freundlich zu, erhebt sich dann und geht langsam davon. Die Uebrigen schauen ihm eine Weile nach ohne ein Wörtchen zu sagen; es ist als ob durch die jungen Herzen eine Ahnung über den baldigen Verlust des kleinen Gefährten ginge, der immer so still und freundlich war und noch nie einem Andern etwas zu Leide gethan hatte. Dann wird das Spiel wieder von Neuem begonnen; aber weniger laut und lärmend als vorhin, und bald ist die Lust daran gänzlich ausgegangen.

Es gibt wohl wenige Erwachsene, die in ihren tiefern Erinnerungen nicht das Bild eines solchen, stillfreundlichen Gefährten ihrer Kindertage mit sich tragen. Es sind zwanzig, dreißig, vielleicht fünfzig bis sechszig Jahre, daß ihn ein paar ältere Knaben in schwarzen Mäntelchen und mit einer großen, weißen Rose am Arme fortgetragen haben. An der Hand des Vaters gingen wir hart hinter dem Särglein, das mit einem schwarzen Tuche behangen war. Es sind, wie gesagt, vielleicht sechszig Jahre vergangen seit dem; aber der Morgen jenes Tages steht so deutlich vor unserer Seele, als wär's erst gestern gewesen. Statt des gewöhnlichen Kleidchens zog uns die Mutter ein schwarzes Röckchen an, und auf unser Befragen warum das geschehe, gab sie zur Antwort, weil unser kleines Kamerädchen da drüben im Nachbarhause gestorben sei. Dabei zog sie uns an's Herz heran, um unser Gesicht mit langen, heftigen Küssen zu bedecken. Nachdem sie uns das schwarze Hütchen aufgesetzt, das wir bekamen, als die Großmutter gestorben war und jetzt nur etwa an seltenen Sonntagen tragen durften, sagt sie, die Augen trocknend: »So, geh' jetzt still und fromm mit dem Vater und bring' deinem Kamerädlein die schöne Blume da mit.« Und so gibt sie uns ein weißes Sträußlein in die Hand, küßt uns nochmals auf Mund und Augen und führt uns nach der Stube hinüber. Dort steht der Vater schwarzgekleidet, ernst und nachdenklich am Fenster. Er grüßt die Mutter leise, nimmt uns bei der Hand und wir gehen langsam nach dem Nachbarhause.

Vor demselben stehen viele schwarzgekleidete Leute, bekannte und unbekannte, die leise mit einander sprechen und ebenso leise den Vater grüßen, fast als ob Niemand es hören dürfte. Wir steigen die kleine Steintreppe hinan und gehen durch den Hausgang nach der großen Wohnstube, während neben an aus der Küche und der anstoßenden kleinern Hinterstube sich unterdrücktes Weinen hören läßt. In der Wohnstube stehen in einem großen Halbkreise wiederum schwarzgekleidete Leute. Der Nachbar tritt leise auf den Vater zu und streckt ihm mit bleichem Gesichte und ohne ein Wort zu sprechen die Hand entgegen. Jetzt führt uns der Vater einige Schritte vor, wo auf einem mit schwarzem Tuche bedeckten Tische das offene Särglein steht. »Sieh' da dein Kamerädlein,« sagt er, »wie es still und freundlich eingeschlafen ist. Schau's noch einmal recht an und leg' ihm deine Blumen in's Bettlein.« Ja, drinnen liegt unser Gespänlein, das immer so still und gut gewesen war. Es sei gestorben, wieder ein Engelein geworden, hatte die Mutter gesagt; aber jetzt schläft es nur, obgleich schon so schön, wie die Engelein es sind. Ueber einem schneeweißen Kleide hat es die Händchen in einem Blumenkranze zusammengefaltet und zu beiden Seiten des bleichen Gesichtes geht ebenfalls ein Kränzlein herab; neben den weißen Rosen sind es kleine, blaue Blumen, die sich an dem weißen Spitzenkäppchen immer zitternd hin- und herbewegen.

