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Auf dem Ring in Neiße, vor der alten bischöflichen Kämmerei, hielt im ersten Licht eines Sommertages die Suite der Prinzen, Generäle und fremdländischen Gäste und erwartete den König. An ihrer Spitze saß auf einem schönen braunen Pferde der Kronprinz, ein bereits beleibter Herr von vierzig Jahren, mit gefälligem Gesichtsausdruck, hinter ihm, in tiefem Schweigen verharrend, eine überaus bunte und sehr glänzende Schar, zwischen den Preußen eine beträchtliche Zahl russischer, englischer, holländischer, französischer, spanischer Herren. Die Sensation der Tage in Neiße war diesmal, daß sich unter den fremden Offizieren zwei Gegner aus dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg befanden, Lord Cornwallis, der britische General, Sieger von Camden und Guilford, und der jugendliche, in seiner Heimat schon wie ein Gott gefeierte Lafayette. Bei der Tafel des vergangenen Abends, bei der einem übrigens nur vier Gänge serviert wurden, benetzt von einem ziemlich zweifelhaften Bergerac, hatten die beiden einander gegenübergesessen, eine Pikanterie, wie sie sich einzig und allein bei einer dieser erstaunlichen Revuen in Schlesien ereignen konnte; die Konversation hierüber war in den zerstreuten Stadtquartieren der übrigen Gäste bis spät in die Nacht nicht verstummt.
Jetzt aber sprach niemand. Man hatte kaum geschlafen, und zudem verbot der Augenblick jeden Lärm. Nichts wurde laut als hie und da ein einzelner, schallender Hufschlag aufs unregelmäßige Pflaster. Rotes Frühlicht kam über die Dächer, überzog den altertümlichen Platz, erweckte sanft den Glanz von kostbaren Waffen, Gold- und Silberschnüren und von allen höchsten Orden Europas.
An den Fenstern der niedrigen Häuser ringsum waren Menschen erschienen, in Schlafröcken, in Tüchern, in Nachtmützen, unbeweglich lehnten sie über ihre geschnörkelten Gitter und starrten auf die Arkaden vor der schmalen, hochgiebeligen Kämmerei und auf den rotgesattelten Schimmel, den ein Reitknecht am Zügel hielt.
Die Uhrglocke der Kreuzkirche tat langsam zwei dumpfe Schläge: halb fünf. Die Uhr der Jakobskirche folgte mit zwei hellen raschen starken Schlägen, der König trat aus einem der schweren Bogen hervor, nahm seinen Hut ab und setzte ihn schnell wieder auf.
Es ging wie ein feines Rauschen über den Platz vom feierlichen Gruß mit all den glänzend bordierten und gefiederten Kopfbedeckungen. Jedermann hielt die seine ausgestreckten Armes möglichst weit von sich, eine Wolke von Puder stäubte über der Versammlung.
Friedrich stand da unter dem Gewölbe, ein wenig zur Seite gekehrt, klein und ganz mager in seiner blauen Infanterieuniform mit roten Aufschlägen und rotem Kragen.
Er unterschied sich durch nichts von einem Subalternoffizier als durch den eingestickten Stern vom Schwarzen Adler und die von der rechten Schulter herabhängende, etwas reichere Fangschnur aus Silbersträhnen, die heute ausnahmsweise einmal neu war und im Sonnenlicht nun ebenfalls erglänzte.
Er verweilte einige Augenblicke und sah sich um, mit sehr unzufriedenem und galligem Ausdruck. Seine Stimmung bei der gesamten diesjährigen Revue war fürchterlich. Er sprach mit gar niemand, zeigte sich kalt bis zur Unhöflichkeit, hatte am gestrigen Abend bei Tafel selbst Lafayette nicht beachtet und war nach einer unbehaglichen Stunde verschwunden.
»Keine Stafette gekommen?« fragte er in die Stille hinein mit seiner hohen, einnehmenden Stimme, die so häufig zu schneidenden Worten in Kontrast war. Ein Adjutant trat hastig heran und erstattete Meldung. Es war keine neue Stafette gekommen.
In der Suite sah man sich vorsichtig und bedeutungsvoll an. Während der ganzen Manöverreise nach Schlesien, die nun eine Woche schon dauerte, waren tagtäglich diese geheimnisvollen Botschaften angelangt, vom König stets mit äußerster Ungeduld erwartet und erbrochen. Man sah die fliegende Röte in seine gelben Wangen steigen; seine Hände zitterten beim Entfalten, und sein Mienenspiel zeigte Angst und Aufregung. Wo immer es sein mochte, auf dem Ritt, bei der Inspektion, bei Audienz, bei Tafel, verlangte er sofort Papier und Stift, schrieb einige Zeilen nieder, verschloß selbst sorgsam die Antwort und beorderte den Feldjägeroffizier augenblicklich wieder nach Potsdam. Der bedauernswerte Herr nahm hastig und verstohlen eine Art Mahlzeit zu sich, bestieg einen frischen Gaul und jagte, durch schlesischen und brandenburgischen Lehm und Sand, auf immer gewechselten Pferden mit dem Zettel des Königs seine Straßen zurück.
Was ging vor? Nichts war undenkbar. Der alte dürftige Mensch da unter der Wölbung war der Blickpunkt des Erdteils, wie er jetzt der Blickpunkt einer internationalen Generalität war. Er bedeutete eine Macht, jedem Souverän als Bundesgenosse den mächtigsten Zuwachs, aber als undurchschaubar, als rätselvoll, als unheimlich war er dennoch gescheut und gemieden, und Preußen stand ziemlich einsam in der Welt, wieder einmal. Was war im Werke? Neuer Krieg, da doch seit dem Erbfolgestreit die europäische Erde befriedet schien? Lockerte sich vollends Preußens Verhältnis zu Rußland, war die Union zwischen Petersburg und Wien zur gewaltigen Tatsache geworden? Stand vielleicht Preußens so lange gewünschte Allianz mit Frankreich vor ihrem Abschluß? Ging es um Friedrichs weitschauende Pläne eines deutschen Fürstenbundes? Oder setzte der Kaiser Joseph doch noch seine Absichten durch und gab die Niederlande hin, um dafür Bayern seinen Erblanden anzugliedern? Der verschlossen blickende Alte im blauen Infanterierock hielt jetzt vielleicht Europas Schicksal in seinen gichtigen Händen. Seine Armee, von ihm zu einem Werkzeug furchtbarer Schlagkraft herangebildet, war fähig, in jedem Konflikt des Erdteils die Entscheidung zu bringen. Und sein Feldherrenruhm, geschmiedet und gehärtet in heute schon mythischen Schlachten, würde vor dieser Armee hersausen als eine mähende Sichel.
Was ging vor? Was bedeuteten diese Eilenden, die zwischen Potsdam und Schlesien einherzuckten, und deren Nachrichten ihn, den Gelassensten, aufregten bis zur Sichtbarkeit? Dergleichen war niemals wahrgenommen worden. In ihren Quartieren, an den wackeligen Tischen dieser Pfarrer und Magistratsräte und Krämer, saßen am Abend der Revuetage die fremden Herren und berichteten in kurialem Französisch an ihre Marschälle daheim, an ihre Staatskanzler, an ihre Souveräne, und es gab kaum eine Residenz in Europa, der nicht von Glogau her, von Liegnitz, von Jauer, von Neiße eine geheim zitternde Bewegung mitgeteilt worden wäre.
Er trat herzu an seinen alten Schimmel. Da der Reitknecht nicht flink genug schien, sprang Lord Cornwallis in seiner roten Generalsuniform vom Pferde und bot dem König die Hand hin zum Aufsteigen. Ohne hinzusehen, trat Friedrich auf diese Hand im weißen Handschuh, für einen Moment hatte der Engländer die vertragenen, ehemals schwarzen, nun ins Rote schillernden Reitstiefel vor den Augen, eine Last spürte er kaum, so hager und leicht war der Alte.
Wie er saß, da erst bedeckte sich die Suite. Er setzte seinen Schimmel in Bewegung, die Herren folgten paarweise, und langsam, unter Pferdeschnauben und Hufgeklapper, lenkte der Zug eine Gasse hinunter zum Fluß.
Jenseits sah man die halb erstellte Friedrichsstadt liegen, die Gründung des Königs. Doch die Neiße wurde nicht überquert, sondern auf dem diesseitigen, dem rechten Ufer ging es abwärts, immer in Sicht des Wassers, durch eine freundliche Landschaft. Kaum auf der freien Straße, hatte der König sein Pferd in Galopp gesetzt. Er liebte diese weichere Gangart, die seinem alten Körper weniger wehe tat.
Da ritt er, und alle Augen hafteten auf dem abgeschabten, groben Tuch seines Rückens, darüber ein dünner Zopf tanzte. Friedrich bot als Reiter keinen eleganten Anblick. Inkorrekt saß er im Sattel, gekrümmt, mit baumelnden Beinen, und ließ sich werfen. Es lag geradezu eine Art von Mißachtung darin, wie er unter den Blicken einer so erlauchten und so glänzenden Schar, unter den Blicken einer europäischen Elite, einherschaukelte. So schlecht, dachte mancher von den preußischen Herren, hätte er nicht zu reiten brauchen. Vielen war er ja noch aus seinen früheren Jahren im Gedächtnis, da hatte er vielleicht nicht schulgemäß, aber höchst ansehnlich zu Pferde gesessen und hatte auch Freude am schönen Material gehabt. In England, in Spanien, selbst in der Berberei wurden prächtige Pferde für ihn angekauft, und die Namen seiner Lieblinge waren populär in der Armee und im Volke, Namen, die klangen wie ein Fanfarensignal und an feurige Taten zu gemahnen schienen: der Tiger, der Springer, der Cerberus, der Brillant, der Sternrapp', der Zornige. Aber die waren alle schon lange tot, und später zog er es sonderbarerweise vor, seinen Gäulen die Namen von Staatsmännern beizulegen: Pitt hieß einer, Kaunitz einer, zwei andere Choiseul und Brühl. Und jetzt wurde seit Jahren schon dieser lange Schimmel mitgeführt, der scheinbar überhaupt keinen Namen hatte, der sanft daherwackelte auf seinen alten Beinen, und den er nur ganz gelinde antrieb mit einem Zungenschnalzen oder mit dem Zügel oder, wenn's hoch kam, mit einem kleinen Stockschlag zwischen die Ohren. Sporen freilich hatte der König niemals getragen, und als eines Tages ein Kammerherr sich deshalb verwunderte, hatte er diesem freigestellt, sich den Bauch zu entblößen und mit einer spitzen Gabel hineinstechen zu lassen: das werde ihn vorzüglich informieren.
Besonders seltsam mußte die fremden Herren seine Nachlässigkeit anmuten, wenn sie den Anlaß des heutigen Rittes bedachten.
Am Tage zuvor hatte ein sogenanntes Großes Manöver stattgefunden. Fünfzehn Bataillone Infanterie und dreißig Kavallerieschwadronen hatten sich im Scheingefecht gezeigt, und diese gemeinsame Übung hatte programmgemäß den Aufenthalt in Neiße abschließen sollen. Für den heutigen Tag war eigentlich die Abreise nach Breslau vorgesehen, dort warteten wie alljährlich zur selben Zeit die geschmückten Straßen, warteten die Behörden der Provinz, die Kammern, die Bürger, waren Memoranden und Bittschriften schon ins reine geschrieben, war der Remter des Rathauses gefegt und gerichtet für den Repräsentationsakt, der dem König eine Last und ein Ärger war und dem er sich gleichwohl noch in keinem Jahr entzogen hatte.
Das Manöver gestern hatte acht Stunden gedauert. Um so kürzer war die Kritik des Königs. Die Offiziere der Infanterie und der schweren Reiterei wurden mit ein paar kalten und gemessenen Worten abgefertigt. Dann aber wandte er sich an den Kommandeur und an die Eskadronchefs der Husaren und äußerte mit schallender Stimme dies: »Messieurs vom Grünen Regiment Husaren, so etwas ist mir noch niemals vorgekommen. Das muß ich mir noch einmal ansehen. Wenn ich Schuster und Schneider zu Husarenoffizieren machte, so könnte das Regiment nicht schlechter sein. Es ist ja gänzlich verloddert, keine Akkuratesse, keine Solidität, keine Ordnung. Die Kerls reiten ja alle wie die Affen. Auf morgen!«
Der junge Marquis de Lafayette, der am Vortag diese bündige Rede mit angehört hatte, ritt jetzt vorn im Zuge, nicht weit vom König. Er blickte auf den verwahrlosten alten Mann, der sich da im Sattel herumwerfen ließ, auf die umgehakten Schöße des Uniformrocks, die nicht mehr rot, sondern weißlich verschossen waren, auf die ehedem silberne Feldbinde, schief und zerfranst um die asketischen Hüften geschlungen, und mancherlei Betrachtungen gingen durch sein feuriges Haupt. Ob Friedrich zu den Offizieren eines Kürassierregiments wohl auch von Schustern und Schneidern geredet hätte? Schwerlich, denn die waren fast sämtlich aus dem preußischen Adel genommen, und dieser so aufgeklärte, so skeptische, so spöttische Monarch war keineswegs skeptisch und aufgeklärt genug, um Adel und Bürger gleichzustellen. Er half dem Bürger, aber er mißachtete ihn. Das Offizierskorps der Husarenregimenter jedoch war bürgerlich.
