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Der Sitter

»Isch es net do?«

»Nei!«

»No net?«

»Nei!«

»Ja, aber, Herr Poschtmeischter, wie denn?«

»Ja, aber, Herr Amtsschreiber, i weiß es ja auch net.«

»Begreifet Sie's, Herr Poschtmeischter?«

»Nei, i begreif s net.« – –

»Also – net mehr für heut?«

»Freilich, – ischt mer leid, Herr Amtsschreiber,«

»Ja, dann – lebet Sie wohl, no gang i.«

»Lebet Sie wohl, Herr Amtsschreiber.«

Aber nach einigen zögernden, langen Schritten kehrte der Frager noch einmal um.

»Meinet Sie net, mer sollt telegraphire?« sagte er mit tiefen ängstlichen Falten auf der von schwarzgrauem Haar umbuschten Stirn; er hatte den grünlich-schwärzlichen Schlapphut abgenommen; der Schweiß stand ihm auf dem dunkeln borstigen Gesicht, rathlos zuckte er an seiner Brille. »Telegraphire? jo, jo, wie Sie meinet, Herr Amtsschreiber, Hingegene wohin?«

Die Abendsonne schien noch heiß auf die zwei Männer, die im Posthof neben Fässern und Kisten auf den strohbestreuten Steinen standen: der Amtsschreiber in mühsam unterdrückter Aufregung, der Postmeister wie auf dem Sprung; denn er hielt einen schweren grauen Briefbeutel in den Händen.

»Wohin? nach Rottenburg eppte,« sagte der Schreiber, der Sonne ausweichend, die auf seinen gebeugten abgeschabten Rücken brannte.

»Wenn's in Rottenburg wär', no wär's mitkomme, i mein', Sie gedulde sich halt bis morge früh auf de erschte Zug.« Er grüßte und bewegte sich gegen das Haus, den Briefbeutel wägend. »Jo; – dann – also! lebet Sie Wohl, Herr Poschtmeischter.«

»Lebet Sie wohl; e guets Nächtle, Herr Amtsschreiber.«

Aber die Unruhe war zu groß; – als der Amtsschreiber das Wirthshaus zum »Weißen Wind« passirt hatte, wo der hohe blühende Oleander vor der Thür stand, kehrte er noch einmal um; der Postmeister war aber schon drinnen, am Sortiren der Sendung, sein Kopf bewegte sich in schnellen Rucken nach rechts und links, und laut, aber gemessen schallte seine Stimme durch das offne Fenster.

»Herr Poschtmeischter!« rief der Amtsschreiber vor dem Fenster, »hänt Sie noch e Minütle Zeit?«

»Ach so, der Herr Amtsschreiber! Womit kann ich noch dienen?« Eine etwas unzufriedene Miene erschien im Fensterrahmen,

»Meinet Sie net, mer sollt bis nach Hamburg telegraphire?«

»Nach Hamburg!« wiederholte der Beamte und riß die Augen auf, als hatte man gesagt, nach Australien; »erlaubet Sie, Herr Amtsschreiber, zu was?«

»No, weil's net kommen ischt!«

»Hingegene, e Telegramm bis Hamburg ischt köschtlich, wisset Sie.«

»Jo – no – dann –«

»I mein' immer, Sie geduldet sich halt bis morge früh.«

»Auf de erschte Zug, so – no! Um die siebene, achte, gelte Sie.«

»Sieben Uhr fünfunddreißig, präzis, Herr Amtsschreiber.«

Der Amtsschreiber lächelte säuerlich, widerwillig.

»Jo, jo, e Poschtgaul ischt kei Eisebahn! Ha, no, – adie!«

»Adie.« Der Kopf des Postmeisters verschwand; mit auf dem Rücken gefalteten Händen schlenderte der Amtsschreiber mißmuthig die Straße hinunter, guckte gedankenlos die rothe Oleanderkrone vor dem »Weißen Wind« an, um die ein paar Schmetterlinge spielten und beobachtete die alte Rosine, die einäugige Magd, die eben ein großes Schaff voll schaumigen Seifenwassers herausschleppte und es dann platschend in den Oleanderkübel leerte.

»Obacht!« machte der Amtsschreiber, die aufspritzende nasse Erde erreichte ihn fast.

»Ui weger!« schrie die Rosine, »isch mer arg leid, Herr Amtsschreiber! ganget Se e bißle schpaziere?« Eine Welt von Neugier spiegelte sich in ihrem einzigen Auge.

Mit einem halblauten Gegrunze schritt der Begrüßte weiter, er war nicht in der Laune, der Schwätzerin Rede zu stehen.

Da war das Haus vom Schultheiß Enderle, breit und stattlich, mit den zwei Brunnen, der prachtvollen Dunglegete vor den Fenstern der Wohnstube, ausgemauert und sicher wie eine Burg, und mit den drei Perlhühnern unter dem gewöhnlichen Geflügelvolk.

Lisele stand am unteren Brunnen, das Kleid aufgestreift und tauchte mit einer Erquickung, die deutlich auf ihren runden rothen Backen zu lesen stand, die bloßen Arme bis zum Ellbogen in den Brunnentrog, indes die großen hellgrünen Salathäupter ruhig auf dem spiegelnden Wasser schwammen,

»Grüeß Gott, Herr Amtsschreiber!« rief sie mit heller Stimme.

Aber das hübsche Mädchen erreichte fast weniger noch als die alte Rosine, kaum ein Gemurmel kam zurück. Mit hängendem Nacken stapfte der Amtsschreiber vorwärts, – fast hätte ihm die mausfarbene Kuh, die ihm, gleichfalls mit gesenktem Genick, entgegenkam, angerannt, hatte nicht der Führer des Futterwagens ihm zugerufen. Murrend ging der Amtsschreiber auf die Seite: »Ischt eppe die Schtraß' net breit g'nueg?«

Ja, da war er doch nun endlich über die Häuser hinaus, wo ihn Alles anrief und grüßte, Grade in die Sonne hinein ging er, – sie spiegelte sich blendend in seinen Brillengläsern, aber das war ihm gleich, er blickte doch nicht um sich. Die tiefe Enttäuschung erpreßte ihm einen Seufzer nach dem andern. Hatte er nicht seit zwei Wochen die Tage gezählt und war allmorgenlich mit dem Gedanken erwacht: wieder ein Tag näher! Seit zwei Wochen! Aber wenn er bedachte, was diesen zwei Wochen vorangegangen war! Er blieb stehen und sah sich zerstreut um. Auf einem schmalen Wege stand er, zwischen zwei blühenden Mohnfeldern. Unabsehbar bewegten sich schaukelnd im Abendwinde die großen Weißen, rosa und violetten Glocken auf den hohen Stielen, und ein seltsamer betäubender Duft schwebte darüber.

»Zwei Jahre, gradaus,« sagte er nickend, »die Oelmagen hänt blühet, wie ich's beschlossen hab, de Tabak zu verschpare.«

Und langsam stieg wie aus dem schläfrigen Duft der damalige Tag vor ihm auf:

Arg unbehaglich ist's ihm und so fremd und unheimlich in der Welt. Er sagt es oft ganz laut vor sich hin: »mir ist's schon lang unheimlich in der Welt!« Solch eine Versetzung aus einem guten herrlichen Städtchen, wo man geboren ist, hinaus aufs Dorf unter die Bauern – das ist »halt e schwierige Lag',« und wenn man's noch einmal durchmachen sollt, man sagte nein, einfach nein. »Descht vom Geiz, von dere schmierige Habsucht!« denkt er voll Selbstverachtung, »hundert Mark mehr im Jahre, descht die heillose Verlockung gwe.« Ja, aber was soll Einer machen, wenn er noch Schulden hat von der Universitätzeit her und keine Aussicht, sie je zu bezahlen?

So ist er halt vor vier Jahren aufs Dorf gangen, unter das Vieh, sagt er hohnlachend, als Gemeindeschreiber, und wirklich – er hat seine Schulden abgetragen. Aber hier draußen, wo Alles so freudig wächst und gedeiht, in diesem gesegneten Boden – er ist nicht angewachsen, er hat fort und fort das Heimweh gehabt. Ja, wer's nicht kennt, das liebe Urach, der begreift's vielleicht nicht, aber wer's kennt? wer dort geboren ist? Die heimelichen Gassen, die schönen alten Brunnen, die kunstreichen Gitter, die geschmückten Giebel, – und die Berge ringsum, auch wie von Künstlerhand entworfen und bekleidet mit dichtem Hochwald, mit quellenreichen Wiesen, mit felsigem Gestein von bunten Farben; – und die guten Freunde – nicht vom Sprechen kennt er sie, aber ihre Gesichter sind ihm vertraut seit Kindertagen, – das trauliche Herrenstüble und die zwei drei alten Bekannten und ewigen Widersacher – und der Heimathduft, der goldige Heimathduft über dem allen.

Hier, zwischen den Mohnfeldern, wo das schwäbische Salatöl wächst, ging er vor zwei Jahren und dachte an Urach. Zurück kann er jetzt nicht, seine kleine Stelle ist besetzt; von den drei Freunden ist nur noch einer dort, dazu verheirathet mit einem fremden Frauenzimmer! »So eppes Wildes wär' ihm net beigefallen, wann i dabliebe wär.« Und schließlich – ist's nicht begreiflich? »Wemmer kei Anschprach, kei Unterhaltung, kei Gesellschaft hat, no verfällt mer auf so dommes Züegs!«

Er lächelt, wie er vorwärts stapft.

Ja, das war der Gedankengang von vor zwei Jahren. In dieser grünen Frische, in dieser schläfrigen Dorfluft conserviren sich die Gedanken wie die Schinken im Rauch. Er hat dann »an die Kindheit gesonnen,« an die frühe, von der man nur so wie durch die plötzlich reißenden Spalten in einer dichten Nebelwand gelegentlich ein buntes, helles Stück wieder erblicken kann.

Ja, da geht er an der Mutter Hand über den tiefen engen, von spitzen Giebeln eingefaßten Uracher Marktplatz. Aber in dem Licht von damals ist der Platz unendlich weit, und er wimmelt von zahllosen Menschen, Es ist Kilbe, Kirchweih. und er hat einen Batzen in der Hand, mit der er seiner Mutter Hand fest hält, zwischen den beiden heißen Handflächen klebt das viele, viele Geld. Ueberall auf dem Boden liegen die grüngelben Hopfenbibbele, Zapfen. auch große grüne Blätter, die man zertritt, wenn man geht. Es riecht so sonderbar, ein schwerer würziger Duft füllt das ganze Städtchen. Vor den Häusern sitzen alte Frauen, lange grüne Ketten zwischen sich und zupfen die Bibbelen herunter. Sie liegen hochaufgeschichtet auf Tüchern und in offenen Körben und duften und dörren in der Sonne. Aber die Kinder sind so ausgelassen! Da grade über den Platz kommt ein kleines Mädchen mit einem dichten grünen Hopfenkranz auf den langen weißlichblonden Locken. Purpurroth glühen die Backen, und stolz und fröhlich blickt es allen Leuten grade ins Gesicht. Mit einem Freudenschrei ist er auf das Mägdlein zugelaufen und hat's bei der Hand gefaßt. Aber das schöne kleine Ding: »Schieb! Mach' fort! Du wüeschter Bub!« ruft's schrill und patzig. Schnell hat er das Händchen fahren lassen und den Kopf in der Mutter Schurz versteckt vor übergroßer Schande. Jemand hat laut gelacht – er hat den Kopf fast nicht wieder in die Höhe bringen wollen, hat nichts weiter sehen wollen – nur heim! heim!

Bitter und ironisch lächelt der Amtsschreiber, ihm ist, als fühle er noch heut' nach so viel Jahren den Nadelstich in jenem Kinderwort. Aber dann ist sa die Mutter dagewesen, »Nein aber! nein aber!« hat sie auf einmal gerufen, »jetzet, Bertheli, schämst di net? do guck' auch den an! do guck', was der kann!« Und zugleich hat er so etwas Sonderbares gehört, halb ein Lachen, halb ein Krähen – es hat ihm die Augen aufgerissen und da – ist er hingestanden, stumm vor Staunen und Freude. Was war's denn? Nun ein Vogel! ein Vogel muß es ja sein, denn zwei Beine sind da und Federn, aber Federn so blau wie der Himmel, und gelb ist es auch und hat eine allmächtig lange schwarze Nase, und es nickt damit und dreht sich und verbeugt sich, und plötzlich klappt's die große Nase auf und schnarrt ihn an: »Hut ab!« Hui! hat er seine Kappen heruntergerissen und haben die Leut' rundum gelacht! Der blaue Hahn aber hat auch gelacht und getanzt wie närrisch und sich verbeugt bis auf die Füße und hat die langen Flügel ausgebreitet, als wollt' er wegfliegen, aber er hat sich nur vor Gelächter geschüttelt und dazu geschrieen: »Eins! zwei, drei, Hurrah!«

Die Mutter war zuletzt ärgerlich geworden, denn von dem Vogel hatte er nicht weggehen mögen. Hat ihn auch für seinen Silberbatzen kaufen wollen, aber man hat ihn nur ausgelacht. Und Tage lang ist er nicht herausgekommen aus der ungeheuren Verwunderung, daß es also doch sei, wie in den Märchen, daß die Thiere also doch reden können! Und wie gern hatte er gewußt, wo das Märchenland sei, drin die sprechenden Thiere wohnen; oder ob vielleicht alle Thiere an bestimmten Tagen eine Sprache bekämen? – –

Der Amtsschreiber blieb plötzlich stehen und sah sich um: er hatte sich doch deutlich und dringend rufen gehört? Richtig, da kam es ja auf dem schmalen Feldweg vom Dorf herangesprungen, ein rothes Wämsle und ein paar nackte braune Füße, die leicht über den weißen aufstiebenden Staub huschten, und eine durchdringende Knabenstimme, die in Zwischenräumen schrie:

»Hollaheh! hollaheh! G'moindschreiber!« »Was wottscht?« Willst Du? trompetete er zurück durch die vorgehaltenen Hände.

»Kömmet! kommet! 's ischt eppe ko'! Gekommen. 's ischt eppes ko' für Sie mit der Poscht!« Der Amtsschreiber war plötzlich hell wach. Eilig setzte er seine langen Beine in Bewegung, und da der Bub gleichfalls lief, so kamen sie bald zusammen, aber auch dann hielt der Amtsschreiber keine Minute still.

»Wer hat Di g'schickt?« fragte er athemlos, das Gesicht brennend vor unruhiger Erwartung, »Mei Vatter!« der Bub sprang jetzt lustig neben ihm her, »der Poschtmeischter hat en g'fraget, ob er net sage könnt, wo der G'moindschreiber hingange sei, es sei eppes ko', im–e Extriwage: no seggt d' Schweschter, er ischt donumzue! dortherum.« Der Bub machte eine weite Handbewegung über die Mohnfelder, deren große Blüthen sich zu schließen und aufzurichten begannen, indes ein weißlicher Duft sich in den hellblauen Himmel erhob. Die Sonne sank hinter ihnen; im Dörfchen, auf das sie zueilten, brannten alle Fenster, und der kleine Wiesenbach plauderte lauter; – ein dichter Staarenschwarm flog plappernd und pfeifend über die Felder dem Nachtquartier im Walde zu, der wie eine dunkelblaue wellige Linie ganz fern und undeutlich verdämmerte.

Am Armenhaus saß und stand alles vor der Thür, und auf verkümmerten alten und kränklichen Kindergesichtern glänzte die Abendsonne im Verein mit lebhafter Neugier:

»Ihr hänt eppes! 's ischt en Extriwage ko' von Rottenburg! Der Poschtmeischter hat nach Ihne froge la'!« schrie es durcheinander, während sie vorbeiliefen. Aber der Amtsschreiber gab keine Antwort, und das Schultheißbüble machte ihnen eine lange Nase und scheuchte neidisch ein Paar der Kinder zurück, die ihnen folgen wollten.

Lisele kam, ein Büschel gelber Rüben in der Hand, vom Brunnen herab mitten in den Weg: »Herr Amtsschreiber, wisset Ihr's scho? 's ischt e Hahn komme ineme Extriwage' für Sie–e, von Rottenburg! Der Poschtmeischter hat's g'seggt. En schöne Hahn seggt er!«

Freude und Verdruß stritten auf dem Gesicht des Amtsschreibers, das von Schweiß troff.

»En Hahn! das wär' mir e theurer Hahn!« sagte er, hastig grüßend, »guete Nacht, Jungfer Lisele, i bin arg pressirt, wie Sie sehet.« Aber nun stand da breitbeinig der Wirth zum »Weißen Wind« und rief ihn von Weitem an:

»Herr Amtsrichter, wisset Sie's schon? Er ischt do'! er ischt do! kommet Sie g'schwind, er laßt sich bereits höre!« Er strich sich über den weißen Metzgerschurz, der ein wohlgerundetes Bäuchlein bedeckte, hielt die dickfingerige Hand an das Ohr und horchte mit lachendem Gesicht.

»Hätt' i 's g'wußt! hätt' i 's g'wußt!« kopfschüttelte der Amtsschreiber, beide Hände zum Himmel hebend, »i bin ja schier verzwazelet verzweifelt. vor Ungeduld und derweil« – –

Er lief in den Posthof, wohin ihm Alles folgte, was Beine hatte; der Extrawagen, ein niederes Wägelchen mit einer ziemlich großen rohen Holzkiste darauf – war bereits abgeschirrt, aber so von neugierigen Gesichtern umdrängt, daß der Amtsschreiber sich mit den Ellbogen Zugang verschaffen mußte. Eh' er noch ganz an die Kiste gelangt war, ertönte ein sonderbares Glucksen, Krächzen, und dann eine Art Wort, das plötzlich ein donnerndes Gelächter erweckte; die Nächststehenden fuhren mit den Köpfen zurück von der Kiste, der Postmeister, äußerst erregt, winkte aus Leibeskräften: »Kömmet! kömmet! auf d' Seite, ihr Bube, – do ischt er jo, Herr Amtsschreiber! da hönt mer en so!« Und die Brille auf die Stirn hinaufschiebend, las er von einer Begleitadresse mit lauter Stimme: »Herrn Amtsschreiber Berthold Schwemmerle«, »Schtimmt!« schrie der Amtsschreiber mit voller Lungenkraft; das Gitter der Kiste war ihm immer noch verdeckt, er mühte sich vergebens, es zu finden.

»Per Nachnahme: zweihundertundzwanzig Mark, unter Garantie lebender Ankunft« – – las der Postmeister unter dem Wundern und Staunen der Zuhörer, die laut die Summe wiederholten, »Schtimmt! Richtig!« wiederholte auch Schwemmerle, und dann, mit einem unerwarteten Satz, wobei die Hauptbedränger mit Sand und Staub überschüttet wurden, schwang er sich auf den Wagen neben die Kiste und blickte hinein. Abermals tolles Gelächter. Der Amtsschreiber auf den Zehen, der die Kiste mit unendlicher Behutsamkeit packte und langsam auf die andere Seite wendete, lachte nicht: »Jo, sehet denn Ihr net, daß 's Gitterle oben gwe ischt? So kann er jo net sitze!« schalt er, ängstlich durch die Stäbe äugelnd. »Herr Gmeindschreiber, i wott auch sehe!« schrien die Kinder und kletterten auf den Wagen. »Aber g'schehe ischt em net, oder?« fragte der Postmeister voll Theilnahme.

»Mer wollet 's net hoffe! Ha, do ischt e Thürli.« Aber ehe er das Gitterthürchen aufthat, scheuchte er die Kinder aus der Nähe, und der Wirth und der Postmeister halfen, um sich selber so nah wie möglich heranzuschieben.

Dann öffnete Schwemmerle mit feierlichem Lächeln die Thür der Kiste, die eigentlich ein Käfig war, und hielt prüfend die linke Hand hinein. Es war ein Augenblick athemloser Spannung. Drinnen klirrte ein Kettchen, eine tiefe Baßstimme sagte: »Na? na?« und langsam streckte sich eine schwarze Kralle heraus, umklammerte Herrn Schwemmerles Finger, ein Ruck – ein großer schwarzer Schnabel guckte aus der Kiste, es rauschte, es flatterte und – aah! aah!« ging es durch den Kinderschwarm auf dem Posthof – auf des strahlenden Amtsschreibers Hand saß ein wundervoller großer blauer Vogel mit langem Schweif und goldgelbem Bauch, der langsam den Kopf nach rechts und links drehte, als sei ihm der Hals eingerostet und müsse nun behutsam wieder in Gang gebracht werden. Aber auf einmal schüttelte er zwei mächtige Flügel, wobei die Kette, die von seinem linken Fuß zurück in den Käfig ging, leise klirrte, dehnte sich wohlig in der Freiheit, warf den Kopf in den Nacken und rief: »Ein zwei zwei zwei hurrah!«

Schwemmerle lächelte, froh und stolz wie ein König' der Jubel der Kinder, das Lachen und Wundern der Erwachsenen war ihm wohlthuend und schmeichelhaft, heut war er der erste Mann im Dorfe. Aber unendlich mehr als der allgemeine Beifall beglückte ihn die endliche Erfüllung seines Wunsches. Da saß er nun auf seiner Hand, der Märchenvogel der Kindheit, um den er zwei Jahre lang jetzt sich Tabak und Zucker versagt hatte, nicht gerechnet die manchen einsamen Abende, da er für sich allein gewesen, um den Wirthschaftsbesuch zu sparen; da saß er, für den er Nickel um Nickel zusammengelegt und zwanzig Erkundigungsbriefe nach allen größeren Städten geschrieben hatte! Er hielt ihn auf seiner Hand, freiwillig und zahm war das prächtige Thier im ersten Augenblick ihrer langersehnten Bekanntschaft – langersehnt wenigstens seinerseits – auf seine Finger geklettert, hatte ihn furchtlos und helläugig angeblickt und mit »hurrah!« begrüßt! Augenblicklich war in dem einsamen zurückgezogenen Junggesellen ein warmes Gefühl erwacht, zugleich mit der Berührung dieser warmen großen Kralle, die sich voll Vertrauen auf seine Finger gelegt. Eine ungewohnte Zärtlichkeit, eine dankbare Liebe für soviel Entgegenkommen erfüllte sein Herz und preßte ihm fast eine Thräne ins Auge.

