Sigmund Freud
Bruchstück einer Hysterie-Analyse
Sigmund Freud

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162 III
Der zweite Traum

Wenige Wochen nach dem ersten fiel der zweite Traum vor, mit dessen Erledigung die Analyse abbrach. Er ist nicht so voll durchsichtig zu machen wie der erste, brachte aber eine erwünschte Bestätigung einer notwendig gewordenen Annahme über den Seelenzustand der Patientin, füllte eine Gedächtnislücke aus und ließ einen tiefen Einblick in die Entstehung eines anderen ihrer Symptome gewinnen.

Dora erzählte: Ich gehe in einer Stadt, die ich nicht kenne, spazieren, sehe Straßen und Plätze, die mir fremd sindHierzu der wichtige Nachtrag: Auf einem der Plätze sehe ich ein Monument.. Ich komme dann in ein Haus, wo ich wohne, gehe auf mein Zimmer und finde dort einen Brief der Mama liegen. Sie schreibt: Da ich ohne Wissen der Eltern vom Hause fort bin, wollte sie mir nicht schreiben, daß der Papa erkrankt ist. Jetzt ist er gestorben, und wenn Du willstDazu der Nachtrag: Bei diesem Worte stand ein Fragezeichen: willst?, kannst Du kommen. Ich gehe nun zum Bahnhofe und frage etwa 100mal: Wo ist der Bahnhof? Ich bekomme immer die Antwort: Fünf Minuten. Ich sehe dann einen dichten Wald vor mir, in den ich hineingehe, und frage dort einen Mann, dem ich begegne. Er sagt mir: Noch 2½ StundenEin zweites Mal wiederholt sie: 2 Stunden.. Er bietet mir an, mich zu begleiten. Ich lehne ab und gehe allein. Ich sehe den Bahnhof vor mir und kann ihn nicht erreichen. Dabei ist das gewöhnliche Angstgefühl, wenn man im Traume nicht weiter kommt. Dann bin ich zu Hause, dazwischen muß ich gefahren sein, davon weiß ich aber nichts. – Trete in die Portierloge und frage ihn nach unserer Wohnung. Das Dienstmädchen öffnet mir und antwortet: Die Mama und die anderen sind schon auf dem FriedhofeDazu in der nächsten Stunde zwei Nachträge: Ich sehe mich besonders deutlich die Treppe hinaufgehen, und: Nach ihrer Antwort gehe ich, aber gar nicht traurig, auf mein Zimmer und lese in einem großen Buche, das auf meinem Schreibtische liegt..

Die Deutung dieses Traumes ging nicht ohne Schwierigkeiten vor sich. Infolge der eigentümlichen, mit seinem Inhalte verknüpften Umstände, unter denen wir abbrachen, ist nicht alles geklärt worden, und damit 163 hängt wieder zusammen, daß meine Erinnerung die Reihenfolge der Erschließungen nicht überall gleich sicher bewahrt hat. Ich schicke noch voraus, welches Thema der fortlaufenden Analyse unterlag, als sich der Traum einmengte. Dora warf seit einiger Zeit selbst Fragen über den Zusammenhang ihrer Handlungen mit den zu vermutenden Motiven auf. Eine dieser Fragen war: Warum habe ich die ersten Tage nach der Szene am See noch darüber geschwiegen? Die zweite: Warum habe ich dann plötzlich den Eltern davon erzählt? Ich fand es überhaupt noch der Erklärung bedürftig, daß sie sich durch die Werbung K.s so schwer gekränkt gefühlt, zumal da mir die Einsicht aufzugehen begann, daß die Werbung um Dora auch für Herrn K. keinen leichtsinnigen Verführungsversuch bedeutet hatte. Daß sie von dem Vorfalle ihre Eltern in Kenntnis gesetzt, legte ich als eine Handlung aus, die bereits unter dem Einflüsse krankhafter Rachsucht stand. Ein normales Mädchen wird, so sollte ich meinen, allein mit solchen Angelegenheiten fertig.

Ich werde also das Material, welches sich zur Analyse dieses Traumes einstellte, in der ziemlich bunten Ordnung, die sich in meiner Reproduktion ergibt, vorbringen.

 

Sie irrt allein in einer fremden Stadt, sieht Straßen und Plätze. Sie versichert, es war gewiß nicht B., worauf ich zuerst geraten hatte, sondern eine Stadt, in der sie nie gewesen war. Es lag nahe, fortzusetzen: Sie können ja Bilder oder Fotografien gesehen haben, denen Sie die Traumbilder entnehmen. Nach dieser Bemerkung stellt sich der Nachtrag von dem Monumente auf einem Platze ein und dann sofort die Kenntnis der Quelle. Sie hatte zu den Weihnachtsfeiertagen ein Album mit Stadtansichten aus einem deutschen Kurorte bekommen und dasselbe gerade gestern hervorgesucht, um es den Verwandten, die bei ihnen zu Gast waren, zu zeigen. Es lag in einer Bilderschachtel, die sich nicht gleich vorfand, und sie fragte die Mama: Wo ist die Schachtel?Im Traume fragt sie: Wo ist der Bahnhof? Aus dieser Annäherung zog ich einen Schluß, den ich später entwickeln werde. Eines der Bilder zeigte einen Platz mit einem Monumente. Der Spender aber war ein junger Ingenieur, dessen flüchtige Bekanntschaft sie einst in der Fabrikstadt gemacht hatte. Der junge Mann hatte eine Stellung in Deutschland angenommen, um rascher zur Selbständigkeit zu kommen, benützte jede Gelegenheit, um sich in Erinnerung zu bringen, und es war 164 leicht zu erraten, daß er vorhabe, seinerzeit, wenn sich seine Position gebessert, mit einer Werbung um Dora hervorzutreten. Aber das brauchte noch Zeit, da hieß es warten.

