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Der alte Prediger

Wie Kirchengänger mußten unter den Gerüsten hindurchgehen, theilweise um sie herum, wenn sie durch die kleine Seitenthür herein wollten; das Hauptportal war verrammelt, seit die Kirche in Reparatur war. Fast schon ein Jahr ging das so; seit einem Jahr fast guckten die Frauen, wenn sie unter den Gerüsten hindurchgingen, mißtrauisch nach oben: es konnte da Kalkflecken auf ihre schwarzen Kleider abgeben. Sogar drinnen in dem alten ehrwürdigen, aber kahlen und kellerkalten Bau klopften und klatschten die Maurer an Werktagen, und ihr Geräth, die bespritzten Kübel und Kellen, standen auch am Sonntag da drin. Der Chor war gestützt worden, weil er einzustürzen drohte, und man mußte über lose Bretter gehen, die wackelten und hallend aneinanderschlugen, wenn man hinauf wollte. Die Konfirmanden pflegten dort Wippspiele zu arrangiren, weil sie sich in der Kirche in diesem Winter als Stammgäste fühlten.

»Ja, es dauert schon lang, aber recht wird's«, sagten die geduldigen alten Leute und rieben verstohlen das Schienbein, das sie an einem Stützpfosten in der trüben Dämmerung herzhaft gestoßen hatten.

Die Jüngeren schüttelten die Köpfe und schalten: war das ein unausstehlicher, unerträglicher Schlendrian! »Und was schließlich dabei herauskommt, wer weiß es? Es kracht und knistert in allen Fugen, und der Kalk fällt Tag und Nacht. Wenn so ein Bau einmal das Alter hat, nun so sollt' man ihn umreißen und einen neuen, sicheren aufführen! Wofür hat's all die Architekten in der Stadt?«

»Umreißen!« sagten die Alten und lachten, »eine prachtvolle gothische Kirche, wie die! So etwas baut ja heute kein Mensch mehr, das versteht ja Niemand! Sie mag ja wohl verwittert sein, aber desto lieber ist sie uns! Hier hat Zwingli gepredigt.«

»Das ist eine Sage!« räsonnirten die Jungen. »Einmal, ein einziges Mal soll er in unserer Kirche gepredigt haben. Nun, was hilft's? Die Kirche fällt trotzdem ein; Zwinglis Athem hält die Steine auch nicht bei einander, wie's scheint.«

Und die Reparatur nahm ihren Fortgang, denn das erhaltende Element überwog in der Gemeinde.

Aber die Jungen suchten eine Gelegenheit zu spitzigen Worten.

»Könnt Ihr nicht zum Wenigsten auch unsern Prediger in Reparatur geben? Es wird ja unmöglich, ihn zu verstehen.«

»Wohl wohl, ein klein wenig mühsam«, nickten die Alten, froh, daß es sich nicht um die Kirchenmauern handelte.

»Wenn er so weiter macht, schläft nächstens die ganze Gemeinde; murmelt nur so für sich allein, es ist eine Schande!« hieß es bissig.

»Eben, eben, er ist halt bei Jahren!« und die Alten hüstelten verlegen; sie schämten sich ihres eigenen Alters.

»Er hat keine Vorderzähne mehr! solch ein Mensch darf doch nicht predigen! da sitzen die jungen Kandidaten und warten.«

»Ja, eine funkelnagelneue Kirche, und darin ein blutjunger grünschnabliger Kandidat! das möchtet Ihr. Nein, nein, nein!«

»Oho!« und die Jungen steckten die Köpfe zusammen und beriethen, »immer werdet Ihr auch nicht Meister bleiben!«