Sagte doch Brehm, sagten doch Ruß und die andern Papageiengelehrten, daß man beim Empfang eines neuen Vogels fast immer enttäuscht werde, weil man zuviel erwarte! Er war auf Wildheit und Flügelschlägen, auf Schnabelhiebe und Ungebärdigkeit für die ersten Tage gefaßt gewesen, und nun saß da ein sanfter blauer Seraph, der sogleich mit ihm Freundschaft geschlossen. Etwas von dem Taumel der »Liebe auf den ersten Blick« war in Schwemmerle, – ohne die Leute, die da herumstanden, hätte er den schönen Vogel küssen mögen. Mit einem um Verzeihung bittenden Seufzer entschloß er sich endlich, ihn zu einem Rückzug in den Käfig einzuladen. Aber der Papagei bog immer wieder den Kopf heraus, und erst nach längerem Widerstreben bequemte er sich von der warmen Hand zurück auf die kalte Stange. – –

»Wie sagt man ihm?« fragten die Kinder, die Herrn Schwemmerle heimbegleiteten, als er, feine Kiste mit beiden Händen tragend – den Beistand des Briefträgers hatte er energisch ausgeschlagen – mit der Miene eines wahrhaft glücklichen Mannes nach Hause eilte.

»Man sagt ihm Arara«, der Name klang ihm seit heute wie der eines lieben Kindes, »Ra–ra –ra!« jubelten die Kinder, »aber was muß er ha'?« haben, d.h. zu essen bekommen. Und da Schwemmerle hierauf nicht antwortete, so wiederholten sie die Frage, bis endlich eine Art Gesang daraus wurde, eine Marschmelodie, mit der sie hinter ihm her trottelten, die Kleinen angefaßt zu Zweien, die Buben mit den Händen in den Hosentaschen:

»Ra–ra–ra!
Was muß er ha'?«

Und immer von vorn, bis der Amtsschreiber endlich vor seinem Hause stand, das heißt, vor dem Hause, wo er eine Stube bewohnte. Er verjagte die Kinder, als sie Miene machten, hinter ihm die Treppe hinaufzusteigen, die wacklig und geländerlos aus dem Gaisenstall, der sammt dem Heuschopf den Unterstock des Häuschens einnahm, auf den oberen Boden führte. Dort wohnte er fast allein, denn die Wirthin, die sich ein Kammerchen und eine Küche nur behalten, betrieb einen Hausirhandel mit im Dorf gewobenem Leinen und war selten daheim: seinen einsiedlerischen Gewohnheiten hatte dies stille Logis, in dem es Sommer und Winter nach Heu roch und höchstens das Meckern der Gaisen seine Ruhe zuweilen störte, vor allen andern im Dorf gefallen.

Auf dem Wege hatte der Papagei keinen Ton von sich gegeben, und der Lärm der Kinder, die zudringliche Neugier der Erwachsenen, zusammen mit dem Gewicht der Kiste hatten dem Amtsschreiber den Angstschweiß auf die Stirn getrieben. Mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung setzte er die Kiste auf den großen runden Tisch vor dem Sopha, zog sich einen Stuhl heran und wollte das Gitter aufthun, als ein Geräusch auf der Stiege wie von schleichenden Kinderschritten ihn erschreckte. Eilig sprang er an die Thür, um den Riegel vorzustoßen, – nicht zu früh, denn: ›Ra –ra–ra! Was muß er ha‹? brüllte es plötzlich mit verdoppelter Stärke auf dem Treppenabsatz. Es war, um den Kopf zu verlieren. Die kleinen Plagegeister drängten sich draußen gegen die Thür, klapperten mit dem Messinggriff, der ohnehin lahm war, drehten den Schlüssel heraus, der noch stak und versuchten durch das Schlüsselloch zu gucken und zu singen.

»Heiligs fiedigs Donnerwetter!« Schwemmerle öffnete die Thür und fuchtelte mit dem dicken grünen Regenschirm, der ihm gerade in die Hand gefallen war, um die Köpfe der kreischenden Mädchen, die Buben hatten sich sofort geflüchtet. Ein Glück, daß ein Jaköble nach dem andern zum Nachtessen gerufen ward, und daß der hungrige Magen die übrigen heimspringen ließ, – so bekam denn Schwemmerle endlich Ruhe. Eine Ruhe freilich, die noch mit viel Sorge und Aufregung gemischt war!

»Was muß er ha'?« Natürlich, er war auf Alles vorbereitet, er hatte die nothwendige, die zweckmäßigste Ernährung der Papageien ja schon monatelang aus Büchern studirt; und die Post hatte ihm schon gestern ein Säckchen Mais und ein andres voll Hanf für den erwarteten ersehnten Gast und Kostgänger gebracht. Aber der Mais wurde von einigen dieser gefiederten Herren lieber in heißem Wasser gequellt, von andern gar gekocht gegessen, während er allerdings trocken am zuträglichsten sein sollte – da galt es nun also des Araras Geschmack zu studiren. Und dann – die Wasserfrage! die Trinkfrage überhaupt! War er schon in reiferen Jahren, und besonders, war er schon in Europa akklimatisirt, so durfte er seinen Durst mit Kaffee, Thee, ja auch mit abgekochtem Wasser stillen, – war er dagegen noch sehr jung und ziemlich frisch importirt, so war ihm Wasser gefährlich und nur geweichtes Weißbrot erlaubt!

Schwemmerle betrachtete fragend und sorgenvoll den großen prächtigen Ankömmling, der jetzt, nachdem das Gitter geöffnet worden, gewandt, aber äußerst bedächtig oben auf die Kiste geklettert war und die Schultern heraufzog, wie ein Mensch, der auch nicht weiß, was er sagen soll, und den es obendrein etwas fröstelt. Jetzt, in der halben Dämmerung, war der Glanz der Farben erloschen, nur der Kopf mit den weißröthlichen gepuderten Wangen, aus dem die schwarzen, dunkelgeränderten Augen melancholisch ruhig hervorblickten, war deutlich vom Fenster her beleuchtet.

Schwemmerle streichelte ihm mit dem Zeigefinger den warmen Nacken. Der Vogel ließ es geschehen, seine Federn knisterten leise; er beugte ein wenig den Hals und murmelte in schwermüthigem Baß: »Arara, Ararauna,«

»Was muscht ha'? Willscht Hanf, Arara?« machte Schwemmerle liebkosend, als könne der Vogel die richtige Antwort wissen.

»Ararauna! dacca un pé, Ararauna,« murmelte der Papagei noch liebkosender. Der Amtsschreiber horchte: »Sag's noch emal, Arara, sag's!« Er wurde unruhig.

» Dacca un bejo' –,« machte der Vogel noch leiser und steckte ihm den Kopf in die Hand. Schwemmerles Herz klopfte zwischen Freude und Verwunderung, solch eine Zahmheit hätte er nie zu hoffen gewagt. Er hielt die Hand ganz still und fühlte den warmen Athem des zutraulichen Thieres, das fast ohne den Schnabel zu öffnen, vor sich hin plauderte.

» Dacca un pé', – como canta il – como cante. –«

»Jessas,« sagte der Amtsschreiber, »jetz han i's, der redet Welsch! jetz han i 'n Papagei, wo i net verschtah!« Er wußte nicht, sollte er sich darüber ärgern oder freuen. Nein, ärgern, das war unmöglich, es war ja aller Anerkennung werth, daß Arara so gelehrt war. Sechzig Wörter könne er, so hatte es in dem letzten Briefe geheißen, – nun, unter sechzig mochten immerhin einige fremde sein, das bewies ja nur um so schlagender, was für ein talentvoller Vogel und wie gelenkig seine Zunge war! Etwas von der alten Kinderstimmung kam über ihn, wie er da in der Dämmerung das sonderbare Thier mit der Menschenstimme und der sanften Betonung in der fremden Sprache mit sich selber plaudern hörte. War es nicht doch ein Wunder? Und in der Einsamkeit des stillen Zimmers stiegen Bilder vor seinen Augen auf, nie gesehene: farbige südliche Bäume mit ungeheuren Blüthen, schaukelnde Cocospalmen und braune fratzenschneidende Affen, die von Krone zu Krone springen, Löwen mit stolzer Haltung, die wie Fürsten die großen Locken schütteln oder gnädig nicken, Indier, die ungeheure Zauberkünste treiben, eine schöne perlengeschmückte dunkle Frau in weißer Schleierseide, die den Arara, seinen Arara auf ihrer goldenen Armspange sitzen läßt und mit ihm wie mit einem Menschen plaudert. Das kleine enge Dorf mit der hübschen eintönigen Umgebung von Feldern und Wald, in dem er nun vier Jahre lang ausgehalten, das geliebte Urach selber, ja die ganze deutsche Heimath, von der er nur ein winziges Stückchen kannte, – wie klein war das Alles gegen die große bunte Erde, und wieviel Merkwürdiges und Schönes gab es eigentlich doch, von dem man fast niemals hörte. Es war sonderbar, aber dachte wohl er, Schwemmerle, jemals früher daran, daß setzt, in diesem Augenblick, im amerikanischen Urwald Indianer vielleicht einen Kriegstanz ausführen, wirkliche lebendige Indianer mit Federkrone und tätowirt wie bunte Shawls?

Oder daß gerade setzt eine Karawane durch die Wüste zieht da unten in Afrika, wo der gelbe Sand vom Samum zu hohen Säulen aufgewirbelt wird? Und doch war es sehr unterhaltend, so etwas zu denken in dem einsamen Stübchen über dem Gaisenstall; Schwemmerle fühlte, wie die Wände sich weiteten, wie seine Augen durch sie hindurch sahen, und es dünkte ihn bald, als sei er dort fern draußen und blicke zurück auf das kleine langweilige schwäbische Dorf. Aber nun war es nicht mehr langweilig, es war ein Stück der großen bunten Mannigfaltigkeit, in die der Mensch hineingeboren wird und vor der er seine blöden Augen fast verschließt, um, mit gebeugtem Rücken und keuchend unter dem Tagesjoch, seiner Nahrung nachzugehen.

Da sitzt nun dieser Mensch, dachte er, dieser Amtsschreiber Berthold Schwemmerle, dieser verdorbene Theologe, der nicht predigen konnte, weil ihm in der Erregung jedesmal die Stimme überschlug, und der nicht gewählt ward, eben weil er nicht predigen konnte, da sitzt er nun wie eine lahme Schnecke, Jahr für Jahr am gleichen Ort und langweilt sich, daß es ihn beelendet und seufzt: »zu was bin ich auf der Welt?« und derweilen rauschen die großen Ströme, brüllen die Meere, stürmen geschwänzte Chinesen wider ungeschwänzte Japaner, – es braust in den Weltstädten, da rast London, da rasselt Paris, da steigen die Ballons auf, da arbeiten – arbeiten – arbeiten Millionen von Maschinen, und er denkt nicht einmal dran! Er sitzt und hält ein einzig fremdes Thierchen auf der Hand und träumt wie ein Siebenschläfer, und das Thierchen hat kommen müssen, um ihn zu erinnern, daß auch da draußen eine Welt ist, daß hinter den Bergen auch Leute wohnen, und daß die Welt kein bißchen langweilig, sondern ein brennend interessantes Land ist, hier wie dort, dort wie hier, – ist das nicht seltsam? – –

Es war ganz dunkel geworden, als Schwemmerle sich aufrichtete und schüttelte, um die Lampe anzuzünden. Der Hunger regte sich, er hatte wahrhaftig über dem Papagei sein Nachtmahl vergessen.

Aber halt – durfte man denn so ohne weiteres Licht anschlagen? Wenn nun der Arara erschrak, vielleicht aufflatterte? Behutsam trug er die Lampe hinter den dreitheiligen Schirm, mit dem das Bett umstellt war, aber auch das erst, nachdem er sich, überzeugt, daß die Fußkette nach wie vor an der Sitzstange innerhalb der Kiste hing. Sie war aber ziemlich verkürzt jetzt, auf dem neuen Platz da oben, und während der Amtsschreiber hinter seinem Bettschirm die Lampe entfachte und den Hanf aus der Schieblade des Nachttisches nahm, fiel ihm die Wohnungsfrage Araras drückend auf die Seele. Daran hatte er noch nicht ordentlich gedacht, fürwahr! In der Kiste konnte er doch unmöglich bleiben: der finstre enge Raum, unreinlich noch von der Reise her und voll von Spähnen, die Araras kräftiger Schnabel vor Unmuth und Langweile herausgehackt hatte, schien dem Vogel deutlichen Widerwillen einzuflößen, und Schwemmerle hatte nicht das Herz, ihn wieder zurück hineinzuversetzen. Aber oben auf dem flachen Deckel, – das war, ohne Sitzstange zum Umklammern, doch auch ein ungemüthlicher Aufenthalt, um so mehr, da die kurze Kette kaum einen Platzwechsel gestattete. Nein, wie ein angeschmiedeter Gefangner sollte er da nicht sitzen, nicht einmal eine Nacht! Die Kette mußte wenigstens los von der Sitzstange, man konnte sie dann oben befestigen. Vor dem Licht fürchtete Arara sich nicht im geringsten: er sah mit auf die Seite gelegtem Kopf, verständig und verstandnißvoll, dem Ablösen des Hakens von der Stange zu, indes er sich zuweilen weit vorbog wie ein Mensch, – mit der gleichen Vorsicht, das Uebergewicht zu bekommen. Ja, nun war der Haken los, aber auf dem Deckel, flach wie die Hand, gab es keine Lücke, kein Loch, um ihn wieder zu befestigen. Wohlig streckte Arara den Fuß, an dem die Kette saß, schwer war sie nicht, aber doch eine Last; er gluckste vergnüglich und fing an, auf der Kiste umherzuwatscheln, wie Jemand, der zu enge Stiefel an hat. Hoffentlich fliegt er nicht auf, dachte Schwemmerle, indes er eins der Näpfe aus der Kiste, das halbzerbissene Maiskörner und Samenschalen enthielt, leerte und mit frischem Hanf gefüllt auf die Kiste stellte. »Ahaaa!« sagte Arara erfreut und begann sogleich zu picken, aber auf eine übermüthige, verschwenderische Art, die den andächtig danebenstehenden Amtsschreiber lachen machte. Stets schien er ein besonders großes fettes Korn im Auge zu haben und es mit dem zangenartig gebogenen Schnabel fassen zu wollen, aber es versank zwischen den andern darüber rollenden Körnern, die nun lustig von dem großen Schnabel rechts und links hinaus und weit in die Stube hinein geschleudert wurden; es war mehr ein Wühlen im Ueberfluß, als ein Essen.

»Wie wir Mensche, wenn wir's habe,« sagte Schwemmerle tiefsinnig, »ja ja, die Thierle hänt sicherlich gewirthschaftet wie die Protze, bevor daß d' Mensche auf der Erde erschiene sind.«

Er holte sich ein Stück Brot und einen Wurstzipfel aus dem Wandkasten, – zu einem regelrechten Nachtessen hatte er doch nicht Ruh, – und so speisten die Beiden ganz behaglich mit einander; – Arara hatte natürlich einen langen Hals gemacht, als er das Brot gesehen und seinen Hanf im Stich gelassen. Mit zierlicher Verbeugung, gravitätisch beinah und ohne alle Hast nahm er seinem neuen Herrn die Krümchen zwischen den Fingern heraus, verzehrte ein wenig davon und warf das Uebrige zu Boden; als ihm einmal ein etwas größeres Stück gereicht wurde, sah Schwemmerle mit verwundertem Entzücken, daß der kluge Vogel den freien Fuß erhob, wie eine Hand zusammenkrümmte und darin das Brot zum Schnabel führte, ganz wie er selbst sein Butterbrot: zwei-, dreimal wurde abgebissen und dazu beifällig gegluckst.

»Wenn ich setzt einen Kaffee machte, so hätten wir alle beide etwas,« dachte der Amtsschreiber. Sonst ging er Abends in den »Weißen Wind« zu einem Glase Bier, aber heut wäre er lieber verdurstet, als von seinem Liebling weggegangen.

»Na?« machte Arara, als die Spirituslampe in blauen Flammen brannte; ein Zittern ging durch sein Gefieder, er watschelte unruhig, Schwemmerle trug kopfschüttelnd den Apparat hinter den Bettschirm. Dieser alte Kocher, aus dem immer die Flammen nach allen Seiten herausschlugen, war wirklich unbrauchbar und sogar gefährlich, besonders seit Araras Anwesenheit. Man sollte einen neuen kaufen, aber das Geld war knapp, so knapp wie nie, und jedenfalls müßte doch eine Art Ständer für den Vogel beim Schmied bestellt werden.

Als der Kaffee getrunken war, – Arara hatte auch zwei Theelöffel voll anzunehmen geruht und dazu den Löffelstiel schön in der »Hand« gehalten, indes die kurze dicke schwarze Zunge in der Flüssigkeit herumruderte – hörte Schwemmerle es von dem Kirchthurm Mitternacht schlagen. So schnell und unmerklich war ihm lange kein Abend vergangen, und auch jetzt war es ihm fast leid darum, schon schlafen zu gehen. Aber der Philister in ihm, der die Ruhe und Bequemlichkeit und die regelmäßigen Stunden liebte, gewann die Oberhand. Auch Arara hatte schon ein paarmal gegähnt und die Flügel geschüttelt.

Als der Amtsschreiber sein Bett aufsuchen wollte, sing die Anwesenheit des fremden großen Thiers, das sich von Zeit zu Zeit murrend und federnsträubend hören ließ, ihn plötzlich an zu beunruhigen. Die Kette sollte doch irgendwo befestigt fein! Arara konnte ja im Schlaf von der Kiste fallen, oder im Traum aufflattern.

Er hob die Kiste vom Tisch und lud Arara ein, sich auf den Boden zu bemühen: die Kette band er an einen Tischfuß. Langsam stieg der große Vogel von der Kiste herab und begann auf den teppichlosen Dielen umherzupatschen, der prächtige Schweif fegte wie eine Schleppe hinter ihm drein. In seinen weit offnen Augen spiegelte sich der Mond. »Guets Nächtle,« murmelte Schwemmerle und sprang ins Bett, er schämte sich seiner Unterhosen vor diesen fremden und – wie es schien – vorwurfsvollen Augen. »Ja ja,« dachte er, »in Deiner Heimath da ist mehr Natur, wir sind eben die traurigen Sklaven der Sitte.« Er fühlte sich ganz verwandelt in seinen Gedanken. Und kaum schloß er die Augen, so tanzten wieder rothe Indianer und blankschwarze Neger durch seinen Traum.

Aber er wachte bald auf. Das ganze Zimmer war voll Mondschein, und durch den mit grünem Stoff bekleideten Bettschirm bemerkte er deutlich Araras lockende Figur, den langen Schwanz auf dem Boden, den kleinen Kopf mit dem mächtigen Schnabel; er saß starr, und doch hörte man ihn.

»Er schläft nicht!« dachte der Amtsschreiber unruhig, »warum schläft er nicht?«

»Ararauna – Ararauna,« murmelte der Vogel mit weicher liebkosender Frauenstimme, dacca un pé

»Er schlafredet,« sagte Schwemmerle zu sich selbst, »oder – vielleicht hat er 's Heimweh, er welscht so vor sich hin.«

Aber nun hörte er auch deutlich das Patschen der hornigen Krallen auf dem Boden. Schwemmerle setzt sich im Bette auf: »Er schläft net! warum net? aber 's ischt auch wahr, 's ischt keine Behandlung, so e schönes schtolzes Thierle an eme Tischfuß anz'binde.«

Es war ihm sehr, unruhig und reuevoll zu Muthe. Er hätte den schlaflosen Gast in die Arme nehmen mögen, ihn streicheln und hätscheln und an sich drücken, »Ja, das wär' gut für e Katz^ oder en Hund, aber so e Vogelwese – ich könnt' em ja eppes verdrücke, es gaht jo nemme!«

»Arara!« rief er mit unruhiger Stimme.

»Na – a – a?« antwortete es in gewissermaßen angenehm überraschtem Ton. Es klang so menschlich, daß den Amtsschreiber neben aller Freude ein Frösteln überlief.

»'sischt gleichwohl eppes geisterhaftes mit dene Papageie,« sagte er halb erschrocken, »e Menschenschtimm' und e Vogelleib – wer kann wisse, ob sie net eppes denket? der denkt setzet g'wiß an sei' Heimathland,«

Die ganze Nacht schien der Mond, und alle Augenblick fuhr Schwemmerle aus einem phantastischen Traum in die Höhe, und immer hörte er dann den Arara leise murmeln in der fremden Sprache oder auf dem Boden aus- und abwandern, Schwemmerle hatte seit Jahren nicht soviel Mitgefühl mit einem Menschen, wer es auch gewesen, empfunden, wie er jetzt mit dem Vogel empfand.

»Wenn 's auch bald Morgen wär',« dachte er, »daß i zum Schmied gehe und em e guete Sitzplatz herrichte könnt'!«

Plötzlich ertönte es im tiefsten Baß: »Ku–ku– ru–ku! ku–ku–ru–ku!« Es war, als ob der Urgroßvater aller Hahne seine Stimme erhübe, hier, neben dem Bette.

An allen Gliedern zitternd, sprang Schwemmerle aus den Kissen, verstört sah er sich in der Stube um; das Krähen war doch so nah, so dröhnend laut und tief erklungen! Wie ein Steinbild saß der Arara da, den Kopf seitwärts unterm Flügel.