Das Umherwandern in einer fremden Stadt war überdeterminiert. Es führte zu einem der Tagesanlässe. Zu den Feiertagen war ein jugendlicher Kusin auf Besuch gekommen, dem sie jetzt die Stadt Wien zeigen mußte. Dieser Tagesanlaß war freilich ein höchst indifferenter. Der Vetter erinnerte sie aber an einen kurzen ersten Aufenthalt in Dresden. Damals wanderte sie als Fremde herum, versäumte natürlich nicht, die berühmte Galerie zu besuchen. Ein anderer Vetter, der mit ihnen war und Dresden kannte, wollte den Führer durch die Galerie machen. Aber sie wies ihn ab und ging allein, blieb vor den Bildern stehen, die ihr gefielen. Vor der Sixtina verweilte sie zwei Stunden lang in still träumender Bewunderung. Auf die Frage, was ihr an dem Bilde so sehr gefallen, wußte sie nichts Klares zu antworten. Endlich sagte sie: Die Madonna.

Daß diese Einfälle wirklich dem traumbildenden Material angehören, ist doch gewiß. Sie schließen Bestandteile ein, die wir unverändert im Trauminhalte wiederfinden (sie wies ihn ab und ging allein – zwei Stunden). Ich merke bereits, daß »Bilder« einem Knotenpunkte in dem Gewebe der Traumgedanken entsprechen (die Bilder im Album – die Bilder in Dresden). Auch das Thema der Madonna, der jungfräulichen Mutter, möchte ich für weitere Verfolgung herausgreifen. Vor allem aber sehe ich, daß sie sich in diesem ersten Teile des Traumes mit einem jungen Manne identifiziert. Er irrt in der Fremde herum, er bestrebt sich, ein Ziel zu erreichen, aber er wird hingehalten, er braucht Geduld, er muß warten. Wenn sie dabei an den Ingenieur dachte, so hätte es gestimmt, daß dieses Ziel der Besitz eines Weibes, ihrer eigenen Person, sein sollte. Anstatt dessen war es ein – Bahnhof, für den wir allerdings nach dem Verhältnisse der Frage im Traume zu der wirklich getanen Frage eine Schachtel einsetzen dürfen. Eine Schachtel und ein Weib, das geht schon besser zusammen.

Sie fragt wohl hundertmal... Das führt zu einer anderen, minder indifferenten Veranlassung des Traumes. Gestern abends nach der Gesellschaft bat sie der Vater, ihm den Cognac zu holen; er schlafe nicht, wenn er nicht vorher Cognac getrunken. Sie verlangte den Schlüssel zum Speisekasten von der Mutter, aber die war in ein Gespräch verwickelt und gab ihr keine Antwort, bis sie mit der ungeduldigen Übertreibung herausfuhr: Jetzt habe ich dich schon hundertmal gefragt, wo 165 der Schlüssel ist. In Wirklichkeit hatte sie die Frage natürlich nur etwa fünfmal wiederholtIm Trauminhalte steht die Zahl fünf bei der Zeitangabe: 5 Minuten. In meinem Buche über die Traumdeutung habe ich an mehreren Beispielen gezeigt, wie in den Traumgedanken vorkommende Zahlen vom Traume behandelt werden; man findet sie häufig aus ihren Beziehungen gerissen und in neue Zusammenhänge eingetragen..

Wo ist der Schlüssel? scheint mir das männliche Gegenstück zur Frage: Wo ist die Schachtel? (siehe den ersten Traum, S. 138). Es sind also Fragen – nach den Genitalien.

In derselben Versammlung Verwandter hatte jemand einen Trinkspruch auf den Papa gehalten und die Hoffnung ausgesprochen, daß er noch lange in bester Gesundheit usw. Dabei hatte es so eigentümlich in den müden Mienen des Vaters gezuckt, und sie hatte verstanden, welche Gedanken er zu unterdrücken hatte. Der arme kranke Mann! Wer konnte wissen, wie lange Lebensdauer ihm noch beschieden war.

Damit sind wir beim Inhalte des Briefes im Traume angelangt. Der Vater war gestorben, sie hatte sich eigenmächtig vom Haus entfernt. Ich mahnte sie bei dem Briefe im Traume sofort an den Abschiedsbrief, den sie den Eltern geschrieben oder wenigstens für die Eltern aufgesetzt hatte. Dieser Brief war bestimmt, den Vater in Schrecken zu versetzen, damit er von Frau K. ablasse, oder wenigstens an ihm Rache zu nehmen, wenn er dazu nicht zu bewegen sei. Wir stehen beim Thema ihres Todes und beim Tode ihres Vaters (Friedhof später im Traume). Gehen wir irre, wenn wir annehmen, daß die Situation, welche die Fassade des Traumes bildet, einer Rachephantasie gegen den Vater entspricht? Die mitleidigen Gedanken vom Tage vorher würden gut dazu stimmen. Die Phantasie aber lautete: Sie ginge von Haus weg in die Fremde, und dem Vater würde aus Kummer darüber, vor Sehnsucht nach ihr das Herz brechen. Dann wäre sie gerächt. Sie verstand ja sehr gut, was dem Vater fehlte, der jetzt nicht ohne Cognac schlafen konnteDie sexuelle Befriedigung ist unzweifelhaft das beste Schlafmittel, so wie Schlaflosigkeit zu allermeist die Folge der Unbefriedigung ist. Der Vater schlief nicht, weil ihm der Verkehr mit der geliebten Frau fehlte. Vgl. hierzu das unten Folgende: Ich habe nichts an meiner Frau..

Wir wollen uns die Rachsucht als ein neues Element für eine spätere Synthese der Traumgedanken merken.

Der Inhalt des Briefes mußte aber weitere Determinierung zulassen. Woher stammte der Zusatz: Wenn Du willst?