Frei und weit wie ein König, Mann des Gedankens, unbestechliches Auge, dachte Lafayette – aber ein Sohn deines Vaters dennoch, ein Sohn deiner Ahnen, ein Sohn deiner Kaste, ein Sohn deines Jahrhunderts! Auch du, dem keiner heute zu vergleichen ist, auch du hast deine Grenzen, und ein Geringerer vermag sie zu erkennen, auch ich. Meine Jugend macht, daß ich sie zu erkennen vermag, die vierzig Jahre, die mich das Schicksal hat später geboren sein lassen. Wie seltsam aber, daß Lücken und Grenzen, an einem Großen erschaut, seine Größe nicht mindern – ja sie sind gerade das, was ihn uns lieben macht! Der Bewunderung und Ehrfurcht wird so ein kleines Element der Rührung beigemischt, und diese Mischung erst ergibt Liebe. Ganz herrlich kommt es mir vor, daß dieser freieste König ein Adelsvorurteil hegt, und auch daß er von seinen flinken Husaren sagt, sie ritten wie die Affen, während er selbst so kompromittierend auf seinem Schimmel sitzt. Er ist mehr als ein großer König, er ist ein König, über den man nachdenken muß. Man kann die Freiheit im Herzen tragen wie ich und doch zugleich diesen Despoten – denn so etwas wie ein Despot ist er ja. Und herrlich, auf alle Fälle herrlich ist es, daß ich hier hinter ihm herreiten und auf seinen krummen alten Rücken schauen kann und ungestört dies alles über ihn denken und daß ich siebenundzwanzig Jahre alt bin und in der Welt schon das Meine getan habe und daß ich vielleicht noch auf manchen Straßen reiten werde, in Europa und überm Meer, wenn dieser Held schon lange in seinem Sarkophage liegt.
Man war, in scharfem Tempo, eine kleine Stunde geritten. Nun verließ der König den Fluß und bog ab. Gewölk war aufgestiegen, und die Sonne stach bereits. Nach einer Wendung des Weges übersah man plötzlich den weiten Truppenübungsplatz. Im grellen Licht präsentierte sich, parademäßig aufgestellt, das Grüne Regiment.
Die stattliche Macht erschien als ein Häuflein, so gewaltig dehnte sich um sie und hinter ihr die braungraue, zerstampfte Blache.
Beim Näherreiten erst wurde der Anblick schön. In zehn Eskadrons, scharf und deutlich voneinander abgegrenzt, hielten die vierzehnhundert Husaren mit langer Front, gleichmäßig beritten auf kleinen, weißen, ungarischen Pferden. Offenbar war äußerste Sauberkeit und Akkuratesse befohlen und gewiß die halbe Nacht geputzt worden. Die breiten, krummen Säbelscheiden strahlten, die überreiche Ornamentik der Säbeltaschen, das Schnürwerk der engen Schoitaschhosen, der Schaft jedes Stiefels, der Bügel, der Sporn. Von jeder linken Schulter hing im selben Winkel der kurze, braune Pelz, über jeden grünen Dolman mit seinen hellen Schnüren und Knebeln zog sich in genau beobachteter Schrägung der breite, kalkweiße Gurt. Auffällig war die Art der Kopfbedeckung. Bei diesem Regiment nämlich war noch die Flügelkappe beibehalten, der hohe, schirmlose, ungarische Zylinder aus schwarzem Filz mit seiner Banderole. Diese Banderolen, Tuchstreifen in der Farbe des Dolmans, gemeinhin fest um den Hut gewickelt, waren zur heutigen Gelegenheit losgebunden. Gerade als der König mit seiner Schar in Sicht kam, setzte stoßweise ein heftiger, Unwetter verkündender Wind ein, wie zur Begrüßung flatterten die grünen Streifen um all die unbeweglichen Husarenhäupter, sehr breit und so lang, daß sie sich mit den auffliegenden Mähnen der Pferde berührten und mischten. Die vor ihren Eskadrons haltenden Offiziere, bei denen sich die weiße Ornamentik der Mannschaftsmontur in Silber wiederholt fand, salutierten mit gezogenem Säbel, die Stabstrompeter bliesen ein strenges, zweitoniges Signal, und der Kommandeur des Regiments sprengte auf den König zu, um vorschriftsmäßig seine Meldung zu tun.
»Weiß schon«, sagte Friedrich, »laß Er anfangen!«
Aber bevor der geängstigte Herr auch nur sein erstes Kommando geben konnte, hörte er wieder die Stimme des Königs.
»Aufwickeln!« rief Friedrich und zeigte nach seinem eigenen Kopf. Der Oberst verstand nicht sogleich.
»Aufwickeln das Zeug da, das so flattert! Wir sind nicht auf einem bal masqué, Herr.«
Der Oberst wandte sein Pferd zur Front und gab mit Anstrengung das Kommando durch den sausenden Wind. Gleichzeitig nahm er selbst die Flügelkappe herunter, alle Offiziere vor den Eskadrons taten wie er, alle Unteroffiziere und Mannschaften. Minutenlang saß das ganze Regiment mit entblößten Köpfen im Sattel. Es sah aus wie ein Stoßgebet vor hartem Kampf.
Und es begann jener Tag des Regiments, an den seine tapfersten alten Majors, seine erprobtesten Wachtmeister mit ganz anderem Herzklopfen zurückdachten als an alle feindlichen Kroaten und Kosaken.
Der Oberst wollte mit Gefechtsübungen beginnen.
»Laß Er reiten«, sagte der König. »Reiten will ich sehen.«
Der Wind war zum Sturm geworden. Mit Wolfsstimme heulte er von einem schwarzen Horizont zum andern über das ganze Exerzierfeld hin. Dreißig Schritt hinter dem König befand sich die Suite. Der Sturmwind hielt sie in leichter Bewegung und leisem Geräusch. Die Pferde tänzelten erregt, und ihre wohlgekämmten Mähnen flatterten. Es flatterten auch die kostbaren Federn der Hüte, das lang hängende Gesträhn der Achselstücke, es scharrten und klirrten sacht die Halsorden gegen das Tuch, und die breite Seide der Großkordons knisterte an Hüfte und Brust.
Abteilungsweise wurde geritten: Schritt, kurzer Trab, Galopp. Als auch langer Trab gezeigt werden sollte, verbot es der König. »Langen Trab will ich nicht sehen. Ebensogut könnt ihr mir ein Menuett vortanzen.« Er ritt dicht herzu, hielt sich neben den exerzierenden Gliedern, beobachtete scharf und böse jede Bewegung.
Mit einem Male brach prasselnd der Regen herunter. Er befahl, zu halten und in allen Eskadrons die Mäntel umzunehmen. Man bot ihm eilig den seinen, ein mit Wolfspelz gefüttertes, großes Stück Tuch von formlosem Schnitt. Er machte eine ablehnende Geste und blieb im stürzenden Wasser störrisch auf seinem Pferde sitzen, so wie er war, nichts auf dem Leibe als sein Hemd, die gelbe Weste und darüber die dünngeschabte, alte Uniform.
Er wandte sich um nach der Suite. Man folgte dort seinem Beispiel. Die preußischen Herren konnten wohl nicht anders, die Fremden, aus Courtoisie oder Prahlerei, taten es den Preußen gleich, obwohl ihnen elend zu Mut sein mochte in ihren Galakleidern aus Seide und feinem Tuch.
Der einzige Lafayette machte eine Ausnahme. Beim Fall der ersten dicken Tropfen hatte er hinter sich gegriffen und seinen Mantel losgeschnallt, ein solides, dickes und vielfaches Kleidungsstück, mit dem er schon durch amerikanische Steppengüsse geritten, und war nun dabei, dessen ungeheuern Halskragen in die Höhe zu stellen und vorn zu verriegeln. Offenbar hatte er keine Lust, sich einem Regen gegenüber heroisch zu zeigen und einer Marotte zuliebe im Alter von siebenundzwanzig Jahren seinen Lauf mit einer Lungenentzündung zu beschließen.
Was nun geschah, war auffallend. Friedrich lächelte nämlich beifällig, ritt, als ob er ihn jetzt erst entdeckte, zu Lafayette heran, nahm wie bei schönem Wetter seinen Hut ab und sagte mit einem entzückend höflichen Stimmklang: »Mein Herr von Lafayette, ich habe die Ehre, Sie zu begrüßen. Ich freue mich, daß Sie gekommen sind, mir bei meiner Arbeit zuzusehen.«
Dann wandte er sich zu den übrigen und sagte in kürzerem Ton, doch weiter auf französisch: »Meine Herren, hüllen Sie sich doch ein! Es regnet.«
Der Rat wurde befolgt, ein wenig spät leider schon, und der eigensinnige alte Mann begab sich ohne Hülle wieder nach vorn, um die Husaren reiten zu lassen.
Dergleichen war nicht erschaut worden. Nicht genug, daß der König an jeder einzelnen Eskadron, ja an jedem Beritt seine Kritik geübt hatte: jetzt ging er dazu über, die einzelnen Husaren zu exerzieren. Einer nach dem andern wurde hervorgerufen und, den Oberst zur Seite, dem stromweise mit dem Regenwasser der Schweiß vom Gesicht floß, ließ der König seinen Mann reiten: Schritt, kurzen Trab, Karriere, ließ ihn im schärfsten Tempo halten und wenden und wiederholte Kommando auf Kommando.
Die Mehrheit des Gefolges hatte sich endlich entschlossen, den Schutz einer Hütte aufzusuchen, die in mäßiger Entfernung sichtbar war, eines einfachen Daches eigentlich nur, das auf fünf Pfählen ruhte. Dort war man abgesessen und stand nun eng beieinander, je nach Anlage amüsiert, höhnisch, nachdenklich oder außer sich. Nur einige preußische Herren waren vor dem Regiment geblieben, und mit ihnen der so besonders wohlverpackte Lafayette.
Er verwandte kein Auge von der unglaubhaften blauen Gestalt dort auf dem geduldigen Schimmel, die im stürzenden Wasser kleiner und kleiner wurde und gewissermaßen hinzuschmelzen schien. Was beabsichtigte dieser König? Tat er nicht, als wolle er aushalten in diesem scheußlichen Wetter, bis er das ganze Regiment, nein, seine ganze Armee, durchexerziert hätte, Mann für Mann. Beim Himmel, was wir hier sehen, dachte der Franzose, das wird nicht mehr gesehen werden bis an das Ende der Tage. Ihm fielen die Geschichten über Friedrich ein, die legendenhaft die Runde um den Erdball machten: wie er am Spätnachmittag verlorener Schlachten hartnäckig und langsam immer dorthin geritten war, wo noch verspätete Kugeln streiften. Dieser Regen heute, wollte es Lafayette scheinen, war für den Ungeschützten bedrohlicher als russische und kroatische Kugeln. Es war dem jungen General zumute, als sei ihm Größe und ihr schmerzhaftes Geheimnis niemals so nahe gewesen wie in diesem durchweichten kleinen Greis, und sein entflammbares Herz schlug ihm unter dem vollgesogenen Mantel enthusiastisch gegen die Brust.
Das erste Ungestüm des Wetters hatte vertobt, aber nun floß endlos und endlos ein ruhiger, starker Regen herab.
Der König ließ reiten. Einen nach dem andern nahm er sich diese schlesischen und märkischen und pommerschen Bauernsöhne vor, auch Ungarn, Böhmen, Polen, denn Mannschaften aus aller Herren Länder steckten ja in den Regimentern beisammen.
»Du läßt im Schritt die Zügel viel zu lang«, sagte er zu einem rothaarigen Burschen mit auffallend weiten Nasenlöchern, den er seit zehn Minuten in der Arbeit hatte, und der vor Angst und Regenrauschen gewiß gar nichts hörte, »du legst die Zügel auf den Hals, du rekelst dich im Sattel herum wie ein Schwein und rutschst von einer Seite zur andern. Da gebraucht ja das Pferd sein Hinterteil nicht«, wandte er sich zu den Offizieren, »und wird vorne heruntergeritten!«
Bei einem andern wieder, der ihm scharfes Tempo hatte vorreiten müssen, schrie er: »Du Himmelhund, du kannst ja gar nichts! Du reißt mit dem Zügel, du stößt mit den Sporen, du machst deinen Gaul ganz verzweifelt. Spießruten müßtest du laufen, in krummes Eisen gehörst du!« Und wieder zu den Offizieren: »Wie soll denn der Kerl mit den Waffen hantieren, wenn er sein Pferd nicht in der Gewalt hat? Will er einen einzelnen Feind angreifen, so bringt er das Pferd falsch heran, er dreht sich, er gibt seine linke Seite preis und wird heruntergehauen – heruntergehauen wirst du, du Esel, und dir geschieht es recht –, aber ich will euch aufs Dach sitzen«, und dies galt allen gleichmäßig, der Mannschaft wie der Führung, »es soll anders werden! Solche Kavallerie kann ich vor dem Feind nicht gebrauchen, mit solchen Husaren kann kein König einen Krieg führen.«
In aller Herzen war die Verzweiflung längst der tiefsten Resignation gewichen. Es sollte nun nicht anders sein: man war verurteilt, in alle Ewigkeit hier bei strömender Nässe auf den Gäulen zu sitzen und sich von diesem unerbittlichen Greis plagen und beschimpfen zu lassen. Seit wieviel Stunden duldete man denn schon? Vier oder fünf waren es gewiß. Und hätte man wenigstens, sich zu Halt und Trost, einen richtigen Haß fassen können! Aber auch dies war einem versagt. Wie sollte man den richtig hassen, der sich selbst am unbarmherzigsten allen Unbilden darbot; oh, er wußte wohl, was er tat! Eine abergläubische Gewißheit haftete in den Herzen der gequälten Offiziere, daß seine grausame Hartnäckigkeit ihren Sinn haben müsse, daß er gerade mit ihrem Regiment, mit diesen Grünen Husaren etwas Besonderes im Schilde führte. Nicht einem wäre es weiter wunderbar erschienen, hätte sich der alte Mensch auf seinem Schimmel am selben Abend an die Spitze des Regiments gesetzt, um mit ihm ganz allein nach Osten zu reiten, die Türkei oder Persien zu erobern. Zwar war ja Friede auf aller Erde, wer aber konnte wissen, welche Pläne in seinem gelben Kopf lebendig waren. Diese Eilenden, die alle paar Stunden kamen und gingen – was war es mit ihnen?