Ich muß geträumt haben, dachte der Amtsschreiber und blickte gähnend nach dem Fenster. Der Tag graute eben. Es ist auch von dem Kaffee, daß ich nicht schlafen kann, fiel ihm ein; fast hatte er Lust, aufzubleiben, – aber dann weckte er den Arara, der nun so fest schlief!

Er kroch wieder ins Bett und fiel abermals in Schlaf.

»Ku–ku–ru–ku!« krähte es dumpf und tief, dicht an seinem Ohr, ein furchtbarer Baß.

Nein, das war Arara, solch eine Stimme hatte nie ein Dorfhahn in Dußlingen besessen. Aber er mußte das im Schlaf thun, denn er saß wie vorhin, in der gleichen sonderbaren ausgestopften Stellung,

Der Amtsschreiber stand auf, – der Himmel war auch schon von gelben Streifen überschössen, und drunten knarrte die Thür des Gaisenstalles: die Nachbarsfrau, der die Thiere gehorten, lockte sie heraus und führte ihre kleine Herde auf den Brachacker, wohin die Kranken aus der Naturheilanstalt »Rothwand am Walde« zum Milchtrinken kamen. Es meckerte und mähte von jungen und alten Stimmen.

Arara hatte sich gleichfalls gereckt und aufgerichtet. Wie ein Mensch dehnte er jedes Glied, aber sobald das Meckern begann, erstarrte er gleichsam mitten in der Bewegung und blieb mit hocherhobener und gespreizter rechter Kralle wie ein Wappenadler stehen. Er lauschte, er war wirklich nur Ohr.

Und dann, auf einmal, öffnete er den Schnabel und begann: »Mäh–häh–häh–häh!« aber wie! Es war die Kraft von zwanzig Ziegen, alten und jungen, es war ein gewissermaßen koncentrirtes Gemecker, ein Gemecker-Extrakt!

Schwemmerle stand, halbeingeseift und ganz verdutzt vor seinem Waschtisch und hörte die erstaunliche Leistung an.

»Herrgottle,« sagte er aufseufzend, »jetz ben i nur froh, nur froh, daß i hier für mi allein ben! so eppes begreift ja kei fremder Mensch net, – – ja, die Papageie sind halt unbereche'bar!«

Es kam ihm vor, als habe er die Nacht im Urwald zugebracht, und auch jetzt war ihm etwas wirr zu Muthe. Das war ja viel überraschender, diese neue Gesellschaft, als irgend ein menschlicher Gast hatte sein können! Seit er zu meckern aufgehört, saß Arara wieder ernst und würdevoll da, und sein tadellos schönes Gefieder schimmerte in märchenhaften unwahrscheinlichen Farben. Auf dem Blau der Flügel lag ein satter Sammetglanz, und wenn er den Kopf neigte, dann stieg das Blut in die weißen bepuderten, federlosen Wangen und färbte sie zart rosenroth.

Schwemmerle betrachtete ihn mit Stolz und Entzücken; in diese Gefühle mischte sich etwas wie Vaterfreude, Vaterzärtlichkeit, Arara beugte den Kopf zu ihm, so oft er in seine Nähe kam und nahm ihm mit der größten Zierlichkeit ein einzelnes Hanfkorn zwischen den Fingern heraus, und so, als ob er sich ihm gern gefällig erweisen wolle, zerknackte er dieses Körnchen zwischen den Schnabelrändern mit besonderer Aufmerksamkeit, ja Andacht. Danach gluckte er freundlich, und indem er ganz an den Tischrand watschelte, senkte er den ebenholzschwarzen Schnabel und hielt Schwemmerle den Nacken hin:

»Köpfchen krauen,« sagte er mit Würde, obschon etwas undeutlich und mit stark fremdländischem Accent.

Sein Herr gehorchte mit Begeisterung; wieder regte sich der Wunsch in ihm, das Wundergeschöpf in den Arm zu nehmen. Aber nein, ein Finger genügte; sobald Schwemmerle die ganze Hand nach ihm ausstreckte, zog sich Arara zurück und sah ihm gewissermaßen zurechtweisend, erstaunt in die Augen.

»Doch eine Würde, eine Höhe
Entfernte die Vertraulichkeit,«

seufzte Schwemmerle und lachte über sich selbst. Er fühlte sich so glücklich, daß ihm Alles schön vorkam: der frühe Sonnenschein, der Duft um die ferne Berglinie, sogar das Weiße kahle Doktorhaus drüben zwischen den Wiesen mit der einzigen schmalen Fichte davor, starr und dunkelgrün wie aus einer Spielzeugschachtel.

Aber nun kam ein schwerer Augenblick: es fiel ihm ein, daß er jetzt zum Schlosser gehen und den Ständer besprechen müsse, hernach aber kamen die Amtsstunden, das Mittagessen im »Weißen Wind,« dann nochmals Bureauzeit – er würde also fast für den ganzen Tag fortgehen müssen! Und Arara?

Verdutzt, unschlüssig stand er da. Wenn er sich krank meldete? Aber das litt sein Pflichtgefühl nicht, auch hielt ihn der Aberglaube ab. »Man darf den Teufel nicht an die Wand malen,« dachte er kopfschüttelnd, Und doch – sich den ganzen Tag, den ersten Tag von seinem Schatze trennen – abgesehen von dem armen Schatz selbst, der sich hier in dem fremden Zimmer langweilen sollte, es war wahrhaft grausam. In den ganzen zwei Jahren, da er für den Papagei gespart, war ihm diese schlimme Sachlage nicht eingefallen. Denn so wie heut würde es ja alle Tage sein, mit Ausnahme der Sonntage.

»Aber er wird sich ja bei mir zu Tode langweilen!« murmelte der Amtsschreiber, »er wird sich nach mir sehnen, vielleicht mir rufen, und ich? werde ich denn meine Sach' machen können, wie ehedem, wenn ich daheim Jemanden Hab', wo gänzlich allein ischt?«

Er blickte jammervoll den Vogel an, der nichtsahnend und fröhlich Morgentoilette machte, indem er, Feder um Feder, sein ganzes Gefieder sorgfältig durch den Schnabel zog und glättete. Ein junger Ehemann, der seine geliebte Frau am ersten Morgen verlassen muß, hätte nicht niedergeschlagener sein können, als der Amtsschreiber, da er nach wiederholtem, zärtlichem Abschied seine Thür verschloß und die Treppe hinunterging. Es kränkte ihn fast, daß Arara die Sache so leicht zu nehmen schien und gerade, als er unter seinem Fenster vorbeiging, ein schmetterndes »Hurrah« hinausschrie. Zum Glück war es noch früh; das kornblumenblaue Zifferblatt der Kirchenuhr mit den goldnen Ziffern meldete dreiviertel auf sechs; wenn der Schmied sich verständig zeigte, so konnte man immerhin vor der Amtzeit noch ein Stündchen für Arara erübrigen.

Aber der Schmied war schwer im Begreifen, und endlich, als Schwemmerle den ganzen Apparat mit Kreide auf die Drehbank gezeichnet hatte, erklärte er, den Papagei seh'n zu müssen, – eher könne er sich auf das Geschäft, das jedenfalls Schlosserarbeit sei, nicht einlassen, Schwemmerle nahm ihn also mit sich hinauf, obwohl ungern.

»So, Sie beschlüeßet Verschließen. Ihre Thür?« sagte der Schmied verwundert; es war in Dußlingen nicht Gebrauch, die Häuser zu verschließen. Als er Arara in der Steinbilderstellung auf dem Tisch hocken sah, schrak er zurück, schob sich die Zipfelkappe in den Nacken und begann vorsichtig um ihn herumzugehen. »Hat das e dommes Gefries!« Häßliches Gesicht. sagte er kopfschüttelnd. Schwemmerle gerieth in Zorn, er fühlte sich persönlich beleidigt. Mit kurzen Worten erklärte er dem Meister, wie er sich die Sache gedacht, und daß der Ständer jedenfalls morgen fertig sein müsse, es könne ja nicht schwer halten, eine aufrechte und eine querdarüberliegende Stange zusammenzusetzen.

»Hingegene, sell« Solches. ischt e Schlosserg'schäft,« sagte der Meister, den Kopf kratzend, – »und was denket Sie, auf was das aufrecht' Schtängle befeschtiget werde soll?«

»Ja – so!« machte der Amtsschreiber unschlüssig.

»Und was ischt das?« der Schmied stieß mit dem Fuß an etwas Gelbliches auf dem Boden, dann hob er es auf und hielt es Schwemmerle hin. Es war ein Holzspahn.

»'s ischt von der Kischte,« sagte der Amtsschreiber achselzuckend.

»Sell net, 's ischt vom Tischfueß, da lueget Se!«

Wahrhaftig, aus dem alten Mahagonitischfuß war ein derber Spahn herausgemeißelt. »Descht aber en arger Kerle,« lachte höhnisch der Meister, »lueg auch, wie der umenand' schlotteret Wankt., so eine möcht i net!«

Der Amtsschreiber bedeutete ihm, daß er den Ständer in Tübingen bestellen werde, aber darauf ging der Schmied auch nicht ein; er wolle sich's überlegen, zu machen sei die Sache schon, und wenn es etwa viel Geld kosten sollte, der Herr Schwemmerle hab' 's ja dazu.

»So viel wie der wüeschte Bursch da koschtet's net.« Mit verbissenem Gesicht wünschte er einen guten Morgen,

Aber er nahm einen schönen Theil von Schwemmerles froher Laune mit die Treppe hinunter.

»'s ischt der lautere Neid,« sagte der Amtsschreiber, seine Augen an Araras Farbenpracht weidend, aber – ein wenig hatte dieser Glanz eingebüßt, so schien es, seit die schelen Blicke darauf geruht. Und dann der Mahagonitisch, den er aus dem elterlichen Hause mitgebracht, und der solid und gut, wie für die Ewigkeit gemacht schien!

»Arara, Arara!« seufzte er, den Spahn in den Fingern drehend, »machscht du so Sache?« Und er lockte ihn vom Tisch auf die Kiste, drehte den Haken um die Sitzstange und stellte die ganze Anstalt mitten in die Stube, von den Möbeln möglichst entfernt.

»Köpfchen krauen,« sagte Arara zutraulich, aber dann, da er die Verkürzung der Kette bemerkte, beschäftigte er sich angelegentlich mit dem gefesselten Fuß.

»Adie, Arara!« grüßte ihn Schwemmerle bekümmert von der Schwelle, »adie bis Mittag,«

Die Arbeit erschien ihm heute unendlich langweilig, die Stunden dehnten sich zu Ewigkeiten. Von Zeit zu Zeit ertappte er sich darauf, daß er den Federhalter im Munde hielt, und statt zu schreiben, an Arara dachte. Die Menschen erschienen ihm merkwürdig uninteressant, mit ihren Zipfelkappen, struppigen Bärten und großen Händen. Und die Wohnungsfrage war noch immer nicht entschieden, er würde am Ende gar nach Tübingen fahren müssen. Aber heute Nacht? ja, da würde es wieder wie die vorigen werden, das sah er schon ein.

Postmeisters Magd brachte ihm einen Brief herein, einen Brief aus Hamburg. Er kam von dem Vogelhändler und enthielt noch einige interessante Nachrichten über Arara. Nein, er war weder zu jung noch frisch importirt. Man durfte ihm auch Wasser geben. Er war im Besitz einer indianischen Fürstin in der Nähe von Parnahyba gewesen, daher hatte die Firma ihn für den Vogelfreund und ausgezeichneten Kenner, Herrn Dr. Schwemmerle in Dußlingen, reservirt. Sollte Herr Dr. Schwemmerle zufrieden sein, so würde es die Firma sehr gern sehen, wenn er ihr seine Anerkennung aussprechen wollte; die Firma besaß allerdings ungezählte Anerkennungsschreiben, aber aus Dußlingen hätten sie noch keins, und es würde sie besonders freuen, u. s. w.

Schwemmerle fühlte sich stolz, der Firma diesen schuldigen Anerkennungsbeweis zu geben. Er war unendlich froh, mit Jemandem, der ihn ganz verstand, über Arara zu sprechen. Das Schreiben wurde sofort entworfen. Es begann: »Habe die Ehre, Ihnen zu bezeugen, daß der Papagei Ihrer Durchlaucht, der indianischen Fürstin aus Parnahyba nach längerer sehnsüchtigen Erwartung wohlbehalten gestern Abend hier eingetroffen ist und über alle Erwartung zufriedenstellend – – hier stockte er, »zufriedenstellend?« nein das war zu wenig! Er strich das Wort aus und setzte »überraschend,« so, das entsprach mehr der Wahrheit, aber der Satz war schwierig zu beenden. Und während er über ihn nachsann, schlich sich das Bild der indianischen Fürstin verstohlen da in die verräucherte, schmutzige, fliegendurchsummte Amtsstube herein und blickte Schwemmerle von der beklexten Kalkwand, wo der alte Fahrplan mit den umgebogenen Ecken hing, aus großen schwarzen schmachtenden Augen an. Dabei sollte nun Einer arbeiten! Natürlich, diese fürstliche Besitzerin hatte er dem Arara schon gestern Abend angesehen; – es war ihm fast leid, daß er nicht wußte, wie sie hieß, sonst hätte er auch an sie schreiben können. Mit einer indianischen Fürstin in Korrespondenz zu treten – das war jedenfalls etwas sehr Merkwürdiges. Er würde sie vielleicht später um ihre Photographie bitten und diese dann in seinem Zimmer aufhängen! Einen Augenblick vergaß er sogar so weit Araras Zugehörigkeit zu dem Thierreich, daß er daran dachte, ihn nach der indianischen Fürstin zu fragen. Es schien ihm, als sei er um zehn Jahre verjüngt; etwas Unternehmungslustiges, Flottes und Träumerisches zugleich spürte er in seinem sonst schon halb schlafenden Blute. Wie ein Schüler aus der Schule, so sprang er um elf Uhr nach Haus; es fehlte wenig, daß er die einäugige Rosine umlief, die sich ihm in den Weg gestellt hatte, um über den Vogel zu schwatzen.

»Ra–ra–ra!
Was muß er ha'?«

sangen drei Kinder, so wie sie ihn erblickten, und dieser Gesang bildete von nun ab das Leitmotiv, das sein Auftreten in Dußlingen jedesmal begrüßte.

Beim Mittagessen im »Weißen Wind« würzte die Erinnerung an Arara die fette fade Fidelisuppe, Nudeln. – beim Sauerkraut aber ging das Befragen an vom Wirth und der Wirthin und von den zwei jungen Technikern, die in Landvermessungsübungen von der Hohenheimer Schule daher geschickt worden. Schwemmerle konnte nicht umhin, ein Wort, allerdings vag und geheimnißvoll, über die indianische Fürstin einfließen zu lassen und brachte damit einen außerordentlichen Effekt hervor. Er kam fast um das Sauerkraut, weil er gegen seine Gewohnheit beim Essen eifrig erzählte, und die Spätzle Mehlspeise. wurden kalt und hart auf seinem Teller.

»Esset Sie doch!« schalt die dicke Wirthin und schob ihm mit beleidigtem, vom Küchenfeuer glühenden Gesichte die Schüssel so ungestüm zu, daß sie einen Theil ihres Inhalts über die Wachstuchdecke ergoß, »'s ischt ja net der Werth zu koche, wenn Sie die guete Sach' kalt-werde lo'n!« Lassen.

Aber was kümmerte den Amtsschreiber heute das allbeliebte Sauerkraut! Jemehr er sprach, die Schönheit, die Zahmheit, die Sprechkünste Araras schilderte, desto mehr gerieth er in eine Herzensbewegung hinein, die ihm seit seiner schwärmerischen Jugendzeit fremd geworden. Die beleidigte Wirthin betrachtete ihn mit halbgeschlossenem Auge und verglich ihn mit ihrem grauen schläfrigen Alten, der gleich nach der Mahlzeit vor dem leeren Teller einzunicken begann, daß seine pflaumenartig angelaufene Nase wie eine überreife Frucht hin- und hergeschüttelt ward. Schön war ja der Amtsschreiber nicht, aber wieviel Leben, wieviel Feuer hatte er noch.

»I kenn' Sie doch schon lang, aber so happelich Lebhaft, ausgelassen. han i S' nie noch g'sehe«, sagte sie langsam, und dann puffte sie ihren Mann in den Rücken, daß er auffuhr:

»Jessas, Du alter Schliffel, schlafschst schon wieder?«

Was ging Schwemmerle die Wirthin mit dem ewig schmutzigen Schurz und dem breiten gemeinen Gesicht an?

»I komm denn emol zu Ihne! i mueß das Wunderthier auch in Auge'schein nehme«, rief sie ihm in der Thür stehend nach, indes sie ihm mit den Blicken folgte, wie er eilig, fast laufend, mit krummem Rücken und fuchtelnden Händen die sonnige Straße hinabstürmte.

»Grüß Gott, Arara!« sagte er schon unter seinem Fenster, »was machschst, wie geht's? gelt, Dir ischt die Zeit arg lang worden?«

Arara begrüßte ihn, wie er den Schlüssel drehte, mit lebhaftem Rufen. Als er ihn sah, breitete er fächerförmig den langen Schwanz aus, und begann sich zu drehen, bald nach rechts, bald links herum, indes er fortwährend krähende Töne, mit Wortbrocken untermischt, ausstieß. Man konnte nicht ausdrucksvoller Freude an den Tag legen, ohne zu sprechen. Schwemmerle war gerührt, geschmeichelt, entzückt, erobert! Er fand in seinem Gedächtniß Kosenamen, die er Anfangs nur leise und fast vor sich selber erröthend in der Einsamkeit seiner Stube Arara zurief, indes er ihm Speise und Trank bereit stellte; das Wasser ward hinter dem Bettschirm abgekocht, der Mais aufgequellt und inzwischen unaufhörlich mit Arara geschwatzt. Er erzählte ihm von dem Schmied, von den Schulkindern, als ob er selbst mit einem Kinde plaudere, und Arara begann eine Art Gesang mit taktmäßigem Flügelschlage:

»Caréco paï
Caréca maï
Caréco toda – – la ha ha – –«

Bei diesem Wort stockte er und fing von Neuem an, – es war wirklich ein gelehrter Vogel.

Schwemmerle betrachtete die Stelle, wo er sich aufgehalten – »hm, – gesunde Funktionen!« sagte er zufrieden, »– hingegen muß man da aufputze.«

Plötzlich fiel ihm ein Häufchen Kalk, das an der Wand lag, und ein Stück zerrissener Tapete in die Augen. Arara verbeugte sich mit großem Gelächter, die Kette klirrte lose auf dem Boden, nun begann er gemächlich daher zu spaziren.

»Hammele! Hammele!« Kindername rief der Amtsschreiber, das Loch in der Wand beäugelnd, »was hascht nu than? So eppes macht mer net, Du Butscheli Kindername. Aber er mußte doch lachen, was für Streiche der im Kopf hatte, um sich die Langeweile zu vertreiben. Also die Kette losgemacht, durch die Stube gewandert und die Wand angebissen – es war genial! Heut Nacht der Tischfuß, heut Morgen die Wand, – das konnte noch gut werden!

»Nein Butschele, Papageile, so han mer net g'wettet«, sagte er und suchte nach einem Platz, um die Kette zu befestigen. Arara sah mit auf die Seite gelegtem Kopf und erröthenden Bäckchen zu, als wolle er sagen: das wollen wir schon wieder los kriegen. Sein Rückwärtstrippeln, als die Kette immer kürzer gehalten wurde, hatte etwas Komisches und Hülfloses zugleich; der Amtsschreiber war bekümmert, ihn wieder fesseln zu müssen und entschuldigte sich bei ihm, so gut er konnte.

Und dann lachte er über sich selbst und dieses neue Verhältniß. »Ich hab's wie meine Mutter selig«, dachte er, »recht wohl fällt mir's ein, wie sie oft gesagt hat: wo ich jung und allein gewesen bin, hab' ich allen Unsinn an meine Katz hingeschwatzt; wie ich dann kleine Kinder gehabt hab', hab' ich an sie hingeschwatzt, was mir in den Sinn kommen ist, und wie die Kinder dann größer worden sind, so daß sie mich verstanden hätten, da hab' ich mich geschämt und wieder an die Katzen hingeschwatzt.« Und das Bild der guten, lachlustigen, ein wenig schüchternen und schwerfälligen Mutter stand vor ihm, wie sie im ledernen Großvaterstuhl am Fenster saß und mit den weichen warmen Händen den großen graugetigerten Angorakater auf ihrem Schoß streichelte, daß er vor Behagen schnurrte. Dieser Kater hatte »Wonneklos« geheißen und war auch ein Prachtexemplar gewesen; ›'s ischt halt so bei dene Schwemmerle, sie hänt alle e Katzeherz‹, hatte seine Mutter oft gesagt. Ja, wenn die Arara gekannt hätte! Es versteht sich von selbst, daß der Amtsschreiber auf seinen täglichen Abendspazirgang verzichtete, um mit dem Papagei zusammen zu sein, nicht nur am ersten, sondern auch alle folgenden Tage. Arara behielt immerhin noch Muße genug, um das Loch in der Wand bedenklich zu vergrößern; es gelang nicht, die Kette so zu verhaken, daß er sie nicht beliebig gelöst hätte, sobald er Lust hatte. Wozu hat man einen so prachtvollen Hakenschnabel und so geschickte starke Klammerfüße?

»Butschele, Butschele!« drohte der Amtsschreiber jeden Tag, bis Arara das Wort lernte und es eines Tages in tiefem, warnendem Baß seinem Herrn zurief. Wenn nur der Schmied die Sitzanstalt endlich gebracht hätte! Aber er hielt Schwemmerle von Tag zu Tage hin, und die Nächte wären gleich der ersten unruhig und unbequem verlaufen, wenn nicht der erfinderische und zutrauliche Vogel selbst einen Ausweg gefunden hätte.