166 Da fiel ihr der Nachtrag ein, daß hinter dem Worte »willst« ein Fragezeichen gestanden hatte, und damit erkannte sie auch diese Worte als Zitat aus dem Briefe der Frau K., welcher die Einladung nach L. (am See) enthalten hatte. In ganz auffälliger Weise stand in diesem Briefe nach der Einschaltung: »wenn Du kommen willst?« mitten im Gefüge des Satzes ein Fragezeichen.

Da wären wir also wieder bei der Szene am See und bei den Rätseln, die sich an sie knüpften. Ich bat sie, mir diese Szene einmal ausführlich zu erzählen. Sie brachte zuerst nicht viel Neues. Herr K. hatte eine einigermaßen ernsthafte Einleitung vorgebracht; sie ließ ihn aber nicht ausreden. Sobald sie nur verstanden hatte, um was es sich handle, schlug sie ihm ins Gesicht und eilte davon. Ich wollte wissen, welche Worte er gebraucht; sie erinnert sich nur an seine Begründung: »Sie wissen, ich habe nichts an meiner Frau.«Diese Worte werden zur Lösung eines unserer Rätsel führen. Sie wollte dann, um nicht mehr mit ihm zusammenzutreffen, den Weg nach L. zu Fuß um den See machen und fragte einen Mann, der ihr begegnete, wie weit sie dahin habe. Auf seine Antwort: »2½ Stunden« gab sie diese Absicht auf und suchte doch wieder das Schiff auf, das bald nachher abfuhr. Herr K. war auch wieder da, näherte sich ihr, bat sie, ihn zu entschuldigen und nichts von dem Vorfalle zu erzählen. Sie gab aber keine Antwort. – Ja, der Wald im Traume war ganz ähnlich dem Walde am Seeufer, in dem sich die eben von neuem beschriebene Szene abgespielt hatte. Genau den nämlichen dichten Wald hatte sie aber gestern auf einem Gemälde in der Sezessionsausstellung gesehen. Im Hintergrunde des Bildes sah man NymphenHier zum drittenmal: Bild (Städtebilder, Galerie in Dresden), aber in weit bedeutsamerer Verknüpfung. Durch das, was man an dem Bilde sieht, wird es zum Weibsbilde (Wald, Nymphen)..

Jetzt wurde ein Verdacht bei mir zur Gewißheit. BahnhofDer »Bahnhof« dient übrigens dem »Verkehre«. Die psychische Umkleidung mancher Eisenbahnangst. und Friedhof, an Stelle von weiblichen Genitalien, war auffällig genug, hatte aber meine geschärfte Aufmerksamkeit auf das ähnlich gebildete »Vorhof«: gelenkt, einen anatomischen Terminus für eine bestimmte Region der weiblichen Genitalien. Aber das konnte ein witziger Irrtum sein. Nun, da die »Nymphen« dazukamen, die man im Hintergrunde des »dichten Waldes« sieht, war ein Zweifel nicht mehr gestattet. Das war symbolische Sexualgeographie! Nymphen nennt man, wie dem Arzte, aber nicht dem Laien bekannt, wie übrigens auch ersterem nicht sehr 167 gebräuchlich, die kleinen Labien im Hintergrunde des »dichten Waldes« von Schamhaaren. Wer aber solche technische Namen wie »Vorhof« und »Nymphen« gebrauchte, der mußte seine Kenntnis aus Büchern geschöpft haben, und zwar nicht aus populären, sondern aus anatomischen Lehrbüchern oder aus einem Konversationslexikon, der gewöhnlichen Zuflucht der von sexueller Neugierde verzehrten Jugend. Hinter der ersten Situation des Traumes verbarg sich also, wenn diese Deutung richtig war, eine Deflorationsphantasie, wie ein Mann sich bemüht, ins weibliche Genitale einzudringenDie Deflorationsphantasie ist der zweite Bestandteil dieser Situation. Die Hervorhebung der Schwierigkeit im Vorwärtskommen und die im Traume empfundene Angst weisen auf die gerne betonte Jungfräulichkeit, die wir an anderer Stelle durch die »Sixtina« angedeutet finden. Diese sexuellen Gedanken ergeben eine unbewußte Untermalung für die vielleicht nur geheimgehaltenen Wünsche, die sich mit dem wartenden Bewerber in Deutschland beschäftigen. Als ersten Bestandteil derselben Traumsituation haben wir die Rachephantasie kennengelernt, die beiden decken einander nicht völlig, sondern nur partiell; die Spuren eines noch bedeutsameren dritten Gedankenzuges werden wir später finden..

Ich teilte ihr meine Schlüsse mit. Der Eindruck muß zwingend gewesen sein, denn es kam sofort ein vergessenes Stückchen des Traumes nach: Daß sie ruhigEin andermal hatte sie anstatt »ruhig« gesagt »gar nicht traurig« (S. 162, Anm. 62). Ich kann diesen Traum als neuen Beweis für die Richtigkeit einer in der Traumdeutung (Kapitel VII, Abschnitt A; Studienausgabe, Bd. 2, S. 496 f.) enthaltenen Behauptung verwerten, daß die zuerst vergessenen und nachträglich erinnerten Traumstücke stets die für das Verständnis des Traumes wichtigsten sind. Ich ziehe dort den Schluß, daß auch das Vergessen der Träume die Erklärung durch den innerpsychischen Widerstand fordert. auf ihr Zimmer geht und in einem großen Buch liest, welches auf ihrem Schreibtische liegt. Der Nachdruck liegt hier auf den beiden Details: ruhig und groß bei Buch. Ich fragte: War es Lexikonformat? Sie bejahte. Nun lesen Kinder über verbotene Materien niemals ruhig im Lexikon nach. Sie zittern und bangen dabei und schauen sich ängstlich um, ob wohl jemand kommt. Die Eltern sind bei solcher Lektüre sehr im Wege. Aber die wunscherfüllende Kraft des Traumes hatte die unbehagliche Situation gründlich verbessert. Der Vater war tot und die anderen schon auf den Friedhof gefahren. Sie konnte ruhig lesen, was ihr beliebte. Sollte das nicht heißen, daß einer ihrer Gründe zur Rache auch die Auflehnung gegen den Zwang der Eltern war? Wenn der Vater tot war, dann konnte sie lesen oder lieben, wie sie wollte. Zunächst wollte sie sich nun nicht erinnern, daß sie je im Konversationslexikon gelesen, dann gab sie zu, daß eine solche Erinnerung in ihr auftauchte, freilich harmlosen Inhaltes. Zur Zeit, als die geliebte Tante 168 so schwer krank und ihre Reise nach Wien schon beschlossen war, kam von einem anderen Onkel ein Brief, sie könnten nicht nach Wien reisen, ein Kind, also ein Vetter Doras, sei gefährlich an Blinddarmentzündung erkrankt. Damals las sie im Lexikon nach, welches die Symptome einer Blinddarmentzündung seien. Von dem, was sie gelesen, erinnert sie noch den charakteristisch lokalisierten Schmerz im Leibe.