Quer über das Exerzierfeld kam eben einer gejagt, geradeswegs auf den König zu. Im gleichen Augenblick hörte mit einem Schlag der Regen auf, ein Strahl der Mittagssonne zückte hernieder, das Wasser auf Mänteln, Hüten, Zaumzeug und Waffen erglänzte, die zahllosen Pfützen und Tümpel des zerstampften Feldes strahlten auf wie Silber, mit einem hellen, erlösten Jubelschrei strichen ein paar Vögel hoch über den Häuptern dahin.
Der Reiter kam näher, schon sah man an seiner linken Seite die flache Tasche der Feldjägeroffiziere. Friedrich war aufmerksam geworden, er ritt ein paar Schritte weit dem Kurier entgegen und machte ungefähr dort halt, wo in seinem Kragenmantel noch immer Lafayette hielt. Dem Marquis ging ein Stich des Mitleids durch die Brust, gekreuzt von einem Strahl fast religiöser Ehrfurcht. Wie der König nun in praller Sonne auf seinem nässeblanken Pferde saß, sah man erst, wie er sich hatte mitspielen lassen. Als ein triefender Lappen klebte die blaue Uniform an dem gekrümmten Leibe, aus dem formlos zerweichten Hut floß stromweise das Wasser über ein krankes, elendes Gesicht. Aber seine rechte Hand öffnete und schloß sich zuckend wie in äußerster Ungeduld. Der Marquis blickte nach der Schutzhütte. Die noch dort waren, traten eben unter dem Dach hervor und schauten herüber, aufs äußerste interessiert; Lafayette gewahrte unter den vordersten den roten Generalsrock seines Gegners, des Lord Cornwallis. Er für seine Person wollte sich nun auch entfernen, dies schien ihm schicklich. Aber der König bemerkte es, lüftete seinen Hut und sagte mit leiser Stimme: »Restez toujours!«
Der Jägeroffizier war heran, parierte seinen Fuchs, wollte abspringen und salutieren. Der König unterbrach den Gruß, streckte heischend die Hand aus und erbrach mit Gier die Depesche ...
Lafayette und ein anderer Herr sprangen vom Pferd und eilten auf ihn zu. Friedrich hatte so heftig im Sattel geschwankt, daß es aussah, als müsse er stürzen. Er hielt sich aber, tat einen tiefen, pfeifenden Atemzug und hatte noch die Kraft, sich mit dem Schimmel ein wenig abzukehren. Lafayette sah im Profil, daß der Mund nach Luft suchend offenstand, daß das Auge sich vorwölbte, als wollte es zerspringen. Und nun schloß sich das Lid, und eine schwere Träne quoll hervor. Es war dem jungen General, als stehe er unziemlicherweise so nahe. Er trat mehrere Schritte zurück.
Völlige Stille herrschte. Der Kurier saß wartend, unbeweglich hielt in Entfernung die Husarenfront, dort hinten vor der Hütte spähte man lautlos.
Endlich, nach mehreren Minuten, stieg der König vom Pferd. Er tat es, ohne auf schöne Linie bedacht zu sein, ließ sich einfach an der nassen Flanke herunterrutschen.
»Hat Er crayon?« fragte er den Feldjäger mit dumpfer und verschleierter Stimme. Der erschöpfte Herr verstand ihn nicht recht oder konnte nicht dienen. So nahm der König von Lafayette das Notwendige, lehnte dessen Portefeuille gegen den roten Sattel seines Schimmels, zog den Handschuh ab und schrieb. Seine magere Hand bewegte sich unsicher: Lafayette gewahrte an ihr einen Ring mit einem sehr großen, grünen Halbedelstein, kunstlos gefaßt und gar nicht kostbar, und er verwunderte sich darüber.
Es war aber ein schlesischer Chrysopras, ständiges Merkzeichen der eroberten Provinz. Nun sah er den König die Lippen bewegen, und er hörte ein Wort, einen Namen.
»Alkmene«, sagte Friedrich vor sich hin. »Alkmene, Alkmene«, im Ton der bittersten Klage. Der Marquis schlug die Augen nieder. Er hatte dies nicht gehört. Es war nicht zu verstehen, es war nicht zu deuten. Er verbot sich, darüber nachzudenken. Er würde nie davon sprechen. Es war schon vergessen.
Da hörte er sich angerufen und war sogleich gegenwärtig.
»Sir, es befinden sich Siegelmarken in dem äußersten Fach«, gab er zur Antwort. Der König fand das Bezeichnete, er faltete einen Zettel und verschloß ihn. Sein Blick fiel auf die Oblate: sie zeigte nicht das Wappen des Marquis, sondern eine symbolische Figur, eine Libertas mit flatterndem Haar in einer Gloriole. Da schaute Friedrich den jugendlichen Helden an, und aus seinem nassen, kranken und traurigen Gesicht trat ein Lächeln, wissend und schwermütig, das nach einem ganz kurzen Augenblick wieder verschwand.
»Zurück nach Potsdam«, sagte er zu dem Feldjäger. »Beeil Er sich. Ich folg' Ihm auf dem Fuße.« Der Feldjäger stürmte davon.
Friedrich winkte einem der Adjutanten. »Ich breche die Reise ab. Laß Er in Neiße alles bereitsetzen. Und zunächst will ich die Offiziere zur Kritik.«
Sie näherten sich eilig in Gruppen: der Oberst, die Majors, die Rittmeister, die Lieutenants, die Cornetts, fünfzig oder sechzig Herren an der Zahl. Sie sahen übel zugerichtet aus, und noch übler war ihnen zumut. Wieder wollte Lafayette sich zurückziehen.
»Restez toujours, monsieur!« sagte der König.
Wie er nun mit der Kritik begann, suchte er seiner Stimme Halt und Klang zu geben, aber es gelang ihm stets nur für einen Satz oder zwei. Sogleich ward sie wieder schwächer und versank beinahe in ein Murmeln. Dabei triefte er noch immer vor Nässe, ein Zittern vermochte er nicht zu verbergen, und sein Gesicht schien völlig das eines Sterbenden. Einige Male ging offenbar eine starke Bewegung durch sein Gemüt, dann stockte er ganz, war wie abwesend und konnte erst nach einem Ruck, einer sichtbaren Anstrengung, fortfahren.
»Messieurs«, fing er an, »ich war auch heute wieder ganz unzufrieden mit dem Regiment. Ich habe es euch gezeigt. Ich will jetzt nicht mehr schelten. Ihr wißt, daß das alles ganz anders werden muß. Ich will euch noch einmal im guten ins Gewissen reden, denn ihr wollt doch nicht eure Schande erleben und kassiert sein!
Hört gut zu, ich werde euch sagen, worüber ihr noch nicht nachgedacht habt. Es ist nicht so, daß der Kürassier ein Reiter ist und der Husar auch einer und sind eigentlich nur durch den Rock voneinander unterschieden. Das glaubt ihr, und danach tut ihr, aber so ist es nicht. Die Kürassiere, seht ihr, und die andern schweren Reiter, die müssen ungestüm sein und wuchtig. Die stammen von den alten geharnischten Rittern her und sind aus Europa. Aber die leichte Reiterei, ihr Husaren, ihr seid aus Asien. Mit den Hunnen und Sarmaten seid ihr in diesen Erdteil gekommen. Die Hunnen und Sarmaten sind mit ihren ganzen Völkern dahergezogen, und ihre Reiter auf den hurtigen, kleinen Pferden haben das Volk umkreist und umschwärmt und haben einen lebendigen Vorhang darum gezogen. Von denen stammt ihr ab. So muß es auch heute noch sein. Ihr Husaren müßt einen lebendigen Vorhang ziehen, hinter dem die Armee ganz ruhig schläft und ißt. Ihr könnt also gar nicht leicht und beweglich genug sein.
Aber damit ein Reiter leicht und beweglich sei, dazu muß er reiten können. Die Husaren im Regiment können aber nicht reiten, und in der ersten und neunten Eskadron können es auch die Offiziere nicht. Man hat mir da einen langen Trab vorgeritten, der lange Trab geht euch aber gar nichts an. Die Gangart für den Husaren ist der kurze Trab und, wo es not tut, der Galopp. Aus der vollen Karriere muß der Husar auf dem Fleck halten können und eine befohlene Evolution im gleichen Augenblick machen. Die Pferde müssen ganz lose im Maul und empfindlich für den Schenkel geritten werden, damit sie lange aushalten und rennen können.«
Hier sah der König eine längere Zeit vor sich nieder, als habe er ganz vergessen, weiterzureden, dann raffte er sich zusammen und setzte mühsam wieder ein.
»Daß ich so etwas den Herren sagen muß, ist eine wahre Schande, aber ich sehe, daß es nötig ist. Bei euch sollte eigentlich jeder einzelne Genie haben. Ihr müßt klug und kaltblütig genug sein, um stundenlang den Gegner nur zu necken, aber im günstigen Moment müßt ihr zufahren und überall sein und nirgends. Das kann man aber nur, wenn man sein Metier beherrscht. Ihr seht also, welchen honorablen Dienst ihr habt. Macht euch dessen würdig, appliziert euch besser, damit ihr allemal euer devoir und noch mehr tun könnt!«
Die Herren vom Grünen Regiment sahen sich verstohlen an, wie erlöst. Er sprach ja mit Milde, er sprach ja ganz menschlich.
Noch einmal befestigte er die Stimme:
»Euer Dienst ist so, daß ich von einem Husarenlieutenant mehr verlangen muß als von einem Major in der Infanterie. Eure Responsabilität ist viel größer, eure Selbständigkeit auch. Jeder von euch ist beinahe so viel wie auf einem Kriegsschiff der Kapitän. In jedem Augenblick kann alles auf ihn ankommen. Ein Major von der Infanterie braucht nicht so zu sein, wenn der nur ein braver Kerl ist und fest steht und dreist vorwärts, wenn's ihm befohlen wird, so ist er schon zu brauchen. Aber ihr ...«
Sie wären alle bereit gewesen, ihm die Hand zu küssen. Wie er sie nahm! Alles machte er wieder gut. Aber was war es mit ihm: er stammelte, er schwieg, er wankte und taumelte mit offenem Mund und weichenden Augen. Ein Lieutenant und Lafayette fingen ihn auf.
Wieder hörte der junge General jenen weiblichen, jenen antiken Namen, geflüstert, entstellt, halbiert, wiederholt. Er blickte sich vorsichtig um, als habe er für den König ein Geheimnis zu hüten.
Der Besuch in Breslau wurde abgesagt, die augenblickliche Rückfahrt geregelt. Über alle Straßen der Provinz jagten schon die Boten.
Die Ohnmacht des Königs war ganz kurz gewesen. Noch in den Armen der beiden Offiziere war er zu sich gekommen und hatte forschend um sich geschaut, ob seine Schwäche nicht völlig zu vertuschen und zu leugnen sei. Man tat auch allgemein, als sei nichts gewesen. Aber er war krank, das konnte jeder sehen, die Augen glänzten hart wie im Fieber, der Gang hatte gar keine Sicherheit, und in unkontrollierten Augenblicken klapperten ihm die Zähne.
Über siebzigjährig, verbraucht und geschwächt von Mühsal und Körperleiden und ohne Schutz sechs Stunden im Unwetter, es war nicht viel weniger als Selbstmord.
Dennoch bestand er darauf, den Weg nach Neiße wieder zu Pferd zurückzulegen, um ein Uhr mittags mußte er vor der Kämmerei von dem Schimmel heruntergehoben werden. In Hörweite der Suite und der angesammelten Bürgerschaft befahl er hier auf zwei Uhr den Reisewagen, und damit niemand auf persönliche Deutungen komme, befahl er, unter den Arkaden stehend, noch möglichst laut, ihm die große Kassette mit den Staatsverträgen zu bringen, die ihn auf jeder Reise begleitete. Er stieg in sein Quartier hinauf.
Ungeheure Sensation und Verwirrung. Auf allen Seiten des Rings stand man in Gruppen beisammen und kombinierte mit Flüstern – nur auf der Südseite nicht, so als könnte man hinter den verhängten Fenstern der Kämmerei dort gehört werden. Das Außerordentliche kreiste zu aller Häupten, doch sein Gesicht war verhüllt.
Friedrich droben hatte aus den Händen des Sekretärs die Kassette in Empfang genommen und dann die Türen verschlossen. Seine Arbeit konnte beginnen.
Seine Arbeit bestand darin, daß er sich, so wie er war, im Hut und der wasserschweren Uniform, in einen Sessel fallen ließ, die zitternden Hände untätig herabhängend, daß er in die Stube starrte wie in ein hoffnungsloses Nichts und ungezählte, wohl Dutzende von Malen, aus enger Brust mit fiebertrockenem Munde vor sich hin sagte: »Mon Dieu, ah mon Dieu, ah ciel, ciel, ah grand Dieu!«
Ganz blindlings bediente sich seine Verzweiflung, sein entsetzlicher Gram dieser artikulierten Schreie, die eigentlich doch keinen Sinn für ihn besaßen. Nicht umsonst hat man eine lange Reihe christlicher Autokraten zu Ahnherren, in Augenblicken heftigen Affekts zeigen sich davon die Spuren. Einmal rang er sogar die Hände, und wieder stürzten zwei Tränen in die Höhlung seiner gelben Wangen hinunter.
Dies war ihm zu viel. Er erhob sich und begann im Zimmer umherzuwandeln; schweren Trittes, mit dem Stock aufstoßend, kopfschüttelnd, mühsam atmend, wankte er in dem altertümlichen Räume hin und wider, der hinter den Vorhängen in Düsternis dalag, denn offenbar hatte sich draußen das Wetter schon wieder verschlechtert.