Gerade der Kirche gegenüber wohnte der alte Prediger. Es gab Keinen in der Gemeinde, dem ihre alten grauen Mauern so lieb waren, wie dem alten Prediger. Die hölzernen hellen Gerüste thaten seinen Augen fast weh, und er sehnte sich täglich, daß die Reparatur ein Ende nehmen möchte. Wenn er in dem verfallenen Kreuzgang wanderte, der zu dem ehemaligen Kloster dieser Kirche gehört hatte, und die Sonne auf dem grünen Rasen mit den staubigen Sträuchern ruhte, dem alten Klostergarten, dann war ihm wohl und behaglich zu Muth, als ob das seine eigentliche Heimath sei, und nicht die lärmvollen Straßen da draußen, in denen unaufhörlich die elektrischen Glocken der Straßenbahn klingelten und hastige Geschäftsleute umhereilten. Und die Wäsche der Küstersfrau, obgleich sie ihm durch quer im Kreuzgang ausgespannte Seile oft den Spaziergang abschnitt oder das hohe saftige Gras verdeckte, störte ihn kaum in seinen andächtigen, behaglichen Gefühlen. Hier erdachte er seine Predigten, hier kamen ihm die besten Gedanken, wenn die Tauben, die im Thurm in Scharen nisteten, ihn bettelnd umflogen oder vor ihm hertrippelten auf den löchrigen, mit mancher halbverwischten Inschrift bedeckten Grabtafeln des Kreuzgangs. Sie wußten's, daß er die Taschen voll Gerste und Erbsen für sie hatte und ihnen mit zerstreutem Lächeln und ein wenig ungeschickter Hand je im Gehen einen Leckerbissen spenden werde, während seine Gedanken sich zu Sätzen, seine Sätze zu logischen Reihen aneinander schlossen. Selbst im Winter, wenn Schnee auf dem Rasen lag, ging der alte Prediger warm eingehüllt, in einem dicken Kragen, einer abgeschabten Jagdmütze mit Ohrenklappen und gefütterten Filzstiefeln im Kreuzgang spaziren, wenn die Predigt gemacht werden sollte. Oft pfiff eisig der Wind aus den Ecken, auf den Grabplatten lag Reif oder halbgeschmolzener Schnee, die Tauben kamen nicht zum Vorschein, in den alten Wänden war ein fortwährendes Aechzen und Krachen.

»Vater wird heute nicht ausgehen, gelt Vater?« sagte an einem solchen Tage die unverheiratete Tochter, die ihm die Wirthschaft besorgte, »im Studirzimmer ist's gut warm. Kaspar hat's auch gesagt, es wäre besser für den Vater.«

»Ja ja, die Herren Aerzte, die soll man mir fragen«, schmunzelte der Alte, »aber ich bin gesund, Gott sei Lob und Dank, brauche keinen Arzt, und wenn's mein eigener Sohn wär'.«

Indeß der Doktor, der Kaspar, nahm auch kein Blatt vor den Mund, »Vater«, sagte er, und sah seinen Alten so recht würdevoll väterlich ermahnend an, »wenn Du's so weiter treibst, so steh ich für nichts. Du thust, als sei'st Du ein Jüngling, aber ich sag Dir's, ein Wind geht draußen, es jagt mich schier um, wo ich doch noch fest hin stehe. Sei doch auch vernünftig.«

Der alte Prediger, ein kleiner gedrungener Greis mit großem Kopf, langem grauen Bart, wurde fast noch kleiner vor dem Uebergewicht seines Sohnes.

»Wohl, wohl«, murmelte er, »so alt bin ich doch noch nicht, daß ich nicht wüßte, was ich thue, mein Sohn, Noch steh ich fest genug, siehst es?« Und er guckte ein wenig verlegen an seinen Beinen hinunter, die von der straffen Stellung, die er ihnen zu geben suchte und von der ihnen zugewendeten Aufmerksamkeit in ein leichtes Zittern geriethen.

»Denk an uns, Vater!« rief die Schwiegertochter, Kaspars Frau, und sie versuchte, den Greis zu umarmen und so zurück ins warme Zimmer zu zwingen.

»Nein!« der alte Prediger riß sich los, »nein, Ihr seid selbständige, erwachsene Menschen, Ihr richtet Alles gut ohne mich. Ich muß an mein Amt denken, ich muß nachdenken, was ich übermorgen sagen will.«

»Hast ja solch eine Reihe fertiger Predigten, Vater; mach einmal bei Dir selbst eine kleine Anleihe!«

Der Bestürmte erröthete verwirrt. Diese kleinen Anleihen machte er seit Jahren, sie waren sein Geheimniß, ein beschämendes Geheimniß, das ihm schon viel trübe Stunden gekostet hatte. In den letzten Jahren brachte ihm der Kreuzgang wenig neue Gedanken. Es war nur eine liebe Gewohnheit geworden, dort umherzugehen und in andächtige Träumereien zu versinken, die zu unbestimmt, zu undeutlich waren, um in Worte gesaßt zu werden.

