Karl Emil Franzos
Das Kind der Sühne
Karl Emil Franzos

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Esterka Regina

Esterka Regina! Wir nannten sie alle so, wir jungen Schüler, wenn wir in den Sommerferien von den Gymnasien zu Tarnopol oder Czernowitz heimkamen in das Städtchen, und später, wenn wir als Studenten in Wien zeitweilig zusammentrafen und von den Mädchen von Barnow sprachen, da nannten wir sie wieder mit diesem stolzen, klingenden Namen. Sie hieß aber in Wahrheit Rachel Welt und später, als sie den magern Chaim, den Ochsenhändler, geheiratet hatte, Rachel Pinkus und war ein armes, schüchternes Mädchen aus der Judengasse zu Barnow. In dem kleinen Häuschen neben der jüdischen Schlächterei wohnte sie, und ihr Vater, Hirsch Welt, war ein Fleischhauer, ein sehr dicker und seiner Grobheit wegen verrufener Mann.

Aber das hinderte uns nicht, aus der Ferne für sie zu schwärmen. Die Elegants von Barnow taten dasselbe aus der Nähe. Die ledigen Herren vom Bezirksgericht promenierten in ihren Freistunden nicht im gräflichen Garten, wo es viel frische Luft und Blumenduft gab, sondern in der kleinen Gasse vor der Schlächterei, wo wenig frische Luft war und durchaus kein Duft. Und die Offiziere der Garnison konnten sogar stundenlang zusehen, wie Hirsch Welt mit seinem Messer streng nach den Gesetzen des Talmuds hantierte. Und das alles, um einen Blick zu erhaschen aus den leuchtenden Augen der Esterka Regina!

Der Name paßte prächtig und war gar nicht überschwenglich, obwohl ihn ein Poet erfunden hatte. Dieser Poet war der junge Herr Thaddäus Wiliszewski, ein sehr hoffnungsvoller Mensch, der immer eine verschlossene Czamara trug und lange Haare hatte und eine Menge Verse machte, teils zum Hausgebrauch, teils für die Krakauer Damen-Zeitung. Dieser Herr Thaddäus also hatte, als er die Rachel Welt zum ersten Mal sah, wie sie in ihrem ärmlichen Sabbatkleid am Fluß spazierenging, entzückt ausgerufen: »Jetzt verstehe ich die Bibel! So hat die Esther ausgesehen, die dem Perserkönig den Kopf verdrehte und den Hamann an den Galgen brachte, und jene andere Esther, die unsern guten König Kazimirz, den Bauernfreund, bewog, den Juden in Polen eine Freistatt zu geben, nachdem diese klugen Deutschen sie beizeiten fortgejagt hatten. Das ist Esterka, die Königin!« Und von da ab nannten sie alle gebildeten Menschen in Barnow nur Esterka Regina.

Dieser Name war nicht überschwenglich, ich wiederhole es. Vielleicht wäre es das beste, ich begnügte mich mit dieser Versicherung. Denn wenn ich auch hinzufüge, daß ihre Augen tief, dunkel und leuchtend waren wie das Meer in Sternennächten und ihre Haare schwarz und duftig wie die Nacht des Südens und das Lächeln ihres Gesichtes wie ein Frühlingstraum – Ihr könnt ja deshalb doch nicht ahnen, wie schön sie war! Ich weiß es, ich kannte sie. Aber tiefe Wehmut überkommt mich bei dem Gedanken an diese Schönheit, denn sie war kein Segen für das arme, holde Kind. Die schöne, königlich schöne Esterka ist sehr unglücklich gewesen. Jetzt ist sie es nicht mehr, schon seit langen Jahren. Jetzt ist sie glücklich. Da liegt sie draußen am »guten Orte« und schläft. Dort haben sie an einem Frühlingstag vor langen Jahren das schöne, bleiche Weib zur Ruhe gelegt. Sanft und gut mag sie ruhen, denn ihr Unglück war noch größer als ihre Schönheit, und sie hat im Leben viel gelitten. Im Totenschein stand, die Rachel Pinkus sei einem Herzleiden erlegen. So war es auch wirklich, sie ist an gebrochenem Herzen gestorben.

Das ist eine Krankheit, die seltener ist, als man so hört und liest. Es sterben nur sehr wenige Menschen daran, und die am lautesten klagen, sie seien unrettbar diesem Tod verfallen, leben gewöhnlich noch sehr lange und sterben schließlich an Altersschwäche oder Überladung des Magens. Die Rachel hat mit keinem Wort, mit keinem Seufzer geklagt. Sie ging im Hause umher und schaffte rüstig, so lange sie konnte. Und als sie es nicht mehr konnte, da schrieb sie noch zitternd einen langen Brief in hebräischen Schriftzeichen und siegelte ihn zu und wankte damit ins Posthaus. Dort bat sie den Schreiber, in deutschen Lettern die Adresse auf den Brief zu setzen: »An den wohlgeborenen Herrn Dr. Adolf Leiblinger, holländischen Stabsarzt in Batavia«. Der junge Mann lächelte frivol, als sie ihm das diktierte, aber er wurde ernst, als er ihr ins Antlitz blickte und darauf die Schatten des Todes sah. Und dann ließ sie sich einen Aufgabeschein geben und wankte heim und starb.

Es ist eine einfache Geschichte. So einfach wie die Geschichten alle, die das Leben selbst dichtet, dieser größte und grausamste Poet.

 

Ich kannte sie, noch als sie ein kleines, siebenjähriges Mädchen war und ich ein wilder Knabe, der in der Schule unter der strengen Zucht knirschte. Da sah ich sie täglich. Wenn ich so in der trüben, kalten Dämmerung des Wintermorgens mit dem Ränzlein durch die kleine Gasse trabte, blieb ich immer vor der Tür des Hauses, wo sie wohnte, stehen und rief in den Hausflur: »Aaron! Aaron!« Denn dort, in einem düsteren, engen Dachstübchen, wohnte auch mein Mitschüler, der kleine Aaron mit seiner Mutter. Hirsch Welt hatte dieser Frau, der Chane Leiblinger, welche die Witwe eines Fleischerknechts war, aus Barmherzigkeit das Stübchen eingeräumt, denn ihr Obsthandel schützte sie und ihren Knaben kaum vor dem Verhungern. Wenn ich so gerufen hatte, tat sich zuerst leise die Tür auf, und die kleine Rachel trat heraus, die Händchen immer unter der Schürze. Und dann stieg der arme Junge in seinem leichten Röckchen die morsche Holztreppe herab, und die Rachel steckte ihm rasch das Brot und die Leckerbissen zu, die sie unter der Schürze verborgen gehalten.

Er nahm's, oft erst zögernd, und dankte nie. Aber er blickte das Kind so sonderbar an und lächelte. Man hätte es kaum für möglich gehalten, daß dieser finstere, verschlossene Knabe überhaupt lächeln könne. Und nun gar so freundlich lächeln . . . !

»Aaron, willst du nicht mitkommen – auf dem Eis schleifen?« – »Nein!« – »Warum nicht? Du bist immer so still und machst so zornige Augen!« – »Warum soll ich fröhliche machen? Die Kälte tut nicht wohl und der Hunger auch nicht. Und der Lehrer schlägt mich und die Christenjungen alle. Warum? Weil wir ihn gekreuzigt haben? Ich hab' ihn nicht gekreuzigt. Warum schlägt man mich?« – »Das wird schon anders werden, wenn wir groß sind, Advokaten.« – »Ich werde kein Advokat, ich werde ein sehr großer Arzt. Dann komme ich wieder nach Barnow und sage zum alten Hirsch: Hier ist der Mietzins für die Stube, hundert Dukaten. Und dann kommen die Polen und wollen, daß ich sie kuriere und ihnen Geld leihe. Aber dann sage ich: Weg, ihr Hunde.« – »Und die Rachel?« – »Was geht das dich an? Übrigens – wenn du es wissen willst – die Rachel heirate ich, und nur seidene Kleider wird sie tragen, noch tausendmal schönere als die Gräfin Bortynska . . .«

Aaron Leiblinger war eine eigentümliche Natur; schon während seiner Knabenzeit war dies sichtlich. Er war klein, unansehnlich, aber in seinem häßlichen Antlitz standen zwei Augen, schön durch den Feuergeist, der daraus blitzte. Unter dieser niedrigen Stirn, in die sich das schwarze, krause Haar drängte, wohnten Gedanken, von denen schwer begreiflich war, wie sie diesem Knaben hatten kommen können, dem Sohne der armen, unwissenden Hökerin in der Dachstube. Rasch im Erfassen, zäh im Behalten, rücksichtslos energisch, so ging – nein, so drängte sich der Knabe durch das Leben. Für eine gewisse Zeit kann man von ihm sagen: er erreichte, was er wollte. Seine Mutter hatte ihn, kaum daß er das Lesen der Gebete erlernt, für ihren Handel bestimmt. Aber Aaron wollte Talmud lernen, alle seine Mitschüler übertreffen, und es gelang ihm. Und dann wollte er die Christenschule besuchen, und obwohl derlei bis dahin unerhört war im Städtchen, so gelang ihm auch dies. Freilich durch kein gewöhnliches Mittel. Er sprach zuerst der Mutter von seinem Entschluß. Die fromme, beschränkte Frau verwünschte ihn und lief heulend zu den Vorstehern der Gemeinde: ihr Sohn wolle Christ werden, denn was könne sonst ein jüdisch Kind in der Christenschule wollen? Der Doktor lasse seinen Knaben hingehen, aber der Doktor sei ja auch nur ein halber Jude und trage sogar »deutsches« Gewand. Die Vorsteher lobten den frommen Eifer der Frau und ließen den Knaben rufen. Er kam. Aber ehe sie noch mit ihren Drohungen beginnen konnten, begann er: »Ich weiß, was ihr mir sagen wollt, aber was ich euch sagen will, wißt ihr schwerlich, hört also ihr mich an. Ich will die Christenschule besuchen, weil ich alles lernen will, was man lernen kann. Und was ich will, das werd' ich. Nur darum handelt es sich, ob ich's als Christ tue oder als Jud. Meine Mutter kann mich nicht länger ernähren, sie wird alt. Wollt ihr mir also Freitisch geben, Kleider und Bücher, so bleib' ich Jude und will die Kinder dafür unterrichten. Wollt ihr's nicht, so werd' ich Christ, der dicke Dechant tut um eine Seele alles.«