So verging die Stunde. Als der König zwei Uhr schlagen hörte, entriegelte er die Tür zum Vorsaal und rief hinaus, man solle ihm den Kutscher heraufschicken.
Der Kutscher Pfundt kam, ziemlich störrischen Gesichts. Seine Fahrkunst und seine Grobheit kannte man in ganz Preußen. Er hatte sich auch dem Könige gegenüber eine Poltersprache herausgebildet, von der er genau wußte, daß sie jenen amüsierte. Er war ein Mensch, und die Abkürzung der schlesischen Reise behagte ihm gar nicht. Jedes Nachtquartier weniger bedeutete für ihn einen Verlust von zehn Talern, dies war die Taxe, mit der er sich von den Quartierwirten auf dem Lande, die immer reichlich entschädigt wurden, für seine Wahl bestechen ließ.
»Wir fahren«, sagte Friedrich. »Am dritten Tag mußt du in Potsdam sein.«
»Ebensogut kann ich in fünf Minuten in Potsdam sein«, begann Pfundt, aber ein ganz kurzer Laut Friedrichs von einer gewissen Stimmfarbe belehrte ihn. »Euer Majestät, ich will's versuchen«, sagte er sehr devot.
»Versuchen? Du hältst am dritten Tag vor meiner Tür, oder du karrst am vierten Dreck und Steine im Oderbruch. Marche!«
Pfundt lief die Treppe hinunter, den Bortenhut noch in der Hand, mit höchst gesammeltem Ausdruck. Ein weniger freches Gesicht war für den Augenblick nicht zu denken. Aber im Flur des Erdgeschosses ermannte er sich, setzte den Hut auf, trat hervor und bestieg angesichts der Vorreiter und des menschenerfüllten Platzes mit Würde seinen Bock.
Der altmodische Reisewagen hielt unmittelbar vor den Arkaden. Es war eine langgestreckte Kutsche mit sehr viel Glas. Zwischen dem Vorderfenster und dem Bock befand sich ein auffallend großer Zwischenraum und ein kaum geringerer im Innern, zwischen Vorder- und Rücksitz. Dabei war der Wagen aber so schmal gebaut, daß hüben und drüben nur eine Person Platz hatte, und dies war übergenug, denn Friedrich reiste allein. Die Federung war unmodern und schlecht, der blaue Atlas der Sitzkissen verblichen und abgenützt, der Anblick des ganzen Kastens für den Beschauer sonderbar, birnenförmig nämlich, unten spitz zulaufend und oben ausgebaucht. Fürstlich reich konnte nur die Bespannung heißen, Friedrich reiste nicht anders als mit zehn Pferden. Diese zehn Pferde, paarweise gespannt, das Beste aus den Ställen von Neiße, bewegten sich sacht im Geschirr: die vier hintersten wurden vom Bock aus gelenkt, dann folgten zwei Paare, bei denen das linke Pferd je einen Bürgersohn im Sonntagsstaat trug, und auf den zwei vordersten Pferden saßen Vorreiter in der blaurotgoldenen Livree des Königs. Vor dem ganzen lang hingestreckten Gefährt bändigte ein Feldjäger seinen aufgeregten Braunen von guter Rasse.
Spannung und Gemurmel auf dem ganzen Ring. Vielen war ähnlich zumute, als sollten sie einem Aufbruch zum Kriegsschauplatz beiwohnen. Unwillkürlich erinnerten sich die fremden Offiziere, daß in diesem Schlesien ungefähr jedes Gehölz und jeder ummauerte Kirchhof ein Kampfort war, und das Ohr erwartete halb und halb die ferne Kanonade.
Die Abfahrt vollzog sich rasch und stumm. Plötzlich stand Friedrich unter den Bogen, jedermann sichtbar trug er selbst die Kassette mit den Staatsverträgen. Im gleichen Moment ließ der Feldjäger seinen Braunen los und jagte voraus, um beim Relais mit zehn Minuten Vorsprung zur Stelle zu sein.
Der König bestieg den Wagen und setzte sich kurz zurecht. Draußen hatte sich jedermann schweigend entblößt. Da nahm auch er seinen Hut ab, ohne durchs Fenster hinauszusehen, tat er dies. Er schien genau den Augenblick zu kennen, da er danken mußte, und blickte unverwandt durch seine lange Kutsche hin nach vorn. Die starre Erfüllung einer Höflichkeitspflicht hatte etwas erschreckend Unpersönliches, sie wirkte geradezu schauerlich. Am Abend noch bei ihrer Lampe unterhielten sich die Bürger von Neiße darüber und versuchten ihren Eindruck zu formulieren, aber sie brachten es nicht weit damit.
Der Bediente hatte den Schlag geschlossen und schwang sich auf seinen Achtersitz. Pfundt vorne spürte das Signal dieser Erschütterung, mit weise von ihm geregelten Rucken zogen die zehn Pferde an, in starkem und stärkerem Schritt bewegte sich der Zug über das spitzige Pflaster des Rings und bog ab.
Bis hinunter zum Fluß standen Leute. Sie alle sahen den König starr dasitzen, mit abgenommenem Hut. So fuhr er über die Brücke. Jenseits aber, bei den letzten Häusern der Friedrichsstadt, vollführte Pfundts rechte Hand eine einzige kleine Bewegung, wie durch Zauber griff die Bespannung aus, Kot und Wasser spritzte, und mit Schnauben und Rasseln und Schwanken, in einem wahren Tempo der Hölle, ging es die Reichsstraße hin nach Brandenburg.
In der zurückgelassenen Stadt herrschte nervöse Bewegung. Sie war nun, da jenes Zehngespann verschwunden, nichts mehr als ein öder Provinzschlupf, den man spätestens morgen zu verlassen trachtete. Letzte Briefe wurden mundiert, Pferde bestellt, Mantelsäcke gepackt. Aber im Gasthaus zur Goldenen Glocke an der Jacobigasse hielten schon eine Stunde nach Friedrichs Abfahrt zwei spanische Offiziere die Pharaobank: im Nebenzimmer des beglückten Glockenwirts drängten sich die Uniformen, und über das Wachstuch des Honoratiorentischs stürzten kleine Goldfluten von Imperialen, Guineen und Dukaten. Es war wie ein stillschweigendes Übereinkommen, sich ein wenig schadlos zu halten, jetzt nach der Abreise dieses beängstigenden Königs, der alle eleganten Vergnügungen verachtete, dem das Spiel eine verderbliche Albernheit war, die edle Jagd eine ekelerregende Barbarei und dessen Villa in Potsdam seit vierzig Jahren kein Weib betrat.
Es gab unter den fremden Herren mehrere, die am andern Tag nur mit finanziellen Schwierigkeiten ihre Heimreise antreten konnten.
Lafayette befand sich nicht mehr in der Stadt, gleich nach dem Könige hatte er sie verlassen. Und während Friedrich auf der Schweidnitzer Straße nach Westen dahinrasselte, ritt er die Reichsstraße gegen Aufgang, ohne Hast und allein, hinter ihm mit einem Handpferd sein Reitknecht, wie er ein Auvergnat.
Es wäre ihm nicht möglich gewesen, den Abend noch in einem lauten, internationalen Zirkel zu verbringen, in schlechtem Auslandsfranzösisch politische Vermutungen anzuhören und selbst befragt zu werden. Seinem Gemüt war an diesem Tage eine mächtige und stille Bewegung mitgeteilt worden, es war schön, im einsamen Reiten sich über den König zu besinnen.
Die Brust des jungen Marquis de Lafayette war von Freiheitsmut, war von jünglingshaft hochherzigen, von französisch einfachen Empfindungen ganz erfüllt, und sein Hirn war genährt mit den Lehren der Pariser Sozialkritik. Ein neues Zeitalter tat sich auf, und er, tapfer, klar und menschheitsgläubig, schritt ihm als ein Erster entgegen. Drüben im jungfräulichen Lande überm Meer galt nur der Mensch, und nicht mehr lang würden im alten Europa die Könige gelten. Welch schöne Fügung aber, daß er deren größten noch so nahe einmal hatte sehen dürfen, ihn, der gewiß die Augen geschlossen haben würde, ehe für seinesgleichen die Stunde schlug. Für seinesgleichen? Die lebten nicht. Wahrhaftig, die alte Ära ging da in einer erstaunlichen Figur zu Ende! Es war dem General, als habe er an diesem Tage mehr und Tieferes über den König erfahren, als sonst die Zeitgenossen wußten. Und gerade daß seine Eindrücke ungewiß und vieldeutig waren, gab ihnen die phantastische Dimension von Gegenständen in der Dämmerung.
Er ritt gegen die Grenzen der Provinz in der Richtung nach Polen. Es verlangte ihn, dies Reich zu sehen, das vom Eigennutz der großen Mächte, ein Jahrzehnt war es her, zerschnitten und zerkleinert worden war. Vielleicht konnte er bis nach Warschau gelangen. Gewiß war es nicht. Er kam wie der nächste beste Reisende daher, ohne Abzeichen eines Ranges, in seinem Kragenmantel. Er hatte nicht einmal einen Paß bei sich. Aber vielleicht kannte man ihn: sein Porträt, beinahe wie das des Königs, hing in Städten und Dörfern an manchen Wänden, und in den Städten und Dörfern eines unterdrückten Landes gewiß nicht am seltensten.
Dies war ein Gedanke, der einem Herzen von siebenundzwanzig Jahren, einem französischen Herzen, wohltun konnte. Er lächelte ein wenig vor sich hin im beginnenden Dunkel und ritt stetigen Schrittes weiter, in sein tapferes, einfaches, ruhmreiches Leben hinein.
Der Schmutz der Landstraße spritzte auf bis zum breiten Dach; Friedrich schaukelte hin und her auf seinem verschlissenen Polster. Ihm war nicht gut zumute. Im Munde saß ihm ein saurer Geschmack, sein Puls flog, er fröstelte und spürte gleich darauf eine wogende Hitze, die Beine entlang zogen unheilverkündende Schmerzen.
Trostlos die Gegend. Dies Schlesien, ihm ein reicher, erfreulicher Anblick sonst, verglichen mit den altpreußischen Landen, das Ziel erst, dann die Beute, die Sorge und der Stolz seines Lebens, die schöne Provinz, deren Merkzeichen er an der Rechten trug, es erschien ihm an diesem trüben Nachmittag erbärmlich, keinen Blick wert. Seine langgestreckten Dörfer und Flecken, stattlicher, besser gebaut als die in der Mark, machten ihm Ekel. Sie endeten ja niemals, war es nicht, als passierte man endlose Därme? Dann erkannte er mit seinem auch im Fieber noch kritischen Bewußtsein, daß dieser Vergleich aus seinem in Unordnung befindlichen Unterleib gestiegen war, und er lachte rauh vor sich hin, in der Einsamkeit seiner gläsernen Zelle.
An den Relaisstationen standen, vom Feldjäger gemustert, die neuen Pferde bereit, geritten von Bauernsöhnen, die sich in der Eile ein wenig herausgeputzt hatten. Hastig ward umgespannt, Leute mit Eimern traten herzu und übergossen die glühheiß gefahrenen Räder, welche zischten. Sonst hörte man keinen Laut. Alle schauten auf dies kranke, gelbe Profil, auf die fast ungebrochen gerade Linie, die von Stirn und Nase gebildet wurde, auf das im scharfen Winkel weggeschnittene Untergesicht. Überall hatte er im Augenblick der Abfahrt dies starre Abnehmen des Hutes, ohne hinzublicken: kaum eine Geste mehr, nur die Erinnerung noch an eine Geste. Dann ward er vom Ungestüm der neuen Bespannung rasender noch dahingetragen.
Hier war nach rechts und nach links weithin historischer Boden, der historische Boden seines Lebens. Hier in diesen Strichen hatte er die unwahrscheinlichen, die heute schon mythischen Kämpfe gegen einen Erdteil bestanden, von Elend und Schmach so unaufhörlich, so nahe bedroht, daß ihm der Gedanke an sein Sterben ein lieber, freundlicher Trost geworden war. Hier war ringsum der ungeheure Kirchhof, darin seine Preußen und seine Söldner und die Landeskinder seiner Gegner und deren Söldner tausendweis ohne Särge lagen, lange verfault alle, eine Armee von Gerippen in vermoderten Uniformtuch- und Lederfetzen. Der Gedanke daran war sonst unweigerlich in ihm aufgestiegen, Jahr um Jahr, wenn er diese Straßen befuhr. Er pflegte da auch seiner toten Freunde zu gedenken, der Generale und Obersten, an deren manchem er persönlich gehangen hatte, und die ebenfalls hier herum bestattet lagen, in irgendeiner Mauernische irgendeines Dorfkirchhofs. Er erinnerte sich ihrer Gesichter und ihrer Taten, und hohe, ehrende Worte fielen ihm ein, mit denen er in den Annalen seiner Feldzüge ihr Verdienst verewigen würde. Es kam auch vor, daß er dieser Helden mit einer Art von ironischer Rührung gedachte, daß er im einsamen Fahren nach rechtshin und linkshin ihre Schatten befragte, ob denn nun das Phantom der Ehre, ob denn nun fünf Zeilen in einem Geschichtsbuch den frühen Abschied vom Leben wohl aufzuwiegen vermöchten. Unbegreiflich leicht, schauerlich leicht wurde es den Fürsten gemacht, ihre Kriege zu führen!