Auf des Vaters Geheiß haben wir unsere Rose ebenfalls auf das weiße Kleid des kleinen Schläfers gelegt und schauen ihn nun unverwandten Blickes an, ob er die Hände nicht regen oder die Augen nicht öffnen wolle; aber die kleinen, weißen Finger bleiben in einander gefaltet und die Augenlider geschlossen. Es ist auch so still in der Stube, nur hin und wieder ein kurzes Geflüster, wenn Jemand hereinkommt, und dann wieder Schweigen, bei dem sich's gerne schlafen läßt. Endlich aber entsteht doch ein Geräusch. Aus der Schaar der Herumstehenden tritt ein Mann hervor, den wir fast nicht mehr kennen in seinem langen, schwarzen Rocke, und doch ist es nur der alte Schreiner mit den weißen Haaren, der uns schon manches kleine Stühlchen und Tischlein und andere Sachen gemacht hat. Die Kinder freuen sich sonst alle, wenn sie dem freundlichen Manne nur auf der Straße begegnen. Jetzt nimmt er ein schwarzes Brett, das auf einem nebenanstehenden Stuhle liegt, hebt es in die Höhe und schaut die Leute im Kreise herum an, als ob er diesen oder jenen etwas fragen möchte. Sie alle beugen sich vor, um einen Blick nach dem stillen Kinde zu werfen; mancher hält dabei die Augen verdeckend die Hand über das Gesicht und unserm Nachbarn, des Kamerädleins Vater, fallen Thränen herab, während der alte Schreiner das Brett auf das Särglein deckt. Er zieht nun bedächtig eine Schraube aus der Tasche und fängt an den Deckel festzubohren; aber im nämlichen Augenblick öffnet sich die Thüre der Nebenstube und mit lautem Weinen stürzt die Mutter des Kindes aus derselben hervor.

»Du darfst nicht fort, mein kleiner Engel,« ruft sie wehklagend, den Deckel heftig wieder von dem Särglein stoßend und sich mit ausgebreiteten Armen auf dasselbe werfend; »ich lasse dich nicht forttragen mein Kind, mein einziges Leben, o du mein Stern, mein süßer Augentrost; du darfst nicht von mir, du meines Herzens Licht, du meiner Seele Krone – wach auf – o nur einen Blick noch aus deinen treuen Augen – mein Kind – mein süßes Kind –.«

Zwischen den jammernden Worten drückt sie das Gesicht auf die kleine Leiche, dieselbe mit Thränen und Küssen bedeckend. Aber das Kind hört selbst den wehklagenden Ruf der Mutter nicht mehr und hört nicht, wie sich rings in der Stube herum ein Weinen erhebt. Endlich kommen einige Frauen heran; sie ziehen, selbst laut weinend, die untröstliche Mutter von dem Särglein zurück und führen sie wieder nach der Nebenstube hinüber. Der alte Schreiner hebt, nachdem er mit der Hand über die Augen gefahren, den schwarzen Deckel abermals herauf; hastig und mit zitternder Hand schraubt er denselben fest und ebenso rasch treten zwei Männer heran, die das Särglein an beiden Enden fassend hinaustragen. Als wir mit dem Vater und den Andern, die in der Stube gewesen, ebenfalls hinauskommen, haben es die Knaben schon auf ihre Schultern gehoben und hintendrein ordnet sich still und langsam der Zug dem Kirchhofe zu.

Dort stellen die kleinen Träger ihre Bürde am offenen Grabe auf die Erde nieder. Um dasselbe herum bildet sich ein geräuschloser Kreis von Knaben und Mädchen, in den sich der Lehrer stellt. Er gibt mit der Hand ein Zeichen; das Glöcklein, das bisher vom Thurme geläutet, verstummt und alsbald erheben sich die Stimmen der Schülerschaar, um sanft, wie leis angestrichene Saiten, in einem Liede zusammenzutönen.