Diese unerhörte Rede wirkte. Die Männer beugten sich dem Willen des Knaben und gaben ihm das Wenige, was er brauchte. Er besuchte die Klosterschule als Jude mit Kaftan und Schmachtlöcklein. Was er um dieser Tracht willen litt, war entsetzlich. Vielleicht hat Gott die Tränen und die Schläge gezählt, er selbst ward müde, sie zu zählen, müde, zu weinen. Düster und trotzig ließ er alles über sich ergehen, Unrecht und Schläge, Hunger und Kälte, oder, was spärlich genug an ihn herantrat, Wohltat und Wohlwollen. Ungeheure Sehnsucht nach dem Wissen, ungeheurer Rachedurst erfüllten ihn. Selbst sein Gesicht hatte nichts Kindliches mehr. Er war ein armer, sehr armer Junge, mein Mitschüler Aaron Leiblinger. Aber selbst das ärmste Herz hat noch irgendein Kleinod, an dem es hängt. Und so liebte der düstere Knabe die kleine Rachel. Fremd und rührend, so ganz anders als sonst, ward sein Antlitz, wenn er mit ihr sprach. Es war etwas Ergreifendes, ich habe es damals noch nicht recht verstanden; ich empfand es nur so, daß es ihm sehr wohl tat, wenn man mit ihm von der Kleinen sprach. Ich glaube, er hätte sich, ohne zu zucken, für sie töten lassen. Und einmal geschah sogar etwas Unerhörtes – er weinte wieder: die Rachel lag an den Blattern darnieder.

Aber als seine Mutter starb, da weinte er kaum; das riß keine Lücke in sein Leben, das rührte ihn nicht an sein Herz, mindestens nicht so, daß man es ihm ansah. Er wohnte nun allein im Dachstübchen, das war alles. Der alte, dicke Hirsch Welt gab ihm sogar von da ab auch die Nahrung. Er nahm aber die Güte nicht lange in Anspruch. Einmal, frühmorgens im Sommer, kam er zu mir. »Du warst freundlich mit mir«, sagte er, »darum sage ich dir Lebewohl. Ich gehe heute fort, ein reicher Mann werden.«

»Aber du wirst ja am Weg verhungern!«

»Oh, ich habe das Erbteil von meiner Mutter, drei Gulden – nach Lemberg geh' ich, leb wohl . . .«

Und fort war er, und ich hörte lange, lange nichts mehr von ihm.

 

Esterka Regina!

Ein Tag im Sommer, ein schöner, leuchtender Julnachmittag. Die Sonne liegt über der Heide, auf der es blüht und duftet und summt; so öde sie sonst sein mag, im Sommer ist auch ihr Farbe, Duft und Leben beschieden. In der Gasse ist es still, ganz still, der Handel ruht. Draußen am Fluß wandelt das junge Volk geputzt auf und ab. Die Jünglinge sehen blaß und frühreif aus, und auch ihre Reden entsprechen nicht ihrem Alter – sie unterhalten sich von ihren Talmudstudien und von ihren Geldgeschäften, und nur selten flüstert einer dem Freunde zu, das Mädchen, das eben vorüberwandle, gefalle ihm ausnehmend, und er gäbe etwas darum, wenn sein Vater ihm just die zur Braut bestimmte. Aber wovon die Mädchen sprechen, ist schwer zu sagen: wer weiß, an was alles so ein geputzt jüdisch Mädchen denkt und worüber sie kichert beim Spaziergang an einem schönen Sabbatnachmittage? . . . Worüber?! Vielleicht über die jungen Herren, die keinen Kaftan, keine Hängelöcklein tragen und dennoch eifrig, als müßte es so sein, auf- und abwandeln auf der »jüdischen Promenade« am Fluß. Das ist die elegante Herrenwelt von Barnow, und sie bewegt sich sonst nicht gerade gern in diesen Kreisen.

Aber der Anblick der Esterka Regina wird gern selbst durch ein größeres Opfer erkauft als durch das Verweilen unter den Juden. Und die Herren harren geduldig aus und belorgnettieren einstweilen die Sterne, die Rebekkas, Miriams und Sarahs, bis endlich die Sonne aufgeht: die schöne Tochter des Fleischhauers. Da sind die himmelblauen Kadetten und Leutnants von den Lichtenstein-Husaren unter Führung des kleinen, blonden, geschwätzigen Szilagy; da sind die jungen polnischen Adligen und Schöngeister, an ihrer Spitze der hoffnungsvolle, langhaarige Dichter, Herr Thaddäus Wiliszewski; da sind endlich die eben zu den Ferien heimgekommenen Herren Gymnasiasten und Abiturienten, und unter ihnen ein Jüngling, der heute kein Jüngling mehr ist, und dem es wehmütig ums Herz wird, gedenkt er all des Glanzes jenes Sommertages, denn dieser Glanz ist längst verweht, und das arme, schöne Mädchen ist längst, ein bleiches, geknicktes Weib, zur frühen Gruft gesunken.

Aber noch sehe ich's deutlich wie damals, wie sie langsam am Arm einer Freundin den Gang unter den Linden emporgeschritten kommt. Selbst unter die jüdischen Jünglinge kommt Bewegung, und mancher schiebt sich heimlich den Kaftan zurecht oder ringelt sich die zierlichen Schmachtlöcklein noch zierlicher. Und jene Herren machen sich vollends bereit zum Gefecht. In erster Linie stehen die blauen Husaren, wie sich's für mutige Kämpfer geziemt, und allen voran der kleine Szilagy, wie sich's für den Frechsten geziemt. Sie kommt langsam heran und steht nun dicht vor ihm, der sich ihr in den Weg gestellt. Sie hält die Augen nicht niedergeschlagen, wie dies die anderen Mädchen tun, sooft sie an dem Gefährlichen vorüberwandeln, sie blickt ruhig und frei um sich, als wäre rings statt der blauen Krieger die blaue Luft. Aber als sie nun notgedrungen vor dem frechen Kleinen stehenbleibt, da zeigt ihr Blick einen anderen Ausdruck. Es wird aus seinem Benehmen ersichtlich: der kleine Mensch wird rot und tritt zurück, und – es klingt unglaublich, aber es ist so – er salutiert verlegen. Und dann sagt er zu Herrn von Szervay, der ihn verhöhnt: »Ich habe Mut, ich hab's bewiesen, aber den Blick möchte ich nicht noch einmal aushalten . . .« Die zweite Gruppe, die das Unglaubliche mit angesehen, weicht beizeiten zurück, und der langhaarige Dichter starrt wie verzückt, mit weitgeöffneten Augen, dem schönen Mädchen entgegen. Und in jenem Moment ist in diesem armen, kleinen Gehirn, das sonst nur Verse zum Hausgebrauch und für die Krakauer Damen-Zeitung erzeugt, der Name aufgeblitzt, den ich über diese Geschichte geschrieben habe . . . Und die dritte Gruppe?! Die jungen Schüler sind weder unwiderstehlich, noch wollen sie dafür gelten, sie wagen es kaum, den »Sternen« in die schwarzen, blitzenden Augen zu schauen, und als nun erst die Sonne gezogen kommt, scharen sie sich eng zusammen wie die Schafe vor dem Gewitter. Aber gerade aus ihrer Mitte ersteht einer – ich weiß noch heute nicht, wie ich den Mut dazu fand –, der dem schönen Mädchen dreist in den Weg tritt und es sogar, freilich schon viel weniger dreist, anspricht . . .

»Mein Fräulein«, sag' ich stotternd und ziehe den Hut, »verzeihen Sie, vielleicht erinnern Sie sich meiner nicht mehr – der kleine Aaron . . .«

»Ei freilich«, erwidert sie freundlich, »Ihr seid ja immer gut Freund mit ihm gewesen. Und wißt Ihr nichts Neues von ihm?«

»Kein Sterbenswort, seit er fortgegangen ist.«

»Oh, da weiß ich schon mehr. Der alte Itzig Türkischgelb, der ›Marschallik‹ – Ihr kennt doch den närrischen Menschen? –, nun, der ist neulich in Lemberg gewesen und hat dort zufällig den Aaron gesprochen. Freilich hätt' er ihn kaum erkannt, denn ratet nur einmal, was aus unserem armen, kleinen Aaron geworden ist?! Ein Herr ist aus ihm geworden, ein junger Herr, der sich deutsch kleidet und nur deutsch spricht. Ja, und mit den lateinischen Schulen ist er schon vor drei Jahren fertig geworden und ist seitdem fast immer in Wien, Doktor zu werden! Wer hätte das geglaubt? Und«, fügte sie zögernd hinzu, »der ›Marschallik‹ erzählt auch, daß er jetzt sehr stolz ist und gar nicht mehr mit Juden sprechen will. Denkt Euch nur, er soll jetzt Adolf heißen und Christ werden wollen. Aber das glaub' ich nun einmal nicht – nein! nein! – und Ihr?«

Nicht um eine Welt möchte ich etwas glauben, was diesem Mädchen widerwärtig ist. »Nein!« erwidere ich also, »ich glaub's auch nicht. Übrigens werde ich bald Gelegenheit haben, Gewisses darüber zu erfahren. Ich gehe ja auch in einigen Wochen nach Wien zur Universität. Da will ich den Aaron oder Adolf gewiß aufsuchen.«

»Ja, tut das«, sagt sie eifrig. »Es wird ihn gewiß sehr freuen. Und«, setzt sie hinzu, indem Purpurröte das holde Antlitz jäh überflammt, »wenn er sich meiner noch erinnert, so grüßt ihn auch recht herzlich von mir. Aber hört Ihr – nur, wenn er sich meiner noch erinnert . . .«

»Oh!« rufe ich begeistert und kühn, »wer könnte Sie je vergessen!« Aber über diese Kühnheit bin ich selbst so entsetzt, daß ich gleich darauf den Hut lüfte und mich stotternd verabschiede. Bis ich jedoch zu meinen Kommilitonen zurückkomme, habe ich wieder soviel Sammlung, um all die Ausbrüche der Neugier, des Neides und der Bewunderung mit imponierender Ruhe entgegennehmen zu können . . .