Eines Abends hatte sich sein Herr eine Viertelstunde lang mit Bohrer und Kneifzange gemüht, ihn anzuketten, – möglichst weit vom Tischfuß, möglichst weit von der Wand und fern von den Stühlen, an deren einem er auch schon seine Zimmermannskünste probirt, als Schwemmerle auf seinen Gutenachtruf vom Bette her keinen antwortenden Ton erhielt, wohl aber ein Klopfen und Scharren hörte, das von einem emsigen Arbeitsmann herzukommen schien. Und dann, auf einmal trappte es über die Dielen, nicht hin und her, sondern zielbewußt vorwärts, und ehe sich der Amtsschreiber recht besann, stand es vor seinem Bette, arbeitete es sich mit Schnabel und Krallen an der Bettlade hinauf und – ließ sich auf dem Kopfkissen, gerade oberhalb der Stelle, wo sich Schwemmerles keimende Glatze befand, nieder. Der Amtsschreiber athmete kaum; er freute und fürchtete sich zu gleicher Zeit, freute sich unmäßig und fürchtete sich ein klein wenig, denn Nachts war der große Tropenvogel mit dem beilscharfen Schnabel und der dumpf raunenden Melancholie seiner Stimme, ja mit der fremden Sprache sogar nach wie vor ein wenig unheimlich. Und nun so nah! dicht hinter seiner kleinen Glatze, auf der er deutlich die Körperwärme und den Athem Araras spüren konnte. Er wagte sich nicht zu bewegen, aus Furcht, ihn zu erschrecken; wie, wenn er plötzlich wild wurde und seinen Kopf bearbeitete wie den Tischfuß? Gewiß nicht aus Bosheit, Arara war ja bei Tage ganz unbeschreiblich und unveränderlich sanft, aber konnte ihn nicht ein Urwaldtraum beängstigen? Erinnerungen an Tigerkatzen und Riesenschlangen? an nestraubende Indianerkinder oder Federnjäger? – Mit einem einzigen Schnabelhieb kann er mir die Hirnschale sprengen, ich habe dünne Knochen, dachte Schwemmerle und ein Schauder überlief ihn. Arara murrte leise, aber so nah an seinem Ohr, daß die Luft durch seine Haare fuhr und sie langsam zu Berge stehen machte. Niemand würde es hören, Niemand würde es merken, – die Thür bliebe morgen verschlossen, und die Wirthin käme schwerlich. Später nur, wenn er sich nicht auf dem Amt einfände, nicht zum Mittagessen erschiene, würde man vielleicht nachsehen, die Thür sprengen; – dann – eine Blutlache, und er – pfui, nein, dies war im höchsten Grade ungemüthlich! »Arara!« sagte er zitternd, »gelt Du – Du bischt wach und – und – Du kennscht mi doch, i ben doch Dei Tattele?« Väterchen.

Da der Vogel sich nicht regte, wagte er es endlich, sich auf die Seite zu legen, zugleich rutschte er ein Stück im Bette abwärts, um aus seiner unmittelbaren Nähe zu kommen. Aber an Schlafen war nicht zu denken, bis ihm auf einmal wieder die indianische Fürstin einfiel. »Er ist es so bei ihr gewohnt worden,« dachte er, ganz erleichtert, »wer weiß, ob er nicht auf ihrer Schulter eingeschlafen ist.« Sonderbar, diese fremde und geheimnißvolle Dame, die er nie gesehen hatte, stellte plötzlich das Vertrauensband zwischen ihm und dem geliebten Arara wieder her, das in einer Minute der Aengstlichkeit zu reißen gedroht hatte. Die Selbständigkeit und Keckheit des Gastes ließ zwar jeden Augenblick vergessen, daß er ein Vogel war, aber nun, an einem Menschen gemessen, sank er wieder zu dem harmlosen Hausthier herab, das die warme Nähe des Herrn gesucht hatte, ohne weitere Nebenabsicht. Und Schwemmerle begann zu träumen von Purpurdecken und schneeigen Pfühlen, auf welchen sich schlanke braune Glieder dehnen, – »Kleopatra,« sagte er schläfrig, »war scheint's auch so eppes Aehnliches wie die meinige Indianische, sie ischt als ebenfalls mit Papageie abgemalt.«

Und seine Träume wurden immer köstlicher, phantastischer, aufregender. Wahrhaftig – die schöne Fürstin lächelte ihm zu und sagte – –? Himmel, sie sprach ja nicht deutsch, es waren dieselben Laute wie Araras! Er strengte sich an, zu horchen, zu verstehen, doch es ging an seinem Ohr vorbei und sagte ihm nichts. Aber ihr Lächeln war auf ihn gerichtet, und sein Herz fing an zu klopfen, schneller und schneller, und nun wußte er, was sie sprach: »löse mein Räthsel!« sagte sie, »löse mein Räthsel!« und ihre Gazellenaugen lockten verheißungsvoll. Er stöhnte im Schlaf, denn er konnte das Räthsel nicht lösen, er konnte kein Wort sagen, auf seiner Brust lag eine große Schlange, die ihn niederdrückte, während ihr Schweif ihn aufpeitschte, deutlich fühlte er die brennendheißen Schläge auf seiner Haut hinstrahlen. Mit einer übermenschlichen Anstrengung schrie er auf, und an diesem eignen rauhen Schrei erwachte er. Er war glühend und fröstelnd zugleich und konnte sich lange nicht besinnen, wo er war. Plötzlich hörte er hinter sich lange friedliche Athemzüge. Nun erwachte er völlig, entsann sich Araras, der hinter ihm auf dem Kissen saß. Er rieb ein Streichholz an. In dem bläulich aufflackernden Lichte sah er sich um. Der Vogel hockte mit leise im Schlafe wackelndem Kopf, aber seine Augen waren offen.

»Ararauna, dacca un bejó,« murrte er vor sich hin. In dem steifen Dasitzen, dem bebenden Kopf mit den starren Augen, den wieder und wieder gemurmelten Worten war etwas Automatenhaftes, Lebloses, das Schwemmerle veranlaßte, mit einem Ruck aus dem Bette zu springen und sich hinter den Bettschirm zurückzuziehen.

Es war sehr schwül, eine richtige Julinacht, sehr dunkel, bedrückend, lautlos. Der Amtsschreiber sehnte sich nach einem Athemzuge frischer Luft, aber er fürchtete sich, des Vogels wegen, ein Fenster zu öffnen. Wenn er ihm nun in Nacht und Nebel davonflog!

Araras Selbständigkeit war immer noch im Wachsen begriffen, ihm war Vieles zuzutrauen. »Einquartirung und Belagerungszuschtand,« dachte Schwemmerle verwundert, als er sich auf dem kurzen roßhaarbezogenen Kanapee ausstreckte, das heißt in der Lage eines halbzugeklappten Taschenmessers. Er war müde und konnte doch nicht schlafen. »Was der Mensch alles erleben kann,« dachte er; »gut, daß mich Niemand von Dußlingen sieht, die würden lachen! Aber es kommt alles von dem Krott, dem Schmied her. So e Thierle muß doch sei Plätzle han, so guet wie–n – en Mensch. Morgen muß er dran gehn.«

Er legte sich zurück und gähnte laut. Irgend eine Antwort kam vom Bette her, dann rauschten Federn, Krallen tappten, und auf einmal war ein stärkeres Geräusch auf dem Boden, wie ein Plumps, – – Arara kam gelaufen, Arara suchte ihn, Arara wollte bei ihm sein! Er setzte sich aufrecht und wartete mit groß aufgerissenen Augen und trocknem Gaumen, es war so wunderlich, wieder wie ein Märchen.

Der Vogel kam gemächlich daher; das Schleppen des langen Schweifs auf dem Boden war deutlich vom Geräusch der Füße zu unterscheiden in der lautlosen Nacht. Er wird mich nicht finden, dachte Schwemmerle erwartungsvoll, und ganz leise rief er:

»Arara?«

»Si, Senhora!« sagte es schon dicht vor ihm. Der Amtsschreiber fühlte etwas Warmes, Raschelndes an seinem nackten Fuß, fühlte, wie der Vogel sein Hemd mit dem Schnabel packte, fühlte seine Krallen scharf aber leicht an dem Bein heraufsteigen, und plötzlich ließ es sich schwer und warm und weich mit einem tiefen zufriedenen »brava!« zwischen seinen Schenkeln nieder. Zusammengeduckt wie ein Schwan, die Füße unter sich heraufgezogen, den Kopf im Flügel saß Arara auf Schwemmerles Schoß, deutlich unterschieden jetzt die an die Dunkelheit gewöhnten Augen seinen Umriß und die hellen Wangen. Von dem einen, nicht ganz bedeckten Augapfel ging ein leises Glühen aus. Schwemmerle, beide Arme vom Körper abgestreckt, glich einer sitzenden Statue der Verwunderung.

»Descht e Kerle!« sagte er halb ungläubig zu sich selbst, »der denkt an sein' Kleopatra, allweg! allweg! So ischt er's setzet daheim gewohnt gwe, – allweg!«

Vorsichtig streichelt er ihm den Kopf, Arara duckte sich tiefer und murrte behaglich. In Schwemmerles erregtes Gemüth kehrte volle Sicherheit, volles Vertrauen ein. Nun saß er da mit dem Papagei, wie die Mutter mit dem Kater; nun hatten sie sich erst wirklich und vollständig gefunden. Seine Furcht von vorhin erschien ihm nicht nur abgeschmackt, sondern auch im höchsten Grade beleidigend, ja ehrenkränkend für Arara; er schämte sich und bat ihn um Verzeihung.

»Du goldigs Thierle!« flüsterte er, ihn streichelnd, »Du liebs Hammele, gelt Du bischt klüger als Dei' Tattele, wo Dich so schändlich mißverschtande hat! Hascht Heimweh g'habt nach der Kleopatra, gelt Du? Wirscht denn auch z'friede sein mit dem arme schwäbesche Amtsschreiber, wo Di Dei' Schicksal hin g'führt hat?«

Ja, Arara war offenbar zufrieden; das leise glühende Auge kniff sich zusammen unter der streichelnden Hand, er begann sogar zu schnarchen, »Vogelschicksal – Menschenschicksal!« philosophirte Schwemmerle gähnend, »'s hat die allergrößscht' Aehnlichkeit, und so e Thierle, wo hundert, hundertfunfzig Jahre lebe kann – wie oft mag sein Schicksal wechsele in so einer langen Exischtenz!«

Und er saß die ganze Nacht in der unbequemen Stellung, ohne den Kopf hinlegen zu können, aber doch halbschlafend, bis Araras furchtbares Krähen ihn aufschreckte. Jede Nacht um eins, wenn des Hans Heierles Hahn zum ersten Mal krähte, krähte Arara nach, so daß die Scheiben klirrten. Sodann um drei und um vier.

Es war eine Eigenthümlichkeit von ihm, an die sich Schwemmerles Ohr noch nicht gewöhnt hatte, ihm kam die Sache noch jede Nacht neu vor. Bei Tage zeigte Arara ja auch eine Vorliebe für gewisse Geräusche der Nachbarschaft: knarrte die Stallthür unten, so knarrte er um einige Oktaven tiefer, aber täuschend ähnlich nach, meckerten die Gaisen, so meckerte er auch, – einmal, als an einem Sonntag ein Nachbarskind vor Zahnschmerzen schrie, begleitete es Arara im tiefsten Basse gleichfalls stundenlang, wie dringend und herzlich auch Schwemmerle ihn bat, aufzuhören. Ja, ja, ein eigensinniger Kerl war er schon, und der endlich erschienene Ständer hielt ihn so wenig an einem Ort, wie die Kiste ihn gehalten hatte. Sobald sein Herr fort war, löste er die Kette und begann sich in der Stube nach seinem Vergnügen mit den Möbeln zu beschäftigen, es war nur Langeweile, in Schwemmerles Gegenwart rührte er nie etwas an. Daß er auch Nachts regelmäßig auf dem Kopfkissen hinter der kleinen Glatze schlief, versteht sich von selbst bei einer, trotz aller Sanftmuth, so fest abgeschlossenen und energischen Persönlichkeit. Schwemmerle respektirte sie, er liebte Arara leidenschaftlich.

Wenn nur die fremden Leute nicht gewesen wären! Die Neugier des Dorfes wurde wach gehalten durch den Amtsschreiber selbst, der jedes Gespräch auf das liebenswürdige talentvolle Thierchen zu lenken wußte, aber auch durch die Nachbarn, die es lachen, rufen, singen hörten. Der Schmied hatte eine böswillige, die Wirthin zum »Weißen Wind« eine neidische Hartnäckigkeit, den Amtsschreiber zu besuchen, um den Vogel zu sehen. Sie brachten stets Jemanden mit, alte Frauen, die die Hände vor Furcht zusammenschlugen und sich bekreuzten, wenn Arara an zu sprechen fing, oder Kinder, die ihn zu reizen, zu necken versuchten, ihm einen Papierfetzen oder etwas anderes Ungenießbares vorhielten, das er mit heftig hackendem Schnabel in aller Eile zerriß, während sie plötzlich mit lärmendem Lachen zurückfuhren, daß er die großen Flügel ausbreitete und aufgeregt mit dem Schwanz fächerte. Er schrie nicht, aber er gab Töne des Unmuths, der Wuth von sich, ein dumpfes Grollen, und mit aufgesperrtem Schnabel, in dem die dicke schwarze Zunge vibrirte, schien er irgend einen groben Angriff zu erwarten, den er bereit war, abzuweisen. Zuweilen aber gerieth er durch die Neckerei in eine ganz verrückte Beweglichkeit, kletterte planlos am Ständer auf und ab, hängte sich bald am Schnabel, bald an einer Zehe auf, wie ein Trapezkünstler, warf den Kopf in den Nacken, knickste und kratzfüßelte und schrie dabei einzelne gelle drohende Silben hinaus mit zuckendem Kehlkopf und knisterndem Gefieder, Oder er rasselte wie besessen an dem blechernen Futternapf, warf die Körner heraus und den Umstehenden ins Gesicht, stieg dann den Kopf zu unterst an der Stange hinab, warf sich in dem Kasten dort auf den Rücken und wälzte sich darin, indes er den Sand über sich kratzte und athemlos alles durcheinanderschrie, was er wußte. Meist Schimpfwörter.

Mit peinlicher Genauigkeit mußte der Amtsschreiber seine Thür verschließen, sobald er fortging, denn auch ohne seine Erlaubniß versuchten die Neugierigen, voran die Kinder, in seine Stube zu dringen. Besonders jetzt in der Ernte, wo die meisten Häuser tagsüber verlassen standen, ward er oft eine quälende Unruhe nicht los. Seine Wirthin, die Linnenhändlerin, war heimgekommen mit dem »Flug« Grippe., den sie sich auf der Alp droben in einem kalten Regen geholt. – – Allerlei Leute kamen zu ihr mit Tränken und Salben und Sprüchlein, denn die Leokadia Lochstampferin hatte viel Freundschaft in den Nachbardörfern. Die fremden Gesichter vor seiner Stubenthür, die da horchend hinstanden und dann am Schloß rappelten, um das sprechende Thier zu sehen, belästigten und ängstigten ihn. Er fing an, sich mit Arara einzuschließen, wenn er draußen Schritte hörte und auf keinen Ruf zu antworten, – die ungewohnte Sorge und Liebe hatte ihn nervös gemacht. Seine Gedanken beschäftigten sich fast ausschließlich mit dem Vogel.

Einer seiner Bekannten, der Stabsarzt Mösle von Eßlingen, hatte ihm ein Buch über die Krankheiten der Papageien geschickt, und seit er eifrig darin las, beobachtete er Arara mit hypochondrischer Schwarzseherei. Himmel, dieses Heer von Uebeln, das ihn befallen konnte! Fast alle menschlichen Krankheiten und außerdem noch einige ganz specielle Leiden waren an diesen kostbaren Thieren konstatirt worden. Wenn Arara sich kratzte, so schlug Schwemmerle sich vor die Stirn und murmelte: »Milben! Um Himmelswillen, Milben!« Und er badete ihn mit lauem Wasser, dem ein Schuß Branntwein zugesetzt war.

Als der Vogel einmal nieste, erschrak sein Herr heftig und rief: »Jetzet hat er de Flug von der Lochstampferin geerbt!« Und er bereitete Terpentindämpfe, die in der ohnehin schweren Augusthitze ihn selber fast zum Ersticken brachten.

Besonders aber waren es die »Funktionen«, welche Schwemmerle mit äußerster Gewissenhaftigkeit überwachte, und sein Erschrecken grenzte an Verzweiflung, als er eines Tages etwas bemerkte, das ihn zu dem Angstschrei: »Cholerine!« veranlaßte. Arara ward, trotz seines Sträubens, in warme Tücher gehüllt, mußte einnehmen und bekam acht Tage lang kein Stückchen Birne, kein Blättchen Salat, ja, Schwemmerle schob sogar für sich selber die Salatschüssel zurück, aus irgend einem unklaren Gefühl der Notwendigkeit, obgleich ja Arara bei dem Mittagessen im »Weißen Wind« nicht anwesend war: vielleicht trieb ihn das Solidaritätsgefühl! Die langen Stunden der Muße – nun vergingen sie dem Amtsschreiber schnell und aufs angenehmste. Kaum hatte er Lust, sein »Blättle« Zeitung. zu lesen, während Arara auf seinen Knien saß und das Papier beknabberte. Die Vorgänge im Dorf bekümmerten ihn nicht im Geringsten, obgleich gerade jetzt ein zum Glück ungewöhnliches Ereigniß vorgekommen war. Bei der Sichelhenkete Erntemahl. im »Weißen Wind« war unter den betrunkenen Gästen Streit ausgebrochen, der später, beim Heimgehen, auf einem Feldweg mit Fäusten, Knitteln und Steinen seine thätliche Fortsetzung fand, und endlich war ein Hirrlinger von einem Dußlinger erschlagen worden. Beide, der Todtschläger wie der Getödtete waren Familienväter, hatten sich an jenem Abend zum ersten Mal gesehen und wurden als Leute bezeichnet, die friedliebend und ordentlich dahinlebten, außer wenn der Neckarwein über sie Meister ward: dann verwandelten sie sich in sinnlose Wüthriche, die nicht wußten, womit und wohin sie schlugen. Die Dußlinger Weiber brachten die Lippen nicht mehr zu, seit die That geschehen war, die »Mannen« Verheirathete. zuckten die Achseln und steckten die Hände in die Hosentaschen, womit sie einander und besonders den aufgeregten Frauen zu verstehen gaben, daß solche Ereignisse sowohl in der Natur der Mannen wie des Neckarweins lagen und nicht vermieden werden könnten noch sollten, während die »Ledigen« das Anrecht auf derartige Raufereien ihnen einfach absprechen und ganz allein für sich in Anspruch nehmen wollten. Fast wäre es darüber zu einer neuen Schlacht zwischen Mannen und Ledigen gekommen. All' das ward Schwemmerle täglich neu erzählt; besonders die Wirthin vom »Weißen Wind« und ihre Magd, die Rosin', konnten kaum einen Löffel Suppe hinunterschlucken, ohne auf den Malefizkerl, den Hirrlinger zu schimpfen, der sich aus heimtückischer Niedertracht hatte todtschlagen lassen, nur damit ein Dußlinger jetzt ins Zuchthaus komme. Aber Schwemmerle hörte kaum hin. Er kannte den erschlagenen Hirrlinger nicht, den gefangenen Dußlinger nur, da er ihm seit Jahren die Prügelwellen Reisigbündel. für den Ofen geliefert hatte; im vergangenen Herbst entsann er sich, der Frau begegnet zu sein, wie sie mit dem Büblein auf dem Arm unter heftigem Weinen vor ihrem Stubenfenster die Stücke eines Cruzifixes zusammenlas, das der Bauer im Rausch zerbrochen und auf die Dorfgasse geschleudert hatte. Zwei größere Kinder suchten mit ihr, ängstlich schluchzend wie die Mutter, deren verzweifelte Mienen sie mit den weichen Kindergesichtern unwillkürlich nachahmten; – der Anstifter dieses häuslichen Elends kam nun also wohl ins Zuchthaus? Warum nicht? Es ist gut, wenn immer einmal ein Exempel statuirt wird. Dafür hat man ja die Zuchthäuser, daß man solche Raufer aus der menschlichen Gesellschaft beseitigt; nur viel zu gut haben sie's dort. Centralheizung, elektrische Beleuchtung – Schwemmerle hatte sich eins angesehen und war in den größten Zorn gerathen über den Humanitätsdusel. Er – wenn er Strafanstalten zu bauen hätte – –

Ein paar Wagen voll Tübinger Studenten kamen durch den Ort gerasselt; schon von Weitem blinkte das Roth der Cereviskäppchen und der Schärpen durch den weißen Wegstaub hindurch, schon von Weitem erscholl ihr dröhnender Gesang:

»'s gibt kein schönres Leben
Als Studentenleben,
Wie es Bacchus und Gambrinus schuf –«

»Guten Abend, meine Herren!« grüßte Schwemmerle, stehen bleibend und den Wagen nachsehend: auf dem ersten saßen vier ungeheuer dicke junge Leute, rund wie Tonnen, mit Köpfen wie Kegelkugeln, und heiser vom Lachen und Singen. Schwemmerle lachte auch. Seine ganze frohe Studienzeit kam ihm ins Gedächtniß zurück, wo sie dies schone Lied gesungen, im Wirthshaus an der Neckarbrücke, und während die Singenden in einer Staubwolke verschwanden, brummte er wie ein Echo vor sich hin:

»In die Kneipen laufen
Und sein Geld versaufen.
Ist ein hoher, herrlicher Beruf!«

Jawohl, das war auch ihr Leiblied gewesen, und bei was für einem Bier hatten sie es gesungen! Einem reichen, vollen, süffigen Bier, auf dem feinperliger, fester Schaum stand wie geschlagener Rahm, Vierzehn Seidel davon hatte er einmal geleistet und wäre fast trotzdem Bierbruder geworden den Abend.