Nun erinnerte ich, daß sie kurz nach dem Tode der Tante eine angebliche Blinddarmentzündung in Wien durchgemacht. Ich hatte mich bisher nicht getraut, diese Erkrankung zu ihren hysterischen Leistungen zu rechnen. Sie erzählte, daß sie die ersten Tage hoch gefiebert und denselben Schmerz im Unterleibe verspürt, von dem sie im Lexikon gelesen. Sie habe kalte Umschläge bekommen, sie aber nicht vertragen; am zweiten Tage sei unter heftigen Schmerzen die seit ihrem Kranksein sehr unregelmäßige Periode eingetreten. An Stuhlverstopfung habe sie damals konstant gelitten.

Es ging nicht recht an, diesen Zustand als einen rein hysterischen aufzufassen. Wenn auch hysterisches Fieber unzweifelhaft vorkommt, so schien es doch willkürlich, das Fieber dieser fraglichen Erkrankung auf Hysterie anstatt auf eine organische, damals wirksame Ursache zu beziehen. Ich wollte die Spur wieder aufgeben, als sie selbst weiterhalf, indem sie den letzten Nachtrag zum Traume brachte: Sie sehe sich besonders deutlich die Treppe hinaufgehen.

Dafür verlangte ich natürlich eine besondere Determinierung. Ihren wohl nicht ernsthaft gemeinten Einwand, daß sie ja die Treppe hinaufgehen müsse, wenn sie in ihre im Stocke gelegene Wohnung wolle, konnte ich leicht mit der Bemerkung abweisen, wenn sie im Traume von der fremden Stadt nach Wien reisen und dabei die Eisenbahnfahrt übergehen könne, so dürfe sie sich auch über die Stufen der Treppe im Traume hinwegsetzen. Sie erzählte dann weiter: Nach der Blinddarmentzündung habe sie schlecht gehen können, weil sie den rechten Fuß nachgezogen. Das sei lange so geblieben, und sie hätte darum besonders Treppen gerne vermieden. Noch jetzt bleibe der Fuß manchmal zurück. Die Ärzte, die sie auf Verlangen des Vaters konsultierte, hätten sich über diesen ganz ungewöhnlichen Rest nach einer Blinddarmentzündung sehr verwundert, besonders da der Schmerz im Leibe nicht wieder aufgetreten sei und keineswegs das Nachziehen des Fußes begleiteteZwischen der »Ovarie« benannten Schmerzhaftigkeit im Abdomen und der Gehstörung des gleichseitigen Beines ist ein somatischer Zusammenhang anzunehmen, der hier bei Dora eine besonders spezialisierte Deutung, d. h. psychische Überlagerung und Verwertung erfährt. Vgl. die analoge Bemerkung bei der Analyse der Hustensymptome und des Zusammenhanges von Katarrh und Eßunlust..

169 Das war also ein richtiges hysterisches Symptom. Mochte auch das Fieber damals organisch bedingt gewesen sein – etwa durch eine der so häufigen Influenza-Erkrankungen ohne besondere Lokalisation – so war doch sichergestellt, daß sich die Neurose des Zufalles bemächtigte, um ihn für eine ihrer Äußerungen zu verwerten. Sie hatte sich also eine Krankheit angeschafft, über die sie im Lexikon nachgelesen, sich für diese Lektüre bestraft und mußte sich sagen, die Strafe konnte unmöglich der Lektüre des harmlosen Artikels gelten, sondern war durch eine Verschiebung zustande gekommen, nachdem an diese Lektüre sich eine andere, schuldvollere angeschlossen hatte, die sich heute in der Erinnerung hinter der gleichzeitigen harmlosen verbargEin ganz typisches Beispiel für Entstehung von Symptomen aus Anlässen, die anscheinend mit dem Sexuellen nichts zu tun haben.. Vielleicht ließ sich noch erforschen, über welche Themata sie damals gelesen hatte.