Der Gesang geht zu Ende; der Lehrer tritt aus dem Kreise zurück und macht dem Pfarrer Platz, der neben dem kleinen Sarge stehend mit gesenktem Haupte zu sprechen anfängt. Er nennt den Namen des todten Kamerädleins, spricht dann von Blumen, die alsbald verwelken, und von frommen Kindern, die früh wieder heimgehen. Nachdem er Amen gesagt, treten wieder zwei Männer hervor; sie heben Blumen und Kränze, die auf dem Todtenbäumlein gelegen, weg, schlagen das schwarze Tuch über demselben zurück und unter ihren Händen sinkt das verschlossene Bettlein in's Grab hinunter. Die Leute schauen noch einen Augenblick auf die dunkle Oeffnung desselben und gehen dann still aus einander der Kirchhofstreppe zu, während aus der offenen Kirchenthüre die mächtigen Töne der Orgel hervorschwellen. –

Auf dem Heimwege fragen wir den Vater, ob nun unser Kamerädlein nicht auch wieder heimkomme, wie der Pfarrer von frommen Kindern gesagt habe? – »Nein, es kann nicht mehr kommen,« antwortet er, »es ist ja gestorben und muß jetzt drunten im Kirchhofe bleiben, wo sie es hingelegt haben.« – »Und wenn es Nacht wird?« – »Ja, auch wenn es Nacht wird, alle Tage und alle Nächte,« lautet die Antwort.

Jetzt erst wird uns schwer und bang im Herzen, und bei dem Gedanken, auch während der schwarzen Nacht immer und allein da drunten im Kirchhofe liegen zu müssen, kommen uns aus Angst und Mitleid mit dem armen, guten Kinde die Thränen in die Augen. Bisher hatten wir nicht geweint und auch nicht recht gewußt, warum Andere weinten. Man sagte uns zwar, das Gespänlein sei gestorben; doch schlief es ja nur, still und freundlich, wie wir's sonst auch gesehen; blos daß es jetzt das schöne, weiße Kleidchen und die schönen Blumen um Hände und Stirne trug – wie ein Engelein, das nicht erwachen mochte. Aber warum mußten sie es auf den Kirchhof tragen und da tief in die Erde hineinlegen? – Warum durfte es nicht daheim bei der Mutter schlafen, die es ja so sehr lieb gehabt und die so heftig geweint, als die Männer es forttrugen? – Der Vater gibt uns auf all' diese Fragen nur mit einem leisen Kopfschütteln Antwort, und erst jetzt fangen wir an bitterlich zu weinen, daß unser kleiner Freund gestorben ist. –

Am Abend, wann die goldigrothen Wölklein über dem Walde erbleicht sind, sitzen wir auf dem Schooße der Mutter, die uns noch nie wie heute geherzt und geküßt hat, und fragen abermals, ob unser Kamerädlein gar nie mehr heimkommen dürfe. Da deutet sie mit dem Finger durch die Fensterscheiben nach einem Sterne, der wie eine schimmernde Blume über dem Giebel des Nachbarhauses aufgegangen ist. »Siehst du mein Kind,« sagt sie, »das ist das Lichtlein, das der liebe Gott deinem Kamerädchen angezündet hat; es ist jetzt da droben und leuchtet mit seinem Lichte herab zu uns, ob du ein braves, frommes Kind seiest.«

Unsere Thränen trocknen und unsere Klagen verstummen. Mit sehnsüchtigem Blicke folgen wir dem mildleuchtenden Gestirne und versagen uns noch viele Abende den Schlaf, um nach demselben auszuschauen. Der Schmerz unseres kindlichen Gemüthes um den Verlust eines lieben Wesens ist versöhnt, da sich dieses Wesen nur in ein anderes, schöneres und dem Auge sichtbar gebliebenes verwandelt hat. –

Auch mir ist es so gegangen, als der kleine Gottfried starb. Ich konnte gar nicht aufhören zu weinen, daß er nun immer Tag und Nacht in dem dunkeln, kalten Grabe liegen müsse; als mir aber am Abend die Mutter den freundlichen Stern gezeigt, den der liebe Gott jetzt meinem kleinen Gefährten zum Spielzeuge gegeben, schlief ich getröstet ein und träumte von dem Sterne, den ich selbst einst bekommen würde. Und heute noch, so oft ich in der Nacht zum schimmernden Himmelssaal aufschaue, muß ich an den Klein-Gottfried denken, und sein Bild stellt sich meiner Erinnerung dar, wie aus Sternenschein und wehmüthiger Sehnsucht nach unschuldsvollen Kindertagen gewoben.