»Ich möchte etwas über die Bergbahnen einflechten«, sagte er mit einem plötzlichen Aufblick, als ob er wieder Muth faßte, »ich muß das überdenken.«

Die Kinder, – sie wohnten sammt ihrem jungen Nachwuchs im Hause des Vaters – blieben nachdenklich bei einander stehen: Kaspar hatte eine Unmuthsfalte auf der Stirn, aber Balbina, die Unverheirathete, trocknete sich verstohlen die Augen.

»Vater opfert sich auf«, sagte sie schluchzend.

Der Sohn zuckte unbehaglich die Achseln, er blickte die Thür an, durch die der alte Prediger verschwunden war.

»Mir wird manchmal so angst«, seufzte Balbina. Die Schwägerin legte den Arm um ihre mageren Schultern.

»Warum dankt Vater nicht ab?« flüsterte sie ihr ins Ohr. Balbina fuhr zusammen, sie schien zu fürchten, daß Jemand das Wort gehört hätte, außer ihr. »Vater?« fragte sie hastig.

Der Sohn hatte wirklich gehört, was seine Frau gesagt hatte.

»Ja, das wäre das Beste,« nickte er, »es ist ja schon fast traurig, was sie sagen.«

»Was können sie sagen?« fuhr Balbina auf.

»Sie sagen, vielleicht ist's gut, was unser alter Pfarrer predigt, aber man versteht ihn halt nimmer.« In seinem Gesicht erschien ein wehes mitleidiges Lächeln.

»Ich sollte denken, seine Pfarrkinder, die nun Jahr aus Jahr ein – –« begann Balbina entrüstet.

»Nein,« unterbrach Kaspar, »Vater muß abdanken, man muß es ihm sagen.«

»Schonend sagen!« wiederholte Ida in bestimmtem Ton.

Balbina trat hastig einige Schritte zurück: »Ich nicht!«

»Vater ist auch ein wenig – hart – hart – nackig,« sagte Ida leise und mit gesenktem Kopf, »daß er sich durchaus nicht an das Gebiß gewöhnen will. Es paßte doch so vorzüglich.«

»Ja, aber damit sprechen konnte er nicht, dann wurde er wirklich unverständlich!« Balbina seufzte.

»Die Frage ist Vater übrigens durchaus nicht neu,« fuhr der Doktor fort.

»Welche Frage?«

»Die Frage des Abdankens.«

»Ach, schweig' doch, Bruder!« rief Balbina.

»Und ich fürchte, wir können hier noch etwas erleben, nach dem, was ich so aufgefangen habe.« Kaspar sprach vorwurfsvoll, ermahnend.

Die beiden Frauen sahen sich schnell an, Balbina mit blinkenden Thränen.

»Das thun sie nicht! Vaters Gemeinde ist die frömmste in der ganzen Stadt, das ist nun wirklich nicht recht von Dir, Bruder, ihnen so etwas zuzutrauen.«

»Ja, aber wenn sie ihn nicht mehr verstehen können? sag' selbst!«

»Nein, nein, es gibt noch Pietät in der Welt, das thun sie nicht! Wegwählen? Vater wegwählen! Einen neunundsiebzigjährigen Mann! Der mit allen Familien der Gemeinde so zu sagen verwachsen ist! Und wenn sie ihn wirklich nicht gut verstehen, wissen sie denn nicht genau, was er sagt, und daß es immer schön und fromm ist und aus treuem christlichen Herzen kommt?«

»Mich mußt Du nicht belehren, Balbina,« sagte Kaspar. »Es ist nur, daß ich heute Jemand von der Kirchenpflege gesprochen habe, und daß ich glaube, es ist höchste Zeit.«

Balbina heftete Blicke des Schreckens auf den Sprechenden.