Was bedeutete denn der Zustand, der eine Perityphlitis nachahmen wollte? Der Rest der Affektion, das Nachziehen eines Beines, der zu einer Perityphlitis so gar nicht stimmte, mußte sich besser zu der geheimen, etwa sexuellen Bedeutung des Krankheitsbildes schicken und konnte seinerseits, wenn man ihn aufklärte, ein Licht auf diese gesuchte Bedeutung werfen. Ich versuchte, einen Zugang zu diesem Rätsel zu finden. Es waren im Traume Zeiten vorgekommen; die Zeit ist wahrlich nichts Gleichgültiges bei allem biologischen Geschehen. Ich fragte also, wann diese Blinddarmentzündung sich ereignet, ob früher oder später als die Szene am See. Die prompte, alle Schwierigkeiten mit einem Schlage lösende Antwort war: neun Monate nachher. Dieser Termin ist wohl charakteristisch. Die angebliche Blinddarmentzündung hatte also die Phantasie einer Entbindung realisiert mit den bescheidenen Mitteln, die der Patientin zu Gebote standen, den Schmerzen und der PeriodenblutungIch habe schon angedeutet, daß die meisten hysterischen Symptome, wenn sie ihre volle Ausbildung erlangt haben, eine phantasierte Situation des Sexuallebens darstellen, also eine Szene des sexuellen Verkehres, eine Schwangerschaft, Entbindung, Wochenbett u. dgl.. Sie kannte natürlich die Bedeutung dieses Termins und konnte die Wahrscheinlichkeit nicht in Abrede stellen, daß sie damals im Lexikon über Schwangerschaft und Geburt gelesen. Was war aber mit dem nachgezogenen Beine? Ich durfte jetzt ein Erraten versuchen. So geht man doch, wenn man sich den Fuß übertreten hat. Sie hatte also einen »Fehltritt« getan, ganz richtig, wenn sie neun Monate nach der Szene 170 am See entbinden konnte. Nur mußte ich eine weitere Forderung aufstellen. Man kann – nach meiner Überzeugung – solche Symptome nur dann bekommen, wenn man ein infantiles Vorbild für sie hat. Die Erinnerungen, die man von Eindrücken späterer Zeit hat, besitzen, wie ich nach meinen bisherigen Erfahrungen strenge festhalten muß, nicht die Kraft, sich als Symptome durchzusetzen. Ich wagte kaum zu hoffen, daß sie mir das gewünschte Material aus der Kinderzeit liefern würde, denn ich kann in Wirklichkeit obigen Satz, an den ich gerne glauben möchte, noch nicht allgemein aufstellen. Aber hier kam die Bestätigung sofort. Ja, sie hatte sich als Kind einmal denselben Fuß übertreten, sie war in B. beim Heruntergehen auf der Treppe über eine Stufe gerutscht; der Fuß, es war sogar der nämliche, den sie später nachzog, schwoll an, mußte bandagiert werden, sie lag einige Wochen ruhig. Es war kurze Zeit vor dem nervösen Asthma im achten Lebensjahre.

Nun galt es, den Nachweis dieser Phantasie zu verwerten: Wenn Sie neun Monate nach der Szene am See eine Entbindung durchmachen und dann mit den Folgen des Fehltrittes bis zum heutigen Tage herumgehen, so beweist dies, daß Sie im Unbewußten den Ausgang der Szene bedauert haben. Sie haben ihn also in ihrem unbewußten Denken korrigiert. Die Voraussetzung Ihrer Entbindungsphantasie ist ja, daß damals etwas vorgegangen istDie Deflorationsphantasie findet also ihre Anwendung auf Herrn K., und es wird klar, warum dieselbe Region des Trauminhalts Material aus der Szene am See enthält. (Ablehnung, 2½ Stunden, der Wald, Einladung nach L.), daß Sie damals all das erlebt und erfahren haben, was Sie später aus dem Lexikon entnehmen mußten. Sie sehen, daß Ihre Liebe zu Herrn K. mit jener Szene nicht beendet war, daß sie sich, wie ich behauptet habe, bis auf den heutigen Tag – allerdings Ihnen unbewußt – fortsetzt. – Sie widersprach dem auch nicht mehrEinige Nachträge zu den bisherigen Deutungen: Die »Madonna«: ist offenbar sie selbst, erstens wegen des »Anbeters«, der ihr die Bilder geschickt hat, dann weil sie Herrn K.s Liebe vor allem durch ihre Mütterlichkeit gegen seine Kinder gewonnen hatte, und endlich, weil sie als Mädchen doch schon ein Kind gehabt hat, im direkten Hinweise auf die Entbindungsphantasie. Die »Madonna« ist übrigens eine beliebte Gegenvorstellung, wenn ein Mädchen unter dem Drucke sexueller Beschuldigungen steht, was ja auch bei Dora zutrifft. Ich bekam von diesem Zusammenhange die erste Ahnung als Arzt der psychiatrischen Klinik bei einem Falle von halluzinatorischer Verworrenheit raschen Ablaufes, der sich als Reaktion auf einen Vorwurf des Bräutigams herausstellte.

Die mütterliche Sehnsucht nach einem Kinde wäre bei Fortsetzung der Analyse wahrscheinlich als dunkles aber mächtiges Motiv ihres Handelns aufzudecken gewesen. – Die vielen Fragen, die sie in letzter Zeit aufgeworfen hatte, erscheinen wie Spätabkömmlinge der Fragen sexueller Wißbegierde, welche sie aus dem Lexikon zu befriedigen gesucht. Es ist anzunehmen, daß sie über Schwangerschaft, Entbindung, Jungfräulichkeit und ähnliche Themata nachgelesen. – Eine der Fragen, die in den Zusammenhang der zweiten Traumsituation einzufügen sind, hatte sie bei der Reproduktion des Traumes vergessen. Es konnte nur die Frage sein: Wohnt hier der Herr ***? oder: Wo wohnt der Herr ***? Es muß seinen Grund haben, daß sie diese scheinbar harmlose Frage vergessen, nachdem sie sie überhaupt in den Traum aufgenommen. Ich finde diesen Grund in dem Familiennamen selbst, der gleichzeitig Gegenstandsbedeutung hat, und zwar mehrfache, also einem »zweideutigen« Worte gleichgesetzt werden kann. Ich kann diesen Namen leider nicht mitteilen, um zu zeigen, wie geschickt er verwendet worden ist, um »Zweideutiges« und »Unanständiges« zu bezeichnen. Es stützt diese Deutung, wenn wir in anderer Region des Traumes, wo das Material aus den Erinnerungen an den Tod der Tante stammt, in dem Satze »Sie sind schon auf den Friedhof gefahren« gleichfalls eine Wortanspielung auf den Namen der Tante finden. In diesen unanständigen Worten wäre wohl der Hinweis auf eine zweite mündliche Quelle gelegen, da für sie das Wörterbuch nicht ausreicht. Ich wäre nicht erstaunt gewesen zu hören, daß Frau K. selbst, die Verleumderin, diese Quelle war. Dora hätte dann gerade sie edelmütig verschont, während sie die anderen Personen mit nahezu tückischer Rache verfolgte; hinter der schier unübersehbaren Reihe von Verschiebungen, die sich so ergeben, könnte man ein einfaches Moment, die tief wurzelnde homosexuelle Liebe zu Frau K., vermuten.