Er war kaum etliche Wochen älter als ich, der kleine Gottfried; aber soweit mein deutlicheres Erinnern zurückgeht, stand er an sinnigem, verständigem Wesen um Jahre über mir. Unsere älterlichen Wohnungen lagen nur durch einen Baumgarten getrennt, durch den ein wohlunterhaltener, mit stets frischem Kiese belegter Fußweg führte. Wie eine traumartige Erinnerung steht es vor mir, daß wir beiden Kleinen an warmen Sommertagen in einem Kinderwägelchen auf diesem Wege hin- und hergefahren wurden. Klein-Gottfried mag schon bei diesem ersten Zusammenleben Gelegenheit gefunden haben, seine kindliche Geduld und freundliche Nachgiebigkeit gegen mich zu erproben und auszubilden; denn gewiß muß ich jeder Zeit bereit gewesen sein, den bequemern Sitz und die ausgedehnteste Behaglichkeit mit Händen und Füßen in Anspruch zu nehmen. Mein erstes hierauf bezügliches Erinnern knüpft sich an einen Frühlingssonntag, ich mochte so gegen vier Jahre alt sein. Meine Mutter ging mit mir, der ich aufs Stattlichste ausgerüstet war, durch den Baumgarten zu Klein-Gottfried hinüber. Auf meinem Kopfe prangte ein farbiger, soldatischer Papierhut, mit allerlei bunten Bändern geziert; zur Seite hing ein Säbel mit messingenem Griffe und in der Hand trug ich eine kleine Trompete, die unaufhörlich ihr Gekreische zum Besten geben mußte; aber kaum in das Nachbarhaus getreten, war all' diese Herrlichkeit schon in's Wasser gefallen. Klein-Gottfried saß auf einem Schemelchen am Fenster und hielt ein Kinderpfeifchen in der Hand, dem er feine und hellklingende Töne entlockte. Das war nun für Auge und Ohr ein Wunderwerk, von dem meine kindische Begehrlichkeit sofort überwältigt wurde. Vor Allem war's ein auf dem Pfeifchen angebrachtes Rädchen, dessen kleine, windmühlenartige und prächtig roth und grün bemalte Flügel durch den ausströmenden Hauch des Instrumentes in raschen Umschwung gebracht wurden, was meine höchste Bewunderung und Sehnsucht erregte. Diese zu verbergen lag nicht in meiner Art und ich hatte sie auch bald in sehr ungeberdiger Weise ausgedrückt. Die Mutter mochte mich lange trösten und mir ein »silbernes Nienewägeli mit einem goldenen Nüteli« versprechen, wenn ich ruhig und artig sein wolle; da half Alles nichts, ich verlangte zappelnd und stampfend das Pfeiflein. Gottfried betrachtete eine Weile mit nachdenklichem Lächeln das niedliche Spielzeug, das ihm vor kaum einer Stunde geschenkt worden war; dann stieg er langsam von seinem Schemelchen herab und kam freundlich auf mich zugegangen. »Sei nur still Jacobli,« sagte er, mir das Pfeifchen darreichend, »ich will dir's schon geben; wenn ich einmal pfeifen mag, kann ich ja zu dir kommen. Gelt, ich darf dann schon!« –

Und so geschah es auch. Klein-Gottfried kam alle Tage durch den Baumgarten hereingegangen, setzte sich still in einen Winkel oder auf die steinernen Stufen vor dem Hause, blies eine Weile auf seinem Pfeifchen und wanderte wieder still wie er gekommen den Baumgarten hinaus nach seinem Hause hinüber.