»Ja, dann ist es nun wirklich die höchste Zeit,« begann Ida.

»Was weißt Du davon?«

»Ich meine, wenn sich die Kirchenpflege auch in diesem Sinne ausspricht – –« Ida zögerte.

»Oh, oh, oh!« Balbina hob die Augen zur Decke, »so wollen sie ihn zur Abdankung zwingen durch Furcht. Schändlich! Wo ist die Pietät geblieben!«

»Wie lange ist's bis zur Wahl?« Ida flüsterte es ihrem Manne zu.

»Noch vier, fünf Wochen. Aber ich sage Euch, wir dürfen es nicht auf die Wahl ankommen lassen. Wir müssen darauf gefaßt sein, daß eine große Mehrheit der Ansicht ist, daß man den Pfarrer verstehen müsse. Wäre ich nicht der Sohn, ich gäbe den Leuten Recht. Es hilft nichts – wir müssen Vater durch Vorstellungen, Bitten dahin bringen, daß er selber geht. Ja, Balbina, das ist Frauengeschäft, pack' Du's an!«

»Es ist die höchste Zeit!« wiederholte Ida. Balbina sagte nichts, ihr Gesicht war geröthet vor Aufregung und Thränen; sie hatte hart die Hände gefaltet und stand noch so mit eingebissener Lippe, als die Geschwister gegangen waren.

Draußen stapfte der alte Prediger im letzten mißfarbenen Schnee und suchte nach Gedanken über die Bergbahnen. Sie gefielen ihm nicht, diese Bahnen, aber er konnte seine Abneigung nicht begründen. »Ueberall Eisenbahnen, sogar jetzt auf die Jungfrau – nein, nein!« wiederholte er kopfschüttelnd, aber weiter wollte ihm nichts einfallen. ›Sie sollten dort oben Gottes Nähe spüren, und sie werden nur den Qualm der Lokomotive wahrnehmen‹, dachte er und wurde ein wenig zufriedener; das konnte er sagen, so mit diesen Worten. Ihm selber athmete Gottes Nähe auf den Bergen, überwältigend, ehrfurchtgebietend. Als ganz junger Student hatte er dort etwas erlebt, etwas Bestimmendes, Entscheidendes. Mit grausiger Deutlichkeit stand das ganze Erlebniß in diesem Augenblick vor ihm; er fühlte eine leise Bewegung seiner Kopfhaut, langsam richteten sich seine Haare auf. Zwei fröhliche Burschen, einer davon ist er, gehen in herrlicher Laune, Jugendkraft und Jugendübermuth, der Sonne entgegen. Sie wollen die Jungfrau besteigen. Ohne Führer. Sie sind ja hier in der Nähe daheim, haben ihre gute Karte in der Tasche und im Kopf die genaue Wegleitung, die ihnen der Michel Schrey, der vertrauteste Führer, mit Kreide auf den Tisch gezeichnet hat, gestern Abend im Schwarzen Kreuz in Interlaken.

Schon haben sie die Häuser weit hinter sich, die eisige Dämmerung beginnt zu weichen, in überirdischem Rosenlicht erschimmern die Schneehäupter auf dem zartgrünen Himmel, da kommt's hinter ihnen hergekeucht und ruft sie an, daß sie still stehen sollen. Ein wohlbeleibter Mann mit rothem Gesicht, schon ein wenig außer Athem. Was will er von ihnen? Nicht viel; so gut wie gar nichts. Nur sich ihnen anschließen auf ihrem Marsch, denn er ist fremd hier, kennt die Berge wohl, hat aber lang' schon keinen mehr gesehen, wohnt jetzt im Flachlande, hat arges Heimweh verspürt, möcht' auf die Jungfrau hinauf und kennt doch den Weg nicht.

»Von Herzen gern!« sagen die zwei Studenten, »warum nicht? Marschiren könnt Ihr?«

»Freilich, freilich! nur eben jetzt ist mir der Athem fast ausgangen, weil ich Euch nur zu spät gesehen hab'.«

Sie wandern, es geht bald bergan, der Mann geht doch viel langsamer als sie. Unwillkürlich haben sie ihren Schritt dem seinen angepaßt, aber er keucht dennoch.