Heute nichts von dem. Kein Blick, kein Erinnern, keine Wendung fürs Buch, keine Ironie, keine Meditation. Sibirische Äcker und Wälder hätten nicht gleichgültiger vorbeirücken können. Er fieberte, und er wollte vorwärts. Wie schneckenhaft langsam ging solch eine Fahrt! Die Menschen in ihrer vieltausendjährigen Geschichte hätten schon bessere Transportmittel sich ausdenken dürfen. Dieser stupiden Rasse fiel auch gar nichts ein. Mit Pferden zu Darius' Zeiten, mit Pferden zu Friedrichs. Über der Ungeduld selber hatte er auf eine ganze Strecke ihr Ziel vergessen. Auf einmal war es wieder da, auf einmal wußte er wieder, warum er so eilte, welchem traurigen Zweck er so stürmend entgegenstrebte. Ein scharfer Schmerz zerschnitt ihm die Brust.
Es ging gegen den Abend. Pfundt hatte bereits einkehren wollen, war aber anders bedeutet worden und rasselte nun wie toll in das bucklige Schweidnitz, in dem die Lichter schon brannten. Dies war die Festung, die im großen Kriege die vier berühmten Belagerungen ausgehalten hatte; Friedrich dachte daran nicht und war schon hindurch und wieder auf der Landstraße. Auch an der Karosse waren die Laternen angezündet, zwei beim Kutschbock, zwei an den vorderen Ecken des Kastens. Beängstigend streifte der Schein des donnernden Zuges an den Wänden immer neuer Dörfer entlang, überall wurden Fenster aufgerissen, und weite Augen starrten der Erscheinung nach.
Endlich, bei völligem Dunkel schon, ward gehalten. Es war im Bereich von Hohenfriedeberg und Bunzelwitz, Friedrich kannte Steg und Haus in dieser Gegend. Im Dörfchen Polsnitz, bei dem Pfarrer Andreas Künnemann, verbrachte er eine schlechte, beinahe schlaflose Nacht.
Fahrt in aller Morgenfrühe wiederum. Eiliger Pferdewechsel an den Stationen, mit Zischen übergossene Räder, Glockenläuten mitunter, entblößte Häupter, langes Schauen hinter dem Zuge her. Fahrt. Fahrt. Fahrt. Weiche, lautlose Fahrt durch dicken Lehm, mahlende Fahrt durch fußtiefen Sand, holpernde, stoßende Fahrt über hingeschüttete Steine auf auszubessernden Strecken. In der Frühe schon brannte die Sonne. Es war schönstes Sommerwetter.
Friedrich, der heute weit kränker war, wünschte sich das graue Halblicht des Vortags zurück. Alles tat ihm weh, die Augen schmerzten vor so viel Helligkeit, und die Wärme prickelte unerträglich an seinem vom Nachtschweiß noch empfindlichen Körper. Er begann auch zu husten; sein Unterleib war hart und angeschwollen. Sooft er nach der Dose griff, ließ er die Prise wieder zurückfallen, ihn ekelte im vorhinein vor jedem Reiz. Ihn ekelte auch vor dem Anblick von Menschen, allenthalben sah er von ihnen weg, und wo schüchtern ein huldigendes Rufen laut wurde, empfand er verstärkte Übelkeit.
Kriegsland weit und breit, Heldenland, Ruhmesland, Grabesland. Ohne Blick fuhr er hindurch. Die Sonne stand bereits westlich, da befahl er, die Stadt Sagan im Bogen zu umfahren, Pfundt schnitt eine Grimasse, griff wütend in die Zügel und wollte linkshin auf Sorau zu. Friedrich stieß mit dem Stock heftig gegen die Scheibe und wies nach der andern Richtung. »Esel«, murmelte er vor sich hin, »alle sind Esel.« Pfundt mußte über den Bober zurück, an dessen rechtem Ufer die Straße besser im Stande war; daran erinnerte sich der König trotz seiner Benommenheit. Man näherte sich der märkischen Grenze.
Ihm war sehr schlecht. Mehr und mehr nahm die Hitze Besitz von seinem Blut und Gehirn, auf Augenblicke verdämmerte sein Bewußtsein. Man hatte gerade in einem Ort namens Naumburg die Pferde gewechselt, als ihm etwas Eigentümliches geschah.
Die Sonne stand schon tief und stach dem König stark in die schmerzenden Augen. Da nahm er seinen alten Uniformhut ab, den er bisher in militärischer Weise mit der Spitze nach vorn getragen. Er löste die vergilbten Schnüre los, so daß die hintere, gerade Krempe herunterhing, und wollte nun den Hut, umgedreht, zu seinem Schutze so aufsetzen. Aber er behielt ihn in der Hand...
Als er vor einigen Tagen zur schlesischen Revue nach Osten gefahren war, da hatte er die Krempe heruntergeschlagen. Nun fuhr er nach Westen, die Sonne stach nachmittags, und am Nachmittag ließ er die Krempe herab. So war es in diesem Jahr, so war es im vergangenen, so war es immer gewesen. Immer fuhr er am fünfzehnten August nach Schlesien ab, und da stach ihm am Vormittag die Sonne ins Gesicht, und dann exerzierte er in Schlesien und fuhr zurück, und da stach ihn die Sonne am Nachmittag.
In seinem heißen Kopfe nahm dieser Umstand gewaltige Dimensionen an. Er kam sich vor wie eine alte Marionette, die immer das gleiche tun mußte, immer das gleiche. Erst hatte er immer Krieg führen müssen, obgleich es schöne und helle Dinge im Dasein gab; Literatur und Musik und heiteres Gespräch mit geistreichen Leuten. Doch er mußte herumziehen und sich schlagen und im Pulver- und Leichengeruch leben und alt und häßlich werden dabei. Dann war er wieder daheim, verbraucht und freudlos. Die Freunde starben weg, und die Reize der Literatur waren schal und durchschaut, und die Flöte konnte man bald nicht mehr halten vor Chiragra. Und das Jahr war ein leichenhaft starrer Turnus von Geschäften und Pflichten. War die Plage des langen, abscheulichen Winters herum, dann kam gleich die Zeit der Revuen. Revue am vierten Mai in Charlottenburg, Revue am siebzehnten Mai in Potsdam, am zwanzigsten in Berlin, am sechsundzwanzigsten in Magdeburg. Revue am zweiten Juni in Küstrin, am vierten in Stargard, am achten, am neunten, am zehnten in anderen Nestern. Dann erschien am zwölften Juni der Finanzminister, und der Jahresetat ward aufgestellt, Posten für Posten. Und das ging wochenlang, mondelang, und dann kam am fünfzehnten August die Reise nach Schlesien, und da stach auf der Hinfahrt die Sonne am Vormittag, und auf der Rückfahrt stach sie am Nachmittag, und da mußte er den Hut bald so setzen und bald so, eine Puppe, an solchen Fäden gezogen, wie sie da auf der Krempe herumtanzten, ein altes trauriges Gespenst...
Er griff sich plötzlich an die Stirn, er ermannte sich. Was war es mit ihm, was hatte er da getan? Er hatte den öden Gleichtrab seiner Gedanken gleichsam illustriert, seit Minuten hatte er wirklich den alten Hut immerfort abgenommen und wieder aufgesetzt, bald so und bald so, mechanisch und schnell und ohne Laut. Noch drehte sich alles in seinem Gehirn.
Es war das Fieber. Er war ernstlich krank. Dies mußte unterdrückt werden. Ein gehöriges Quantum Chinarinde würde gewiß seine Wirkung tun.
Es war wieder Abend geworden. Bei sinkendem Dunkel fuhr man, dort wo der Bober in die Oder fließt, in die kleine Stadt Crossen ein.
An einer Ecke des Marktes, in einem stattlichen Hause, strahlte ein Fenster des Erdgeschosses in magischem Licht. Es kam von einem bauchigen Gefäß, das mit hellgrüner Flüssigkeit angefüllt war und hinter dem eine Kerze brannte. Dies Haus war die Apotheke.
Friedrich wollte aussteigen, um dort drinnen das Chinapulver gleich einzunehmen, aber seine Füße versagten ihm, er mußte sich hinunterheben lassen. Er beschloß, in der Apotheke gleich zur Nacht zu bleiben. Jedes Haus in Preußen war das seine.
In dem dunklen, weiten Hausflur trat aus der ersten Tür zur Rechten mit einem Licht in der erhobenen Hand ein hochgewachsener und breiter Mann, schon grau, mit ruhigem klarem Gesicht; dies war der Apotheker Henschke. Er erkannte den König und verneigte sich geziemend, doch ohne Anzeichen von Bestürzung oder unmäßiger Devotion. Dies erleichterte Friedrich, denn der Zustand seiner Nerven war zu desolat, um noch kuriale Umschweife zu ertragen. Sogleich war er eingenommen für den Apotheker und fragte mit gnädiger Stimme: »Ich kann wohl bei Ihm unterkommen? Kurieren muß Er mich aber auch.«
Das geöffnete Zimmer, welches der König betrat, war Laboratorium und Verkaufsraum zugleich, ein mit Schränken und Kästen, mit Destillierapparaten, Retorten und Wägeinstrumenten ausgestattetes, recht alchimistisch anmutendes Gewölbe.
Er verlangte sofort seine Chinarinde. Der Apotheker warf einen Blick auf das Gesicht des Königs, er hörte auf seinen Husten und machte sich daran, das Medikament für den Gebrauch zu zerkleinern.
»Euer Majestät haben Fieber«, sagte er dabei mit unerregter Stimme, »und dagegen tut die Chinarinde gut, aber das Fieber ist nicht die Krankheit.«
»Er ist doch kein Doktor.«
»Euer Majestät, ich bin in zwei Feldzügen als Compagniechirurgus dabeigewesen. Aber man braucht nichts zu wissen, um zu sehen, daß Euer Majestät auf der Brust erkältet sind. Wahrscheinlich ist auch der Unterleib angegriffen.«
»Da hat Er recht, aber wie will Er da helfen?«
»Mit dem neuen Pulver von Doktor Kurella in Berlin. Es hilft gegen den Husten und ist zugleich ein mildes Abführmittel.«
»Was ist denn drinnen in Seinem Pulver? Habe nur Mißtrauen gegen alles das Teufelszeug.«
»Fenchel, Euer Majestät, Sennesblätter, Süßholz, Zucker und Schwefel.«
»Schwefel? Da seh Er, es ist Teufelszeug. Aber geb Er mir's nur!«
»Gleich nach der Chinarinde tut es nicht gut. Euer Majestät nehmen es am besten in einer halben Stunde ein, vielleicht schon im Bett.«
»Wo kann ich denn schlafen?« fragte der König, der sich sehr schwach fühlte und bei dieser sanften bestimmten Fürsorge wider Willen ein hinfälliges Behagen verspürte. Der Apotheker öffnete das anstoßende Zimmer, in dessen Hintergrund ein breites Bett, ein Ehebett, leuchtete. Henschke, der Witwer war, pflegte hier zu schlafen, um während der Nacht für Kranke sogleich zur Hand zu sein.
»Gerade heute ist frisch überzogen worden«, sagte er unbefangen. »Darf ich Euer Majestät einen Bedienten rufen zum Auskleiden?«
»Kleide mich ganz alleine aus«, sagte der König, obwohl er kaum aufrecht stehen konnte. »Komm Er dann zu mir mit Seinem Pulver.«
»Euer Majestät mögen mir gnädigst eine Bitte verzeihen. Es wäre so sehr angezeigt, daß sich Euer Majestät am ganzen Leibe in nasse Tücher einpacken ließen.«
»Daraus wird nichts«, sagte Friedrich plötzlich ungnädig. »Ich bin kein Wickelkind. Geh Er jetzt nur.«
Henschke schloß die Tür, durchquerte das nun unbeleuchtete Laboratorium und setzte sich möglichst weit vom Schlafzimmer, dicht beim Fenster, auf einen Stuhl. Durch den hellgrünen Schein hindurch blickte er auf den Marktplatz, wo ohne Pferde noch der Reisewagen stand, umgeben von der halben Bevölkerung. Manchmal näherte sich jemand ganz und lugte in das schmale Innere hinein, Ehrfurcht und Scheu im Blick vor den zersessenen blauen Polstern.
Die Ruhe des Apothekers war nicht künstlich. Er hatte ein festes und lauteres Herz in der Brust, auch war er schon zu alt, um noch viel zu wollen und zu wünschen. Nicht zum ersten Male im Leben sah er den König. Er saß da an seinem magischen Fenster und dachte daran, wie elend der alte Mann heute nun aussah, so als wäre er schon mit der Sense gezeichnet. Und welcher Eigensinn! Seine Ärzte mußten es schwer haben mit ihm. Wie schroff er, nach den ersten freundlichen Worten, die kalten Einpackungen verschmäht hatte, die ein so natürliches und wirksames Mittel waren. Henschke kam das Geraun in den Sinn, welches im Volke umging, daß dieser große König nicht natürlich gestaltet sei und darum ängstlich seinen Körper verberge. Noch nie habe auch nur ein Diener ihn nackt erblickt. Manche wollten wissen, er trage ein riesiges, flammendrotes Teufelszeichen quer über seiner Brust, die im übrigen fein und weiß wie ein Frauenbusen geschaffen sei. Der Apotheker lächelte mitleidig in seiner magischen Dämmerung. Wie schlecht erfunden das war! Eine weiße, weiche Mädchenbrust unter der gelben, tabakbeschmierten Weste! Und als ob der Gestalt dieses Alten durch so kindische Märchen etwas an Wunderbarem hätte hinzugefügt werden können!
Doch es war Zeit. Er betrat das Schlafzimmer.
Der König lag im Bette, fast gar nicht entkleidet. Augenscheinlich fühlte er Frost; ein hohler Husten erschütterte ihn. Der Apotheker reichte sein Pulver.