 

Ich hatte den Aaron oder Adolf Leiblinger nicht aufgesucht, nachdem ich nach Wien gekommen war, obwohl ich es mir fest vorgenommen hatte. Aber wenn so ein armer, schüchterner, achtzehnjähriger Mensch mit einem schüchternen Herzen, das auch so recht achtzehnjährig ist, und einem so karg gefüllten Beutelchen dazu aus einem kleinen Landstädtchen hingeschleudert wird auf das Pflaster der Weltstadt, der hat genug zu tun, sich vorerst selber durchzubringen durch das Gewirre der himmelhohen fremden Häuser und der Hunderttausende von fremden Menschen, der darf nicht viel nach rechts und links blicken, sondern immer gerade vor sich hin und muß dabei noch sein armes, schüchternes Herz fest in beide Hände fassen, daß es nicht verzagt wird. Und dann: wie hätt ich ihn finden sollen unter den viertausend Studenten? So überließ ich's dem Zufall.

Und der führte uns auch zusammen. Es war an einem trüben Dezembernachmittag. Die Nebel lagen auf den Straßen, dann begann ein feiner, dichter Regen herabzurieseln und trieb mich in ein großes, qualm- und menschengefülltes Café der Alser-Vorstadt. Nur noch im Billardzimmer fand ich ein freies Plätzchen. Und da der Regen länger dauerte als mein Gefallen am Durchstöbern all der Blätter und Blättchen, so sah ich endlich, in mein Schicksal ergeben, dem Spiel zu.

Vor mir vergnügten sich drei junge Leute am grünen Brett. Der Marqueur sagte »Herr Doktor« zu ihnen, es waren also Studenten der Medizin. Einer von ihnen fiel mir auf, ein mittelgroßer, schlank, fast zierlich gebauter junger Mensch mit feinem, scharfgezeichnetem Gesicht, das an sich bleich sein mochte, aber durch das tiefschwarze, leicht gekräuselte Haupt- und Barthaar fast schreckhaft fahl erschien. Hübsch war das Gesicht nicht zu nennen, dazu waren die Lippen zu dünn, die Stirn zu niedrig, aber ich mußte es doch immer wieder ansehen, denn auf diesem Gesicht stand etwas geschrieben wie eine Geschichte; daß ich es schon früher einmal gesehen haben könnte, fiel mir nicht entfernt ein. Aber plötzlich, als sich – aus geringfügigem Anlaß, über das Neckwort eines Mitspielers – die dünnen Lippen fest aufeinanderpreßten und die niedrige Stirn sich faltete, blitzte es in mir auf: »Das ist ja der schwarze Aaron!«

Nun, er war es wirklich. Ob wir uns freuten, einander zu begegnen, vermag ich kaum zu sagen, jedenfalls war es keine ungetrübte Freude. Wenn junge Leute nur kurze Zeit auseinander gewesen, so müssen sie sich beim Wiedersehen erst ordentlich wieder kennen und ineinander fügen lernen. Und nun erst nach so langer Zeit! Wir rangen qualvoll nach dem alten Ton und fanden ihn nicht. Schon wollte das Gespräch stocken, da fielen mir die Grüße ein, die ich auszurichten hatte. »Es lebt jemand in Barnow«, sagte ich, »der sich lebhaft für dich interessiert. Ahnst du nicht, wer's ist?«

»Nein!« Er blies den Rauch seiner Zigarre nachlässig in die Luft. »Mein lieber Junge, du glaubst gar nicht, wie viele Mühe ich mir gegeben habe, die Leute von Barnow recht gründlich zu vergessen.«

»Auch deinen Schutzgeist, die kleine Rachel?«

»Also die ist's?!« rief er lebhaft, aber gleichgültig setzte er hinzu: »Was macht die Kleine? Sie wird wohl jetzt recht groß sein, etwa sechzehnjährig?«

»Und wunderschön dazu!« Und ich gab eine so begeisterte Schilderung ihrer Schönheit und Klugheit, daß der blasse junge Mensch neben mir ironisch zu lächeln begann. Aber als ich zu Ende war, da sagte er ernst: »Das tut mir aufrichtig leid!«

»Wie? Warum?«

»Weil ich meinem kleinen Schutzgeist in der Tat Dankbarkeit bewahre und ihn glücklich sehen möchte. Dazu ist aber, wenn das Mädchen wirklich so schön und dabei so klug ist, verdammt wenig Aussicht. Entweder läßt sie sich durch all die Versuchungen betören und fällt trotz ihrer Klugheit einem dieser polnischen oder ungarischen Herren zum Opfer –«

»Unmöglich!« rief ich entrüstet.

»Oder sie bleibt die brave, gehorsame Tochter ihres Vaters, und der verschachert sie dann eines Tages, ohne sie zu fragen, an einen rohen chassidischen Bengel. Und da sie klug ist, so wird sie den Jammer und die Niedrigkeit eines solchen Daseins über kurz oder lang begreifen und schließlich als armes, geknicktes Judenweib in irgendeiner Ecke eines podolischen Gettos verkümmern.«

»Du siehst zu schwarz.«

»Ich sehe die Dinge, wie sie sind. Ich bitte dich, lehre du mich nicht die Chassidim kennen. Doch sprechen wir nicht weiter darüber. Und nun leb wohl!« Wir gingen auseinander, und es klang recht kühl, als wir sagten: »Auf Wiedersehen!« In der Tat suchten wir dieses Wiedersehen nicht. Aber der Zufall führte uns wieder einmal zusammen, und diesmal dauernder. In den ersten Frühlingstagen bezog ich eine neue Stube. Und als ich zum ersten Male aus dem Fenster sah, blickte mir aus dem Fenster gegenüber neben einem stattlichen Totenkopf das Antlitz meines Schulkameraden aus Barnow entgegen. Er wohnte in demselben Haus, in demselben Hof. So sprachen wir denn wieder miteinander, kamen so unvermerkt einander näher und wurden schließlich, soweit es eben die studentische Rangordnung (er stand im vierten, ich im ersten Jahrgang) und noch mehr: soweit es der ungeheure Unterschied unserer Naturen erlaubte, sogar gute Freunde.

Was aber seine Natur anbelangt, so erwies sich auch an diesem Menschen wieder einmal die ganze Wahrheit des alten Satzes: »Die Eindrücke der Kindheit wurzeln am tiefsten.« Der Student der Medizin Adolf Leiblinger war im Grunde ganz der schwarze Aaron. Die Verwandlung aus dem verschlossenen, häßlichen Knaben in den gewandten, weltfreudigen jungen Mann hatte den Kern seines Wesens unberührt gelassen; in ihm lebte derselbe Trotz, dasselbe Selbstbewußtsein wie einst und im Grunde auch der alte Haß. Aber daneben war er – wie einst – voll Dankbarkeit für jede teilnahmsvolle Gesinnung und ebenso noch immer von der alten, rührenden Sehnsucht nach dem Wissen erfüllt. Er hatte sich anfangs entsetzlich schwer aufgerungen. Aber später – und nun auch in Wien – brachte er sich ganz gut durch. Und so war auch nun noch sein Spruch: »Man kann, was man will.«

Nur das Verhältnis zu seinem Gott und zu seinem Glauben hatte sich gründlich geändert. Früher war ihm, eben weil er sehr stolz war, sein Glaube um so lieber geworden, je mehr er um seinetwillen litt, und sein Gott war ihm so recht der Gott seiner eigenen Rache, den er nicht müde wurde, um Blitzstrahlen gegen die Christenjungen und unseren dummen, rohen Lehrer anzuflehen. Aber nun war er gegen Gott kühl und haßte seinen Glauben glühend. Er geriet ordentlich in Wut, wenn er auf Juden und Judentum zu sprechen kam. Herr Thaddäus Wiliszewski, der doch eine eigene »Hymne gegen die Juden« gedichtet hatte, war dagegen ein harmloses Kind. Aber dabei blieb er doch formell in diesem Glauben. »Mein Rock ist unbequem«, pflegte er zu sagen, »aber ich sehe auf dem Erdenrund keinen bequemeren, den ich statt seiner anziehen könnte. Und ohne Rock wird man so lästig angegafft!«

Ich gewann Adolf lieb, wie ich einst Aaron liebgewonnen hatte, und als die Ferienzeit kam und ich zur Reise in die östliche Heimat rüstete, lud ich ihn ein, mit mir zu kommen, und freute mich herzlich, als er es annahm. Auf dieser Reise, nachts im Eisenbahnwaggon, kamen wir wieder auf das schöne Mädchen zu sprechen, von dem seltsamerweise seit jener ersten Begegnung nicht wieder die Rede unter uns gewesen. »Nimm dich in acht«, sagte ich neckend, »alte Liebe rostet nicht!« Aber er lachte: »Ich und – lieben?! Du weißt, Liebe ist ein weiches Gefühl, ich aber, ich bin ein harter Mensch.« Er lachte wieder, fügte dann aber ernst hinzu: »Sieh, ich werde sogar vermeiden, die Kleine zu sehen. Die Erinnerung an sie ist der einzige Lichtpunkt meiner trostlosen, dunklen Knabenzeit. Soll ich mir die Erinnerung selbst trüben, indem ich sie aufsuche und von dem schmutzigen, schüchternen Mädel einige Begrüßungsworte im bekannten, lieblichen Jüdisch-Deutsch erpresse?!« Er riß das Waggonfenster auf und starrte lange in die dunkle Nacht hinaus.