Gold'ne Zeiten, golden wie der Abendnebel, in dem die singende Jugend verschwunden war! Freilich, das Elend mit dem Ueberschlagen der Stimme hatte schon damals begonnen, er war eigentlich nie aus dem Stimmbruch herausgekommen, und die Kommilitonen hatten ihm Extras bezahlt, damit er nicht mitsänge. Ja, die Studenten, die ihn da eben so herablassend gegrüßt hatten, ahnten natürlich nicht, daß er einmal ihres Gleichen gewesen war und es sogar bis zum Vikar in Heidenheim gebracht hatte. Hätte er die unglückliche Stimme nicht gehabt, die alle Hörer zum Lachen brachte, wenn sie in der tiefsten innern Erregung greulich umschlug, und hätte das nette Luisle ihn genommen, so wäre er ihres Vaters Nachfolger geworden anstatt des Zuberbuhlers, der sich wie eine Raupe im Kraut in Luisles Herzen und dem Pfarrhause eingenistet und alleweil den poetischen Schmächtling gespielt, er, der beim Commers stets am schmetterndsten gesungen: »In die Kneipen laufen« – auch danach gehandelt, ja, ja, ja! –

Je nun, mochte es so sein; Schwemmerle hatte heut kaum mehr eine Erinnerung an die Leiden jener Jahre. Das nette Pfarrerstöchterlein mit den Vergißmeinnichtaugen war heut eine stattliche Mama mit sieben Töchtern, und der Amtsschreiber lächelte erleichtert bei dem Gedanken, daß er sie nicht bekommen hatte. Sieben Töchter, für die man sieben Schwiegersöhne brauchte, wenn alles gut und befriedigend werden sollte! War es nicht unendlich viel leichter und einfacher, statt sieben Töchtern einen Arara zu haben, der einem Unterhaltung, Gesellschaft, Zärtlichkeit gewährte, ohne den Ausblick durch Zukunftssorgen zu verengen? Schwemmerle schnalzte mit den Fingern: er kam sich so schlau vor, daß er sich über sich selber freuen mußte – –

»Como canta el papageio?
Como canta el papageio?
El papageio, el papageio, el papageio
Canta siñ:
Rrrrrrrroá! Rrrrroa!«

sang ihm Arara entgegen; er war bereits von der Stange herabgeklettert und stand mit steil aufgerichtetem Kopfe vor der Thürschwelle. Sein türkisblauer Sammtmantel mit den dunkleren Schatten über dem hochgelben Unterkleid schillerte reich in der Sonne, die grüne Stirn funkelte wie die Flügeldecken des Juwelenkäfers. Sowie Schwemmerle sich auf einen Stuhl gesetzt, klomm der Vogel an seinem Bein hinauf und machte sich's bequem. Spielend nach zahmer Hunde Art, nahm er Schwemmerles Finger in den Schnabel, um ihn ganz sanft, ganz liebkosend zu beknabbern; der Amtsschreiber zog mit der freien Hand etwas aus der Tasche: »Lueg auch da, Arara, was ischt auch das?«

Sogleich ließ der Papapei den Erkennungsruf hören und packte mit der Kralle die große welsche Nuß, die Schwemmerle unterm Baum des Schultheißen aufgehoben hatte. Ein Schnabelhieb auf die Nahtstelle, und die zwei Hälften lagen da; der Vogel hielt die eine, sein Herr die andere, und sie schäkerten und lachten zusammen wie zwei Schulbuben über den weißen milchigen Kern.

Plötzlich ging die Thür auf, nur spaltenweit.

» Lochschtampfere?« fragte eine furchtsame Stimme.

»Die Leokadia Lochschtampfer wohnt gegenüber!« rief Schwemmerle erschrocken aufspringend. Die Thür war schon wieder zu. Nichts hatte er gesehen, als ein blasses, runzliges Gesicht mit funkelnden Augen, – ein Weibergesicht natürlich, auch die Stimme war weiblich gewesen. Aber so blitzartig schnell und lautlos war sie gekommen und verschwunden, Schwemmerle fühlte sich ganz beunruhigt. Er hatte also wieder seine Thür offen gelassen, das war die arge Zerstreutheit. Fast unwillkürlich ging er auf den kleinen Treppenabsatz hinaus und horchte: die Besucherin mußte doch jetzt bei der Lochstampferin sein. Kein Laut drang durch die Thür.

»Lochschtampferin!« rief er.

Niemand antwortete.

Er klopfte und öffnete zuletzt.

Auf dem Sopha, lag eingewickelt und mit einer großen weißen Haube auf dem Kopfe die Linnenhändlerin, abgemagert und abgeblaßt von der Stubenluft.

»Ischt Niemand bei Euch?« sagte er.

»Niemand; 's ischt aber schön von Ihne, daß Sie auch mal da hereinkommet.«

»'s hat oben Jemand Euch nachgefragt, sustement im Augeblick!«

»I han g'schlofe,« gähnte die Frau, »'s ischt Niemand do gwe«,

»Allmeg! allweg! sie ischt sa in mein' Schtub' komme und dann zu Euch«.

»Na' – nein! i han Niemand g'sehe, i han g'schlofe.«

»Seid Ihr noch nicht bald g'sund?« brummte der Schreiber, der ein unangenehmes unsicheres Gefühl nicht los wurde, und auch jetzt wieder mit Schrecken sich entsann, daß er seine Thür abermals unverschlossen gelassen,

»Ach, du mein Heiland, wir wollen's hoffen!«

Sie seufzte und klagte, wie arg langweilig ihr's sei.

»Was sagt mer vom Hörle? wann kommt er vor Schwurg'richt?«

Schwemmerle wehrte lachend mit der Hand.

»Ich bin froh, wenn i emal von der G'schicht nimmer höre mueß, aber rede, davon rede – nein, i dank' beschtens, 's gaht mi net an.«

Damit ging er wieder hinüber, grade zu rechter Zeit, um einen Geniestreich Araras zu beobachten, der den Vogel in seinen Augen zur Höhe menschlicher Intelligenz erhob. Denn – was hat er gemacht? Der Reis in seinem Futternapf ist etwas zu dünn gekocht und trieft ihm am Schnabel hinunter. Arara legt den Kopf auf die Seite, als sänne er über ein philosophisches System nach, auf einmal klettert er hinunter, holt die große leere Nußschale herauf, hält sie mit der »Hand« ans Futternapf, füllt sie eilig mit dem Schnabel und spazirt nun unter Triumphgesang mit der vollen Schale auf seiner Stange hin und her, nach Belieben führt er den Schnabel hinein, und genußkundig wie ein alter Gourmand prüft die dicke schwarze Zunge jedes hinabgleitende Körnchen: es war die Erfindung des Löffels.

Schwemmerle betrachtete ihn mit einem Vergnügen, das von wahrer Hochachtung eingegeben war! Wohin konnte ein so weiser Vogel es nicht noch bringen! Sprach er nicht bereits Spanisch, Portugiesisch und Deutsch? War er nicht ein Tänzer, Schauspieler, Komiker ersten Ranges? Sogar die Bauchrednerkunst verstand er meisterhaft. Dazu diese Ueberlegung, dieser Scharfsinn! – Nur die Flügel waren in der letzten Zeit bedenklich nachgewachsen, die sollten beschnitten werden, um etwaigem Unheil vorzubeugen; auch die Kühle der letzten Tage, es war Anfang Septembers machte dem Amtsschreiber Sorge: Arara saß oft fröstelnd und unbeweglich, schauerte zusammen und nieste. Wenn das Thermometer nicht stieg, so mußte man ans Heizen denken, zwei Monate früher als andere Jahre. Er ist eben ein Tropenbewohner, dachte Schwemmerle, aber beklommen ward ihm doch: sein Zimmer mußte also den ganzen Tag jetzt geheizt werden, das würde einen Haufen Geld kosten! Er hatte gehofft, nach den zwei mageren Jahren, da er jetzt für den Vogel gespart, würde er sich wieder einen Tabak, einen Zucker zum Kaffee, einen Abend die Woche im »Weißen Wind« gestatten können. Aber nun war der Ständer noch nicht bezahlt, und ihm blieb kein Pfennig in der Hand, wenn er Holz kaufen mußte. Ja, so ein Thier – das ist eben ein Luxus, den sich ein Armer nur mit allerlei Opfern erkaufen kann!

»Aber 's reut mi doch net!« sagte Schwemmerle, sich aufs Knie schlagend, obgleich Niemand seine Bekräftigungen anhörte, »das hat schon der Schiller g'sagt, daß 's Herz an irgend eppes hange mueß! I möcht nimmer meine Schtub' betrete ohne dem Arara sein' freundliche Grueß! Kann 's fascht net begreife, wie–n–i's als ausg'halte hab' all die Jahr'.« – –

Es war um die Mitte des Septembers, der seinen regnerischen sonnenlosen Charakter beibehalten hatte und auf einen frühen rauhen Herbst hinzudeuten schien. Das Fenster der Amtsstube war sehr undicht, und Schwemmerles Platz befand sich unmittelbar daneben. Der Wirthin im »Weißen Wind«, die ihn mißbilligend gefragt: »Ja, was ischt Ihne. Hänt Sie e böse Trunk than oder Schpinnen g'fresse?« hatte er stirnrunzelnd erzählt, sein Rheumatismus im linken Arm melde sich bereits an für den Winter, aber wenn er in diesem Jahr nicht endlich das Vorfenster im Amtslokal erhalte, um das er nun schon drei Jahre lang eingekommen sei, dann suche er sich einmal eine andere Stadt, als das Windloch Dußlingen,

In Wirklichkeit aber war es etwas ganz Andres, was ihm das Gemüth verdüsterte: gestern Abend hatte Arara ihn gebissen. Nie, seit er ihn aus dem Posthof geholt, war die kleinste Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen störend hervorgetreten; mit Reue und Selbstverachtung hatte der Amtsschreiber seither auf die Nächte gesehen, da er sich vor Arara gefürchtet hatte; auf seine unerschütterliche Sanftmuth und Freundschaft hätte er freudig jeden Eid abgelegt, und dieser selbe zutrauliche, zahme Freund, den er unaufhörlich auf den Knien hielt, der mit seinen Fingern, seinen Ohren ebenso zärtlich wie vorsichtig zu spielen verstand, der ihm den Kinnbart zauste, ohne ihn zu raufen, der jede Nacht auf seinem Kopfkissen schlief – derselbe zuverlässige, treue Arara hatte gestern Abend, als er ihm über den Scheitel strich, plötzlich mit ungeduldiger Gebärde den Kopf umgedreht und ihm mit dem Oberschnabel so in den Finger gehackt, daß Blut geflossen war! Ach, die paar Tröpfchen Blut, auf die kam es ja nicht an, aber die gekränkte Empfindung – das war es! Eine eigenthümliche Enttäuschung hatte sich Schwemmerles bemächtigt, als er, sprachlos vor Ueberraschung und Schmerz, die kleine blutende Wunde betrachtete, während Arara, unschuldsvoll krächzelnd, auf seiner Stange umherkletterte und keine Spur von Thatbewußtsein zeigte. Weder die traurig vorwurfsvollen Blicke noch die strafenden Ermahnungen schienen Arara zu Herzen zu gehen; aus seinem Lachen hatte Leichtsinn und wohl gar Spott geklungen, er hatte sich sogar im Kreise gedreht und verbeugt, als ob er damit anzeigen wolle, daß er stets thun werde, was ihm beliebe.

»So! so so! jetzet weiß i 's dann! die Thierle sind präzis so unzuverlässig wie die Menschen,« hatte sich Schwemmerle mit Bitterkeit gesagt; »ja, warum net? Der Mephischtopheles sagt 's ja auch schon: »was beschteht, ischt werth, daß es zu Grunde geht!« 's taugt ebe Niemand eppes; – mer könnt meine', die Erbsünd' die hab' schon bei dene Thierle ang'fange und schtamm' net vom Sündefall! Oh, Arara, jetz hascht dei' Tattele ins Herz 'nein bisse, wo di so arg gern hat!« ...

Und danach hatte er wieder eine Nacht verlebt »wie im Urwald«, in beängstigenden Visionen und wüsten Träumen, mit angestrengtem Horchen auf Araras Athemzüge hinter der kleinen Glatze und mit der lästigen, immer wiederkehrenden Frage: wenn er nun doch plötzlich wild würde?

Die Regengüsse der letzten Woche hatten die Dorfstraßen in Sümpfe verwandelt, von den Wäldern am Berge floß es in zahllosen Rinnsalen gelb und schlammig ins Thal. Schwemmerle mußte von Stein zu Stein springen, um zu seiner Hausthür zu gelangen, und die Treppe, – zweimal acht Stufen, – war so schmutzig, als wäre die ganze Gaisherde darauf auf- und abspazirt. Seit die Wirthin krank lag, befand sich die Wohnung in unbeschreiblich vernachlässigtem Zustande; und der Amtsschreiber überlegte brummend, ob es nicht doch besser wäre, der Lochstampferin das Logis aufzukündigen, während er seinen Schlüssel ins Schloß stieß. Aber heute schien Alles sich verschworen zu haben, ihn zu ärgern; das Schloß leistete Widerstand, der Schlüssel wollte sich nicht drehen, er bog sich krumm unter den wiederholten Versuchen. Das nasse Wetter machte alles Holzwerk verquellen; – wenn der Regen nicht bald nachließ – –

Plötzlich ging die Thür auf,

»Arara!« rief Schwemmerle, »grüß Gott, Arara! wo bischt?«

Er blickte auf den leeren Ständer neben dem Fenster, überschaute mit einem schnellen suchenden Rundblick das ganze Zimmer bis an den Bettschirm und rief während der ganzen Zeit: »Arara! Arara! Wo bischt?«

Mit verstörtem Gesicht warf er die Thür hinter sich zu, lief zu dem Schlafraum, der durch den Schirm abgetrennt war, warf die Kissen auseinander, legte sich auf die Knie, um unters Bett zu gucken, riß den Vorhang von der Garderobe in der Ecke, um dahinter zu spähen, stieg auf einen Stuhl und blickte auf den Schrank, warf die Stiefel aus dem Waschtisch mitten in die Stube und wiederholte immer lauter, immer angstvoller: »Arara! Arara! wo bischt?«

Keine Antwort, kein Laut; nur unten meckerten kläglich und ungeduldig die Ziegen; es klang so nahe, so deutlich – –

Schwemmerles erschrockene Augen hafteten plötzlich auf dem Fenster neben dem Ständer: die obere Scheibe war offen!

Er rief nicht mehr, die Stimme versagte ihm. Wieder stieg er auf einen Stuhl und nahm den Haken in Augenschein – er war wohl aufgesprungen, oder – Arara hatte ihn geöffnet, so gut wie er die Kette zu lösen verstand,

»Kopflos! kopflos!« murmelte der Amtsschreiber und schlug sich vor die Stirn. Er hatte Lust zu weinen, sich selber zu prügeln.

Aber dann ermannte er sich; wohl waren Araras Flügel in den letzten Monaten beträchtlich gewachsen, aber er hatte sie nur zur Unterstützung bei weiten Sprüngen gebraucht, zum Fliegen schienen sie doch nicht wieder tauglich. Wenn er zum Fenster hinaus war, konnte er noch nicht weit sein! Zumal in dieser Nässe, schon wieder hatte es zu regnen angefangen,

»Er hat ebe lange Zeit, wann i net daheim bin!« sagte Schwemmerle gerührt, und das Wasser schoß ihm in die Augen. Seit seiner Mutter Tode hatte er nicht geweint, selbst beim Abschied von Urach nicht. Eine unbändige Sehnsucht ergriff ihn nach dem geliebten, gefiederten Freunde, eine schwere Angst um sein Wohlbefinden, sein Schicksal. Ohne Hut, ohne Schirm lief er hinunter und begann in der Nähe des Hauses zu suchen und zu rufen. Er sprang nicht mehr von Stein zu Stein, er platschte rücksichtslos in alle Pfützen, an den tieferen Tümpeln neben der Stallthür blieb er stehen und prüfte sie erst mit den Blicken, dann mit abgewetzten Zweigen des Nußbaums. »Arara! Arara!«

Halt! der Nußbaum selbst! Er war noch jung und licht in der Krone: »Arara! Arara!« rief Schwemmerle. Der Baum schüttelte seine langen hängenden Zweige, daß die Tropfen wie ein Platzregen fielen, als antwortete er: »Nein, nein, hier ist er nicht!«

»Nähähähä! hier ist er auch nicht!« meckerten die Gaisen und drängten die langbärtigen Köpfe zusammen, als der Amtsschreiber den Stall aufmachte. Er kümmerte sich nicht um ihre Antwort, er schob sie fort und ließ sich stoßen, denn er mußte im Futter herumstochern, er mußte alle Winkel ausspähen, – es schien ihm so natürlich, so einleuchtend, daß Arara sich zwar aus dem Fenster gewagt, dann aber vor der Unwirthlichkeit draußen in den warmen Stall geflüchtet hatte. Es war in seinem Charakter, es entsprach seinem eminent praktischen Sinne! »Arara! Arara!«

Mit verzweifeltem Seufzen eilte Schwemmerle zurück in den Regen, – wenn Arara ihn gehört hätte, so hätte er geantwortet, wär's auch nur mit einem Laut. Aufs Gerathewohl begann der Amtsschreiber über die Wiesen zu laufen, die sich von dem Stalle ab weit gegen den Wald hin erstreckten; jeder Maulwurfshügel gab ihm einen freudigen Herzstoß; die langen, tiefen, jetzt ganz Wassergefüllten Abzugsgraben brachten ihn fast in Verzweiflung; er lief auf und ab an jedem, heiser vom Schreien und in immer wachsender Trostlosigkeit, Zu allem quälte ihn noch der Gedanke, daß er heut, zwischen Bureauschluß und Mittagessen nicht heimgegangen war, extra um Arara zu bestrafen. Eben schlug es zwei Uhr! Um acht war er des Morgens fortgegangen – was konnte nicht in fünf Stunden alles geschehen, wohin konnte sich der so lange der Freiheit entwöhnte Vogel nicht verflogen haben!

Das weiße Kurhaus zur Rothwand und die Spielzeugschachtelfichte stand vor ihm, und dahinter begann in gleichförmig nebelgrauer Linie der Wald, Schwemmerle sank das Herz. Wenn er dorthin gelangt war, wo die uralten Bäume ihre großen breiten Sommerblätter in einander flochten, – wer sollte ihn wiederfinden! Fast ohne recht zu wissen, was er that, zog er die Glocke in der Heilanstalt, und da Niemand kam, drang er bis in den Speisesaal vor, wo etwa zwanzig Personen an der Table d'hôte saßen. Als diese Leute den verwirrten triefenden Mann ohne Hut auf der Schwelle erblickten und sein aufgeregtes Gestammel von dem verlorenen Papagei vernahmen, erschraken sie außerordentlich, denn nervös wie sie waren, meinten sie, irgend einen entsprungenen Irren vor sich zu sehen. Mehrere Damen flüchteten vom Tische, und der leitende Direktor, sehr zornig, sehr hochfahrend, ersuchte Schwemmerle, sich zurückzuziehen und allenfalls sich beim Portier zu erkundigen. Er hatte im Eifer vergessen, daß der Portier mit bei Tisch aufwartete.

Wenn er hier ist, so wird er mir antworten, dachte der Schreiber, und draußen, auf dem Vorflur, begann er unaufhaltsam zu rufen; »Arara! Arara! wo bischt?« Es war ihm mehr als gleichgültig, was diese Fratzen da drinnen von ihm dachten. Ein Mädchen, das mit einem Stoß Teller aus dem Speisesaal kam, stand ihm endlich Rede, aber es war nur ein »Nein«, hier war kein Vogel hereingeflogen, »Wenn so eppes vorkomme war', no thät i 's ja wisse«, sagte sie, ihr rundes Apfelgesicht mitleidig verziehend.

»Also!« machte Schwemmerle und stürmte hinaus.

Er eilte dem Dorfe zu. Er hätte gleich dorthin gehen sollen. Arara war an Menschen gewöhnt und suchte ihre Nähe, – wenn er sich gelangweilt hatte, ohne seinen Herrn, was sollte er im öden Walde gesucht haben.

Vielleicht ist es doch besser, einen Hut zu nehmen, dachte Schwemmerle, und er lief in seine Stube hinauf. Die Verstörung darin, die er selber angerichtet, vor allem aber der leere Ständer erfüllten ihn mit brennendem Schmerz, die ersten furchtbaren Minuten des Vermissens kamen ihm zurück, und keuchend sank er einen Augenblick auf einen Stuhl.