Ich glaube wohl, daß diese entsagende Freundlichkeit, verbunden mit den Ermahnungen, welche die Mutter an dieselbe zu knüpfen wußte, einen nachhaltigen Eindruck auf mein junges Herz hervorgebracht habe; wenigstens erinnere ich mich, daß ich das Pfeifchen noch lange Jahre, nachdem die spielende Windmühle längst an demselben zerbrochen und Klein-Gottfried gestorben war, nie ohne ein tiefes Heimweh nach dem freundlichen Kameraden betrachten konnte.

Von dieser Zeit an begann auch unser häufigeres Zusammensein und der bald unentbehrliche Kinderverkehr. Manchmal ging ich wohl nach dem großen Spielplatze hinunter, auf dem sich die übrigen Altersgenossen der Nachbarschaft zusammenfanden; aber wenn Gottfried mich nicht dahin begleitete, wurd' es mir unter der lärmenden Schaar bald unbehaglich und ich wanderte wieder durch den Baumgarten, den stillen, stets freundlichen Gefährten aufzusuchen. Wir gingen mit einander an der langen Gartenmauer hin und schauten mit verhaltenem Athem nach dem prächtigen Schmetterlinge, wie er sich bald auf diesem bald auf einem andern Blatte niederließ, die blau und roth beränderten Flügel hin- und herwiegend; da bemerkte ich, mich niederbückend, unter den Blättern glänzend rothe Erdbeeren, über die ich mich sofort hermachen wollte. »Nein, nein,« rief Gottfried mich am Arme zurückhaltend, »du darfst sie nicht abbrechen; weißt du nicht das schöne Sprüchlein?«

»Nein,« sagte ich verwundert, »welches denn?«

Er begann leise:

Es höckelet uf em Hübeli
Mit sim rothe Füdeli;
Es höckelet am Rainli
Und zeigt sine dünne Beinli.

»Weißt du,« fügte er nach der süßen Frucht deutend geheimnißvoll bei, »das sind die Erdbeeren, die nur ein einziges, dünnes Beinlein haben; drum darfst du sie nicht abbrechen, bis dir's die Mutter erlaubt.« Das Sprüchlein selbst, vielleicht noch mehr die geheimnißvolle Weise, in der mir's mein kleiner Gefährte mittheilte, hatte meine kindliche Vorstellung alsbald mächtig angeregt. Die Erdbeere erschien mir als ein lebendiges Wesen, dem ich durch das Brechen des kleinen, dünnen Beinchens keinen Schmerz verursachen durfte. Ich ging wohl manchmal hin, um mit einer Art verlangender Scheu unter den Blättern durch nach den purpurnen Früchten hinzuschauen; aber vor der Ausführung meines begehrlichen Gelüstens blieben sie sicher gestellt.

Dem kleinen Gottfried schien diese, unser unschuldiges Thun belebende und vergeistigende Kinderpoesie über Nacht in Sinn und Erinnerung zu quellen, und fast jeden Tag kam er mit einem Sprüchlein, das meine Vorstellung mit lieblichen Bildern ausschmückte. Einmal da wir unter einem Baume saßen, schaute er in die tief herabhängenden Zweige hinauf und begann dann halbsingend:

Es sitzt es Jümpferli uf em Baum,
Es het am Röckli en rothe Saum;
Im Herze het's en herte Stei –
Säg, was das für nes Jümpferli sei.

Er guckte mich, als ich fast erschrocken aufwärts schaute, mit seinem stillen Lächeln an, deutete mit dem Finger auf die sich bräunenden Kirschen und sagte wieder in seiner geheimnißvollen Weise: »Siehst, das Jümpferli ist die Kirsche in ihrem rothen Röcklein, und weißt denn nicht, wie sie darunter einen harten Stein hat, den wir drum nicht hinunterschlucken dürfen?«

Ich muß noch heute, wenn ich eine Kirsche sehe, an die wunderlichen Vorstellungen denken, die mich damals Tage lang über das rothröckige Jüngferlein mit dem steinernen Herzen beschäftigten; aber ebenso wenig habe ich vergessen, wie mein kleiner Lehrmeister mein junges Herz dem Mitleiden für die Armuth zu öffnen wußte.