 

In den letzten Julitagen trafen wir in Barnow ein. Die Ankunft des »schwarzen Aaron« weckte stürmisches Aufsehen, und es war halb komisch, halb betrüblich, wie die Leute von Barnow ihr Stadtkind begrüßten. Er, der »schwarze Aaron«, der Aaron Leiblinger, der Sohn der Chane Leiblinger aus dem Hüttlein am Fluß, hatte es gewagt, »christliche« Kleider zu tragen, »christliche« Kost zu essen und am Sabbat zu rauchen, ja, noch mehr, er hatte es sogar gewagt, zu studieren! Das waren in den Augen dieser Menschen ebensoviele Todsünden, die bitter gerächt werden mußten. Niemand sprach ihn an, und wen er ansprach, der fertigte ihn höhnisch ab; die kleinen Jungen liefen auf der Gasse hinter ihm her und riefen ihm nach: »Abtrünniger!« Darüber lachte der junge Mann, und die Verachtung der Erwachsenen vergalt er mit gleicher Münze. Auch waren wir ja auf den Verkehr mit ihnen nicht angewiesen. Wir streiften viel in der Landschaft umher und besuchten zuweilen die christlichen Honoratioren des Ortes. Man kam uns da recht freundlich entgegen. Herr Thaddäus Wiliszewski begnadete uns mit einer Vorlesung seiner Poesien, und die drei gründlichen Töchter des Herrn Steueramts-Vorstehers erlaubten den »Herren Studenten«, ihnen den Hof zu machen. Adolf war in jenen Tagen ausgelassen lustig; ich allein ahnte, wie sehr ihm die Bitterkeit am Herzen fraß. Seinen Vorsatz hatte er getreulich ausgeführt und die schöne Rachel weder gesprochen noch gesehen.

Da trat eines Tages – an einem glühheißen Sonntag im August, dem zweiten, den wir im Städtchen verbrachten – der Versucher an ihn heran oder eigentlich zunächst an mich. Denn ich allein war daheim, als sich die Tür auftat und ein kleines Männchen mit glühroter Nase und dünnen Beinchen in unsere Stube tänzelte. Das war Herr Isaak Türkischgelb, der »Marschallik« von Barnow, was zu deutsch einen Lustigmacher oder Hochzeitsmarschall bedeutet. Ein solcher Würdenträger hat neben tausend anderen kleinen Pflichten auch die, die Gäste zur Hochzeit einzuladen, und in dieser Eigenschaft beehrte er mich mit seinem Besuch, um mir und Adolf die dringliche Einladung der Frau Sprinze Klein zu überbringen, am nächsten Dienstag in ihrem Hause das Hochzeitsfest ihrer Tochter Jutta Klein mit Herrn Isidor Spitz (vulgo »Rotzigel«) mit unserer Gegenwart zu verherrlichen.

»Schön!« sagte ich, »aber treffen wir auch hübsche Mädchen dort? Kommt auch die Esterka Regina?«

»Wer?« fragte das Männchen erstaunt und legte die Hand ans Ohr.

»Ich meine die Rachel Welt.«

»Ob die dabei sein wird?« rief der Marschallik pathetisch. »Heißt eine Frage! Soll man alle häßlichen Mädchen von Barnow laden und nur gerade die Schönste nicht?! Verlassen Sie sich darauf, wir wissen, was sich schickt, und wenn man junge Herren einladet, so muß man auch schöne junge Mädchen einladen. Und dann wissen wir, wenn wir die Rachel im Zimmer haben, wo getanzt wird, so können wir uns ersparen, Blumen hineinzustellen, denn die Rachel ist die schönste Blume, so wahr mir Gott einen guten Erwerb geben soll! Die schönste Blume!« wiederholte er, »und schon darum werden Sie kommen! Nicht wahr, Sie und Ihr Freund Aaron – verzeihen Sie, daß ich ihn so heißen tu', aber wie kann ich ihn Adolf nennen, da ich ihn doch selbst auf den Händen getragen habe und seine Mutter Chane mein leibliches Geschwisterkind war?! Sie werden kommen und nicht dulden, daß die Leut' in Barnow vom alten Marschallik sagen: ›Gemeine Juden kann er einladen, der grobe Klotz, aber feine junge Herren nicht!‹«

Ich mußte lachen. »Nun, für mein Teil könnt Ihr ruhig sein. Ob aber Adolf kommt, möchte ich bezweifeln – holt Euch morgen seine Antwort selbst.«

Wieder hob das Männchen die Hände empor und duckte dabei zusammen. Und dann trippelte es endlich grinsend zur Tür hinaus.

Ich war überzeugt, daß ich allein gehen würde. Und in der Tat erwiderte mir Adolf, als ich ihm die Einladung übermittelte: »In die Hölle will ich dich begleiten, aber unter dieses Volk nicht!«

»Schade!« sagte ich, »du hättest da eine interessante Charakterstudie machen können – an unserer Wirtin, Frau Sprinze Klein. Sie ist aus Brzezan gebürtig, jetzt verwitwet, sehr reich, hat einen Schnittwarenladen.«

»Sehr interessant«, höhnte er.

»Mehr, als du glaubst. Bei dieser Frau zeigt sich ein sonst sehr ernster seelischer Prozeß: das Aufringen aus den drückenden Fesseln des orthodoxen Glaubens zu einer freien Lebensanschauung in einer merkwürdigen, geradezu komischen Form. Frau Klein lebt ganz wie die andern, wagt nicht, ihr eigenes Haar zu tragen, und könnte den leisesten Verstoß gegen das Speisegesetz nicht übers Herz bringen. Aber weil sie einmal als Mädchen ein halbes Jahr lang in Lemberg gelebt hat, so hat sie eine gewisse platonische Liebe für die ›Aufgeklärtheit‹ und ›feine‹ Formen. ›Als ich in Lemberg war‹ – so beginnt jede ihrer Reden. Um nun diese platonische Neigung zur Aufgeklärtheit stellenweise auch durch die Tat zu beweisen, verfällt sie auf die seltsamsten Mittel. Sie spricht z. B. mit wahrer Wut hochdeutsch, und kann sie gar irgendwo ein Fremdwort ergattern, so läßt sie es gewiß eine Woche lang nicht wieder los. Welchen Mißhandlungen das arme Fremdwort dabei ausgesetzt ist, kann man kaum denken. Oder eine andere Probe. Frau Sprinze kann nicht deutsch lesen. Gleichwohl hat sie bei irgendeiner Auktion drei abgegriffene Bände erstanden: Schillers ›Räuber‹, eine Erzählung von Caroline Pichler und einen Band Casanova. Und eins von diesen drei Büchern hat sie auch immer aufgeschlagen in ihrem Laden liegen und starrt, wenn sie sich beobachtet weiß, aufmerksam die fremden, rätselhaften Zeichen an. Sagt ihr ein Frommer, das Lesen deutscher Bücher sei ja eine Todsünde, so erwidert sie: ›Als ich in Lemberg war, habe ich selbst gesehen, wie sogar die Tochter des Oberrabbiners deutsche Bücher gelesen hat!‹ Insgeheim jedoch denkt sie: ›Wenn das Lesen wirklich eine Sünde ist, so begehe ich sie ja nicht!‹ Und der jüngsten Probe ihrer Liebe für den Fortschritt haben wir eben unsere Einladung zu verdanken. Sie hat es nämlich durchgesetzt, daß bei der Hochzeit ihrer Tochter nicht nach ›jüdischer Art‹ getanzt werden soll – die Männer mit den Männern, die Weiber mit den Weibern –, sondern nach der ›christlichen Mode‹: die Herren mit den Damen. Und der traurigen Tatsache, daß es dabei an geschulten Tänzern fehlt, verdanken wir wahrscheinlich die Einladung . . .«

»Sehr schmeichelhaft!«

»Pah, gleichviel! Es kann ein hübscher Spaß werden! Und bliebe es auch eine langweilige Tanzrobot, die Aussicht, mit einem schönen Mädchen, wie die Esterka Regina ist, tanzen zu können, wiegt ein Opfer auf. So denke mindestens ich! Und du?«

»Ich nicht«, erwiderte Adolf kurz. Aber nachdenklich war er bei der Nennung ihres Namens doch geworden. Und als der Marschallik am nächsten Tag kam, sich den Bescheid zu holen, da erhielt er zu meiner und seiner Überraschung eine zustimmende Antwort.

Am Dienstag abend gingen wir nach dem festlich geschmückten Hause der reichen Witwe. Die Zeremonie war bereits vollzogen, und die Unterhaltung sollte eben beginnen. Voll überquellender Freundlichkeit kam uns an der Tür des Tanzsaals die Hausfrau entgegen, gehüllt in ein Kleid von schwerster gelber Seide und darüber eine hellgrüne Sammetmantille, bei jeder Bewegung klirrend und rasselnd von dem Juwelenladen, mit dem sie behangen war. »Sie werden alles finden wie in Lemberg«, sagte sie strahlend, »denn wie ich in Lemberg war, habe ich gelernt, wie man macht die Horreurs als Wirtin.«

Wir traten in den Tanzsaal. Die Männer machten sauersüße Gesichter, aber den Mädchen schien unsere Ankunft nicht ungelegen. Und so erfüllten wir denn, was man von uns erwartete – wir tanzten.

Da trat ein alter Mann in das Zimmer und an seiner Seite ein junges Mädchen. Das war Hirsch Welt und seine Tochter. Wir sahen sie da zum ersten Male seit unserer Ankunft und sagten wie aus einem Munde: »Wie schön sie ist!« – »Stört dir dies Mädchen deine lichte Erinnerung?« fragte ich Adolf lächelnd.

Aber er erwiderte nichts. Er war nur einen Augenblick noch bleicher geworden als gewöhnlich. Dann trat er auf sie zu und bat sie um einen Tanz.

Sie erbleichte gleichfalls, sah ihn starr an und sagte dann ganz leise: »Nein.«

Ihm schoß die Röte ins Antlitz.

»Sie . . . Sie tanzen wohl überhaupt nicht?«

»Ich tanze«, sagte sie langsam und blickte ihn noch immer starr an, »aber mit Euch nicht!«

Er zwang sich zu einem Lächeln, es war mühsam genug. »Und wodurch verdiene ich solche Strafe?«

»Weil Ihr uns alle haßt und verspottet, uns, unsere Art, unsere Sprache. Was nützt es Euch? Ihr bleibt deshalb doch auch ein jüdisch Kind.«

Sein Gesicht verfinsterte sich. »Oh, wenn Sie wüßten –« begann er jäh und stockte wieder. Dann sagte er lächelnd: »Da irren Sie. Die Leute von Barnow tun mir kein Unrecht und ich ihnen nicht. Wie würde sich das auch unter Landsleuten schicken! Ich bin ja hier geboren und aufgewachsen!«

»Oh, ich weiß«, erwiderte sie lebhaft, »in unserem Hause, in der Dachkammer habt Ihr ja gewohnt, Ihr und Eure alte Mutter, mit der Friede sei . . .«

Er sah ganz selig. »Also, Sie erinnern sich? Ich habe es kaum erwartet! Es sind ja elf Jahre her!«

»Oh, und wie ich mich erinnere! Wir haben ja so gute Freundschaft gehalten! Und habt Ihr die Rachel vergessen?«

»Gewiß nicht!« beteuerte er.