»Geht's Euch zu streng?«

»Nicht emal! 's ist nur die Gewohnheit, bin halt aus der Gewohnheit kommen. Die Berge,« keucht er, »das ist mein Schönstes, die mußt' ich wiedersehen; ich sag' zur Frau: jetzt bleib' im Wirthshaus sitzen, und wart' auf mich, ich möcht'' noch emal die Jungfrau zwingen.«

»Wo sitzt Eure Frau?«

»In Lauterbrunnen.«

Und die drei lachen, aber den zwei Studenten ist's nicht mehr zu Sinn, wie beim Ausmarsch. Ein Bleigewicht hat sich an ihre Schritte gehängt, die Stunden vergehen, und sie kommen kaum vorwärts. Der Fremde spricht nicht mehr, er keucht nur und steht oft still. Dann stehen sie Alle. Aber bald erholt er sich, winkt vorwärts mit der Hand, »'s ist 'n Uebergang, das Herzklopfen ist meine Plag'. Schon zehn Jahr'. Sonst bin ich frisch und gesund.« Sie mögen fast nicht mehr auf die Uhr sehen, so weit ist der Tag vorgerückt. Beide denken: wollen wir nicht umkehren? Aber der Dritte denkt daran nicht. Er lächelt nur, während er sich den Schweiß abwischt. Das' beruhigt sie wieder. Ein Mann, der reichlich ihr Vater sein könnte, wird doch wissen, was er thut. Bevor der Schnee beginnt, machen sie Rast; er hat gute Sachen bei sich und theilt sie so freigebig.

»Die Frau wird sich wundern! sie weiß nicht,, daß ich auf die Berge bin. Sie hätt's nicht zugegeben. Ein gutes Weib, aber wie sie halt sind,, überängstlich.«

»Und weshalb sollte sie Angst haben?« fragt ber junge Kamerad.

»Weil der Arzt auch so en Angstmeier ist! Weil er ihr eingeredet hat, herzkrank sei ich, und ich könnt' emal 's Schlägli überkommen, wenn ich aufsteigen würd'!«

Seltsam froh und sorglos und schauerlich zugleich hat's geklungen, da oben auf dem Rastplatz zwischen den grauen Felsen, wo die Alpenrosen aufhören.

Und eine Stunde danach – eben hat er sich noch über das nahe Himmelsblau gefreut – stürzt er zu Boden und röchelt und kann nichts mehr reden.

In der fürchterlichen, weißstrahlenden Einöde haben die beiden jungen Studenten sich mit dem Sterbenden gemüht; dann, als sie ihn nicht zum Bewußtsein erwecken können, ist Einer der Beiden hinabgerannt, um Hülfe aus dem Thal zu holen. Der Andre ist bei dem stillen Mann droben sitzen geblieben, aber bald hat er eingesehen, daß niemand den zum Leben erwecken wird. Furchtbar sich sehnende Stunden in todter Einsamkeit allein mit dem Todten. Da hat er zum ersten Mal die Nähe des Ewigen gespürt, Schauer um Schauer ist ihm durch die junge Seele geronnen. Und noch etwas hat er damals erfahren. Nämlich, daß alle Menschen Brüder sind. Um den Todten, an dessen Leiche er vierzehn Stunden allein gesessen, hat er heiße Thränen geweint, um den Mann, der jetzt nicht heimkehren darf zu seinem Weib, zu seinen Kindern, um den fremden Mann, der nur wenige Stunden ihr Weggefährte gewesen. Ja, selbst um die Frau, die er gar nicht kennt, hat er herzlich geweint, um sie und die Kinder, die nun den Vater vergebens erwarten. Drunten waren sie einander fremde Leute, zwei junge achtzehnjährige Füchse und ein vierzigjähriger Landmann, die nichts gemein hatten, nur die Luft, auf die Höhe zu steigen. Hier oben hat er seinen letzten Händedruck empfangen, den letzten angstvoll beredten Blick, und er hat mit ihm gelitten und gekämpft, und, als Alles vorbei gewesen, um ihn geweint, für ihn gebetet. Da sind die trennenden Schranken verschwunden, da hat die Sonne im Untergehen und der heraufziehende Abendstern nur auf zwei Menschen geblickt, auf einen weinenden Jungen und auf einen stillen Todten; – und so fürchterlich es gewesen ist – mitten in kalter Schneeöde ist das beste Gefühl lebendig geworden in einem Herzen, das jemals ein Menschenherz durchglüht hat: Bruderliebe!