Wir saßen beisammen vor dem Hause, jeder mit einem umfangreichen Butterbrode in der Hand, als ein armes, bleiches Mädchen herankam und uns mit verlangenden Blicken zuschaute.

Klein-Gottfried brach sein Stück sogleich entzwei, dem Mädchen die eine Hälfte entgegenreichend. »Hörst du, Mareili,« sagte er, »der Jacobli gibt dir auch noch etwas, wenn du uns das schöne Liedlein von den armen Kindern singst.« Das Mädchen faltete seine magern Händchen und sang mit feiner, schüchterner Stimme:

's macht miner Mueter en Chumber
Wil's unsere so viel sind;
Drum wend mer flissig bete
Und chline Mümpfeli esse,
Denn sind mer fromme Chind.

Gottfried schaute mich an und sagte: »Sieh Jacobli, wenn du dem Mareili jetzt auch noch dein halbes Brod gibst, so bekommt's doch nur ein ganz kleines Mümpfeli, das andere muß es seinem Brüderchen und Schwesterlein geben.« –

Der Winter kam und mit ihm manche Beschränkung unseres sommerlichen Kinderverkehres, ohne daß derselbe jedoch ganz aufgehört hätte. An trockenen Tagen wanderten wir gerne mit einander zu einer alten Verwandten, die seitwärts des Ortes in einem einsam gelegenen Hause wohnte. Da, bei der kinderlosen, freundlichen Frau waren wir jeder Zeit willkommene Gäste und an süßen goldgelben Birnen, an rothwangigen Aepfeln und an andern solchen Herrlichkeiten war nie ein Mangel. Das Einzige, was unsere Freude an diesem liebgewonnenen Wege etwas störte, war ein großer, tiefer Weier, der sich an dem Brunnen vor dem Hause unserer Verwandten befand und an dem wir hart vorübergehen mußten. Jedesmal wurden uns die ernstlichsten Ermahnungen mitgegeben, dem gefährlichen Wasser ja nicht nahe zu kommen, und jedesmal wenn wir heimkehrten begleitete uns die Base, bis wir an der Stelle vorüber waren. Allmälig jedoch beschwichtigte sich die älterliche Besorgniß, da wir schon so oft hin- und wiedergegangen und besonders wohl auch, weil Gottfried ein so verständiges und aufmerksames Kind war, und wir selbst gingen bald an dem Weier vorüber ohne an irgend eine Gefahr zu denken.

Einmal, es war ein heller aber kalter Wintertag, waren wir auf unserm Wege zur Base wieder an die Stelle gelangt. Ich trämpelte, beide Hände in ein warmes Müffchen geschoben vor meinem kleinen Gefährten her, als ich plötzlich ausglitschte und über die glatte Fläche rutschend auf die dünne Eisdecke hinab fiel, mit welcher der Weier überfroren war. Klein-Gottfried warf sein eigenes Müffchen sogleich auf den Schnee und rief mir tröstend zu, nur keine Angst zu haben, er wolle mir schon wieder heraufhelfen. Er war auch behende über das Bord herabgeklettert, hatte mich, den Schnee von meinem Mäntelchen wischend aufgehoben und half mir nun, selbst noch unten stehend und mit allen Kräften nachschiebend hinaufklimmen; aber kaum hatte ich die Füße über den Bordrand herangezogen, ertönte hinter mir ein Krach und ein kurzer Angstschrei. Als ich erschrocken zurückblickte, war ein Stück der Eisdecke eingebrochen und daneben lag nur noch Gottfrieds kleine Pelzmütze; er selbst war durch die dunkle Lücke in die Tiefe getaucht. Ich erinnere mich noch recht deutlich, daß mir's im ersten Augenblicke war, als müßt' ich ebenfalls nachstürzen; dann aber klammerte ich mich mit ausgestreckten Armen in dem halbgefrornen Schnee fest und erhob ein lautes Jammergeschrei.