Von da ab begannen sie halblaut und eifrig zu plaudern, und ich konnte dem Gespräch nicht mehr folgen. Er mochte wohl das schöne Mädchen an seiner Seite an eine Menge kleine Geschichten aus ihrer Kinderzeit erinnern. Denn immer wieder überflog ein seliges Lächeln die holden Züge. Sie merkten es wohl nicht, wie auffällig lange sie so vor aller Augen beisammenstanden. Die Leute begannen zu flüstern, und dicht hinter mir ward die Stimme der platonischen Verehrerin des Fortschritts laut. »Als ich noch in Lemberg war«, sagte sie zu einer Gevatterin, »habe ich manches erlebt, aber daß eine Braut es wagt, so lange mit einem fremden Menschen zu konkurrieren, ist mir wahrhaftig noch nie vorgekommen.« Aber nun traten auch schon die beiden auseinander. »Das freut mich, daß Ihr so der alten Zeit gedenkt«, sagte das Mädchen laut, »das ist ein Zeichen, daß Ihr kein schlechter Mensch geworden seid, wie manche Leute sagen . . . Aber nun – lebt wohl!«

Und fort war sie, ehe er sich's versah. Er sah ihr nach wie ein Träumender. Ich trat auf ihn zu. »Du hast dem armen Bräutigam eine schwere Stunde gemacht«, meinte ich lachend.

»Dem Bräutigam?« fragte er hastig. »Also ist sie verlobt? Mit wem?« – »Das weiß ich nicht. Hat sie dir nicht davon gesprochen?« – »Nein«, erwiderte er kurz, verstimmt, und drängte zum Gehen. Das war ihr erstes Wiedersehen.

Zwei Monate später. Milder Herbstsonnenschein lag auf dem leisen Sterben und Entfärben der Heide. Wieder saß mir mein alter Reisekumpan im Waggon gegenüber. Aber diesmal gings nordwärts, fort von der Heimat.

Adolf war in den letzten Wochen recht seltsam gewesen. Bald überlaut, bald mäuschenstill, bald übermütig, bald sentimental – man sah es dem Menschen auf zehn Schritte an, daß die Liebe über ihn gekommen war und sein ganzes Wesen durcheinanderrüttelte. Wie er zu seiner Liebsten stand, wußte ich nicht, mochte ihn auch nicht darum fragen. Ich begnügte mich mit dem stillen Behagen, daß nun auch diesem armen, einsamen Herzen sein Frühling gekommen sei.

Heute während der Reise war er sehr weich. Auf seinem Antlitz lag ein Schimmer, wie ich ihn auf diesen scharf geschnittenen Zügen nie vermutet hätte. Und plötzlich begann er: »Du, ich möchte dir etwas Hübsches erzählen.« – »Ich höre!« – Aber er schwieg wieder. Erst nach einer Weile brach er los, plötzlich und hastig: »Ich liebe sie. Sie liebt mich. Ich ertrage das Schweigen nicht länger, ich will dir erzählen, wie alles gekommen ist . . .« Ich drückte ihm die Hand, und er erzählte: »Du erinnerst dich jener Hochzeit. Ich bin kein Phrasenmensch, ich kann dir nicht sagen, welchen Eindruck das Mädchen auf mich gemacht hat. Aber obwohl mir die lieblichen Züge immer lockend vorschwebten, mochte ich doch ihren Anblick nicht durch einen Besuch im Hause des Vaters erkaufen. In diesem Hause liegen die düsteren Gespenster meiner Kinderjahre eingesargt, ich mag sie nicht ohne Not wecken. Auch ist ja Hirsch Welt einer der allerfrömmsten Frommen in der Gemeinde, und es gelüstete mich nach keinen weiteren Proben der Herzlichkeit von dieser Seite. So überließ ich denn ein Wiedersehen dem Zufall, der mich auch, etwa eine Woche später, das Mädchen finden ließ. Und zwar an einer Stelle, wo ich alles eher erwarten konnte als ein Zusammentreffen mit ihr.

Du kennst die alte, zerbröckelte Schloßruine am linken Ufer des Sered. Ich liebe die Stelle sonst nicht, mir fehlt der romantische Nerv. Aber an jenem Tage, nachdem ich lange planlos auf der Heide umhergeschweift war, trieb es mich das Hügelchen empor, auf dem die Ruine liegt. Ich war – lächle nur! – in einer Gemütsstimmung, welche es mir zum Bedürfnis machte, so recht ins Weite zu blicken.

Nun denn – auf einem der Steine im verfallenen Schloßhof fand ich das Mädchen sitzen, gerade unter dem großen, roten Holzkreuz, das den Juden sonst den Besuch dieser Stätte verleidet. Sie nähte emsig, ein Buch lag im Grase neben ihr. Beim Geräusch meiner Tritte blickte sie auf und erwiderte ruhig meinen Gruß. ›Nun, da seid Ihr ja endlich!‹ sagte sie. Ich sah sie erstaunt an. ›Wußten Sie, daß ich kommen würde? Ich bin ja nur zufällig hier!‹ – ›Gesagt hat es mir niemand‹, erwiderte sie und errötete, ›aber ich wußte es so sicher und bestimmt wie nur etwas in der Welt! Ja, das Buch hier habe ich nur dazu mitgenommen, um es Euch zu zeigen.‹ Und sie reichte es mir. ›Kennt Ihr es noch?‹ Ich kannte es freilich, und es war ein sonderbares Gefühl, das mich überkam, als mein Blick auf diesen verdrückten, mürben Blättern ruhte. Es war ein Gebetbuch für Frauen, im Jüdisch-Deutsch geschrieben, eines der wenigen Erbstücke, die meine Mutter mir hinterlassen hatte. Mich überschlich tiefe Rührung, die Augen wurden mir feucht, stumm gab ich das Buch dem Mädchen zurück. ›Ihr gabt es mir zum Abschied‹, sagte sie, ›an einem schönen Sommermorgen, als Ihr fortzogt in die weite Welt. Wir haben damals viel um Euch geweint, ich und der blonde Chaim, der nun mein Bräutigam ist.‹ – ›Also der!‹ sagte ich so ruhig wie nur möglich, ›Sie sagten mir neulich nichts davon?‹ – ›Weil wir nicht davon sprachen‹, erwiderte sie und setzte dann hinzu: ›Sagtet Ihr mir doch auch nichts von Eurer Braut, und Ihr habt ja eine, eine schöne und stattliche dazu.‹ Ich mußte lachen. ›Nein, Rachel‹, versicherte ich, ›ich habe noch keine Braut.‹ Sie sah mich forschend an. ›Wirklich nicht? Dann haben unsere Leute wieder einmal gelogen. Sie sagen bei uns, Ihr wäret mit einer schönen und reichen Christin verlobt. Aber seht‹, fuhr sie eifrig fort, ›daß man von Euch so viel Schlechtes und Falsches erzählt, daran seid Ihr doch im Grunde selbst schuld. Ihr seid stolz, tut gegen jedermann fremd und verspottet uns, wo Ihr könnt. Darum war ich Euch jüngst bei der Hochzeit anfangs so böse. Daß Ihr kein schlechter Mensch geworden seid, habe ich schon neulich erkannt und Euch gesagt, aber stolz seid Ihr, auch gegen mich! Sagt nicht nein, denn wahr bleibt's doch. Warum nennt Ihr mich immer ›Sie‹, warum duzt Ihr mich nicht mehr wie einst?‹ – ›Weil aus der kleinen Rachel nun ein erwachsenes Fräulein geworden ist!‹ – ›Da spottet Ihr wieder‹, fiel sie mir heftig ins Wort. ›Ich bin kein Fräulein, ich bin ein Judenmädchen. Und darum bitte ich, sagt ›Du‹ zu mir! Sonst kommt Ihr mir so fremd vor und seid doch eigentlich ein alter Freund.‹ – ›Ich will's gern tun‹, versprach ich, ›aber dann mußt auch du mich duzen.‹ – ›Nein!‹ sagte sie entschieden. ›Das geht nicht. Ihr seid ein gelehrter Student, der bald ein Doktor sein wird, und ich – ich bin die Rachel Welt. Das müßt Ihr nicht von mir verlangen.‹

Wir plauderten noch lange und über vieles – nicht nur an jenem Morgen, auch in den nächsten Tagen und Wochen. Rachel kam alltäglich mit ihrer Arbeit zum Schloßhof. ›Unten ist's dumpf‹, sagte sie, ›und hier oben ist lichter Sonnenschein, und die Vögel zwitschern. Ich liebe das Licht so sehr.‹ Du weißt, es ist sonst wenig Sinn für Naturschönheit unter den Juden unserer Landschaft; die Not, die Schmach, der Jammer haben ihn erstickt. Aber diesem herrlichen Gemüt war eben auch dieser Sinn wieder aufgegangen. Und pünktlich wie das Mädchen fand auch ich mich im Schloßhof ein. Was wir da alles besprachen, könnte ich dir beim besten Willen nicht sagen – es war uns eben das unscheinbarste Ding wichtig genug, um lange dabei zu verweilen. Was uns täglich trieb, einander aufzusuchen, war uns wohl beiden nicht klar. Und dieses sachte Hinleben in der Dämmerung schöner Gefühle, das will mir nun fast als das Lichteste erscheinen an jenen lichten Tagen . . .« Mein Freund verstummte. Wieder spann sich jenes eigene Schimmern über sein bleiches Antlitz. »Du hast recht«, sagte ich, »das ist das Seligste an der seligen Zeit der ersten Liebe, daß diese Liebe so gar nicht klügelt, daß ihr das Wunderbarste einfach erscheint und das Einfachste als ein Wunder. Erst ein äußerer Einfluß zeigt den Liebenden in der Regel, wie tief ihr Gefühl geworden ist.«

Adolf lachte. »Du sprichst wie ein Damen-Almanach. Aber – so ist's. Auch bei uns sollte der äußere Einfluß nicht ausbleiben.«