Ich will ihnen in der Predigt von diesem Erlebniß erzählen, ich will sie auf die Berge führen, wie ich sie damals gesehen habe, an jenem Tage, in jener Nacht, und auch, wie dann die Fackeln auftauchten und mein Freund mir athemlos in die Arme sprang und die treuen Männer vom Dorf ihm nachfolgten, ernst und bereitwillig und sich mit dem schweren Körper beluden, dachte der alte Prediger. Und er kam nach Hause, ganz erregt und erfüllt von der Erinnerung; er wollte eilig in sein Studirstübchen, eilig das aufschreiben, damit ihm die Bilder nicht wieder entwischten. Kräftig stampfte er den Schnee von seinen Stiefeln vor der Hausthür; seine Tochter meinte, es komme ein Fremder, und sie erschrak, denn es trieb sie zu der Unterredung mit dem Vater, der gefürchteten Unterredung.

Als sie aber sah, daß es doch kein Fremder, sondern wirklich ihr Vater war, erschrak sie wieder: er ging so straff, hielt den Kopf so aufrecht, blickte sie so strahlend an – was war es doch, das sie ihm sagen sollte? Nein, sie konnte es nicht.

Aber was half es, daß am Sonntag der alte Prediger von den Bergen erzählte in seiner Predigt? Sie sagten doch wieder Alle, daß sie kaum ein Wort verstanden hatten, und daß er die Worte kaute und verschluckte, statt sie hörbar herauszugeben, und daß die Erneuerungswahl gerade zu rechter Zeit käme, denn einen solchen Redner könne man freilich nicht länger behalten. Alle sechs Jahr fand diese Bestätigungs- und Erneuerungswahl statt, sieben Mal hatten sie dem Prediger Timotheus ihr »Ja« gern gegeben, aber dieses Mal, das achte Mal, würde es »Nein« lauten müssen, nach Recht und Vernunft.

Seine Kinder vernahmen Alles, und endlich entschlossen sie sich zur Bitte. Ihr Vater sollte abdanken, ehe der Wahltag kam. Nein, gewiß, man mußte es nicht auf die Jungen ankommen lassen, die seit sechs Jahren ans Ruder gelangt waren. Und sie baten ihn herzlich, sie bestürmten ihn.

Beim ersten Wort war der alte Prediger zusammengezuckt, und dann hatte er sich von seinem Lehnstuhl erhoben und, die zitternde Hand auf den Tisch gestemmt, vor den Kindern gestanden.

»Abdanken? Nein! Ich stehe an dem Platz, an den mich Gott berufen hat, und einzig Gott kann mich abrufen. Solange er mir das Leben schenkt, solange bleib' ich im Amt.«

Da erinnerte der Sohn mit schwankender Stimme an den bevorstehenden Wahltag.

»Denke Dir, Vater, wenn nun – wenn –« er vermochte den Satz nicht zu vollenden.

Einen Augenblick verstummte der Alte, eine Unsicherheit kam in seine Augen, »Nein, das hat keine Gefahr«, murmelte er, »ich kenne die Meinen – – «

»Trotzdem, Vater! es könnte trotzdem – – «

»Hoho! solche Furchthasen seid Ihr!« lachte gutmüthig der Alte, »schämt Euch mit einander!«

»Es wäre doch eine solche Blamage«, begann leise die Schwiegertochter.

»Nein, es wäre nur ein Schmerz!« der alte Prediger hatte sich scharf zu der Flüsternden herumgedreht; »ja, es wäre ein Schmerz, wer könnte das leugnen?« wiederholte er, und die Kinder, die ihn liebten, sahen, der Schmerz war schon da! ›Die konnten wir!‹ sagten sie sich, Jedes sich selber. Und sie versuchten, den Vater zu zerstreuen, indem sie schnell auf etwas Anderes übergingen. – –

Der Wahltag kam.