»Meint Er, daß mir das helfen wird?«
»Das Mittel ist vorzüglich. Aber Euer Majestät könnten ein übriges tun, nämlich sich ganz fest und dicht mit Federbetten zudecken lassen, heißen Tee trinken und schwitzen.«
»Da hat Er recht. Er versteht Sein Handwerk.«
»O Euer Majestät, das ist ja das Einfachste. So viel muß jeder Dorfbader wissen und weiß es auch.«
»Einerlei, Er ist ein tüchtiger Mensch. Ich bin zufrieden, daß ich gerade in Sein Haus geraten bin.«
Henschke ging und brachte den Tee. Der König begann ihn auszufragen. Dies war seine Gewohnheit aus fünf Jahrzehnten.
»Hat Er Kinder?«
»Einen Sohn, Euer Majestät.«
»Warum nicht mehr?«
»Meine Frau ist kurz nach seiner Geburt gestorben.«
»Hm. An was? Am Kindbettfieber?«
»Ja, Euer Majestät, am Kindbettfieber.«
»Hat Er dagegen kein Mittel gehabt in Seiner Offizin?«
»Es gibt noch keines. Das ist eine geheimnisvolle Ansteckung. In den großen Gebäranstalten in Paris sterben oft Dutzende von Frauen am gleichen Tag.«
»Das ist schrecklich«, sagte Friedrich. »Die Ärzte wissen noch gar zu wenig. Sterben, Sterben, Sterben«, sprach er dann vor sich hin in einem singenden Ton, in dem die Hitze klang. Und gleichzeitig ging, beim Gedanken des Todes, ein Ausdruck der Trauer über sein Gesicht, der schwerlich den jungen Frauen in Paris galt. Er ermannte sich aber, wandte sein tief in die Kissen eingesunkenes Haupt ein wenig zu Henschke herum und examinierte weiter:
»Er sagt, Er ist in zwei Feldzügen als Chirurgus dabeigewesen? Wo hat Er denn gestanden?«
»Im großen Kriege beim Regiment Markgraf Karl und im bayerischen Krieg beim Regiment von Pirch, in der Armee des Prinzen Heinrich.«
Der König zog die Brauen zusammen. Er wurde nicht gern an diesen Feldzug seines Alters erinnert, der so trübselig, wenn auch schließlich erfolgreich verlaufen war; er wurde auch nicht gern an seinen Bruder Heinrich erinnert, mit dem er sich damals unheilbar überworfen hatte.
»Nun, da hat Er nicht viele Wunden zu verbinden gehabt.«
»Nein, Euer Majestät, aber desto mehr Kranke zu pflegen.«
»Warum ist Er überhaupt mitgegangen? Er war doch schon ein alter Kerl.«
Henschke schwieg und wurde rot.
»Er kann es mir ruhig sagen.«
»Ordentliche Medizinalpersonen tun sehr not in den Armeen Euerer Majestät.«
»Da hat Er wieder recht. In allen meinen Kriegen hat man da meine Befehle äußerst schlecht befolgt. Nichts hat mich mehr verdrossen. Man ist oft barbarisch mit den armen Menschen umgegangen.«
Schwerlich war es sonst Friedrichs Art, vor einem geringen Untertan über seine Empfindungen und seine Absichten zu reden. Doch dieser Apotheker gefiel ihm. Auch war er in seinem Innern eigentümlich aufgelockert; nicht das Fieber allein war die Ursache.
»Aber ich habe jetzt solche Befehle gegeben«, fuhr er fort, »daß den Nichtskönnern und den Spitzbuben das Handwerk gelegt ist.«
»Ich fürchte«, sagte Henschke, »Euer Majestät wissen bei weitem nicht alles.«
»Wie kommt Er darauf?« fragte Friedrich lebhaft und erzürnt, »wie will Er das wissen?«
»Aus meiner eigenen Beobachtung und aus den Worten eines gelehrten Arztes, ehedem Oberchirurgus beim Regiment von Pirch.«
»Wie heißt der Mann?«
»Es ist der Doktor Rutze in Stettin.«
»Schreib Er mir das nachher auf. Und nun sag Er deutlich, wie und wo und was! Der Krieg ist noch nicht lange her. Die Schuldigen leben noch, und man kann sie bestrafen. Diese Sachen müssen besser werden. Ja, es war schrecklich, schrecklich«, sagte er dann wieder leise und schien, wie früher, zu erschauern in einer Todesvision.
Unter den schweren dicken Feder decken begann, beim Wirken der treibenden Mittel, der Schweiß an seinem mürben Körper entlangzulaufen. Sein Zustand war höchst unbehaglich, ja qualvoll, der Unterleib, darin sich die Verhärtung noch nicht gelöst hatte, schmerzte, sein Herz schlug lästig stark: er war vollkommen disponiert, den fürchterlichen Bericht, den er hören sollte, mit seinen Nerven auszukosten.
»Nun«, sagte Friedrich, »ohne Umschweife! Red Er!«
Henschke schwieg noch. Es war medizinisch gewiß nicht richtig, das Hirn des Kranken mit so abscheulichen Tatsachen anzufüllen. Dennoch blieb es Pflicht. Einer solchen Stunde, als Gnadengeschenk vom Himmel gefallen, nie wiederkehrend, konnte viel Gutes entfließen. Und dieser Alte, dem so offenkundig am eigenen Dasein gar nichts mehr lag, der nichts anderes mehr sein wollte als ein sorgender, dienender Allesverrichter, er hatte ein Anrecht darauf, auch leidend, auch fiebernd nicht geschont zu werden. Ein großes Empfinden durchflammte den Apotheker Henschke mit einemmal. Er war nicht mehr gelassen. Ja, das war es, Heldentum, was Menschengröße heißen durfte, hier lag es vor ihm, eingeschlossen in den armseligsten Leib, in die brüchigste, scheinloseste Hülle. Dieser Augenblick ist mein Leben, sagte er zu sich selbst. Mir begegnet das Höchste. Ich weiß es jetzt. Ich werde es nie wieder wissen. Ich werde es nicht festhalten können. Dieser alte elende Mann, der König der Könige, der Erste aller Menschen, liegt vor mir da und hört auf sein Volk.
Es ging schnell vorbei. Er berichtete. Er stellte dar.
Im letzten Feldzuge, dem Krieg um die bayerische Erbfolge, war beinahe kein Schuß gefallen, dennoch war ein großer Teil der Armee zugrunde gegangen. Wie schon in den Sieben Jahren hatten bösartige Fieber gewütet, Fieber, die man faule oder gallichte nannte und die man nicht zu bekämpfen wußte, am allermeisten aber die Ruhr. Die Behandlung dieser qualvollen und widerlichen Krankheit konnte an und für sich einfach heißen: die Kranken sollten im warmen Bette bleiben, nur leichte Speisen, vornehmlich Suppen, Brühen und Milch genießen und dem gemarterten Leib mit warmen Breiumschlägen aufhelfen. Es fehlte aber am Nötigsten, und wo das Nötigste vorhanden war, wurde es in leichtfertiger oder in schuldhafter Weise vertan. Es wurde gestohlen und unterschlagen, und Hunderte, Tausende von armen, todschwachen Kranken mußten sich von Kommißbrot ernähren. Wenn es hoch kam, wurde ihnen eine Suppe hingestellt, die wie Jauche schmeckte, mit ein paar Graupen oder Fladen darin, halbgares oder madiges Fleisch, Rüben, Kartoffeln und harte Viehbohnen. Dem Könige freilich wurde für gute, richtige Krankenkost viel Geld angerechnet. Aber den stärkenden Wein tranken die Feldschere und Krankenwärter miteinander aus, und die zarten weichen Gemüse, den Reis, das weiße Mehl, ebenso den Essig und die Arzneien, verkauften sie draußen an den Meistbietenden. Die Mißstände im Personal gingen über jeden Begriff. Hier allein war die Quelle aller Übel. Die Krankenwärter waren sämtlich nichts anderes als alte, steife Unteroffiziere, die von der Pflege soviel verstanden wie vom Pastellmalen, und die durch langjährigen Gamaschendienst vollkommen stumpf und gleichgültig geworden waren. Die Feldschere und Compagniechirurgen waren unwissend wie Dorfbader, meist waren es Dorfbader, ein rohes dummes Gesindel, kaum zu den primitivsten Hilfeleistungen zu gebrauchen, dabei noch viel zu gering an Zahl, so daß auf zweihundert Kranke oft nicht einer kam. Die höheren Ärzte aber, die den Regimentern folgten und die zum Teil ernsthafte, wissenschaftlich geschulte Männer waren, sie konnten nicht all die unzähligen Kranken selbst untersuchen und behandeln. Auch gab es sogar unter diesen Gelehrten Schufte genug, welche die ihnen anvertrauten Medizinalgelder im Kasino an die Offiziere verspielten. Andere wiederum waren zu heikel, von zu empfindlichen Nerven, um energisch selbst zu Werke zu gehen. Sie begnügten sich damit, allgemeine Anordnungen zu treffen und flüchtig in die Krankensäle hineinzuschauen, und dies konnte, so gab Henschke zu, einem Mann von einiger Zivilisation und Verfeinerung nicht einmal sehr übelgenommen werden.
Denn diese Säle waren einfach die Hölle. Ein Bett war niemals darin zu sehen. Die Kranken lagen auf Stroh, ganz selten einer auf einer Matratze, viele aber einfach auf dem harten Boden. Decken waren keine vorhanden. Die hochfiebernden Menschen hatten nichts über sich als ihre Soldatenmäntel, die von hundert Regengüssen hart waren. Alles wimmelte von Wanzen, Schaben und Läusen. Aber dies war noch nicht die schlimmste Unreinlichkeit. Da es so gut wie nirgends Nachtstühle gab, die Aborte aber stets ungenügend oder allzu weit entfernt waren und vielen Kranken die Kräfte fehlten, sie zu erreichen, so lag der Boden voll von blutigen und ansteckenden Exkrementen. Oft gab es buchstäblich keinen Fleck, um unbesudelt hinzutreten. Niemals wurde geräuchert, selten ein Fenster geöffnet, kein Bedienter fand sich, um diese Menschenställe zu reinigen. Es herrschte eine fürchterliche Luft, wie im Hochsommer auf dem Schindanger, ein Pestgestank nach Grab und Kloake. Wer hier als ein Siecher hineinkam, begab sich aller Hoffnung, er fühlte sich selber bei atmendem Leibe verfaulen. Die aber ganz wider alle Wahrscheinlichkeit diese Hölle dennoch verließen, krank noch, um weitertransportiert zu werden, die hatten das Schlimmste erst zu erwarten. Denn die Krankenwagen boten nicht die mindeste Bequemlichkeit für die entkräfteten, im Innern wunden Soldaten. Meist wurden einfach Leiterwagen requiriert und die Menschen daraufgeworfen, wie Kälber auf den Karren. Kissen unter den Kopf oder Decken über den Leib waren unbekannte Dinge, und so ging es durch Nässe, Kälte und Sturm. Jeder Stoß, jede Umdrehung des Rades rüttelte und marterte die Kranken, bis sie in eine barmherzige Ohnmacht fielen. Starben einige, so warf man sie eben hinunter vom Wagen, und oft warf man aus Versehen auch einen Lebenden mit, der dann im Schlamm und Lehm vollends umkommen mochte.
Der Apotheker war zu Ende. Er hatte während seiner Erzählung den König nicht anzublicken gewagt. Nun sagte er abschließend: »Es könnte gewiß vermessen scheinen, daß ich Dinge zu äußern wage, die Eurer Majestät mächtigem Blick umfassender bekannt sind als einem medizinischen Handlanger und Provinzbürger. Aber Euer Majestät wissen das Allgemeine und Ganze, vor meinem Auge stand immer ein greifbarer Ausschnitt des Elends, wie ihn der Herrscher selten zu sehen bekommt. Auch waren die Zustände in den Truppenteilen, bei denen Euer Majestät sich befanden, sicherlich besser, jeder wird sich gehütet haben, in Euer Majestät Nähe zu stehlen, zu faulenzen und barbarisch zu sein.«
Der König, der mit geschlossenen Augen dagelegen hatte, öffnete sie jetzt. Sein erstes Wort war: »Hat Er crayon? Dann schreib Er mir den ganzen Namen und die Wohnung von Seinem Doktor Rutze auf.«
Henschke schrieb, nahm dann auf Geheiß den blauen Uniformrock, der über der Kassette mit den Staatsverträgen in einem Sessel lag, und brachte das Blatt in der inneren Brusttasche unter.
Viel Neues hatte der König nicht gehört. Es war, wie Henschke es naiv ausdrückte: er wußte das Allgemeine und Ganze, das einzelne Elend hatte man ihm nach Kräften verborgen. Ach, er konnte ja nicht überall sein, er mußte Funktionen übertragen und mußte Vertrauen üben, obgleich er keins hatte. Er wußte nicht, dieser redliche Apotheker, mit welch verbissener Kleinarbeit der König an der Reform der Sanitätsbehörden arbeitete, wie angstvoll er bemüht war, vor seinem Hintritt hier noch Wandel zu schaffen.
Sie waren ihm peinvoll gegenwärtig, die Opfer seiner Kriege. Wenn er beim Adel, beim hohen Beamtentum, bei der Gesellschaft seines Königsreichs berüchtigt dafür war, daß er dem gemeinen Manne mehr zugestehe als billig, daß er geradezu das Recht für ihn beuge – wen bevorzugte er denn in diesen Bauern und Kleinbürgern? Nicht eigentlich sie selbst, vielmehr ihre Väter und Brüder und Vettern, die Feueropfer der früheren Kriege und die hingestorbenen Kranken des letzten.