Dann fuhr er fort: »Eines Morgens war ich allein oben in der Ruine. Ungeduldig schritt ich mehrere Stunden unter dem verfallenen Mauerwerk auf und ab; es war vergeblich, Rachel kam nicht. Und an meiner Ungeduld fühlte ich erst, wie lieb mir das Mädchen geworden war. Sie kam auch am zweiten, dritten Tag nicht. Und so eine Woche lang; ich war in Verzweiflung. Da fand ich sie eines Morgens wieder am gewohnten Platz. Ich eilte freudig auf sie zu und faßte ihre Hand. ›Gottlob, da bist du wieder!‹ rief ich fröhlich, ›Mädchen, Mädchen, wieviel Trauer und Angst hast du mir bereitet!‹ Sie lächelte trüb, ihr Antlitz war bleich, die Augen gerötet. ›Ich konnte nicht kommen‹, sagte sie leise, ›ich war krank!‹ – ›Krank?‹ rief ich besorgt, ›und ich konnte nicht bei dir sein! So hatte ich doch recht, als ich mich um deinetwillen so ängstigte!‹ – ›Es war nicht bedeutend‹, erwiderte sie. ›Und Ihr wart oft hier?‹ – ›Täglich, und harrte und harrte!‹ – ›Ich danke Euch‹, sagte sie leise und reichte mir nochmals die Hand. Und wie wir so stumm dastanden und einander ins Auge blickten und keine Worte fanden, da durchzuckte uns zuerst das klare Bewußtsein unserer Liebe. Wir haben wohl beide in jenem Augenblick gezittert . . . ›Ich muß gehen‹, sagte sie endlich und löste ihre Hand aus der meinen. ›Die Mutter wird Angst um mich haben. Leb wohl!‹ – ›Bis morgen‹, sagte ich. ›Du kommst?‹ – ›Ich komme‹, versprach sie leise.

Ich hatte am nächsten Tag nicht lange oben zu warten. Sie kam pünktlich. Ich ging ihr entgegen, aber gedrückt und befangen, nicht fröhlich wie gestern. Sie war auch heute noch sehr bleich, ihr Schritt schwankend. ›Du bist kränker, als du mich glauben machen willst‹, empfing ich sie besorgt. – ›Nein‹, erwiderte sie, ›ich bin nicht mehr krank, und‹ – sie stockte und fuhr dann mit fester Stimme fort – ›ich war es auch nicht. Ich habe Euch gestern belogen! Ja, ich log, weil ich nicht den Mut hatte, die Wahrheit zu sagen. Ich bin blaß, und meine Augen sind gerötet, weil ich sehr viel geweint und getrauert habe in den letzten Tagen. Ich habe Euch viel zu sagen, ich bitte, hört mich ruhig an.‹

Wir setzten uns auf den großen Stein, der zu Füßen des roten Kreuzes liegt. ›Wer meinen Eltern davon erzählt hat‹, begann sie, ›daß ich täglich hier mit Euch spreche, weiß ich nicht – es ist auch gleichgültig. Ich hätte es ihnen selbst bei irgendeiner Gelegenheit gesagt, denn ich sah nichts Arges darin. Der Vater aber empfing mich, als ich jüngst nach Hause kam, mit heftigen Vorwürfen und mit Worten, ich will sie nicht wiederholen, sie waren sehr böse und ungerecht. Er sagte, ich vergäße meiner Ehre und meiner Pflicht, er erinnerte mich an meinen Verlobten, er beschwor mich, von Euch, dem Ungläubigen, dem Verführer zu lassen. Ich erschrak sehr, als er so sprach, doch nicht vor seinem Zorn. Ich erschrak über die Erkenntnis, die mir da aufging. Ich hatte nicht daran gedacht, warum ich immer hierherkommen mußte, warum mich Euer Wort und Euer Blick so glücklich machten. Nun – nun wußte ich es. Und als mein Vater mir einen heiligen Eid abforderte, Euch nie wieder zu sprechen, da konnte ich nicht schwören. Und wenn mir Gott und alle Engel des Himmels es befohlen hätten, ich hätte es nicht getan, es wäre mir als eine gar zu gräßliche Lüge erschienen gegen das, was in mir war. Ich ertrug den Zorn des Vaters und die Tränen der Mutter, denn ich wußte, daß ich . . . daß ich Euch lieb habe . . . ‹ Ich wollte sprechen, aber sie hob abwehrend die Hand und fuhr fort: ›Seht, als ich das erkannte, da war es mir zuerst entsetzlich – ich kam mir selbst so fremd vor. Und doch war ich wieder sehr glücklich. Ich sah den Kummer und die Verzweiflung meiner Eltern, aber ich hätte es nicht vermocht, nach ihrem Wunsch noch ferner Chaims Verlobte zu bleiben. Ich bin es noch vor der Welt, aber Euer ist in Wahrheit meine Seele und mein Leib. Darum konnte ich Euren Anblick nicht länger entbehren, und so bin ich gestern heimlich hergekommen. Da hab' ich aus Eurem Wort und Blick gesehen, daß Ihr auch mich lieb habt wie ich Euch. Und nun frage ich Euch: Was soll dies, und wie wird das Ende sein?‹ Ich hörte nicht das Weh, das durch diese Worte klang, mir tönte nur Jubel durch das Herz. ›Mädchen‹, rief ich, ›du liebst mich, dann ist ja alles, alles gut!‹ Aber sie sah mich ernst und traurig an. ›Nein‹, sprach sie, ›dann ist alles verloren! Ihr fühlt nur das Glück, ich fühle es mit Euch, aber ich blicke auch in die Zukunft, und da ist kein Trost für mich! Eure Gattin werden kann ich nicht, dazwischen steht mein Leben, wie es bisher war, meine Herkunft – und dann, wie sie mich erzogen haben. O Gott, ich bin ja nichts, ich weiß ja nichts, ich kann ja nichts. Weh mir, ich kann ja nicht einmal deutsch sprechen! Was wollt Ihr, der einst ein Doktor sein wird, mit einer Frau, die gar nichts von der Welt versteht, in der Ihr leben werdet. Oh, ich fürchte mich so sehr vor dieser Welt! Und hätte ich dann oft gegen den Brauch gefehlt und Euch vor anderen beschämt, da müßtet Ihr ja sagen: diese Liebe war mein Unglück . . .

›Rachel‹, rief ich, ›sprich nicht so, du quälst dich und mich mit leerer Furcht!‹

›Und doch ist es so‹, erwiderte sie mit zuckenden Lippen. ›Und dann, soll ich mein Glück mit dem Schmerz und, wie unsere Leute denken, mit der Schande meiner Eltern erkaufen, die sie töten würde?! Oh, mir war es in meinem Leid oft, als müßte ich Euch anflehen, abzureisen, schnell, gleich. Vergessen, das wäre nicht Glück, aber Rettung!‹ – ›Und glaubst du, ich könnte dich vergessen?!‹ fragte ich ernst, ›glaubst du ein Gleiches von dir?‹ – ›Nein‹, erwiderte sie, ›ich könnte es nicht. Aber sagt, wo seht Ihr eine Rettung?‹ – ›Ich sehe sie‹, sagte ich entschlossen. Der trotzige Mut von einst war wieder über mich gekommen. ›Man kann, was man will‹, klang es durch meine Seele. – ›Mit deinem Vater will ich sprechen, ich will ihm nachweisen, wie töricht sein Vorurteil gegen mich ist, ich will ihn anflehen, sein einziges Kind nicht unglücklich zu machen, ich will dich von ihm fordern als mein Eigentum. Gelingt es mir nicht, dann will ich dich durch eigene Kraft erkämpfen. Du aber mußt die Eltern lassen, um des Geliebten willen. Freilich, zwei Jahre werden wir noch harren und kämpfen müssen, aber du wirst nicht ermatten, wie ich nicht ermatten werde. Und dann wirst du mein geliebtes Weib und lächelst über deine Sorgen von heute. Ich schwöre dir, dich will ich heimführen oder keine!‹ – ›Ich bleibe dir treu‹, sagte sie nur einfach und leise, aber es klang wie ein heiliger Schwur. So schieden wir . . .«

Mein Gefährte verstummte. Wir starrten schweigend in die Dämmerung hinein, die sich allmählich über die weite, westgalizische Ebene breitete. Erst nach langer Pause fragte ich: »Warst du bei Hirsch Welt?«

»Ja . . . Er hat mir die Tür gewiesen. Was liegt daran? Das Mädchen wird deshalb doch mein Weib. Man kann, was man will . . .«

 

An die fünfzehn Monate waren seit jener Unterredung im Waggon vergangen. Wir waren nach Wien zurückgekehrt, wohnten in verschiedenen Stadtteilen und sahen uns selten genug. Nur soviel wußte ich von ihm, daß er mit eiserner Energie arbeite und gute Nachrichten von seinem Mädchen habe.

Da ward eines Morgens im Dezember, in grauer Frühe, stürmisch an meine Stubentür gepocht, und noch ehe ich antworten konnte, trat mein Freund herein, totenbleich, mit verstörtem Antlitz. »Du bist's, Adolf?« rief ich erschreckt. »Wie du aussiehst! Was ist geschehen?«

Er strich sich über die Stirn und warf das wirre Haar zurück, in dem noch einige Schneeflöckchen hingen. »Was geschehen ist?! Das weiß ich nicht, eben darum tötet mich ja die Unruhe . . . Steh auf und komm mit!«

Ich gehorchte und fuhr in meine Kleider. Es war etwas in seiner Stimme und seinem Wesen, was mich nicht länger zaudern ließ. Er war schwankenden Schritts ans Fenster getreten und dann wie todmüde in meinen Lehnstuhl gesunken und starrte nun in den grauen, trübseligen Wintermorgen hinaus. Sein Antlitz war fahl, die Augen glühten wie im Fieber.

»Adolf«, rief ich besorgt, »du bist krank?«

»Nein, ich bin nicht krank«, erwiderte er ungeduldig, »ich darf nicht krank werden. Aber komm, komm!« Besorgt folgte ich ihm in den kalten, stürmischen Dezembertag hinaus. »Wo ist die nächste Telegrafenstation?« fragte er.