Pfarrer Timotheus saß den ganzen Tag in seinem Lehnstuhl und rauchte. Er fühlte keinen Appetit und konnte nichts lesen. Am ärgsten aber quälten ihn die Gesichter seiner Kinder.

Er wich ihren Blicken aus, Balbina besonders flößte ihm Mitleid und Widerwillen zugleich ein. Sogar die beiden Enkel machten ängstliche, gespannte Gesichter, als sie ihm guten Tag sagten. Er fühlte sich gedemüthigt über alle Maßen,

Gegen acht Uhr Abends hörte er vor seiner Stubenthür unterdrücktes Weinen. Er stand hastig auf, öffnete die Thür und rief:

»Nun, was ist?«

»Ach, Vater, mein Vater!« schrie Balbina und stürzte weinend an seine Brust,

»So so! also so steht's! Weggewählt!« Das »Ja« wollte nicht über ihre Lippen, dafür kam wieder eine Fluth von Klagen, auch Anklagen gegen die schlechten Menschen.

»Also gut jetzt, fertig«, der Alte ließ sie aus den Armen, er trat in den dunklen Hintergrund des Zimmers zurück.

»Lieber Vater!« stöhnte Balbina, und ihre Blicke suchten in den Ecken.

»Nein, jetzt hast Du genug gewinselt«, sagte er unwillig, »komm wieder, wenn Du ruhiger bist.« An seinem Sprechen merkte sie, daß er die Pfeife im Munde hatte. Gehorsam ging sie hinaus, ihr Schluchzen bezwingend.

Zum Gutenachtsagen empfing der alte Prediger seine drei Kinder alle Abend im Studirstübchen. Heute standen sie lange berathend vor der Thür, ehe sie hereinkamen.

Der Vater saß rauchend am Schreibtisch, ein aufgeschlagenes Buch lag vor ihm.

»Liest Du noch so spät, Vater?« mahnte Kaspar. »Ich als Arzt darf das nicht erlauben.« Er versuchte zu lachen.

»Was liest Du denn?« fragte Ida, indem sie den Arm um den Hals des Alten schlang. Er sah ganz ruhig aus.

»Im Mark Aurel, mein Kind, ein gutes Buch!«

Er begann leise, wie mechanisch, die gelblichen Blätter zu streicheln.

»Ja«, sagte er dann und sah seinem Sohn fest in die Augen, »es konnte wohl nicht anders gehen, heute. – Ich habe mir nun gedacht, ich suche eine kleine Gemeinde, vielleicht in den Bergen, nicht so zahlreich, eine enge, kleine Dorfkirche, – dort können sie mich vielleicht noch brauchen. Das wird schon gehen. Nun werde ich dort Gottes Wort verkündigen,«

»Was für ein Gedanke! Du eine neue Pfarre suchen!« rief Ida, indes Balbina wieder nach ihrem Tuche griff. Der Alte lächelte gutmüthig.

»Ich habe einmal nichts Anderes gelernt. Und noch etwas Neues anzufangen, dazu fühle ich wirklich keine Neigung, ich muß es sagen.«

»Du sollst Dich zur Ruhe setzen, Vater«, bat der Arzt.

»So? Ein Mensch muß seine Beschäftigung haben. Kann ja nicht dem lieben Gott die Tage abstehlen!«

Pfarrer Timotheus qualmte heftig; im Augenblick waren sie Alle in blauen Dampf gehüllt. »Eine kleine Gemeinde in den Bergen – ja ja! Und es ist vielleicht noch zehnmal schöner, dort Gottes Wort zu verkündigen. Bei anspruchslosen, einfachen Menschen – – « fuhr er wie in lauten Gedanken fort. Er sah die Tochter an: »Oho, Balbina! bin ich denn so mitleidbedürftig, daß Du noch immer weinen mußt? Schäme Dich!« Er schüttelte den Kopf, that schweigend noch ein paar Züge und wünschte dann Allen kurz gute Nacht.