Er hatte ihn niemals recht zu stellen vermocht, Aug in Auge, den geheimen Instinkt, der ihn zu seinen verantwortungsschweren Taten trieb, hatte ihm niemals die schwarze Kapuze vom Antlitz zu reißen vermocht. Er war fortgezogen worden auf seiner Bahn, hatte gekämpft und standgehalten und, wie eine Welt ihm bestätigte, das Außerordentliche vollbracht, hatte Tausende und Zehntausende zusammenschießen und in stinkenden Löchern verfaulen lassen müssen, elend bedient von ungetreuen Knechten, hatte dies immer gewußt und nichts dawider gekonnt. Aber er durfte sich selber das Zeugnis geben, daß er ihre Mühsal und Bedürftigkeit geteilt hatte, es war ihm kein Zwang, es war ihm natürlich gewesen, sich dem Tode auszusetzen wie sie, kein besseres Lager, kein besseres Essen zu haben als sie, und auch wahrhaftig kein besseres Wetter über sich, sondern womöglich ein schlechteres Wetter.
Einerlei, so oder so, er war bald am Ausgang, für ihn war es Zeit. Das einzige, was er noch besaß, das letzte, was er lieben konnte, hatte er jetzt auch verloren, etwas Köstliches und Zartes, etwas, um das sich reiner und schuldloser trauern ließ als um die Ruhrtoten aus Böhmen und Mähren. Bald, dachte er, bald werde ich mich ausstrecken können im gemeinsamen Grab, das schon gemauert ist, und ausschlafen von Krieg und Elend und Unrecht, getanem und erlittenem, vom Haß, vom Ruhm, vom Lärm einer ganzen Welt. Ich bin ausgeschöpft, ich bin mürbe, mit diesem Fieber und Kranksein fängt langsam mein Ende an. O willkommen, willkommen! Ich habe das Meine gelebt.
Er gab sich einen Ruck. »Der weiß also Bescheid, Sein Rutze?« sagte er, so als hätten sich seine Gedanken von diesem Arzte durchaus nicht entfernt.
»Bestimmt, Euer Majestät. Als Regimentschirurgus hat er vieles gesehen, hat manches gebessert und alles rücksichtslos ausgesprochen. Niemand weiß so genau Bescheid über alle Spitzbübereien, und niemand haßt sie so.«
»Habe nie von ihm gehört.«
»Daran sind seine Feinde schuld, die er sich unter den Corpsärzten und in der Verwaltung gemacht hat. Die sind auch schuld, daß er seinen Abschied genommen hat.«
»Ich werde ihm schreiben.«
Eine Pause trat ein. Der König ächzte leise. Dann schien ihm etwas einzufallen. Er runzelte die Stirn und sagte in mürrischem Ton:
»Und Er selber? Was ist mit Ihm? Will Er nichts von mir?«
Henschke wurde rot, ungewiß ob für den König, für sich selbst oder für das Menschengeschlecht, an dem der König seine Erfahrungen gemacht hatte.
»Euer Majestät, ich bin ganz zufrieden.«
»Ah«, sagte Friedrich. »Dann laß Er mich jetzt schlafen!«
Aber da Henschke bat und ihm doch soeben ein Wunsch freigestellt worden war, da sich zudem der König noch immer sehr schlecht fühlte und gewohnheitsmäßig kein einziger Kammerdiener mit auf der Reise war, so erhielt der Apotheker Erlaubnis, im Zimmer zu wachen.
Tiefste Stille ringsum. Ein winziges Öllicht nur brannte. Manchmal flackerte es und schien erlöschen zu wollen. Dann waren die Höhlungen in des Königs Gesicht schwarze Gruben, und Henschke sah ein Totengesicht. Lange hatte er nicht mehr zu leben. Auch dieses Licht unter allen Lichten flackerte schon, und er, Henschke, durfte eine Nacht lang seine zerlaugten Apothekerhände schützend darumhalten.
Übrigens hatte er wenig Gelegenheit zur Hilfeleistung. Ein paarmal reichte er dem König zu trinken, auch wurde ihm gestattet, das schweißüberströmte Gesicht erst zu trocknen und dann lau abzuwaschen. Einmal schickte ihn der König aus dem Zimmer. Der Kranke schlief ziemlich viel, aber nie lange hintereinander und fuhr oft schreckhaft empor. Er sprach auch laut im Schlafe und nannte Namen, von denen der Apotheker mehrere kannte, denn sie gehörten in die Geschichte der Zeit. Mehrmals schien ihn der Doktor Rutze zu beschäftigen, er unterhielt sich mit ihm, zeigte ein ungeduldig fragendes Gesicht, sprach scharf »Wie wie?« oder »Was was was?« und quittierte mit befriedigtem Brummen über eine Antwort. Dann mußte etwas Schmerzhaftes in seine Gedanken eingedrungen sein. »Hier kann ich ja gar nirgends hintreten«, rief er klagend aus, und Henschke sah, wie sich unter den Decken gleichsam tastend seine Füße bewegten. »Es ist nicht wahr, Rutze!« rief er dann später wieder und war sehr aufgeregt. »Rutze, Rutze, hör Er mich an, hör Er doch nur!« Bald begriff der Apotheker. Der König verteidigte sich gegen die niederträchtige Behauptung, die während des Siebenjährigen Krieges draußen in der Welt, aber auch in Preußen umgegangen war: er sollte damals seinen Ärzten befohlen haben, die verstümmelten, unbrauchbar gewordenen Soldaten nicht mehr zu pflegen, sondern zur Kostenersparnis lieber sterben zu lassen. »Ce n'est pas vrai«, rief Friedrich und warf sich umher, »Rutze, das müßt Ihr nicht glauben. On m'a calomnié.«
Henschke kamen die Tränen. Da sah er, daß der König erwacht war. »Ach ach«, stöhnte er, vielleicht glaubte er sich allein.
»Wie ist Euer Majestät jetzt?« fragte der Apotheker.
»Ach, lieber Henschke«, sagte der König matt und trübe. »Was soll mir sein! Ich bin nichts mehr als ein altes Gerippe, ich tauge zu nichts mehr, als hingeworfen zu werden auf den Anger.«
Henschke war tief erschrocken. Wie kommt es mir zu, so entsetzliche Worte anzuhören, dachte er. Aber der König schlief schon wieder. Es ging gegen Morgen.
Seine Vorstellungen wurden nun freundlicher, friedlicher. Es war, als scherze er mit jemand, als locke er jemand. »Komm, komm, komm!« rief er mehrmals mit heller Stimme, lächelte gutmütig und bewegte die Finger seiner rechten Hand unter dem Linnen. Rief er nicht einen Hund? Ja, er rief ihn nicht nur, er führte mit ihm ein Gespräch und spielte beide Rollen dabei, mit seinen Lippen bildete er die bellenden Laute aus, die er als Antwort auf seine Neckerei zu hören glaubte, und lachte freundlich dazu.
Als das Tageslicht da war, schlummerte der König tief. Er hatte keinen Befehl erteilt, ihn zu wecken, so sorgte der Apotheker für strenge Stille im Hause, umwickelte die Ladenglocke seiner Offizin und ließ draußen Leute sich aufstellen, die alle Passanten auf einen Umweg verwiesen.
Um elf Uhr wachte der König auf, wesentlich gesünder, aber in großem Zorn über die späte Stunde. Henschke ward ungnädig angelassen, als er seine Gründe vorbringen wollte. Der übernächtigte Mann beschied sich. Der König schrieb eine Anweisung über hundert Taler Quartiergeld aus, reichte sie ihm, fremd wie dem ersten besten, setzte sich in seine Kutsche und fuhr davon.
Haferfelder, Kiefern, stille Wasserläufe, manchmal ein Tümpel, See genannt. Gewiß, sein Stammland war der langweiligste Fleck unterm Monde. Das einzige Bunt kam von den Bäuerinnen am Wege, zu schwarzem Mieder und schwarzem Kopftuch trugen sie den kurzen, grellroten Friesrock, dies war wendische Tracht. Ja, hier in der Mark, hier in seiner Urprovinz, saßen eigentlich keine Deutschen, da saßen Slawen, östliche Völker, Asiaten womöglich. Man sah's an ihren Backenknochen, an den hinaufgeschobenen, zusammengepreßten Augen. Man brauchte ja nur auf die Ortsnamen zu hören weit in die Runde: Baruth, Goyatz, Cottbus, Schwiebus, Lebus, Podelzig, Polenzig, Peitz. Und war vielleicht Potsdam ein deutscher Klang? Aber da faselten sie nun von Nation, da wurde er, just er, zum nationalen Helden proklamiert! Oh, man konnte den Menschen vieles einreden. Welch eine fanfaronnierende Einheit bildeten heute die Franzosen. Und dabei hatte man vor ein paar Jahrhunderten in Paris noch mehr Flämisch, mithin Deutsch, als Französisch gesprochen. Aber ein Volk war eben leichter zu leiten, wenn es sich für ein Ganzes und zumal für ein auserwähltes Ganzes hielt. Das taten alle. Seine wendisch-sorbischen Märker hielten sich sogar für ganz besonders auserwählte Deutsche, obgleich sie das traurigste Land von der Welt bewohnten.
Es fiel ihm plötzlich auf sein altes Herz, woran er seit langem nicht mehr gedacht hatte: daß hier in diesen ungesegneten Strichen sein ganzes Leben verlaufen war, sein Leben, das nun zu Ende ging. War es denn Wirklichkeit? Hatte er immer unter diesem trägen Himmel mit den ziehenden Wolken schwer geatmet? Hatte er nie eine südliche Sonne gefühlt, nie ein blaues Meer gesehen, nie einen Pinienwald, nie eine Palme? Nein, nichts. Das einzige, was er von warmen Ländern kannte, waren ein paar Affen, die ihm seine Vorhänge zerrissen, und ein arabisches Dromedar, auf das seine Tabaksdosensammlung gepackt wurde, wenn er für einige Winterwochen aus Potsdam nach Berlin umzog. Ja, so viel kannte er vom Süden und vom Orient.
Aber er hatte ja auch von Europa nichts gesehen. Als jüngerer Mensch war er einmal in Straßburg gewesen und einmal in Holland; punktum. Paris, wo sein Geist und Geschmack, wo alle helle, feine Kultur zu Hause war, die er liebte, es war ihm unbekannt, er war nie dort gewesen. Er hatte Italien nicht gesehen, nicht die Tempel, nicht die Bildsäulen der Alten, er hatte nie dort gestanden, wo seine Vorbilder, wo Hadrian und Marc Aurel ihre Tage gelebt hatten. Er war sogar niemals in Wien gewesen, er reiste auch jetzt nicht dorthin, so dringend er dem Kaiser, seinem politischen Feind und persönlichen Adoranten, einen Besuch schuldig war. In schmutzigen Dörfern war er herumgezogen und hatte Krieg geführt, und dazwischen hatte er an seinem schrägen Arbeitstisch gesessen. Er hatte zu arbeiten, zu arbeiten, jahraus jahrein, tagaus, tagein, von drei Uhr am Morgen bis in die sinkende Nacht. Er hatte zu arbeiten für die Menschen, die er verachtete, und konnte nichts sehen von den schönen, heiteren, mannigfaltigen Ländern der Erde, durch die sein Ruhm in hundert Sprachen klang.
Sein Ruhm? War's dies, was ihn für jeden Verzicht entschädigte? In der Jugend, einst, hatte er geglaubt, ihn zu wünschen. Als er kam, als er da war, war er ihm ein Gelächter. Welch ein Ziel auch, in den Köpfen dieser méchanten Rasse groß dazustehen, welch königlicher Traum, noch weiterzuspuken in den Köpfen ihrer Kindeskinder, die nicht weniger dumm, nicht weniger roh sein würden als das Gesindel, das heute lebte.
So hatte er denn wohl das Glück der Menschen gewollt, wollte ihnen Leiden ersparen, ihnen die Bedingungen schaffen, um besser und schöner zu leben? So galt wohl seine Arbeit und Sorge auch heute noch diesem Ziel?
Sie fuhren durch Beeskow, und unwillkürlich blickte er nach Norden hin, gegen Frankfurt. Dort lag das Oderbruch, das er urbar gemacht und besiedelt hatte, unter Darbringung großer persönlicher Opfer. Eine neue Provinz hatte er friedlich dort gewonnen, und er war einmal stolz gewesen auf diese schöpferische Tat. Heute war er geneigt sich zu fragen, ob die Zeit, als dort nur Sumpffische und wilde Hühner lebten, nicht ebensogut gewesen sei. Konnte man überhaupt Glück stiften, Glück vermehren? Sicher rissen die Kolonisten, die er dort hingebracht hatte, ihre Weiber an den Haaren und regalierten ihre Kinder mit Fußtritten.
Dankte man ihm seine Mühsal wenigstens, liebte man ihn etwa im Lande? Er glaubte es nicht. Ein Vorkommnis aus dem letzten Kriege fiel ihm ein, das öfters an schlechten Tagen seine Gedanken kreuzte. Er stand im Lager von Burkersdorf, da war durch seine Schuld, durch eine Lücke in seinen Anordnungen, eine große Ladung Fourage an die Österreicher verlorengegangen. Als dies bekannt wurde, herrschte Jubel. Durch Zufall belauschte er eine Gruppe von Offizieren: sie rissen ihre Witze über ihn und schlugen sich auf die Schenkel. Er hatte sich still zurückgezogen, hatte nichts erwähnt und niemand bestraft; er schämte sich. Denn dies geschah ja nicht in der trüben Masse des Volkes, dies geschah in seiner Armee, unter seinen Offizieren, seinem Adel. Er lebte ihnen zu lange, er war ihnen unbequem, sie standen zu ihm wie Dienstboten, die heimlich über die Herrschaft losziehen. Es lag gewiß an ihm, er war streng, oft entwürdigend streng, er hatte mehr vom Wesen seines Vaters geerbt, als er selbst in der Jugend gewußt hatte. Ach, er büßte es, er bezahlte es teuer. Niemand liebte ihn.