Was hierauf zunächst erfolgte, steht nur noch undeutlich vor meinem Gedenken. Wie einen fliegenden Schatten sah ich plötzlich den alten Knecht meiner Base am Weier stehen und unter einem scharfen Krachen in demselben verschwinden. Dann fühlte ich mich selbst vom Boden aufgehoben und in's Haus hinübertragen. Das Erste, an das ich mich wieder voll erinnere, ist der laute Jammer, mit dem Gottfrieds Mutter in die Stube meiner Base stürzte. Mit ausgebreiteten Armen warf sie sich über ihr Kind, das in einem Kissen gebettet auf einem Tische lag. Ich saß auf dem Schooße meiner ebenfalls herbeigeeilten Mutter, die mich mit festen Armen umfangen hielt. Die Stube füllte sich bald mit noch andern Menschen; aber lange wurde nur ein leises Geflüster gehört und dazwischen der jammernde Ausruf: Mein Gottfried – lieb Gottfried – thu' die Augen auf, sieh' ich bin da – deine Mutter. Endlich fuhr sie aus ihrer vorgebeugten Stellung auf und schrie: er lebt – er lebt – er hat die Augen aufgethan. Alles drängte sich nun um den Tisch herum und die Mutter hob mich auf ihren Armen empor, damit ich ebenfalls hinsehen könne. Da lag Gottfried mit dem freundlichen Gesichtchen, nur sah er noch bleicher aus als sonst. Er schaute lange wie verwundert umher, ohne ein weiteres Zeichen zu geben, bis ich seinen Namen rief und die Hände nach ihm ausstreckte; da wendete er sein Gesicht nach mir hin und sagte leise: »Ich bin ja bei dir, Jacobli.« –

Nach wenigen Augenblicken trat mit Gottfrieds Vater hastig der Doktor in die Stube. Die Leute wichen von dem Tische zurück und der alte Herr mit den schneeweißen Haaren blieb lange über den Kleinen hingebeugt und hatte das Ohr lauschend auf seine Brust gelegt. Endlich erhob er sich und streckte Gottfrieds Mutter, die stillweinend mit gefalteten Händen neben ihm stand, die Rechte entgegen. »Beruhigt Euch, gute Frau,« sagte er freundlich, »ich glaube, es ist keine Gefahr vorhanden; mit Gottes Hülfe mag es gehen.«

Gottfried, der schlafmüde die Augen wieder geschlossen hatte, wurde in große Tücher eingewickelt; dann nahm ihn der Vater auf den Arm und ging von andern begleitet mit ihm aus der Stube. Meine Mutter wickelte ebenfalls ein großes Tuch um mich und folgte den Andern mich auf den Armen tragend nach. Draußen standen die Leute um den Weier herum und schauten, laut mit einander sprechend, in das Wasser hinab. Mir war's als müßt' ich mich schämen, daß ich mich von der Mutter tragen ließ; aber doch war ich so müde und schläfrig geworden, und kaum waren wir drunten in der Wiese angelangt, als mir die Augen zufielen.

Als ich am folgenden Morgen aufwachte, standen Vater und Mutter an meinem Bettchen, mich mit besorgten Mienen anblickend. »Thut dir etwas weh, Jacobli?« fragte die Mutter leise. »Nein,« erwiderte ich nach einigem Besinnen, »aber es ist mir im Schlafe vorgekommen, ich sei draußen bei der Base in den Weier gefallen und Gottfried auch.«

»Ihr seid ja gestern auch hineingefallen, und Gottfried ist nun recht krank geworden.«

»Ja, jetzt weiß ich's wieder,« sagte ich; »aber nun will ich aufstehen und zu ihm gehen.«

»Nein, nein,« erwiderte die Mutter hastig, indem sie die Decke über mich heranzog; »heute mußt du im Bette bleiben, Gottfried thut's auch. Morgen, wenn du noch einmal ausgeschlafen hast, kannst du wieder zu ihm gehen.«

Ich gab mich mit dieser Anordnung zufrieden, da mir die Mutter allerlei Spielzeug, darunter auch Gottfrieds Pfeifchen, in's Bett brachte; bald auch war ich wieder eingeschlafen, und Abend und Morgen kamen schneller, als ich gedacht hatte.