Aber es litt ihn nicht. Er drückte sich den Hut in die Stirn und begann von Thür zu Thür, von Haus zu Haus zu fragen. Üeberall verwunderte Gesichter, Händezusammenschlagen, Neugier und Spott, aber nirgend eine Spur. In einem kinderreichen Hause fing eine kleine scharfe Mädchenstimme an zu singen: »Ra–ra–ra« und eine andere übermüthige fuhr fort:

»Ischt nimmer da!«

Als Schwemmerle dieses Haus verließ, schlossen sich drei Kinder mit heimlichem Kichern, Hand in Hand, seinen Schritten an, und bald klang es hinter ihm in klapperndem Rhythmus:

Ra–ra–ra!
Ischt nimmer da!«

Und es half nicht, daß er eine Faust machte und ihnen drohte, der kleine Zug wuchs und wuchs, die Kinder sprangen überall aus den Häusern, um sich anzuschließen, und Alle sangen mit großem Vergnügen und lachendem Gesicht:

»Ra–ra–ra!
Ischt nimmer da!«

Schwemmerle wußte kaum mehr, was er thun, wohin er sich wenden sollte. Die spottenden Kinder hinter ihm machten es unmöglich, nach Arara zu rufen oder auf seine Stimme zu horchen, ob sie sich etwa von einem Dach oder Baum vernehmen lasse. Die Leute, die den Kinderzug sahen, kamen unter ihre Hausthür, zumal die Frauen, mit der Arbeit in der Hand, neugierig und bereit zu lachen, denn daß ja nichts Arges vorgefallen war, schlossen sie aus dem munteren Gesinge, Schwerer und immer schwerer ward es dem Amtsschreiber, seine Frage vorzubringen; Niemand achtete recht darauf, Niemand verstand sie in diesem Zusammenhang; Achselzucken, Gelächter, zerstreutes Fragen, was denn eigentlich die Ursach von dem närrischen Aufzug sei – das war Alles, was er zur Antwort bekam.

Endlich stürmte er wie ein verzweifelter Flüchtling in das Amtslokal und auf den alten Polizeidiener Klüpfer los, der sich gemächlich die Pfeife stopfte.

»D' Schelle! d' Schelle!« keuchte er athemlos, »er ischt verlore gange, der Papagei, ischt fortfloge, i mueß en ausschelle' la'n«.

Bis Klüpfer begriff, in Rock und Stiefel kam, und die Schelle gefunden war, verging eine halbe Stunde, die Schwemmerle lang wurde wie ein Tag; draußen dauerte das Gejohle der Schulkinder fort, auch viele Erwachsene standen darunter; der anhaltende Regen hatte die Arbeit brach gelegt, und man war nur zu froh über die Zerstreuung.

Den großen rothen Regenschirm mit dem dicken kurzen Stock in der einen Hand, in der andern die Schelle, erschien endlich Klüpfer mit wichtigem Gesicht auf der Dorfstraße, hinter ihm Schwemmerle, den Hut über die Augen gezogen, in der Haltung eines Menschen, der hinter einem Sarge dahinwankt.

Die Schelle ertönte dreimal, und es war still, Klüpfer schrie, so laut er konnte:

»Den Einwohnern von Dußlingen wird hiermit kund und zu wissen 'than, daß es sich ereignet hat, daß ein Sitter oder Papagei abhanden 'komme ischt! Dieser Sitter oder Papagei ist ein köschtlicher Vogel, von Farbe blau und gelb. Man bittet Jedermann, auf diesen köschtlichen Vogel ein wachsames Auge zu haben, und denselben lebendig oder todt an den rechtmäßigen Eigenthümer, Herrn Amtsschreiber Berthold Schwemmerle auszuliefere!«

Der Amtsschreiber erhob angstvoll die Augen und ließ sie von einem Gesicht zum andern gleiten, aber Keiner trat vor, Keiner meldete sich, – die kurze Stille war schon zu Ende, und das Lachen und Durcheinanderssprechen hatte von Neuem begonnen. Einzelne Kinderstimmen versuchten zu singen, aber jetzt behaupteten die Erwachsenen das Feld und brachten sie zum Schweigen, Einzelne Frauen machten sich im Weitergehen an Schwemmerle heran, fragten und wunderten sich, junge Mädchen sagten ihm ein Wort und stießen einander dann lachend mit dem Ellbogen, alle hundert Schritte blieb Klüpfer auf einen flehentlichen Ruf Schwemmerles stehen, und das Ausschellen und Ausrufen fing von vorn' an.

Immer von Neuem ward es einen'Augenblick still bei Klüpfers Worten, obgleich es fast immer dieselben Ohren waren, die ihm zuhörten, endlich aber nahm die gute Laune, genährt durch Schadenfreude und Spottsucht, so überhand, daß ein lautes unauslöschliches Gelächter Klüpfers Ruf beantwortete, und daß er sich endlich mit unzufriedener Miene an den Amtsschreiber wandte:

»Moinet Sie, i sott ich sollte denn no emal 's ganz Dorf duregah durchgehen.? I moin' fascht nett, i moin, 's hab koi Werth!«

Aber Schwemmerle bestand auf einer zweimaligen Durchklingelung Dußlingens, und immer lauter ward das Gelächter. Einen so lustigen Regentag hatte das Jungvolk lange nicht erlebt. Schwemmerles traurige Erscheinung störte ihre Fröhlichkeit nicht im mindesten, und die Wirthin zum »Weißen Wind« erzählte es laut und leise Allen, die es hören wollten, das wäre wohl traurig, wenn ein Hungerleider wie der Schwemmerle zweihunderteinundzwanzig Mark für einen unnützen Vogel gäbe, so Einer – aber da mußte man nur lachen, der gehöre ins Narrenhaus, nichts mehr!

»Hingege, vielleicht hat er denn goldige Eier g'leget,« bemerkte der Gemeindevorsteher mit einem habsüchtigen Lächeln auf dem Biedergesicht,

Dieser Witz gefiel sehr, um so mehr noch, als der Schmied dazwischenfuhr: »Noi, descht net wahr! er hat no net emol die Schtang' zahlt.«

Nur der Postmeister schüttelte den Kopf und meinte, »es sei doch schad' dafür, wenn der Vogel, der so ein heidenmäßiges Geld gekostet, wirklich fortgeflogen sei,« und der kleine Bub', der sich noch sehr wohl entsann, wie er vor fast drei Monaten hinter dem Amtsschreiber her durch die Mohnfelder gelaufen war, steckte die Hand in Schwemmerles schlaff herabhängende und sagte: »Mer mö'nt e bitzle luege wir müssen ein bißchen nachsehen., wo der Rara hinkomme ischt! i g'seh 'en denn schon, wenn er irgendwo sitzt; er wird scho' fürekomme zum Vorschein kommen.. Mechanisch hielt Schwemmerle die kleinen derben Finger fest, während er so im Blauen herumirrte,

»Hat en de alt' Lochschtampfere fortfliege sehe?« fragte der verständige Bub.

Schwemmerle blieb plötzlich stehen und schöpfte tief Athem: es fiel ihm ein, daß er ja die Wirthin, die allernächste Person, nicht befragt hatte! Blind war er aus dem Hause gerannt, hatte das ganze Dorf in Aufruhr gebracht, sich selber zum Kindergespött gemacht, und derweil hatte Arara vielleicht bei der Linnenhändlerin gastliche Aufnahme gefunden und ihr mit seinen Späßen die Langeweile verscheucht! Ein Freudenschein erwärmte sein Herz, Wortlos zog er den Buben mit sich, aber er hielt die Kinderhand fester als zuvor. Seine Hoffnung wuchs, ward unversehens zur Gewißheit. Wohin sollte der Vogel mit den verschnittenen Flügeln gerathen sein? Das treue, anhängliche, die Menschen liebende Thier! Er horchte angespannt, er glaube so deutlich, ihn rufen, ihn krächzeln zu hören, und er begann selbst wieder zu rufen: »Arara, Arara,« sobald er sich seiner Wohnung näherte.

»Rara!« rief auch der Bub, eifrig und hülfbereit, indes er vor ihm die wenigen Stufen hinansprang. Und er rappelte an der Thür der Wirthin, und Schwemmerle rappelte mit, und beide schrien abwechselnd den Namen des Vogels und den der Lochstampferin.

›Wenn er hier ist, wird er mir antworten,‹ dachte Schwemmerle wieder, und er rief so kläglich, daß ihm die Stimme brach, wie damals bei der Predigt.

Aber die Thür gab nicht nach.

»Die hat zug'schperrt,« sagte der Bub, »sie ischt net daheim! Oder?« – –

Er bückte sich noch ein wenig und sah mit seinen scharfen Knabenaugen in das Schlüsselloch. »Net daheim!« wiederholte er enttäuscht; Schwemmerle sagte nichts – seine letzte Hoffnung war zerstört; er lehnte sich an die Wand und starrte rathlos vor sich hin. Aber der Bub gab keine Ruh. Er packte ihn am Rock: »Kömmet Sie! Mer mö'nt überall luege, i g'seh' en denn schon, wann er irgendwo sitzt!« wiederholte er nach eifriger Kinderweise. Er trat mit Schwemmerle in dessen verwüstete Stube, und als er sah, daß Schwemmerle ein Glas Wasser trank, trank er geschwind auch eins, und dann drehten beide wieder jeden Stuhl um und spähten unter jedes Möbel.

»Ischt der Rara mitsammt der Kette fortfloge?« fragte plötzlich der Bub, der sich an dem Ständer zu schaffen machte.

Der Amtsschreiber stutzte. Wahrhaftig, die Frage war berechtigt! Die Kette wog nicht leicht, oft genug hatte ihn der Gedanke gequält, daß sein lieber Vogel an dem dürren Beine solch eine ewige Last tragen müsse. »No ischt er aber net weit komme,« fuhr der Bub fort, »no mö'nt mer nur luege!«

Also wieder hinaus in den Regen, aufs Gerathewohl – man wußte selbst nicht wohin. In der grauen Trostlosigkeit über die Wiesen bis an den Wald, zurück zu der kleinen krüppelhaften Friedenseiche von 1870 mit dem Dorfbrunnen, an dem heut Niemand zu sehen war. Eine schnatternde, zischende Herde junger Gänse verfolgte Schwemmerle wie vorhin die Kinder. Walterle warf mit Steinen nach ihnen, und eine kollerte in den tiefen Tümpel am Wegrand. Die Leute hatten sich wieder alle unter die schützenden Dächer zurückgezogen, von den Wasserspeiern stürzten ganze Wildbäche.

»G'moindschreiber! jetzet ischt sie do!« schrie der Bub, ihn am Aermel reißend.

Schwemmerle zuckte heftig zusammen; er hatte nur fast ohne es zu wissen einen Fuß vor den andern gesetzt. Er blickte den Walter an, der aufgeregt in die Höhe über die Häuser weg zeigte: »Do! 's gaht Rauch vom Kamin usse, de Lochschtampfere ischt daheim!«

Sie hasteten zurück, Walterle voran, immer mit dem eifrigen Geplauder: »Mer mönt luege, mer g'sieht en dann schon!«

Es währte eine Weile, bis die Lochstampferin ihre Thür aufthat. Sie war grade heimgekommen und sehr ermüdet. Seit der Krankheit hatte sie alle Kräfte verloren, »wie wenn mir d' Bein' abbroche wäret!«

Auf Schwemmerles Fragen achtete sie kaum. »Ja! ischt es möglich!« machte sie kopfschüttelnd und dann: »so ischt es halt! Das Thierle hat sei' Freiheit g'suchet! Sie saget 's ja selber, 's sei zum Fenschter usse! Und die flieget g'schwind! Ja, du mein! wie g'schwind! Sie müesset das Ding in Geduld annehme, – i glaub's net, daß er fürekommt! i glaub's net,«

Damit schloß sie ihre Thür und ihre Rede.

»Fertig! also fertig!« murmelte der Amtsschreiber, überwältigt von Kummer. Er fühlte sich unfähig, etwas Weiteres zu unternehmen. »Gang heim, Walterle!« sagte er mit gepreßter Stimme, »'s hat ja keinen Werth weiter.«

»Und vielleicht g'seh i en doch noch irgend wo! auf em Dach oder e Baum!« erwiderte unerschütterlich der Bub, wie er die Treppe hinabsprang.

Schwemmerle fiel aufs Sopha und lag dort in schweren trostlosen Gedanken, bis es ganz dunkel war. Es kam ihm vor, als habe er Alles verloren, was ihm das Leben lieb gemacht; er wagte nicht gegen das Fenster hinzusehen, wo der Vogel gestanden, er hörte ihn plappern und lachen und fühlte das warme knisternde Gefieder sich zwischen seine Knie schmiegen.

Ein Regensturm erschütterte die Fenster, und der Amtsschreiber fuhr auf und starrte in die tiefe Finsternis draußen; ein einziges kleines Licht leuchtete herüber, das Kurhaus zur Rotwand. Heute, da draußen, in dieser kalten Herbstnacht ging er irgendwo zu Grunde, sein Liebling, sein Schützling! Er konnte nicht sitzen bleiben, er mußte wieder hinaus und ihn suchen. Er war zu traurig, ihn in der Kälte und Nässe zu wissen und ihn nicht heimzurufen. Im Dorfe war er nicht, also mußte er in den Wald geflogen sein. In den Wald, der jetzt wie eine schwarze Mauer sich vom wenig helleren Himmel unterschied.

Er fühlte weder Hunger noch Durst, aber aus einer Art Pflichtgefühl aß er ein Stück Brot und lief dann wieder hinaus. Sein Leben lang war er nicht so traurig gewesen. Blitzartig nur kam ihm auch der Gedanke an den Geldverlust. Zweihundert Mark und noch viel mehr. Aber nein, das war nicht das Schlimme. Nicht einen beliebigen Vogel hatte er verloren, der so und so viel gekostet, sondern eine Person, ein Wesen, das er liebte und das ihn liebte, – gleichgültig, ob es nur zwei Flügel hatte und Arara hieß.

»Arara! Arara!«

Er dachte, er wolle um jeden Baum im Walde herumgehen und ihn rufen. Aber in der gleichförmigen Finsterniß unterschied er nicht einmal die Bäume. Durchnäßt bis auf die Haut, watend in den kleinen Bergwässern, die, unmäßig angeschwollen, Zweige, Erdreich, große Steine mit sich fortführten, klomm er mühselig aufwärts, und sein kläglicher Ruf ging vor ihm her und scheuchte die Vögel auf aus den Felsritzen. Und dann mußte er bald rechts, bald links ausbiegen, weil große Hindernisse, Felsblöcke und Baumstämme den Weg versperrten. Nun wußte er nicht mehr – ging es vorwärts, oder zurück? Er strauchelte, er stieß sich, und völlig in Verwirrung rief er sogar um Hülfe. Am nächsten Morgen fanden ihn Holzschläger, bewußtlos und mit einer tiefen Kopfwunde in einem seichten, steinigen Bachbett. Wieder einmal lief ganz Dußlingen zusammen, als man den Amtsschreiber so übel traktirt auf einer Holzschleife daher brachte.

Der Arzt, unter dessen Händen er flüchtig erwachte, um bald aufs Neue zu versinken, sprach von Hirnerschütterung und begleitete den Kranken selbst nach Tübingen ins Spital,

Es vergingen Wochen, bis er dort ganz zu sich kam, und längst war die Kopfwunde geheilt, ehe die tiefe Niedergeschlagenheit des Verwundeten, die den Arzt beunruhigte, weil er sie sich nicht zu erklären vermochte, allmählich einem Kraft- und Genesungsgefühl zu weichen begann. Aber auch dann blieb er gleichgültig und schweigsam, geneigt zu bitteren Antworten, wenn ihm der Arzt zuredete, sich aufzuraffen, »Ja, ja, Sie haben gut reden«, sagte er seufzend, »aber wemmer auch nie Glück im Lebe hat, wozu da sich aufraffen? Ha –- Glück! Net emal das kleinschte Vergnüge ischt Einem vergönnt, wenn ich da liege bliebe wär' – mir wär's schließlich auch eins gewesen.«

Der Arzt hätte ihm gern die Beichte abgenommen, aber Schwemmerle kniff den Mund zu. Er hatte sich fest vorgenommen, nicht von Arara zu sprechen. Sie verstehen's nicht, dachte er, und die komische Figur machen, hier wie in Dußlingen – nein, wozu denn!

Einmal kam der Postmeister mit dem Walterle, ihn zu besuchen; der Bub saß auf Schwemmerles Bett und war ganz zutraulich.

»Aber, gelte Sie, G'moindschreiber«, fragte er eifrig, »Ihren Arara ischt doch net wieder fürekomme?«

Da winkte ihm Schwemmerle ängstlich mit der Hand: »Mer redet setz net von dem, Walterle«, sagte er mit einem Blick nach den Nachbarbetten. Aber die Frage hatte ihm einen Stich ins Herz gegeben. – –

Es war schon Anfang Dezember, als der Amtsschreiber endlich geheilt und gekräftigt entlassen wurde. Der Postmeister holte ihn im Wagen von der Station, und dann lud er ihn ein, bei seiner Frau »'s Kaffeele« zu trinken. Schwemmerle, dem es vor seiner Stube sonderbar graute, war gern dazu bereit; der Postmeister und seine Familie hatten wie Freunde zu ihm gestanden.

Dann, nach ein paar behaglichen Plauderstunden, suchte er seine Wohnung auf. Es war ihm ein wenig heller jetzt im Gemüthe, »'s hat noch Mensche in der Welt«, sagte er sich, »wo recht sind und brav sind und Keinem Uebles gönnen.«

In seiner Stube aber erwartete ihn eine Ueberraschung. Da er aufschließen wollte, kam ihm die Frau Lochstampferin entgegen und sagte ihm, nicht allzu freundlich, da sie nicht gewußt, ob er davon komme oder drauf gehe, habe sie einstweilen selbst sein Logis bezogen, wo man doch einen Sonnenblick erwische, – seit dem »Flug« sei sie ganz bresthaft und untüchtig geworden und könne nimmer mit den Stücken Linnenballen. über Land. Seine Möbel und Sach' habe sie in ihr Kämmerlein schaffen lassen, es liege aber Alles drunter und drüber, er müsse schon selber Ordnung machen, wie er's jetzt haben wolle. Seufzend und stöhnend ob all ihrer Leiden öffnete sie ihm die Kammer gegenüber, deren graubefrorene kleine Scheiben ein kaltes düsteres Winterlicht eindringen ließen, das auf ein wüstes Durcheinander von Möbeln und Kleidern fiel. Das erste, was seine Augen trafen, war der Papageiständer, der quer über dem kleinen Sopha lag; die Hanf- und Maiskörner aus den Futternäpfen waren über den Roßhaarbezug geschüttet und in alle Ritzen gerollt.

Die Wirthin entschuldigte mit abermaligem Stöhnen, daß nichts geputzt sei: »I ben halt in Gottesnamen krank gwe. Sie werdet's begreife,«

Schwemmerle begriff schon; aber die Vorstellung, daß er in dem Wirrwarr die Nacht zubringen solle, erschreckte ihn. Eine eisige Kellerluft hauchte ihn an, und er war kaum vom Krankenbett erstanden. Er murmelte, daß ihm in dem Falle nichts übrig bleibe, als ein anderes Logis zu suchen, und die Lochstampferin fand das begreiflich, wie sie sagte.

So war der Amtsschreiber genöthigt, noch einmal den Postmeister aufzusuchen, denn vor dem »Weißen Wind« graute ihm, der schwatzhaften Wirthin wegen.

Bereitwillig räumte man ihm ein Bett ein, und Walterle, die Augen glänzend vor Freude über seinen Einfall, flüsterte vorm Schlafengehen: »Mer mö'nt denn emol luege, – vielleicht, daß Ihren Rara e Neschtle gemachet hat, im Wald drobe, und 's gibt denn Junge aufs Frühjahr!« setzte er mit einem Blick nach den Eisblumen am Fenster hinzu.

Anderen Tags fand Schwemmerle im Hause des Doktors ein freies Zimmer, kleiner zwar und weniger einsam gelegen, als sein früheres, aber ihn verlangte jetzt eher nach Gesellschaft, denn nach Einsamkeit. Als er ging, um seine Habseligkeiten zusammenzuräumen und aufzuladen, sprang Walterle hülfsbereit neben ihm her. Klüpfer, der in diesen Monaten wenig zu thun hatte, stand mit einem Karren vor dem Haus unten; sein Sohn half die schwersten Stücke, den Schreibtisch, Bett und Sopha mit hinaustragen. Der Amtsschreiber hielt unschlüssig den Ständer in der Hand.

»Gang, Walterle, trag ihn dem Schmied hin, sag, i wott' nachher mit em drüber rede,«

»Ja, aber der Rara« – – begann der Bub. Schwemmerle verzog das Gesicht, als habe er arge Zahnschmerzen.

»G'nug jetzet, mer wellet denn nie mehr von em spreche«, sagte er kurz.

Die Stühle und der Stiefelknecht, der Bettsack und die langen Pfeifen. – Jetzt war Alles drunten; der Amtsschreiber, in einer Hand die Lampe, in der anderen eine alte messingbeschlagene Familienbibel, bereitete sich vor, die Stiege hinabzugehen, da kam der Bub vom Ofen hergelaufen und rief:

»G'moindschreiber, ischt das auch Ihre?« »Thu's auf, daß mer sieht, was drin ischt!« sagte Schwemmerle zwischen Thür und Angel. Der Bub entfaltete das flüchtig zusammengedrehte Papierchen: Schwemmerle stieß einen Schrei aus und griff nach dem Inhalt – drei blauen Federn! Die schwere Bibel entfiel seiner Hand.

»G'moindschreiber, sind die net von Ihrem Rara?« schrie gleichzeitig Walterle ...

Schwemmerle hatte längst alle Hoffnung begraben, seinen gefiederten Liebling wiederzusehen; er hatte sich oft mit schmerzlichem Mitleid vorgestellt, wie er vor Hunger, Kalte oder durch Füchse und Marder sein Ende gefunden, aber als er diese drei langen blauen Federn so plötzlich erblickte, erneute sich der Schmerz des Verlustes mit solcher Schärfe, daß er mit zitternden Gliedern sich gegen die Wand kehrte, um dem Buben sein Gesicht zu verbergen.

Er setzte endlich die Lampe ab und nahm mit zaudernden Fingern die Federn aus dem Papier, An ihrem Schaft klebten ein paar schwärzliche eingetrocknete Tropfen, das Papier hatte einen Flecken. Schwemmerle drückte seine Hände fest zusammen, er biß die Zähne aufeinander, daß sie knirschten,

»Isch es von Ihrem« – begann der Kleine.