»Ziemlich weit! Was sollen wir dort?«

»Komm hin, frag nicht viel!« Er war offenbar in so furchtbarer Aufregung, daß ich ihm schweigend willfahrte. Als wir endlich nach geraumer Zeit vor dem Tor des Amtes standen, sagte er: »Und nun, ich flehe dich darum an, geh hinein und frag bei deiner Mutter telegrafisch an, ob es wahr ist, daß – meine Braut in nächster Woche heiratet.«

»Hast du dergleichen gehört?«

»Später, du sollst später alles hören, aber nun geh und telegrafiere. Und erbitte die Antwort schleunigst, hörst du, schleunigst, hab Erbarmen mit mir.« Diese Worte, dieses Benehmen waren bei dem klaren Menschen so unerhört, daß sie mich tief erschütterten. Ich trat ins Amt und gab die Depesche auf. Erst als ich fertig war, ging's mir durch den Sinn, was meine Mutter davon denken würde, daß ich mich so jäh und leidenschaftlich nach der Rachel Welt erkundigte, und ich mußte fast lächeln. Aber das Lächeln verging mir wieder, als ich auf Adolf zutrat. Seine Augen brannten, und Fieberschauer durchrüttelten ihn. »Du bist krank!« rief ich wieder. Ich ergriff seinen Arm und führte ihn ins nächste Café. Auf der Straße ging eben der Schneesturm wieder lustig an.

»Oh, es ist nichts von Bedeutung«, erwiderte er, folgte aber willig. »Ein leichtes Fieber, ich werde mich erkältet haben, ich bin heute die ganze Nacht ziellos durch die Gassen gegangen. Ich weiß, was du sagen willst, eine Torheit war's, und ich bin selbst ein angehender Arzt, aber was nützt das, ich konnte nicht ruhig . . . Wann kommt die Antwort?« unterbrach er sich dann wieder heftig.

»Spät nachmittags, vielleicht erst nachts. Wir haben ja keine direkte Verbindung, dazu der Schneesturm. Aber wenn die Antwort kommt, bringe ich sie dir augenblicklich.«

»Ich danke dir«, erwiderte er. »Du weißt nicht, was ich litt, als ich es so unvermutet erfuhr.«

»Durch wen?« fragte ich.

»Es hat sich seltsam gefügt«, erzählte er. »Ich ging gestern abend zufällig durch die chirurgische Abteilung des allgemeinen Krankenhauses. Da ward ich plötzlich angerufen. Ich trat an das betreffende Bett, ein jüdischer Bursche lag darin – es war der Salomon Pinkus, der Bruder des Ochsenhändlers Chaim Pinkus aus Barnow. Der Bursche erzählte mir klagend, daß er vor einigen Tagen eine Herde seines Bruders nach Wien gebracht und nach glücklichem Verkauf wieder nach Hause habe zurückkehren wollen, da sei er im Glatteis auf der Straße ausgeglitten und habe sich den Arm gebrochen. ›Oh!‹ wimmerte er, ›ich habe nicht nach Wien gehen wollen, ich habe mich gefürchtet, aber ich habe es ja für meinen Bruder tun müssen, der kann nicht von Hause fort, er heiratet ja in nächster Woche die Rachel, die Tochter des Fleischhauers.‹ – ›Wen?‹ rief ich außer mir und packte ihn so heftigen Griffs am gesunden Arm, daß er aufschrie, ich zerbräche ihm auch diesen. Nun, und dann erzählte er mir, die Braut seines Bruders sei ja die Rachel Welt, und ich müßte sie ja kennen – ich glaube, der Bursche lächelte höhnisch –, sie sei plötzlich wieder zur Vernunft gekommen und wolle den Chaim doch heiraten . . . Ich weiß nicht mehr, was ich ihm darauf erwiderte, nur, daß ich schließlich fortrannte wie ein Wahnsinniger, kreuz und quer durch die Straßen, trotz des Sturms und der Kälte. Wie mir dabei zumute war, kann ich dir nicht sagen, du würdest es auch nicht begreifen . . .«

»O doch, du Armer«, erwiderte ich mitleidig.

»Nein!« rief er heftig, »kein Mensch kann es begreifen. Sieh, es ist ja bei mir keine gewöhnliche Liebelei, wie käme auch meine Natur dazu?! Es ist ja die erste große Leidenschaft meines Lebens und wird unter allen Umständen die letzte sein. Ich habe alles, was an Gefühl in mir ist, auf dieses Mädchen gesetzt. Betrügt sie mich, so werde ich wahnsinnig oder muß sterben. Glaube mir, ich fasele nicht, ich sehe mich auch jetzt so scharf und klar wie etwa einen meiner Kranken. Ein Beweis dafür, daß ich selbst in meiner Leidenschaft nie blind war, mag dir das Bekenntnis sein, daß mir die Schranken, die mich von dem Mädchen trennen, keinen Augenblick kleiner erschienen, als sie sind. Ich weiß, daß zwischen uns eine Welt liegt, wir sind in unseren Anschauungen so gründlich verschieden, daß kein Dichter einen größeren Gegensatz ersinnen könnte. Dafür können wir beide uns bei dem orthodoxen Judentum bedanken. Aber ich weiß auch, daß diese Schranken nicht unübersteiglich sind. War ich Manns genug, mir selbst mein Leben zu schaffen, so werde ich auch Manns genug sein, mir selbst meine Frau zu erziehen. Niederwerfen, dann aber auch ganz und gar in den Staub schleudern, kann mich nur eins: die Untreue des Mädchens . . .«

»Und hältst du das für möglich?«

»Noch sträube ich mich dagegen, niemand gesteht sich willig ein, daß sein Leben plötzlich wertlos geworden ist. So wenig wahrscheinlich es ist, daß der Bursche gelogen hat, denkbar ist es doch . . . Freilich habe ich schon darum fast gar keine Hoffnung, weil ihre Briefe, die sonst pünktlich allwöchentlich kamen, seit vierzehn Tagen ausgeblieben sind . . .«

»Wie aber«, meinte ich, »wenn sie nicht untreu wäre, sondern gezwungen, überwältigt durch weiß Gott welche Mittel!«

»Das ist unmöglich«, erwiderte Adolf fest. »Wäre mir dies auch nur einen Augenblick als möglich erschienen, ich säße jetzt nicht dir gegenüber, sondern im Waggon auf dem Weg nach Barnow. Aber die Annahme ist für mich, der ich das Mädchen kenne, geradezu vernunftwidrig. Rachel ist klar wie ein Edelstein. So eine Natur läßt sich nicht zwingen, nicht betäuben, nicht überwältigen. Käme es aufs äußerste an, so liefe sie ihren Eltern fort und käme zu mir und müßte sich bis hierher durchbetteln. Ich kenne sie . . .«

Wir sprachen noch lange an jenem düstern Wintervormittage. Dann bewog ich Adolf, doch wieder ins Krankenhaus zu gehen und seine gewohnten Pflichten zu erfüllen. Aber er tat dies erst, nachdem ich feierlich versprochen hatte, ihm die Nachricht, wie sie auch immer sei, keinen Augenblick vorzuenthalten.

Erst im Morgengrauen des nächsten Tages kam die Antwort:

»Ja, Rachel heiratet nächsten Dienstag den Ochsenhändler Pinkus. Aber was geht's Dich an?«

Ach! Die Nachricht ging mich in diesem Augenblick näher an, als meine gute Mutter ahnen mochte. Bekümmert machte ich mich auf und fuhr in die Mariengasse, wo Adolf ein kleines Stübchen bewohnte. Mein Herz klopfte, als ich die Klingel zog.

Seine alte Hausfrau kam mir entgegen. »Gottlob, daß Sie da sind«, rief sie mir freudig zu. »Welche Angst habe ich in dieser Nacht ausgestanden! Denken Sie nur, gestern nachmittag kommt wieder ein Brief für den Herrn Doktor aus der Polakei, ich hab's am Poststempel gesehen, nun, den lege ich ihm auf den Leuchter, wie gewöhnlich, damit er ihn gleich findet, wenn er heimkommt. Hätte ich aber gewußt, was das für ein böser Brief war – lieber Herr, ich bin eine ehrliche Frau, aber diesen Brief hätte ich unterschlagen, so wahr mir Gott helfe, und es wäre ein gutes Werk gewesen. Denn hören Sie nur! Er kommt schon früh am Abend nach Hause und fragt atemlos, ob Sie noch nicht dagewesen sind. Nein, sag' ich, aber ein Brief aus der Polakei ist gekommen. ›Wo?‹ ruft er und ist mit einem Satz im Zimmer und liest den Brief. Darin muß aber etwas Furchtbares gestanden haben, lieber Herr, etwas ganz Furchtbares, denn der Herr Doktor wird totenblaß und zittert, und seine Augen glühen. Aber plötzlich wirft er den Brief fort und fängt an, laut zu lachen – es war furchtbar anzuhören, das Herz ist mir stillgestanden, es war ganz so, wie ein Verrückter lacht. Und dann blickt er um sich – mit solchen Augen« – die alte Frau suchte ihren Blick recht starr zu machen –, »und dann ruft er mir zu: ›Fort!‹ Und – verzeih mir's Gott – es war mir gar nicht unangenehm, und ich bin schnell hinausgegangen. Drinnen bleibt es eine Weile ruhig, dann höre ich den Herrn Doktor rasch auf und ab gehen, und dann sinkt er auf das Sofa und stöhnt leise. Aber wie das geklungen hat, das ist gar nicht zu beschreiben, und ich bin darüber wieder tödlich erschrocken. Denn, wissen Sie, vor zwei Jahren war ein großes Unglück hier im Hause, bei meiner Nachbarin: ihr Zimmerherr, ein junger Apotheker, hat sich wegen einer Liebe vergiftet. Ich habe zugehört, wie er gestöhnt hat – genauso hat heute nacht der Herr Doktor gestöhnt. Da denke ich mir: hier ist ein Unglück geschehen, und fasse mir ein Herz und trete in sein Zimmer. Er steht auf und starrt mich mit großen Augen an, als müßte er sich erst besinnen. ›Ich bin es ja‹, rufe ich, ›sind Sie krank?‹ – ›Nein‹, sagt er, ›ich möchte nur ganz allein sein, ganz allein!‹ Und da gehe ich wieder fort, aber die ganze Nacht . . .«

Ich hörte sie nicht länger an und trat in das Zimmer. Adolf saß regungslos im Lehnstuhl, die Hände aufs Gesicht gepreßt, es schien fast, als schlafe er. Aber beim Geräusch meiner Schritte ließ er die Hände sinken und erhob sich. Ich kann nicht beschreiben, wie sein Gesicht war, ich habe nie einen Seelenschmerz sich erschütternder in den Zügen eines Menschen ausprägen sehen.