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171 Diese Arbeiten zur Aufklärung des zweiten Traumes hatten zwei Stunden in Anspruch genommen. Als ich nach Schluß der zweiten Sitzung meiner Befriedigung über das Erreichte Ausdruck gab, antwortete sie geringschätzig: Was ist denn da viel herausgekommen? und bereitete mich so auf das Herannahen weiterer Enthüllungen vor.

 

Zur dritten Sitzung trat sie mit den Worten an: »Wissen Sie, Herr Doktor, daß ich heute das letzte Mal hier bin?« – Ich kann es nicht wissen, da Sie mir nichts davon gesagt haben. – »Ja, ich habe mir vorgenommen, bis NeujahrEs war der 31. Dezember. halte ich es noch aus; länger will ich aber auf die Heilung nicht warten.« – Sie wissen, daß Sie die Freiheit auszutreten immer haben. Heute wollen wir aber noch arbeiten. Wann haben Sie den Entschluß gefaßt? – »Vor 14 Tagen, glaube ich.« – Das klingt ja wie von einem Dienstmädchen, einer Gouvernante, 14tägige Kündigung. – »Eine Gouvernante, die gekündigt hat, war auch damals bei K., als ich sie in L. am See besuchte.« – So? von der haben Sie noch nie erzählt. Bitte erzählen Sie.

»Es war also ein junges Mädchen im Hause als Gouvernante der Kinder, die ein ganz merkwürdiges Benehmen gegen den Herrn zeigte. Sie grüßte ihn nicht, gab ihm keine Antwort, reichte ihm nichts bei Tisch, wenn er um etwas bat, kurz, behandelte ihn wie Luft. Er war übrigens auch nicht viel höflicher gegen sie. Einen oder zwei Tage vor der Szene am See nahm mich das Mädchen auf die Seite; sie habe mir etwas mitzuteilen. Sie erzählte mir dann, Herr K. habe sich ihr zu einer Zeit, als 172 die Frau gerade für mehrere Wochen abwesend war, genähert, sie sehr umworben und sie gebeten, ihm gefällig zu sein; er habe nichts von seiner Frau usw.« – Das sind ja dieselben Worte, die er dann in der Werbung um Sie gebraucht, bei denen Sie ihm den Schlag ins Gesicht gegeben. – »Ja. Sie gab ihm nach, aber nach kurzer Zeit kümmerte er sich nicht mehr um sie, und sie haßte ihn seitdem.« – Und diese Gouvernante hatte gekündigt? – »Nein, sie wollte kündigen. Sie sagte mir, sie habe sofort, wie sie sich verlassen gefühlt, den Vorfall ihren Eltern mitgeteilt, die anständige Leute sind und irgendwo in Deutschland wohnen. Die Eltern verlangten, daß sie das Haus augenblicklich verlasse, und schrieben ihr dann, als sie es nicht tat, sie wollten nichts mehr von ihr wissen, sie dürfe nicht mehr nach Hause zurückkommen.« – Und warum ging sie nicht fort? – »Sie sagte, sie wolle noch eine kurze Zeit abwarten, ob sich nichts bei Herrn K. ändere. So zu leben, halte sie nicht aus. Wenn sie keine Änderung sehe, werde sie kündigen und fortgehen.« – Und was ist aus dem Mädchen geworden? – »Ich weiß nur, daß sie fortgegangen ist.« – Ein Kind hat sie von dem Abenteuer nicht davongetragen? – »Nein.«

Da war also – wie übrigens ganz regelrecht – inmitten der Analyse ein Stück tatsächlichen Materials zum Vorscheine gekommen, das früher aufgeworfene Probleme lösen half. Ich konnte Dora sagen: Jetzt kenne ich das Motiv jenes Schlages, mit dem Sie die Werbung beantwortet haben. Es war nicht Kränkung über die an Sie gestellte Zumutung, sondern eifersüchtige Rache. Als Ihnen das Fräulein seine Geschichte erzählte, machten Sie noch von Ihrer Kunst Gebrauch, alles beiseite zu schieben, was Ihren Gefühlen nicht paßte. In dem Moment, da Herr K. die Worte gebrauchte: Ich habe nichts an meiner Frau, die er auch zu dem Fräulein gesagt, wurden neue Regungen in Ihnen wachgerufen, und die Waagschale kippte um. Sie sagten sich: Er wagt es, mich zu behandeln wie eine Gouvernante, eine dienende Person? Diese Hochmutskränkung zur Eifersucht und zu den bewußten besonnenen Motiven hinzu: das war endlich zu vielEs war vielleicht nicht gleichgültig, daß sie dieselbe Klage über die Frau, deren Bedeutung sie wohl verstand, auch vom Vater gehört haben konnte, wie ich sie aus seinem Munde gehört habe.. Zum Beweise, wie sehr Sie unter dem Eindrucke der Geschichte des Fräuleins stehen, halte ich Ihnen die wiederholten Identifizierungen mit ihr im Traume und in Ihrem Benehmen vor. Sie sagen es den Eltern, was wir bisher nicht verstanden haben, wie das Fräulein es den Eltern geschrieben hat. Sie kündigen mir wie eine 173 Gouvernante mit 14tägiger Kündigung. Der Brief im Traume, der Ihnen erlaubt, nach Hause zu kommen, ist ein Gegenstück zum Briefe der Eltern des Fräuleins, die es ihr verboten hatten.