»Gang, und sag, der Herr Klüpfer sollt emal da heraufkomme«, sagte der Amtsschreiber, ganz heiser und undeutlich, aber der Walterle schoß geschwind treppab.

Im gleichen Augenblick ging Schwemmerle mit starken polternden Schritten an die Thür der Lochstampferin und trat nach kurzem Klopfen ein.

Die Alte saß am Fenster und trank einen Kräuterthee, dessen starker Geruch die Hitze des übervollen Ofens noch unerträglicher machte, Erschreckend bei des Amtsschreibers plötzlichem Erscheinen, setzte sie ihre Tasse klirrend nieder und guckte vom Lehnstuhl auf,

»Da!« schrie Schwemmerle mit überschlagender Stimme, »das han' i g'funde!« und er hielt ihr die Federn so dicht unter die Augen, daß sie ihr Gesicht streiften.

Die Lochstampferin fuhr zurück, als habe sie etwas Fürchterliches erblickt. Aber dann glättete sie ihre Runzeln zu einem gleichgültigen Lächeln: »Wo?« fragte sie.

»In Ihrer Kammer!« immer näher und drohender rückte er ihr auf den Leib,

»No isch es mein?« machte die Alte unschuldig und wollte nach den Federn langen.

Schnell hatte Schwemmerle sie zurückgezogen,

»Wisset Sie net, was das ischt?« schrie er im höchsten Falsett.

»Nein!« sagte die Linnenhändlerin verwundert, »i weiß es net!«

Verächtlich lachte er ihr in die Augen, dann hielt er die Federn zum zweiten Mal hin. Eingeschüchtert ließ die Alte die Blicke rund um gehen, das Blut stieg ihr ins Gesicht, ihre Lippen öffneten sich zu einem Hülferuf, da hinkte mit scharrenden Sohlen der Polizeidiener Klüpfer herein; und sie sank auf ihren Sitz zurück.

Klüpfer hatte zur Feier des Umzuges eine kräftige Herzstärkung zu sich genommen; seine unsicheren Füße wankten mehr denn je; er war ziegelroth im Gesicht, hatte die Aermel aufgestreift und machte wilde Armstöße in die Luft. Hinter ihm kam sein Sohn, noch wackliger und rauflustiger, und Walterle mit starren Augen drängte sich nach.

Die Lochstampferin sah sich umringt und abgeschnitten. Sie fing laut an zu stöhnen, und ihr Stöhnen ging in Beten über.

»Bekennet Sie! bekennet Sie!« tobte Schwemmerle, »Sie hänt mir de Vogel g'schtohle! Sie hänt en umbrocht! Sie hänt das arm unschuldig Thierle verdruckt! Die Federe, descht e Corpus delicti! Sie hänt sich selber verrathe! Sie mönt ins Loch!«

»Ins Loch! ins Loch!« grollte Klüpfer und wetzte kriegerisch die Fäuste.

»Nei nei nei!« jammerte die Alte, »i han em net thue! i net! i gwiß net! mei Ehr und Seligkeit! Ach du mei Heiland, hätt' i 's doch – hätt' i 's doch – –«

»Bekennet Sie!« wiederholte der Amtsschreiber, er packte die Hausirerin hart am Handgelenk ...

»Hollah, nei – so gaht das Ding net! Amtsschreiber, Herr Schwemmerle, die Lochstampfere descht en unbescholtenes Frauenzimmer!« sagte eine starke ruhige Stimme in den Streitlärm hinein; es war die des Postmeisters.

»Hier ischt das Corpus delicti!« schrie Schwemmerle bebend vor Rachsucht, das Papier mit den Federn raschelte hoch über den Köpfen, aber er gab es nicht aus der Hand, er zeigte es nur von weitem.

Die Lochstampferin, eigentlich eine große feste Person, saß in sich zusammengekauert wie eine Katze, auf die ein Hagelwetter herunterprasselt. »Ja, woher hänt sie die Federe?« sagte nun auch der Postmeister argwöhnisch.

Da fing sie von neuem an zu jammern und zu betheuern: »I weiß von nex! Mi gaht de G'schicht net an! i ben krank g'lege! i han 'em Sitter net thue,«

»Packet sie! packet de Diebin!« brüllte Schwemmerle, seiner nicht mächtig, »was hescht mit em ang'fange, mit 'em arme guete unschuldige Thierle« – ein lautes Schluchzen erstickte seine Worte, aber in dem allgemeinen Geschrei achtete Niemand auf sein entstelltes Gesicht mit den thränenden Augen. Die Männer machten Miene, die alte Frau an den Armen zu ergreifen und sammt dem Stuhl in die Höhe zu heben.

Da rief sie, die Hände faltend und die Augen zum Himmel aufschlagend: »Ach, du mein Heiland, i darfs ja in Gottesname 'net sage, i han ja mein' Eid gebe, i han 's ja g'schwore!«

Diesen Worten folgte eine athemlose Stille.

Endlich sagte Schwemmerle mit von Seufzern beschwerter Stimme:

»No isch es also e Complott gwe? Oder hänt mer e Räuberbande da zu Dußlinge?« Der Postmeister hatte sich zu der Händlerin durchgedrängt, er stellte sich breit und gewichtig vor sie hin:

»Lochstampfere, Ihr seid en unbescholtenes Weibsbild bis jetzet, aber descht e sehr – e höchscht verdächtige G'schicht! Wisset Ihr, was es heißt, in so eme Verdacht z'schtehe? I glaub, Ihr wisset 's net, sonst würdet Ihr de Verdacht abschüttele! Wer ischt es, wo Euch so en unhaltbare Eid überbunde hat?«

Die Alte sah ihn an, ihre Lippen bewegten sich bebend.

»Wer ischt es?« drängte der Frager und hielt die Hand ans Ohr, während er gleichzeitig den Amtsschreiber abwehrte,

»Aber – aber – aber –« stotterte die Frau.

»Wer ischt es?« donnerte der Amtsschreiber und stieß den Andern zurück,

»'s ischt – de – de – de Sie – Sie – Sieberlies!« stammelte die Alte händeringend.

»Wer?«

Fragende, verdutzte Blicke führen von Einem zum Andern.

»Wer ischt d' Sieberlies? In Dußlinge hat's kei Sieberlies! Oder? Nei, g'wiß net! Sieberlies? Wo ischt se daheim?«

»z' Hirrlinge',« seufzte die Lochstampferin,

»z' Hirrlinge?!« wiederholten die Männer alle. Seit der Dußlinger den Hirrlinger erschlagen hatte, klang ihnen der Name des Nachbardorfes unheimlich, wie eine böse Vorbedeutung.

»Und was hat d' Sieberlies von Hirrlinge mit 'em Thierle g'macht?« die Stimme des Amtsschreibers war völlig übergeschlagen, in seinen Zügen hatte der Kummer die Oberhand gewonnen, er sah jammervoll drein. Aber die Linnenhändlerin gab keine Antwort weiter; stumm und wie betäubt über ihren Verrath hockte sie mit eingeducktem Nacken im Stuhl, ihre Kiefer waren in ewig kauender Bewegung,

Plötzlich erfaßte den Amtsschreiber eine unabweisbare Hoffnung: vielleicht war Arara noch am Leben! Das Weib hatte ihn entführt, gestohlen, eben weil er solch ein Wunder von Schönheit und Klugheit war; verkauft vielleicht, verschachert; aber todt? warum sollte er todt sein? Was konnte er ihr todt für Nutzen bringen? Und wieder glaubte er in der Ferne das Rufen und Lachen seines Lieblings zu hören, er hörte ihn sein spanisches Liedchen singen, oder melancholisch mit dumpfer Stimme leise unverständliche Worte des Heimwehs sprechen. Es hielt ihn nicht länger. Er mußte gehen, mußte sich überzeugen.

»Wie weit ischt es bis auf Hirrlinge?« fragte er sprungbereit, verwirrte Blicke um sich werfend, »i gang auf Hirrlinge, adie!«

Der Postmeister wollte ihn zurückhalten: »'s ischt ja net der Werth, drei, vier Schtunde weit z' laufe« – –

Aber Schwemmerle fuhr ihn heftig an: »Net der Werth? 's verschtaht ebe kein Mensch! 's ischt ja kein Kuh und kein Kalb, 's ischt ja nur e Vogel! hahaha!. Was wisset Sie? Was wollet Sie mi z'rückhalte? Drei – vier Schtunde? und wenn i de ganze Tag laufe müßt« – –

Damit rannte er in die Kammer hinüber und polterte die Treppe hinab.

»G'moindschreiber! G'moindschreiber!« schrie Walterle ihm nachsetzend, »i lauf denn auch auf Hirrlinge! mer mönt luege wegen em Rara bei der Sieberlies! mer mönt luege!«

Der Bub war nicht abzuschütteln. – –

»'s ischt zum Bedauere,« sagte heimkommend der Postmeister zu seiner Frau, »zum Bedauere mit dem Schwemmerle! Seit er auf Tübinge im Schpital g'lege ischt, ischt er e Narr worde! aber was für e Narr! Er hätt' d' Lochschtampfere an d' Wand g'schlenkert, wann i net dazu komme war! Wann er nur kei Mord und kei' Todtschlag vollführt z' Hirrlinge!«

»Mer wollen 's hoffe,« antwortete die Frau andächtig, »'s war mir leid um de' Schwemmerle.«

Es begann schon Abend zu werden, als der Amtsschreiber mit müden Füßen und zitternden Knien in das Wirthshaus zum Löwen eintrat; der lange Marsch durch den weglosen Schnee hatte ihn sehr mitgenommen, während der Bub auf flinken Beinen nebenher gelaufen war und noch allerlei Kurzweil getrieben hatte. Schwemmerle ließ Brot, Käs' und Bier auftragen und verzehrte stumm und eilig seine Portion, während Walterle trotz seines Hungers mit großen Augen umhersah, denn es dünkte ihn herrlich, im Hirrlinger Löwen zu sitzen wie ein Großer.

Der Amtsschreiber hatte sich's unterwegs überlegt, daß er mit List zu Werke gehen, die Leute im Dorf ausforschen müsse.

Aber als sich der Wirth neugierig ihm gegenüber setzte und ein einleitendes Räuspern hören ließ, platzte Schwemmerle heraus:

»Ischt Ihne e Frauezimmer do bekannt, wo Sieberlies heißt?«

Der Wirth und Mastochsenmetzer nickte von oben herab: »Warum net? 's ischt e Wittfrau, geltet Sie?«

Schwemmerle verstummte. Wie wenn es mehrere Frauen dieses Namens in Hirrlingen gab? Daran hatte er noch nicht gedacht.

Endlich wagte er sich mit einer derartigen Frage heraus.

Der Wirth zuckte die Achseln »'s ischt mir net bekannt; i kenn' keine weder als. die Ein', und auch die net emal. Was bessere Leut send – da hat's keine Sieberlies drunter.«

»So, so, e Wittfrau,« murmelte der Amtsschreiber und guckte in sein leeres Bierglas.

»'s ischt e Webere,« sagte der Mastochsenmetzger über die Schulter weg, »ihr Mann ischt e Reicher gwe, aber er ischt um Hudel und Hab komme. I weiß net, wie 's gange ischt, – – nachher hat er e böse Trunk than und hat sich,« er fuhr mit den kurzen dicken Fingern über seine Gurgel.

»'s Weibsbild wird ihn dazu triebe han,« bemerkte Schwemmerle verächtlichen Tons.

»Nei, sell net, 's ischt e rechte Frau; nei, so eppes könnt mer net sage. Sie hat sogar Schulde z'rückzahlt, wo der Sieberlies bei mir do hinterlasse hat. Nei, sie ischt recht. – – So so, zur Sieberlies wollet Sie! Sind Sie eppes verwandt zu ihr? Oder kommet Sie von Amerika? Ihre zwei Bube sind in Amerika, die hänt auch Alles verlochet, was ihre Muetter zusamme g'haschpelet hat.«

»Ha, die Weibsbilder! die hänt's fauschtdick hinter d'Ohre!« sagte Schwemmerle in dem gleichen verächtlichen Ton; – all das Gute, das er von der Sieberlies gehört, wurmte ihn, forderte seinen Spott heraus. Kaum hielt er zurück mit seiner Anklage. ›Die werden 's schon sehe‹, dachte er ingrimmig.

Ohne auf weitere Fragen zu antworten, ließ er sich von dem Wirth das Haus der Sieberlies beschreiben, – es lag ganz am Ende des Dörfchens.

Ein kleines röthliches Licht fiel auf den Schnee unterm Fenster, und eine leise summende Frauenstimme sang da drinnen.

›Jetzt! jetzt!‹ dachte Schwemmerle. Sein Athem ging kurz und gepreßt; er griff nach dem Buben und schob ihn vor sich her in die nicht ganz geschlossene Hausthür, wie zum Schutz gegen seine eigne Heftigkeit,

Eine junge blasse Frau mit einem Kinde in den Armen ging drinnen, eintönig singend, auf und nieder. Als sie den Mann und den Buben sah, hielt sie den Schritt an und öffnete Mund und Augen weit.

Aber der Amtsschreiber konnte kein Wort herausbringen, die Aufregung erstickte ihn. So standen sie alle drei und guckten einander an, bis das Kind an zu schreien fing und die Frau ihr Auf- und Abwandern wieder aufnahm; der Raum dazu war eng, den größten Theil der Stube füllte der Webstuhl aus; aber es saß Niemand dran,

»Bin i hier bei der Weberin Sieberlies?«

»Jo« ...

»Sind Sie die Sieberlies?«

»Nei'« ...

»Wo ischt die Sieberlies?«

»Net daheim isch sie,«

»Sind Sie die Tochter?«

»Jo« ...

»I mueß mit der Mutter rede ...«

»Kann i 's ausrichte?«

»Nei ... kommt sie net bald heim?«

»Sie ischt auf Rottenburg natürlich, sie kommt erscht morge.«

Die Frau legte das Kind auf den Tisch, nahm ein Töpfchen Brei aus dem Ofen und begann Löffel um Löffel voll in das offne Mäulchen des Kleinen zu füllen; jedes Mal blies sie erst in den Löffel, daß der Brei umherspritzte; das Kind wurde roth im Gesicht, verdrehte die Augen und schluckte krampfhaft. Walterle sah ernsthaft zu, Schwemmerle ließ unschlüssig die Augen spaziren gehen, – es schien ihm unerträglich, daß er den Weg nutzlos gemacht haben sollte.

Plötzlich kam ihm ein verzweifelter Einfall.

»Arara! Arara!« schrie er, und dann fügte er eine ganze Reihe Locktöne hinzu, die er oft mit dem Vogel getauscht hatte: »Rooooa! rooooa!« klang es durch die stille Stube,

Die Frau hatte vor Schrecken den Löffel verschüttet und hastig das Kind vom Tisch gerissen, als müsse sie es schützen. Es keuchte und hustete, und sie schaukelte es in ihren Armen, während sie zuweilen ängstliche Blicke nach der Thür warf, die der sonderbare Mensch mit seiner ungeschlachten Gestalt versperrte. Sie war so eingeschüchtert, daß sie kein Wort sagte.

Der Amtsschreiber horchte indes vergebens auf eine Antwort seines verlorenen Lieblings. Er seufzte schwer, lehnte sich an die Wand und machte die Augen zu, ganz überwältigt von der neuen Enttäuschung,

Diesen Augenblick benutzte die erschrockene Frau, um hastig mit ihrem Kinde aus der Thür zu schlüpfen. Walterle zog den Versunkenen am Rock: »G'moindschreiber, mer münt heim!«

Da kam ein bartloser großgewachsener Bursche eilig herein und auf Schwemmerle zu: »Sie! was wollet Sie?« Er hatte die Hände in den Hosentaschen, aber an seiner Hast und der aufsteigenden Stirnröthe sah der Amtsschreiber, daß er diese Hände sehr schnell herausziehen und gebrauchen würde, wenn's sein müßte. Er trat den Rückzug an.

Da machte Walterle ganz dreist einige Schritte vor. »Mer mönt ab dem Rara luege.«

Der junge Bauer schüttelte den weißblonden Kopf, er verstand nichts.

»Mueßt düetsch rede! mueßt net so daher welsche!« Fremd reden.

»Ischt der Rara net do?«

»Nei, d' Mutter ischt auf Rottenburg; die –« er zeigte über die Schulter, »hat's Ihne jo g'sagt.«

Argwöhnisch und halb aufgebracht begleitete der Bauer die Beiden hinaus durch das Dorf, bis an den Löwen. Unterwegs hatte er sich beruhigt und dem Amtsschreiber noch einige Auskunft gegeben. Seine Frau war ein Kostkind der Sieberlies, aber sie hatte es allein in Gottesnamen aufgezogen, weil die Eltern »so Lompezuegs« keinen Rappenheller Kostgeld bezahlt hatten. Und seiner Frau und ihm ging's jetzt wieder so: ihr eigen Kind war gestorben, nun hatten sie dieses in der Kost, aber Niemand hatte noch je einen rothen Heller dafür bezahlt.

»'s macht net; mir möchtet's jetz nimmer hergebe, wann i heimkomm' ischt immer 's Erschte der Bub, und die Frau hat's auch so. Ja no, er wird schon mit groß werde...«

Schwemmerle ließ ihn reden, er hörte kaum hin.

Ein Holzschlitten, der gegen Dußlingen fuhr, nahm ihn und den Walter eine große Wegstrecke mit gegen kleine Bezahlung. Halb im Traum, erschöpft und gedankenlos, fuhr der Amtsschreiber hin durch die mondhelle Nacht.

Er war irre geworden an der Wahrheit der Anklage. Die Sieberlies schien ein grundbraves altes Weib zu sein, und selbst der Schatten einer Ursache fehlte, sie des Diebstahls zu bezichtigen. In seinen Ohren klang das leise Wiegenlied der jungen Frau, gedämpft wie das Rieseln des kleinen Baches, an dem sie hinfuhren. Der war voll träumerischen Lebens unter seinen weich mit Schnee behangenen Erlen. Dann hörte er das Lallen des Kindes und das unbeholfene Gestammel des jungen Pflegevaters, der dem Fremden sogar von dem »braven Büble« erzählen gemußt.

Eine Gutwilligkeit, ein ungewöhnlicher Friede schien unter dem Dach der Sieberlies zu walten, wo er gerade das Gegentheil, wo er alle schlimmen Erzteufel vermuthet hatte. Ein Friede, der auch über ihn gekommen war, seit er zwischen den weißen Feldern und den schwarzen Wäldern dahinfuhr.

»Hin ischt hin«, murmelte er, »es sagt's ja schon die Thekla im Wallenschtein: das ischt das Los des Schönen auf der Erde! Je nun, – so isch es!« – –

Aber am anderen Tage machte er doch die Klage anhängig gegen die Weberin Sieberlies von Hirrlingen, und eine Woche darauf wurden sie beide in Rottenburg vor das Amtsgericht geladen.

Und nun war es halb neun Uhr Morgens und der Zeitpunkt da.

Längst war die friedliche Stimmung jener Nacht wieder von Schwemmerle gewichen. Er wartete in der ärgsten Aufregung. Wie, wenn die Beklagte überhaupt nicht erschien? Als er gestern Abend nach Rottenburg gekommen, um nur ja den Termin nicht zu versäumen, hatte er sich überall erkundigt, aber Niemand konnte ihm etwas mittheilen, daß die Weberin Sieberlies hier sei.

In dem kleinen gangartigen Warteraum mit den gelbgestrichenen Holzbänken und dem thauenden Eis an den undurchsichtigen Scheiben, von dem schon über die Dielen lange Wasserlachen geronnen waren, tappte er hin und her, immer die Uhr im Auge, deren Zeiger nicht vom Fleck kam und zugleich die gelbe Thür mit dem Messingdrücker, die ins Allerheiligste führte.

Und endlich ging sie auf.

»Ischt der Herr Berthold Schwemmerle, Gemeindeschreiber von Dußlingen, ehemals Amtsschreiber in Urach, anwesend?« fragte eine strenge laute Stimme,

Schwemmerle stellte seinen Regenschirm aus den zitternden Händen, nahm den Hut ab und trat hastig über die Schwelle.

Aber heftig zusammenfahrend blieb er dort stehen.

Von einem Stuhl in der Ecke hatte sich eine große hagere Frau erhoben, deren Gesicht ihm angstvoll und gespannt entgegen starrte. Im Augenblick erkannte er es wieder; wohl an den funkelnden schwarzen Augen in ihren bleichen, von vielen Runzeln zerschnittenen Zügen.

Dies Gesicht war einmal wie eine Erscheinung an seiner Thür gewesen und hatte ihn erschreckt. Es war das Gesicht der Sieberlies, und – jetzt zweifelte er keine Minute länger, – das Gesicht der Diebin.

Wie in einer Betäubung gehorchte er der Aufforderung, vorzutreten, und in demselben Zustande beantwortete er die ersten Fragen. Als die Beklagte die Lippen öffnete und leise und gedrückt, mit halb schluchzendem Ton ihre Antwort gab, schlug sein Herz so hastig, daß ihm schwindelte. Unverwandt hatte er sie ansehen wollen, während der Untersuchungsrichter die Anklage verlas, aber er konnte nicht. Ihr Anblick erbitterte ihn zu sehr. Bei aller Aengstlichkeit war doch keine gemeine entstellende Furcht in ihrem klugen blassen Matronengesichte, das wenig von einer Bäuerin hatte. Etwas Frommes, Ergebenes prägte sich darin aus, wie sie, die mageren Hände gefaltet, den Kopf mit dem schwarzen Knüpftuch zu dem Lesenden erhob.