»Lies!« sagte er kurz und heiser und reichte mir einen Brief hin, der auf dem Tisch lag. Er lautete:

»Herr Doktor!

Ihr müßt mir verzeihen, daß ich erst jetzt schreibe, daß ich mich getäuscht habe. Ich habe Euch nicht lieb, es war nur Freundschaft. Ich habe es bald bemerkt, aber ich habe nicht den Mut gehabt, es Euch früher zu schreiben. Darum schreibe ich erst jetzt, daß ich nächste Woche Chaim heirate. Ihr könntet vielleicht glauben, daß ich das gezwungen tue, aber es wäre nicht wahr, ich tue es freiwillig. Verzeiht mir also, Herr Doktor, es war ein Irrtum.

Rachel.«

»Es war ein Irrtum!« schrie Adolf verzweiflungsvoll und brach dann zusammen.

Mehr als vier Jahre waren seit jenem düsteren Wintermorgen vergangen. Wieder grünte und blühte der Frühling. Ich aber saß in einem Hause der großen, dumpfen Stadt, die heiße Stirn über ein Manuskript gebeugt. Da trat der Diener in die Stube und überbrachte mir eine Karte: »Dr. Adolf Leiblinger«. Der Herr warte draußen. Ich stürzte selbst zur Tür und riß sie auf. Ich hatte meinen Freund seit zwei Jahren nicht gesehen, seit jenem Tag, wo er zu mir kam und mir kurz und kühl sagte: »Ich bin als Arzt in holländische Dienste getreten und gehe nach Batavia, leb wohl!« Aber er hatte sich in der Zwischenzeit wenig verändert: dasselbe blasse Gesicht mit dem unveränderlichen Ausdruck finsterer, trotziger Ruhe. Nur brauner war er geworden von der tropischen Sonne.

»Also wieder in Europa«, rief ich freudig, »das ist recht von dir! Du weißt ja, wie sehr ich mich gemüht habe, dir deinen Plan auszureden. In dieses mörderische Klima zu gehen, das war ja eine Art anständigen Selbstmords!«

»Ja«, erwiderte er ruhig, »das war's.«

»Aber nun bleibst du hier?«

»Ja, ich habe auch jetzt keine Freude am Leben, aber es macht mir auch keinen Schmerz mehr. Der Tod wird mir wohl immer als etwas Gleichgültiges erscheinen. Aber da ich nun einmal lebe, so habe ich wohl auch die Pflicht, mich so nützlich als möglich zu machen. Ich werde mich hier oder auswärts als Dozent habilitieren.«

»Das freut mich«, sagte ich, »ich habe übrigens nie die Hoffnung verloren, daß dich die Zeit doch endlich heilen wird.«

»Es war, wenn du das, was mit mir vorgegangen ist, eine Heilung nennen willst, nicht die Zeit, die es bewirkt hat, sondern ein Brief.«

»Ein Brief? Von ihr?«

»Ja. Nachdem ich ihn erhalten hatte, reiste ich sogleich nach Europa – direkt nach Barnow. So wahnsinnig rasch hat bisher noch kein Mensch die ungeheure Reise zurückgelegt, aber ich bin dennoch zu spät gekommen.«

»Sie ist tot?« fragte ich.

»Ja, vier Wochen sind's her, daß sie starb.«

»Und sie rief dich durch jenen Brief an ihr Sterbelager?«

»Nein, aber da du alles übrige kennst, so ist es wohl meine Pflicht, dich auch diesen Brief lesen zu lassen.« Er reichte mir das Schreiben hin. In zitternden, kaum lesbaren Zügen stand darin geschrieben:

»Es wird bald Frühling, aber ich fühle, daß ich ihn nicht mehr erleben werde, darum will ich schreiben, solange ich es noch vermag. Ich tue es wohl auch um meinetwillen, aber noch mehr um Euretwillen. Um meinetwillen nur, damit Ihr mich nicht auch noch bis über den Tod hinaus verachtet, aber um Euretwillen, um Euch wenigstens jetzt den Schmerz zu nehmen, daß Ihr ein Mädchen geliebt habt, welches schlecht war und Eurer Liebe nicht wert.

Ich habe gelogen, was ich zuletzt vor vier Jahren schrieb. Ich hatte Euch damals lieb und liebe Euch jetzt, und ich werde Euch lieb haben, bis ich sterbe. Und wenn uns Gott nach dem Tod diese Gnade gestattet, so werde ich Euch auch dann noch lieben. Aber eben wegen meiner Liebe habe ich mich so auf immer von Euch geschieden. Schüttelt nicht das Haupt und wundert Euch nicht über die seltsamen Worte. Es wäre mir kein reines Glück geworden, das ich erkauft hätte mit dem Fluch des Vaters und mit der Verzweiflung der Mutter. Aber das hätte ich überwunden. Eines jedoch hätte sich niemals ausgeglichen! Ihr habt darüber gelächelt, und es war doch richtig: Eure Stellung und wie sie mich erzogen haben. Sie haben mich zu lange hier gehalten, so in der Traurigkeit und in der Unwissenheit; ich hätte die Welt und das Licht nicht ertragen können. Ich hätte Euch nicht so recht verstehen können, nicht Euer Weh, nicht Eure Lust, und das wäre mir und vielleicht noch mehr Euch ein großer Schmerz gewesen. Ich wäre so unter Euren Freunden und ihren Frauen immer fremd und ungeschickt geblieben, sie hätten gelacht über mein Tun und über mein Sprechen, und das hätte mir furchtbar weh getan und Euch nicht minder. Ihr hättet mich vielleicht deshalb von der Welt abgeschlossen gehalten, aber dann hätte ich es nicht ertragen können: ›Dein Mann muß sich deiner schämen‹, und auch Euch wäre es sehr schmerzlich gewesen. Und eines Tages wäre es so gekommen, wie ich Euch damals gesagt habe: Ihr hättet die Stunde verwünscht, wo ich Eure Gattin geworden wäre. Ihr hättet mich nicht verstoßen, das weiß ich, aber unglücklich wären wir geworden, Ihr vielleicht noch unglücklicher als ich.

Das habe ich alles genau gesehen und erkannt, und weil ich Euch so sehr liebe, wollte ich nicht, daß Ihr durch mich unglücklich werdet. Darum habe ich beschlossen, es allein zu werden, und habe meinen Eltern gesagt, daß ich den Chaim heiraten wolle, und habe Euch jenen Brief geschrieben. Aber wenn ich auch Euch gegenüber log, meinem Bräutigam habe ich die Wahrheit gesagt. Ich habe ihm gesagt, wie es um mich steht, und daß ich ihm nur eine treue Dienerin sein kann. Er hat darauf erwidert:

Mit der Zeit wird es schon anders werden. Ich wußte, daß es nicht anders werden wird, aber ich habe mein Leid auf mich genommen. Das war gut, und ich klage auch jetzt nicht darüber.

Aber sagen muß ich, daß ich zu schwach war für dieses Leid. Ich bin bleich und krank geworden, mein Herz klopft so stark, daß ich oft davon ohnmächtig werde, ich werde immer schwächer und fühle, daß ich bald sterben werde. Aber ich habe kein Bangen vor dem Tode und danke Gott, daß er mich nur so kurz hat leiden lassen und nicht ein ganzes langes Leben hindurch. Was hätte ich auch noch sollen auf dieser Erde? Es war mir immer ein Glück – und ich habe darauf gehofft seit jener Stunde, wo ich meinen Entschluß gefaßt habe –, Euch alles dies einmal, bevor ich sterbe, zu schreiben. Ich habe nicht geahnt, daß ich schon so bald dies Glück haben werde, daß ich schon so bald gereinigt dastehen werde vor Euren Augen.

Nun ist es mir beschieden – unser Gott ist doch ein barmherziger Gott. Und so danke ich Euch noch einmal für alle Eure Liebe. Ihr seid mir der Trost und das Licht gewesen in meinem armen, dunklen Leben. Ihr habt mich nur selig gemacht und seid unschuldig gewesen an meinem Leid. Verzeiht darum das Weh, das ich Euch bereitet habe. Es ist meine letzte Bitte, und ich werde ja bald sterben.

Aber nein, noch eine Bitte habe ich an Euch, und wenn Ihr sie nicht erfüllt, so kann ich keine Ruhe haben im Grabe. Euer Freund, des Doktors Sohn, hat hierher geschrieben, daß Ihr jetzt in einem sehr fernen Land seid, wo die Sonne heiß brennt und fast alle Fremden an einem bösen Fieber sterben. Er hat auch geschrieben, daß Ihr wahrscheinlich aus Verzweiflung über meine Heirat dorthin gegangen seid. Was ich bei dieser Nachricht und seitdem gelitten habe, kann ich nicht sagen, und wenn ich es sagen könnte, würdet Ihr es gar nicht glauben. Aber ich flehe Euch an, geht weg aus diesem mörderischen Land. Mein Herz sagt mir, daß Ihr der geschickteste Arzt seid, der je gewesen ist. Kommt zurück und helft den armen Menschen.

Das Gebetbuch Eurer Mutter, welches Ihr mir einmal geschenkt habt, werde ich mit ins Grab nehmen.

Lebt wohl und lebt so lang und so glücklich, als ich Euch wünsche. Ich aber werde tot sein, wenn Ihr diesen Brief lest.

Rachel.

Stumm gab ich den Brief dem Freunde zurück.

Er erhob sich und sagte ruhig wie früher: »Nun weißt du, warum ich wieder in Europa bleibe. Auf Wiedersehen.« Aber wie wir so schweigend einander gegenüberstanden, verließ den stolzen, düsteren Menschen plötzlich seine Kraft. Er sank mir in die Arme und schluchzte leise, herzzerbrechend: »Warum mußte es so kommen – warum?«

Auch ich weiß keine Antwort auf diese Frage. Und darum wage ich es nicht, dieser Geschichte noch ein Wort beizufügen.

 


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