»Warum habe ich es dann den Eltern nicht gleich erzählt?«

Welche Zeit haben Sie denn verstreichen lassen?

»Am letzten Juni fiel die Szene vor; am 14. Juli habe ich's der Mutter erzählt.«

Also wieder 14 Tage, der für eine dienende Person charakteristische Termin! Ihre Frage kann ich jetzt beantworten. Sie haben ja das arme Mädchen sehr wohl verstanden. Sie wollte nicht gleich fortgehen, weil sie noch hoffte, weil sie erwartete, daß Herr K. seine Zärtlichkeit ihr wieder zuwenden würde. Das muß also auch Ihr Motiv gewesen sein. Sie warteten den Termin ab, um zu sehen, ob er seine Werbung erneuern würde, daraus hätten Sie geschlossen, daß es ihm Ernst war und daß er nicht mit Ihnen spielen wollte wie mit der Gouvernante.

»In den ersten Tagen nach der Abreise schickte er noch eine Ansichtskarte.«Dies die Anlehnung für den Ingenieur, der sich hinter dem Ich in der ersten Traumsituation verbirgt.

Ja, als aber dann nichts weiter kam, da ließen Sie Ihrer Rache freien Lauf. Ich kann mir sogar vorstellen, daß damals noch Raum für die Nebenabsicht war, ihn durch die Anklage zum Hinreisen nach Ihrem Aufenthalte zu bewegen.

»... Wie er's uns ja auch zuerst angetragen hat«, warf sie ein. – Dann wäre Ihre Sehnsucht nach ihm gestillt worden – hier nickte sie Bestätigung, was ich nicht erwartet hatte – und er hätte Ihnen die Genugtuung geben können, die Sie sich verlangten.

»Welche Genugtuung?«

Ich fange nämlich an zu ahnen, daß Sie die Angelegenheit mit Herrn K. viel ernster aufgefaßt haben, als Sie bisher verraten wollten. War zwischen den K. nicht oft von Scheidung die Rede?

»Gewiß, zuerst wollte sie nicht der Kinder wegen, und jetzt will sie, aber er will nicht mehr.«

Sollten Sie nicht gedacht haben, daß er sich von seiner Frau scheiden lassen will, um Sie zu heiraten? Und daß er jetzt nicht mehr will, weil er keinen Ersatz hat? Sie waren freilich vor zwei Jahren sehr jung, aber Sie haben mir selbst von der Mama erzählt, daß sie mit 17 Jahren verlobt war und dann zwei Jahre auf ihren Mann gewartet hat. Die Liebesgeschichte der Mutter wird gewöhnlich zum Vorbilde für die 174 Tochter. Sie wollten also auch auf ihn warten und nahmen an, daß er nur warte, bis Sie reif genug seien, seine Frau zu werdenDas Warten, bis man das Ziel erreicht, findet sich im Inhalte der ersten Traumsituation; in dieser Phantasie vom Warten auf die Braut sehe ich ein Stück der dritten, bereits angekündigten Komponente dieses Traumes.. Ich stelle mir vor, daß es ein ganz ernsthafter Lebensplan bei Ihnen war. Sie haben nicht einmal das Recht zu behaupten, daß eine solche Absicht bei Herrn K. ausgeschlossen war, und haben mir genug von ihm erzählt, was direkt auf eine solche Absicht deutetBesonders eine Rede, mit der er im letzten Jahre des Zusammenlebens in B. das Weihnachtsgeschenk einer Briefschachtel begleitet hatte.. Auch sein Benehmen in L. widerspricht dem nicht. Sie haben ihn ja nicht ausreden lassen und wissen nicht, was er Ihnen sagen wollte. Nebstbei wäre der Plan gar nicht so unmöglich auszuführen gewesen. Die Beziehungen des Papa zu Frau K., die Sie wahrscheinlich nur darum so lange unterstützt haben, boten Ihnen die Sicherheit, daß die Einwilligung der Frau zur Scheidung zu erreichen wäre, und beim Papa setzen Sie durch, was Sie wollen. Ja, wenn die Versuchung in L. einen anderen Ausgang genommen hätte, wäre dies für alle Teile die einzig mögliche Lösung gewesen. Ich meine auch, darum haben Sie den anderen Ausgang so bedauert und ihn in der Phantasie, die als Blinddarmentzündung auftrat, korrigiert. Es mußte also eine schwere Enttäuschung für Sie sein, als anstatt einer erneuten Werbung das Leugnen und die Schmähungen von Seiten des Herrn K. der Erfolg Ihrer Anklage wurden. Sie gestehen zu, daß nichts Sie so sehr in Wut bringen kann, als wenn man glaubt, Sie hätten sich die Szene am See eingebildet. Ich weiß nun, woran Sie nicht erinnert werden wollen, daß Sie sich eingebildet, die Werbung sei ernsthaft und Herr K. werde nicht ablassen, bis Sie ihn geheiratet.