Und neben diesem viel zu feinen, viel zu einnehmenden Gesichte erbitterte ihn der Wortlaut der Klage. Wie schwach der Klang, wie ganz ohne Ernst und Bedeutung! Wegen Entwendung eines Papageis aus dem verschlossenen Zimmer des Klägers – pah! Das gab ja nicht den geringsten Begriff von dem, was ihm – Schwemmerle – angethan worden. Nun las der Beamte die Werthangabe vor, »zweihundertundzwanzig Mark«, Die Angeklagte stieß einen schweren Seufzer aus.

»So viel?« klang es; ihre Hände krampften sich fester in einander, die Nägel wurden ganz dunkel dabei.

»So, descht die Anklag'. Haben Sie dem eppes hinzuzufüge, Herr Schwemmerle?«

Der Amtsschreiber trat vor: »Die zweihundertzwanzig Mark«, stammelte er, »descht nur der Kaufpreis, aber der – der – Liebhaberwerth, descht in dem Fall die Hauptsach! In der Anklag' ischt bloß so ganz allgemein voneme Papagei die Red'! Ja – Du lieber Gott, Papageie hat's viele! Papageie hat's ganz gemeine, aber natürlich, descht in dem Fall ganz eppes Andres, Ferner ischt zu berücksichtige, daß mit dem Diebschtahl Einbruch verbunden ischt. Mei' Schtubeschlüssel ischt bei mir im Sack g'wese nach wie vor, 's ischt am Schloß eppes g'macht worde! Ferner ischt Anklag' zu erhebe Wege böswilliger Eigethumsbeschädigung. In der Kammer von der Leokadia Lochstampferin sind die Federen hier entdeckt worde!« Er zog mit glühenden Augen das Papierchen hervor, »Hinterem Ofen sind sie g'schtecket, 's ischt e tief schmerzliche Entdeckung g'wese! Die Federe sind von meinem unvergeßliche« – – Nun war ihm richtig die Stimme umgeschlagen, und er sah den Blick des protokollführenden Schreibers mit spöttischem Lächeln auf sich her gewendet. Die Wuth übernahm ihn.

»Descht e verfluchte Sauerei!« kreischte er und warf die Federn auf den Tisch, »en unschuldig's Thierle, wo in der ganze civilisirte Welt für seine G'scheidtheit und mehr als menschliche Verschtand geachtet und geschätzt wird, so zu behandle! Descht Vandalismus! Wer so eppes macht, descht 'e Furie! e Furie!« Und in seinem Toben erhob er drohend die Faust gegen die ganz an die Wand zurückweichende Frau. Er hatte gar nicht vernommen, daß ihn der Untersuchungsrichter schon zweimal zur Ruhe verwiesen hatte. Nun schlug derselbe derb mit einem Lineal auf den Tisch:

»Kläger! mäßigen Sie sich! Es ischt so noch net bewiesen, Sie haben kein Geschtändniß von der Frau Barbara Sieberlies, oder?« Schwemmerle schüttelte setzt stumm den Kopf, mit drohend zusammengezogenen Augen, als ob er gleich wieder losbrechen wolle. Aber auch Barbara Sieberlies hatte schon ein paarmal eine Bewegung gemacht, wie wenn sie zu sprechen wünsche.

Allein der Untersuchungsrichter wandte sich wieder an Schwemmerle:

»Kläger, können Sie den Beweis erbringe, daß Sie so e Sitter wirklich besesse habe? Wie wolle Sie das beweise?«

Der Amtsschreiber griff in seine Brusttasche und brachte ein umfangreiches ledernes Portefeuille zum Vorschein, dem er ein zusammengefaltetes Blatt Papier entnahm:

»Hier ischt de Quittung,«

Der Richter prüfte sie umständlich, indem er einige Worte daraus halblaut und wiederholt vor sich hinsprach.

Nun hob er den Kopf.

»Hier ischt ja nicht die Red' von eme Papagei oder Sitter, – hier schteht eppes andres »für einen A–r–a–ra«? Ja, was ischt das? Hier, leset Sie!«

»'s ischt dieselbe Sach', 's ischt nur so e Abart,« sagte Schwemmerle, unruhig über die Verzögerung,

»Ja – wie könnet Sie das beweise?« schnarrte der Beamte ihn an.

Der Amtsschreiber tanzte von einem Fuß auf den andern.

»Beweise! Beweise' kann i 's net, aber i sag's Ihne, – Arara ischt der Sitter, wo in Brasilien vorkommt, – wemmer nur e naturgeschichtlich's Werk bei der Hand hätt'. – Kennet Sie eppe Brehm's Thierlebe?«

»Wie meinet Sie?« schrie der Untersuchungsrichter, die Hand ans Ohr haltend, mit erboster und verwirrter Miene: »Wenn Sie Alles auf einmal saget, no verschieb' ich ebe gar net. Mäßige' Sie sich!«

Er nahm die Klage wieder vor und vertiefte sich hinein. Dann schlug er mit der Hand darauf: »'s ischt also ebe unrichtig und unklar abgefaßt! Wie könnet Sie behaupte, daß Ihne e Sitter g'schtohle worde ischt, wenn Sie e« – – er guckte wieder in die Quittung – »e Kra–a–ra–ra– – A–ra–kra gekauft habe?«

Sein herausfordernder Blick schüchterte Schwemmerle ein, ihm begannen die Schweißtropfen auf die Stirn zu treten. Wieder machte die Sieberlies eine Bewegung vorwärts, sie erhob sogar die Hand, und ihre Lippen formten unhörbare Worte.

»Mer könnt's in der Klageschrift so anmerke: »Papagei, in Klammer Arara,« sagte der Amtsschreiber kleinlaut.

Der Beamte zuckte unwillig die Achseln, auch er schwitzte bereits.

»Also!« machte er, »anmerke! »ein Papagei in Klammer Kra–kra–ra–ra–« er blickte von einem Blatt zum andern, fand, daß er den Namen falsch geschrieben hatte und kratzte sich wüthend am Kopf. Dann strich er aus, schrieb noch einmal, und seine Züge fingen langsam an, sich nach der schweren Anstrengung zu glätten.

»Also! Jetzt könnet mer weiter prozedire. Sie habe also den – – Papagei gekauft und in Ihrer Schtub' verwahret, oder in eme Schtall?«

»In meiner Stub', er ischt ja völlig zahm g'wese.«

»So, so! er ischt zahm g'wese. In Ihrer Schtub' also, in eme Käfig.«

»Auf eme Schtänder,« seufzte der Amtsschreiber.

»Was ischt das? Erkläret Sie sich deutlicher«, sagte der Richter strenge.

Schwemmerle mühte sich mit der Beschreibung unter erneuten Schweißausbrüchen, der Erfolg war nur unvollkommen.

Wieder guckte der Beamte in die Klageschrift.

»Sie behaupten also, daß Ihne der – – Papagei am dreizehnte September laufenden Jahres, Vormittags zwischen acht und Nachmittags zwischen zwei Uhr geschtohle worden ischt. Wie wolle Sie das beweisen?«

»Wie ich Morgens acht Uhr mein Zimmer verließ, saß er eben wohlbehalten auf seiner Schtange, als ich um zwei Uhr Nachmittags heimkam, war er verschwunden«.

»Ja, – 's ischt en Vogel g'wese, sage Sie?«

»Wohl, wohl, en Vogel«.

»Ja – aber d' Vögel könne' ja fliege! Wie wollet Sie beweise, daß er net wegfloge ischt?«

»Im verschlossenen Zimmer« – – stotterte Schwemmerle.

»Im verschlossene Zimmer kann 's gleich wohl offene Fenschter habe! Ischt kein Fenschter offen g'wese?«

Ueberwältigt ließ der Amtsschreiber den Kopf auf die Brust sinken. »Wohl, wohl, 's ischt eins offen g'wese.«

Der Beamte legte voller Triumph die Feder nieder: »Also, also, also, also?«

Die Unruhe der Sieberlies wuchs noch immer, sie seufzte, und tiefe Erschöpfung zeigte sich auf ihrem eingefallenen Gesichte, aber die beiden Männer waren so mit sich beschäftigt, daß sie keine Notiz von ihr nahmen. So sank sie endlich müde auf einen Stuhl an der Wand. Schwemmerle aber rückte mit neuer Lungenkraft heraus, nachdrücklich uud entschieden.

»Erlaubet Sie,« sagte er, »auch ich habe in dem Glauben gelebt, daß mein – daß der Papagei weggefloge ischt. Zwei Monat bin ich krank gelege vor lauter Zorn und Heimweh nach dem Thierle: no, beim Auszug habe ich in der Kammer von der Leokadia Lochschtampfer, wo meine Wirthin und Nachbarin g'wese ischt, diese drei Federn entdeckt.« Er suchte nach dem Papier und zog die Federn, eine nach der andern, liebkosend durch die Finger.

»Ja, soo!« machte der Untersuchungsrichter, »freilich, freilich! Aber wie wollet Sie beweise, daß die Federe von Ihrem – – Sitter herstammet?« Und staunend schob er die Brille auf die Stirn und fixirte das Indizium.

»Beweisen kann ich's net, aber ich weiß, daß sie von meinem Arara sind«, betheuerte der Amtsschreiber eifrig.

»Woher wisset Sie 's denn? Sind 's net Hahnefedere, das? Was für e Farb' habe sie?«

»Blau! blau!« und Schwemmerle rückte den Schuldbeweis ihm dicht vor die Augen.

»Blau? aber die Papageie sind net blau, die Papageie sind grün, denk ich?«

»Es hat auch blaue, die grüne sind ebe die ganz gemeine!«

»So, so, es hat auch blaue! Aber ischt es net von eine Hahn?«

Der Amtsschreiber verschwor sich hoch und theuer, einzig sein Arara habe derartige Federn, und der Untersuchungsrichter hörte zu mit der Miene eines Mannes, der ganz zufrieden ist, auch mal wieder etwas Neues zu lernen. Der Bericht schloß damit, daß diese Federn im Zimmer der Leokadia Lochstampfer, Linnenhändlerin gefunden worden.

Der Beamte stutzte, riß die Augen auf, guckte in die Anklageschrift und sagte plötzlich mit unwirschem Ton nach der Ecke hin:

»Sind Sie die Leokadia Lochschtampfere?«

»Nein – ich bin« die alte Frau hatte sich erhoben.

»No, warum net?« fuhr der Richter sie an, »warum sind Sie net die Lochschtampfere? Was wollet Sie hier?«

Zitternd hielt sie ihm die Vorladung hin, und Schwemmerle schrie: »Auf mein Befragen erklärte alsdann die Leokadia Lochschtampfere, sie wisse nichts von der Sache, aber ein Frauenzimmer Barbara Sieberlies, Weberin zu Hirrlingen habe davon Kenntniß, und dasselbige Frauenzimmer habe sie einen feierlichen Eid schwören lassen« –

»Wartet Sie! wartet Sie!« donnerte der Untersuchungsrichter, »haben Sie nicht gehört, daß Sie nicht Alles auf einmal vorbringe solle? Mer verschteht ja net« Und wieder schrie er unerwartet gegen die Wand hin:

»Sind Sie die Barbara Sieberlies, Weberin von Hirrlingen?«

»So ischt mein Name,« erwiderte sie schnell; sie war abermals aufgestanden und schien reden zu wollen. Zum ersten Mal drehte der Beamte seinen rothen kurzhalsigen Kopf ihr zu.

»Also! also! Sie, Barbara Sieberlies, haben also Kenntniß, wie die Federe hier in die Kammer von derrr–« er suchte auf dem Papier;

»Lochschtampfere« half ihm Schwemmerle.

»Von der Lochschtampfere komme sind. Ischt es so?«

Barbara Sieberlies, grade aufgerichtet, und die Hände eng verschränkt, erwiderte:

»Ja.«

Schwemmerle trat einen Schritt zurück. Es war ihm, trotz all des Wartens, trotz allen Kummers, als habe er mit diesem »ja« einen Schlag gegen die Brust bekommen.

»Sie hänt also meinen Arara geschtohlen?« ächzte er.

»Ja.«

»Was hänt Se mit em g'macht?«

Der Beamte schlug auf den Tisch, daß die Papiere herumflogen.

»Wartet Sie! wartet Sie!« ertönte seine rollende Stimme, »Sie mönt net vorgriefe! zu was bin i denn do? – – Barbara Sieberlies, bekennet Sie sich schuldig?«

»Ja,« sagte die alte Frau.

»Sie hänt de – – Papagei g'schtohle? Jo worum?«

Mit einem tiefen Seufzer begann die Weberin:

»Liebe Herre, i will's ja Alles sage und geschtehe, wie 's gangen ischt, und daß mi kein böse G'lüscht und Meinung zu dem Diebschtahl verleitet hat! I bin en alte Frau und bin unbescholte in mein achtundsechzigschtes kommen, no darf i wohl bitte, daß Sie mir Glaube schenket. I han viel z'leiden g'habt in eme lange Lebe. Mein Mann selig hat e bösen Wein trunken, und wann er so heimkommen ischt, im Rausch, hat er sich selbscht net kennt und mi net kennt und seine Buben net kennt, i will net mehr von em rede, sein Hudel und Hab ischt im Wirthshaus bliebe, und was i noch rettet hab, das hänt meine zwei Buebe fertig g'macht, – sie hänt 's halt von ihm g'lernt, wie er's triebe hat. No – –«

Schwemmerle zappelte vor Ungeduld mit Händen und Füßen; er blickte flehend den Untersuchungsrichter an, er stieß allerlei Töne aus, aber der Beamte hatte behäbig die Arme aufgestützt und hörte andachtsvoll der Sieberlies zu. Sie sprach weiter.

»No han i emal g'hört, zwanzig Jahre mögen's her sein, daß mer e Mittel hat, wo gege die Trunksucht unfehlbar helfe kann, wemmer's ohne Vorwissen von dem betreffenden Mann in sein' Wein oder Bier schüttelet. Zwanzig Jahr han i das Mittel kennt und han' auf das Mittel plangt und han's net anwende könne.«

Der Amtsschreiber wand und krümmte sich, trotz des strafenden Stirnrunzelns, mit dem der Beamte ihn zuweilen ansah.

»Was ischt das?« schrie er jetzt, seiner nicht mehr mächtig, »i will wisse, was Sie mit dem Papagei g'macht habet. Ischt er noch lebendig?«

Barbara Sieberlies schüttelte den Kopf, indes der Richter wieder auf den Tisch hieb': »No wartet Sie! wartet Sie! d' Sach ischt ja no net fertig!«

Aber Schwemmerle sagte auch nichts jetzt; er wollte hinauslaufen, seinen Hut nehmen und gehen. Zu was sollte er hier bleiben und das Geschwätz anhören? Es war ihm Alles gleichgültig. Die Alte hatte ihn umgebracht, sie hatte es selbst eingestanden. Plötzlich kam die Wuth wieder:

»Furie! Megäre!« kreischte er sie an, »wozu? warum hänt Se ihn umbracht?«

Barbara Sieberlies war wieder zurückgewichen. »Hänt Sie noch en Augeblick Geduld, Herr, nur en Augeblick, daß i's Ihne sage kann, warum, Lueget Sie, mein Mann ischt g'schtorbe, meine Buebe sind verdorbe, mei Hab und Guet ischt alle worde, und i ben alt worde. Aber die böse Sucht, die Trunksucht ischt net g'schtorbe im Dorf! Den Eine' hat's packt, den Andre hat's packt, und elend, elend sind Weiber und Kinder z' Grund gange. Und i han das Mittel kennt, und auf das Mittel plangt und han's net könne anwende.«

»No, was isch es denn für e Mittel! Isch es eppe die Fedre vom e Papagei?« höhnte der Amtsschreiber.

»Die Federe net – 's ischt die Leber voneme Sitter!«

»Huh!« schrie Schwemmerle auf und stopfte sich die Finger in die Ohren, indes ein unsäglicher Abscheu sein Gesicht verzerrte. Er fühlte nach seinem Herzen, es war ihm, als wühle ein Messer in seinen Eingeweiden, ein ganz neuer, ganz unbezwinglicher Schmerz. Sein Wehgeschrei machte die Frau noch mehr erbleichen. Sie hob die gefalteten Hände empor:

»Ach, lieber Herr, Sie wisset's net, was andre Leut für Schmerze habet!« sagte sie bittend.

Schwemmerle stampfte und schäumte: »Andere? Andere Leut? Was gehn mi andre Leut an? Wer bekümmert sich um mi, und um wen han' i mi bekümmeret? Um e Trunkebold! Um e Saufaus! Um e nichtsnutzige Aberglaube ischt das Thierle hinopferet worde! 's ischt schändlich! o 's ischt schändlich! Zwei Jahr' han i g'schpart; zwei lange Jahr' net ins Wirthshaus gange außer am Samschtag! kei Tabak! kei Zucker zum Kaffee, und Alles vorbei! Und auf dere Art! Nei, nei, nei – i kann's net denke! Was für e Tigerherz so e Weibsbild hat! Uh! Uh! Uh!« – –

Der Beamte war schon blauroth vor Anstrengung, sogar das Lineal hatte er zerbrochen, ohne Ruhe zu erlangen. Jetzt bog er sich mit seiner kurzen Figur über den Tisch und packte Schwemmerle am Rockärmel:

»Die Angeklagte soll rede! Sie mönt schweige! Mäßige Sie sich! Angeklagte, Barbara Sieberlies, fahret Sie fort.«

»Am letzte Auguschttag ischt es gwe«, begann seufzend die Alte, »wo sie zu Dußlinge Händel im Wirthshaus kriegt hänt, bis Einer todt dag'lege ischt. 's ischt der Hörle gwe von Hirrlinge, auch e Braver, wenn er net voll ischt! I han de Jammer von sei'm Weib g'hört und g'sehe; i han's g'hört, wie sie de lieb Heiland bittet hat, daß er möcht 'andere Weiber vor eme gleiche Unheil bewahre. I han kein Tigerherz, lieber Herr, g'wiß net, 's ischt mer durch und durch gange! Und denn han i noch eppes g'sehe. Sell ischt der Weymer gwe, wo in der gleiche Woch' sei junges Weib us em Kindbett auf de Bode zerret hat in sei'm Rausch und hat's trette und malträtirt, daß es g'schtorbe ischt de ander Tag! De Weymer han i sitze sehe bei sei'm todte Weib und heule wie en Thier! – Das Mittel! das Mittel! han i denkt! De ganz' Nacht han i 's net us 'm Kopf bracht. Das Mittel! das Mittel! Und lueget Sie, auf einmal kommt die Lochschtampfere von Dußlinge wegen der Webete Gewebe. und sagt: ›'s ischt en ausländisches Thierle jetzet im Haus, e Papagei!‹ 's hat mir e Schlag than, 's ischt e Fingerzeig vom liebe Heiland gwe. Seit dere Schtund han i kein Ruh und Rascht g'habt; 's ischt, wie wenn 's mi hinzoge hätt' gegen Dußlinge, daß i d' Sitter in mein' Gewalt bringe kann. Und wenn's mein' Ehr und Seligkeit löschte thät, han i denkt, de Sitter mueßt ha'.« –

»Und so hänt Se den Einbruch verübt«, nickte der Beamte.

Die Weberin schüttelte den Kopf. »Er ischt zum Fenschter use, zufällig; de Lochschtampfere hat mir ihren Schlüssel gebe, aber er hat net paßt, und zufällig kommt der Sitter zum Fenschter use, mir selbst in d' Weg. Ischt es net e Fingerzeig von obe gwe?«

Sie spreizte ihre mageren Finger, die mit dunklen Narben über und über bedeckt waren.

»Bis auf d' Knoche hat er mi bisse; i han vierzehn Tag' lang net schaffe könne.«

Ein Triumphblitz brach aus Schwemmerles Augen, aber er sagte nichts mehr.

»Und das Mittel?« der Untersuchungsrichter rückte neugierig hin und her, »hat doch nicht g'holfen!«

»Wohl! wohl! 's hat geholfe! Schon zwei Mann sind vom Saufe kurirt worde! Die Leber ischt dörret und pulveret, und soviel han' i bettet dabei und han mei' Ehr' dazu legt, denn i weiß es ja guet – i han e Diebschtahl begange, i han mei' Ehr' verlore.«

»Und Kurpfuscherei!« rief Schwemmerle, »Sie hänt doch jedefalls Geld g'nomme? Blutgeld!«

»Nein«, sagte sie ruhig zu ihm hinsehend, »Geld han i net g'nomme, d' Sach' ischt ja net meine gwe.«

»No ischt d' Anklag auf de Kurpfuscherei hinfällig«, bemerkte der Richter, »Aber ins Loch mönt Sie! Oder könnet Sie zahle? Zweihundertundzwanzig Mark und die Koschten. Wie schtaht's?«

»I han 's net, i will's denn ime – Gefängniß abarbeite.«

Der Beamte fragte, ob sie die Strafe – zwei Monate – gleich antreten wolle. Sie bat, wenn es möglich sei, ihr zu erlauben, daß sie zuvörderst nach Hirrlinge zurückkehre, um ihre Pflegetochter zu benachrichtigen.

Mit festem Schritt ging sie hinaus.

Aber als sie in dem Vorzimmerchen mit Schwemmerle zusammentraf, der mit ganz zerbrochener Miene seinen Schirm suchte, sank sie plötzlich lautlos in die Knie:

»Verzeihet Sie mir!« flüsterte sie, »i han Ihne arg weh than; i han's net bös g'meint.«

»No – hm hm!« machte Schwemmerle erschrocken,

»also – also – nei, Sie mönt aufschtehe! Adie!« Er zog verlegen den Hut ab und stürmte schnell aus dem Zimmer. –

Und die alte Weberin Barbara Sieberlies wanderte heimwärts durch den Schnee, durch das Thal zwischen den weißen Feldern und schwarzen Wäldern, mit der schweren Botschaft, grübelnd und traurig.


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