Unter Herzen und Küssen kleidete die Mutter mich an und sagte dann, wir wollen nun mit einander zu Klein-Gottfried gehen, der noch immer recht krank sei. Als wir in die Stube traten, wo er im Bette lag, rief er mich mit lauter, schreiender Stimme, wie ich sie noch nie an ihm gehört habe, beim Namen. Ich sprang eilig, wenn auch fast erschrocken zu seinem Bettchen. Da lag er, der sonst immer so weiß und bleich gewesen, mit brennend rothen Wangen und schien mich mit weit offenen Augen anzuschauen; aber gleichwohl rief er fortwährend mit der gleichen lauten Stimme meinen Namen und befahl mir zwischenhinein, nicht so nah' an den Weier hinzugehen, sonst werde mich der große Hund beißen. »Ich bin ja bei dir Gottfried,« rief ich ängstlich sein heißes Händchen fassend, »sieh' mich nur an, wir sind nicht beim Weier.« Aber er wollte nicht hören und gab auf alle meine Bitten und Fragen keine Antwort zurück. Da wurde ich recht traurig und fing so heftig zu weinen an, daß mich die Mutter, die ebenfalls still vor sich hin weinte, heimführen mußte. Den ganzen Tag über könnt' ich mich nicht zufrieden geben und fragte beständig, warum Gottfried nichts habe mit mir reden wollen.

Am Abend ging ich mit der Mutter wiederum zu ihm hinüber. Jetzt saß er aufrecht in seinem Bettchen, noch weißer und bleicher als gewöhnlich, und streckte mir schon von weitem die Hände entgegen; aber reden mochte er nicht und bald auch bat er seine Mutter mit einem trüben Lächeln, das Spielzeug, das auf seiner Decke vor ihm ausgebreitet lag, mir zu geben, er könne es jetzt doch nicht mehr brauchen. Denn, sagte er, er sei müde und wolle schlafen. Nachdem ihn die Mutter unter stillen Thränen gebettet, faltete er die Händchen und betete:

Jetzt wend mer i Gott's Name niedergoh,
Vierzehn Engeli wend mer mit üs loh;
Zwei z'Häupte, Zwei z'Füße,
Zwei uf der rechte Site, Zwei uf der linke Site,
Zwei die mi decke, Zwei die mi wecke,
Und Zwei, die mi is Paradies führe – Amen.

Hierauf reichte er uns allen noch das Gutnachthändchen und war dann bald eingeschlafen. –

Er ist wohl noch einmal aufgewacht in dieser Nacht, der kleine Gottfried, aber nur um die lieben, blauen Augen dann für immer zu schließen. Am Morgen sagte mir die Mutter weinend, er sei gestorben und ein Engelein geworden. –

Wenn ich nun seiner nach so vielen Jahren gedenke, so stellt sich meiner Erinnerung zunächst die liebliche Leiche dar, die in weißes Linnen gehüllt und mit weißen Blumen geschmückt vom Tode selbst mit einem milden Wiederschein des Lichtes einer andern Welt überhaucht schien. Und der Stern, von dem mir die Mutter am Abend seines Begräbnißtages sagte, er sei Klein-Gottfried von dem lieben Gotte angezündet worden, sendet noch heute sein süßtröstendes Licht auf mich herab, während das Särglein auf dem Kirchhof, in dem sie meinen kleinen Gefährten eingesenkt haben, wohl schon lange einem andern Lebensmüden hat weichen müssen.


Druck von H. R. Sauerländer in Aarau.



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