»Ich glaube, Vater thut nur so, als ob es ihn nichts anginge«, sagte Ida, als sie mit ihrem Mann allein war. »Eine Bauernpfarre? das ist doch gewiß nicht sein Ernst.«

»Sein Ernst, gewiß; Du kennst meinen Vater schlecht, wenn Du glauben kannst, das sei eine Schrulle oder gar eine Unwahrheit! Aber sein Eigensinn erschreckt mich ... Es ist viel besser, der Mensch wird in allen Stücken zugleich alt«, setzte er wehmüthig hinzu. – –

Am nächsten Sonntag war die Kirche überfüllt. Immer fürchteten die Aengstlichen, es gäbe eine Katastrophe, so krachte das Gebälk der Gerüste am Chor, Aber stets kamen noch mehr herein, die ganze Gemeinde wollte sich selbst davon überzeugen, was ihr alter Prediger wohl zu seiner Wegwahl sagte.

Er stand auf der Kanzel und gab noch einmal sein ganzes Herz hin. »Ich bleibe zwar noch einige Monate hier und werde bis zum letzten Sonntag allwöchentlich von hier zu Euch reden«, sagte er, »aber doch nehme ich heute Abschied von Euch. Ihr habt mir Euer »Ja« versagt, dieses Mal, aber vorher sieben Mal hattet Ihr mich wiederwollen, und dafür danke ich Euch. Ich lasse Euch meine Liebe und wünsche Euch alles, alles Gute. Ich bin nur ein alter Mann, aber mein Segen soll bei Euch bleiben. Ich will mir nun eine kleine Gemeinde suchen, irgendwo in den Bergen, ehe dort noch die Lokomotive pfeift. Eine kleine enge Kirche, wo man mich noch ganz gut hören und verstehen kann.«

So sprach er, und Jedermann in der Kirche verstand diese Worte. Die Leute hörten sie mit aufrichtiger Trauer, und Manche begannen zu weinen.

Der alte Prediger kam heim. Er war sehr erregt, seine Augen blitzten. »So, das wäre überstanden«, sagte er hochathmend, als Balbina ihn fragend und besorgt anblickte. »Es ist nichts zu Großes. Menschen verlasse ich, um andere Menschen zu finden, meine kleine Gemeinde.«

»Willst Du nicht ausruhen vor Tische?« fragte die Tochter, indem sie ihm die Zimmerthür öffnete.

Er setzte sich in einen alten Binsenstuhl auf dem Flur, seine Bewegungen waren sehr müde.

»Wozu ausruhen?« sagte er verwundert. »Wenn die Leute sich verlaufen haben, will ich wieder hinaus und noch einen Abschied nehmen – von dem Kreuzgang.« Er wendete das Gesicht ab; es begann ihm in den Augenlidern zu zucken.

»Vater, wir bleiben ja noch zwei Monate hier«, bat Balbina.

»Aber heute ist der erste Frühlingstag, Kind. So plötzlich ist er da. Zwischen den Steinen sprießt das iunge Gras, und es ist recht gelinde. Heute will ich Abschied nehmen. Werde noch, manchmal hingehen, – gleichwohl, es zieht mich,« schloß er. – –

»So, nun ist es aber wirklich Zeit, Vater zu rufen«, sagte Balbina, »er bleibt mir gar zu lange in der scharfen Frühlingsluft. Und das Mittagessen ist bereits verbrätelt.«

Kaspar ging selber hinaus.

In dem mild besonnten Kreuzgang klangen keine Schritte, der gelbblühende Hartriegel im alten Klostergarten stand glänzend in der flimmernden Luft, die verborgenen Veilchen dufteten.

›Ia, das war ein schönes Plätzchen,‹ dachte der Sohn im Herumschauen, und dann rief er: »Vater, komm heim!«

Niemand antwortete, aber dort an den Eckpfeiler gelehnt, stand ja der Vater, – er stand dort so sonderbar.

Mit einem Schrei eilte der Arzt auf ihn zu ...

Er stand unbeweglich, in todter Ruhe, mit offenem Munde, als spräche er zu der kleinen neuen Gemeinde, die er gefunden hatte.


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