 

Sie hatte zugehört, ohne wie sonst zu widersprechen. Sie schien ergriffen, nahm auf die liebenswürdigste Weise mit warmen Wünschen zum Jahreswechsel Abschied und – kam nicht wieder. Der Vater, der mich noch einige Male besuchte, versicherte, sie werde wiederkommen; man merke ihr die Sehnsucht nach der Fortsetzung der Behandlung an. Aber er war wohl nie ganz aufrichtig. Er hatte die Kur unterstützt, solange er sich Hoffnung machen konnte, ich würde Dora »ausreden«, daß zwischen ihm und Frau K. etwas anderes als Freundschaft bestehe. Sein Interesse erlosch, als er merkte, daß dieser Erfolg nicht in meiner Absicht liege. Ich wußte, daß sie nicht wiederkommen würde. Es war ein 175 unzweifelhafter Racheakt, daß sie in so unvermuteter Weise, als meine Erwartungen auf glückliche Beendigung der Kur den höchsten Stand einnahmen, abbrach und diese Hoffnungen vernichtete. Auch ihre Tendenz zur Selbstschädigung fand ihre Rechnung bei diesem Vorgehen. Wer wie ich die bösesten Dämonen, die unvollkommen gebändigt in einer menschlichen Brust wohnen, aufweckt, um sie zu bekämpfen, muß darauf gefaßt sein, daß er in diesem Ringen selbst nicht unbeschädigt bleibe. Ob ich das Mädchen bei der Behandlung erhalten hätte, wenn ich mich selbst in eine Rolle gefunden, den Wert ihres Verbleibens für mich übertrieben und ihr ein warmes Interesse bezeigt hätte, das bei aller Milderung durch meine Stellung als Arzt doch wie ein Ersatz für die von ihr ersehnte Zärtlichkeit ausgefallen wäre? Ich weiß es nicht. Da ein Teil der Faktoren, die sich als Widerstand entgegenstellen, in jedem Falle unbekannt bleibt, habe ich es immer vermieden, Rollen zu spielen, und mich mit anspruchsloserer psychologischer Kunst begnügt. Bei allem theoretischen Interesse und allem ärztlichen Bestreben zu helfen, halte ich mir doch vor, daß der psychischen Beeinflussung notwendig Grenzen gesetzt sind, und respektiere als solche auch den Willen und die Einsicht des Patienten.

Ich weiß auch nicht, ob Herr K. mehr erreicht hätte, wäre ihm verraten worden, daß jener Schlag ins Gesicht keineswegs ein endgültiges »Nein« Doras bedeutete, sondern der zuletzt geweckten Eifersucht entsprach, während noch die stärksten Regungen ihres Seelenlebens für ihn Partei nahmen. Würde er dieses erste »Nein« überhört und seine Werbung mit überzeugender Leidenschaft fortgesetzt haben, so hätte der Erfolg leicht sein können, daß die Neigung des Mädchens sich über alle inneren Schwierigkeiten hinweggesetzt hätte. Aber ich meine, vielleicht ebenso leicht wäre sie nur gereizt worden, ihre Rachsucht um so ausgiebiger an ihm zu befriedigen. Auf welche Seite sich in dem Widerstreite der Motive die Entscheidung neigt, ob zur Aufhebung oder zur Verstärkung der Verdrängung, das ist niemals zu berechnen. Die Unfähigkeit zur Erfüllung der realen Liebesforderung ist einer der wesentlichsten Charakterzüge der Neurose; die Kranken sind vom Gegensatze zwischen der Realität und der Phantasie beherrscht. Was sie in ihren Phantasien am intensivsten ersehnen, davor fliehen sie doch, wenn es ihnen in Wirklichkeit entgegentritt, und den Phantasien überlassen sie sich am liebsten, wo sie eine Realisierung nicht mehr zu befürchten brauchen. Die Schranke, welche die Verdrängung aufgerichtet hat, kann allerdings unter dem Anstürme heftiger, real veranlaßter Erregungen 176 fallen, die Neurose kann noch durch die Wirklichkeit überwunden werden. Wir können aber nicht allgemein berechnen, bei wem und wodurch diese Heilung möglich wäreNoch einige Bemerkungen über den Aufbau dieses Traumes, der sich nicht so gründlich verstehen läßt, daß man seine Synthese versuchen könnte. Als ein fassadenartig vorgeschobenes Stück läßt sich die Rachephantasie gegen den Vater herausheben: Sie ist eigenmächtig von Hause weggegangen; der Vater ist erkrankt, dann gestorben ... Sie geht jetzt nach Hause, die anderen sind schon alle auf dem Friedhofe. Sie geht gar nicht traurig auf ihr Zimmer und liest ruhig im Lexikon. Darunter zwei Anspielungen auf den anderen Racheakt, den sie wirklich ausgeführt, indem sie die Eltern einen Abschiedsbrief finden ließ: Der Brief (im Traume von der Mama) und die Erwähnung des Leichenbegängnisses der für sie vorbildlichen Tante. – Hinter dieser Phantasie verbergen sich die Rachegedanken gegen Herrn K., denen sie in ihrem Benehmen gegen mich einen Ausweg geschafft hat. Das Dienstmädchen – die Einladung – der Wald – die 2½ Stunden stammen aus dem Material der Vorgänge in L. Die Erinnerung an die Gouvernante und deren Briefverkehr mit ihren Eltern tritt mit dem Element ihres Abschiedsbriefes zu dem im Trauminhalte vorfindlichen Brief, der ihr nach Hause zu kommen erlaubt, zusammen. Die Ablehnung, sich begleiten zu lassen, der Entschluß, allein zu gehen, läßt sich wohl so übersetzen: Weil du mich wie ein Dienstmädchen behandelt hast, lasse ich dich stehen, gehe allein meiner Wege und heirate nicht. – Durch diese Rachegedanken verdeckt, schimmert an anderen Stellen Material aus zärtlichen Phantasien aus der unbewußt fortgesetzten Liebe zu Herrn K. durch: Ich hätte auf dich gewartet, bis ich deine Frau geworden wäre – die Defloration – die Entbindung. – Endlich gehört es dem vierten, am tiefsten verborgenen Gedankenkreise, dem der Liebe zu Frau K. an, daß die Deflorationsphantasie vom Standpunkte des Mannes dargestellt wird (Identifizierung mit dem Verehrer, der jetzt in der Fremde weilt) und daß an zwei Stellen die deutlichsten Anspielungen auf zweideutige Reden (wohnt hier der Herr ***) und auf die nicht mündliche Quelle ihrer sexuellen Kenntnisse (Lexikon) enthalten sind. Grausame und sadistische Regungen finden in diesem Traume ihre Erfüllung..


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