Eine Faust preßte sein Herz zusammen. Er eilte zu dem, was ihn geliebt hatte und was er geliebt hatte. Mit brennenden Augen starrte er durch das Vorderfenster an Pfundts breitem Rücken vorbei gegen Westen. Man war durch Großbeeren, und es wurde schon wieder dunkel.
Pferdeschnauben und Mahlen im Sand und rasende Fahrt. Und endlich wohlbekannte Laternen vorm Krug und vorm Predigerhaus des letzten Dorfes. Es war Nacht, Windstille, laue Luft, als das Zehngespann von rückwärts in einer Schleife bei Sanssouci anfuhr. Oben stand die Villa erleuchtet.
Im gleichen Augenblick kamen auch schon Leute die Rampe heruntergelaufen, Schöning, Neumann und Strützky, die Kammerhusaren, mit Stocklaternen in den Händen. Stampfend und klirrend erklomm der Zug die bequeme Schrägung, von den Dienern bis zum rückseitigen Eingang emporgeleitet.
Der König ließ sich von keinem helfen. Kaum stand die Kutsche, so trat er schon in den Vorsaal, wandte sich sogleich nach links und durchschritt, so hastig es ihm die Kräfte erlaubten, die kleine Galerie, schwer mit dem Stock aufstoßend, die Kassette mit den Staatspapieren unter dem andern Arm. In dem kurzen, schmalen Gang, der die Galerie fortsetzt, blieb er stehen und keuchte; halb war es ein angstvoller Seufzer. Er zögerte noch einen Augenblick, dann stieß er die Tür auf und stand im letzten Gelaß seiner Wohnung, in der Bibliothek.
Er sah es gleich. Auf ein niedriges Tischchen vor dem Kamin hatten sie es hingestellt.
Alkmene, die Hündin, das Windspiel, sein Liebling, seine Freude, sein Trost, sie lag tot dahingestreckt auf dem kleinen Tisch, überdeckt von einem hohen, spiegelblanken Gewölbe, einem Glassturz, der sonst eine kostbare Standuhr beschützte. Da lag sie, bestrahlt von zwei fünfarmigen Leuchtern, die rechts und links auf dem Kamin standen und ihre Flammen im Spiegel verdoppelten. Sie ruhte, den zarten Kopf ins Zimmer gewendet, auf der Flanke ganz wie im Schlaf, das Lid des Auges hatte sich etwas gehoben, und man sah einen Streifen der dunklen Iris. Die geisterfeinen Beinchen lagen artig nebeneinander, eines von den vorderen kokett ein wenig gebogen. Das helle Fell schimmerte in seidigen Reflexen unterm warmen Kerzenlicht. Es war zuerst gar kein trauriger Anblick, an diesen Tod zu glauben war kaum möglich, man mußte beinahe rufen »Alkmene, Alkmene!«, und gleich würde sie aufspringen auf ihre Beinchen.
Und doch hatte Alkmene schon im Grabe gelegen.
Als Friedrich zur Revue abreiste, war sie krank. Er reiste schwer, er brachte es kaum fertig zu reisen. Aber er schämte sich, eines Hundes wegen seine Arbeit, die Armee, eine Provinz im Stich zu lassen, und schämte sich auch wieder dieser Scham. Einerlei, er war gereist, pünktlich am fünfzehnten August wie alljährlich. Die drei Kammerhusaren hatten Befehl, an jedem Morgen genauen Bericht über den Liebling abzusenden. Und an jedem Abend hatte ein abgehetzter Offizier vom Feldjägerregiment die zwei Tage alten Weisungen des Königs zurückgebracht. Diese Offiziere wußten nicht, was sie beförderten, denn Schöning, Strützky und Neumann schwiegen still. Sie lachten auch nicht einmal, wenn sie ganz unter sich waren, und sie pflegten Alkmene mit Angst und Sorge und endlich mit Verzweiflung. Es hatte nichts geholfen, das zierliche Tier war ihnen gestorben, und sie begruben es vor den Fenstern des Königs, beim Sockel der liegenden Flora, wo schon mehrere seiner Hunde lagen. Mit Zittern redigierten sie die Nachricht.
Gestern am Abend nun war der Befehl zurückgekommen, sie sollten Alkmene wieder aus ihrem Grab nehmen und sie in der Bibliothek hinbahren; er selber folge der Botschaft. Da war er nun, und da lag Alkmene unter dem Glassturz.
Aber auf allen Reichsstraßen Europas schossen zu dieser Sommernachtsstunde, jederlei politische Kombination in ihren Taschen, die Kuriere der Mächte dahin. In allen Staatskanzleien brannte noch Licht, und in ihren Landschlössern warteten die Gekrönten: Joseph in Laxenburg, Karl im Escorial, in Zarskoje Selo Katharina, Georg in Windsor; sogar der Papst.
Dem König war nicht einfach ein Hund gestorben, der auch zu ersetzen war.
Alte Leute werden ja immer einsam, sie leben nicht mehr mit ihrer Generation; die mit ihnen jung, die mit ihnen reif waren, sind fort, und sie sprechen eine Sprache ohne Echo. Die letzten Jahre hatten furchtbar um ihn aufgeräumt, es war niemand mehr da. D'Argens, Seydlitz, Fouqué, Buddenbrock, alle dahin, Krusemarck, Quintus Icilius binnen drei Tagen, und dann auch der Beste und letzte, der Treuste der Treuen, der Vornehmste unter den Klugen, der Klügste unter den Redlichen, Earl Marishal Keith. Er war ganz allein. Die jetzt noch seine schweren, ungesunden Diners mit ihm teilten, sie galten ihm nichts, sie hatten ihm die Stichworte zu liefern für seine Geschichten und Anekdoten, denn er sprach gern beim Essen. Frauenliebe hatte seine reifen Jahre nicht gekannt, damit hatte es eine dunkle, schwere Bewandtnis; in einem dürftigen Schlößchen im Norden von Berlin hauste die alte Dame, mit der er seit fünfzig Jahren verheiratet war und die er alljährlich schandenhalber einmal auf eine halbe Stunde besuchte. Familie hatte er auch einmal besessen, und wenn er an den Fingern richtig zählte, so waren sie zehn Geschwister gewesen, und vier davon mußten sogar noch leben. Geliebt hatte er nur die eine gescheite Schwester in Bayreuth, und die war seit einem Vierteljahrhundert tot. Er hatte nichts mehr, was ihm nahe und teuer war, dieser Große und Weltberühmte, als seine Hunde.
Die wortlose Kreatur hatte er immer gern gehabt, nie duldete er einen Schlag oder auch nur einen Schabernack gegen ein Tier. Für seine Reitpferde gab es keine Peitsche und keinen Stachel, und er pflegte sie mit seinem schönen Obst zu füttern, überzeugt, das müsse ihnen schmecken wie ihm selber. Die Affen durften in seinen Zimmern treiben, was sie wollten, er lachte gerührt über sie, und als der eine an der Schwindsucht starb, ließ er die anderen mit Betrübnis im Herzen in ihre warme Heimat zurückbringen. Das arabische Dromedar hatte er erst nicht annehmen wollen, als es ihm der russische General anbot, und hatte von einem Gelehrten seiner Akademie ein Gutachten eingeholt, ob dieses Tier das märkische Klima auch gewiß vertrage. Seine große, seine wirkliche, seine leidenschaftliche Zuneigung aber gehörte doch allein seinen Windspielen.
Das Volk, das immer greifbare Gründe braucht, wollte wissen, diese Passion sei damals so stark geworden, als ihm die berühmte Biche im Siebenjährigen Krieg durch ihre Klugheit das Leben bewahrte. Die habe einmal mit dem König im Versteck unter einem Brückenbogen gesessen, und mit Gepolter und Hussa seien oben die verfolgenden Panduren über die Brücke dahingejagt; aber die Biche habe ihren Herrn nur verständig angesehen, habe sich unbeweglich gehalten und nicht gebellt. Nun, das war vielleicht Heldensage und gut für das Volk. Aber da auch die obere Klasse, da auch die internationale Gesellschaft ihrem Denken nach überwiegend zum Pöbel gehört, so gab es in den großen Hauptstädten noch eine andere Erklärung, nicht weniger konkret, aber weniger harmlos. Es war ein Jahrhundert der Erotik und der Abnormitäten, und so nahm man denn ohne weiteres an, daß der König mit seinen zierlichen kleinen Hündinnen – denn Hündinnen bevorzugte er ja – eben einfach zu Bett gehe, daß sie ihm das Weib ersetzten. Und dem äußeren Vorgang nach ließ sich das sogar schwer widerlegen, denn die Lieblingshündin schlief wirklich jede Nacht in seinem Bette. Es kümmerte ihn gar nicht, was man über seine Neigung dachte. Er verachtete die Menschen und ihre Meinungen, er verachtete jede heuchlerische Sittsamkeit in solchem Grade, daß ihn derartige Ausstreuungen höchstens erfreuten. Ihm hätte es gerade einfallen können, dem Geschwätz der Höfe zuliebe etwas von seinen Gewohnheiten aufzugeben!
Nach wie vor wurde auf dem Jägerhof eine Zucht der kleinen italienischen Windspiele gehalten. Weniger als vierzig waren dort niemals, mitunter aber waren es siebzig und achtzig, bedient von mehreren Jägern. Schlimm für diese, wenn von den Jungen, den Winzigen, mehr an der Staupe wegstarben, als es dem Könige tristes Naturgesetz zu sein schien. Oft kam er von Sanssouci herüber, um nach dem Rechten zu sehen, unvermutet, als Popanz.
Die Schönsten und Klügsten nahm er dann hinüber in die Villa auf dem Hügel, nie waren weniger als drei in seiner Gesellschaft. Ihnen war alles erlaubt, die Nachsicht des Königs hatte überhaupt keine Grenzen. Sie saßen neben ihm auf den Sofas, sie sprangen ihm auf den Schoß, während er schrieb, und er hörte lieber auf zu arbeiten, ehe er die Leichten hinuntergestreift hätte. Sie durften spielen, womit sie wollten, sie durften zerbeißen, was sie wollten, und wären es Kostbarkeiten gewesen. Sie waren immer bei ihm. Wenn er nach dem Mittagsmahl draußen vor den Fenstern in der Sonne saß, waren sie in seinem Lehnstuhl oder an seinen Füßen. Und zeigte sich dann weit unten vor den Terrassen ein Fremder, so fingen sie zornig an zu bellen, und der menschenfeindliche König lobte sie sehr dafür. Erst wenn er am Abend sich schlafen legte, wurden sie fortgebracht, bis auf den einen, der sein Lager teilte. Aber frühmorgens, gleich beim Erwachen, kamen sie alle wieder.
Aufs zärtlichste sorgte er selber für sie. Wehe dem Diener, wehe aber auch dem Gast, der einen von ihnen versehentlich trat. Unweigerlich geriet der König außer sich, er hob seinen Stock, er glich seinem wütenden Vater. Keine Rücksicht, keine Etikette hielt ihn von groben Beschimpfungen zurück. Mitunter kamen in wichtiger Mission Fremde zu ihm, im ordengeschmückten Galakleid, das Exposé auswendig gelernt. Der Kammerhusar öffnete, da saß der König am Boden, im alten Rock, den Hut auf dem Kopf, und fütterte seine Hunde. Mit dem Stock schob er ihnen die Brocken zurecht.
Er konnte nicht ohne die Tiere sein. Der Liebling begleitete ihn ja auch im Kriege, er war bei ihm bis fast in die Schlachten hinein. Aber wenn der König das Winterquartier bezog, dann gingen auch die übrigen in einer Eilpost von Sanssouci ab, und dies war für die ganze Welt das Zeichen, daß der Feldzug des Jahres nun zu Ende sei.
War Frieden, so vertauschte er alljährlich für einige Wochen sein Potsdam mit Berlin. Pünktlich am zweiundzwanzigsten Dezember ritt er selbst in der Frühe dorthin ab, aber erst wenn die Mittagssonne schien, reisten die Hunde. Es war ein sonderbarer, ja ein phantastischer Zug. Voran wiegte sich das arabische Dromedar, mit einer grünen Schabracke bedeckt, auf welcher der Kasten mit den hundert Tabaksdosen befestigt war; dann folgten in einer sechsspännigen Kutsche die Windspiele, in warme Tücher eingeknöpft und zugedeckt noch außerdem. Der Bediente, der sich auf dem Rücksitz hielt, die munteren Tierchen im Fond sich gegenüber, redete unaufhörlich mit ihnen, ermahnte sie, sich nicht zu entblößen, und hob sie wieder hinauf, wenn sie vom Sitz sprangen. »Hasenfuß, seien Sie doch ruhig«, sagte er, denn er sprach wahrhaftig in der dritten Person, »bleiben Sie doch hübsch im Warmen, Pompon! Alkmene, bellen Sie nicht so wild!« In Berlin aber waren die Kleinen erst recht Trost und Erholung des Königs, denn dort, während des sogenannten Karnevals, war er ja leider genötigt, einige große Diners zu geben und auch, zu seinem unbeschreiblichen Verdruß, mehrmals die schlechte Oper und sogar einen Ball zu besuchen. Da nahm er sich freilich erstaunlich aus.
Die Wohlwollenden also hielten dies alles für Schrulle, die Übelmeinenden für eine Verkehrtheit der Triebe. Es war dies nicht und war mehr als das andere. Je älter er wurde, je mehr er die Bosheit und Niedrigkeit und geschwollene Torheit der Menschen durchschaute, desto zärtlicher kehrte sich sein Herz dem klaren, einfachen Wesen dieser redelosen Geschöpfe zu.
Ihnen konnte man glauben. Auf sie durfte man zählen. Einen Tag waren sie wie den andern, immer zutraulich, immer gut Freund. Ihr Gesicht, ihr Windspielgesicht, zeigte mitunter einen vornehm-komischen Mißmut, aber doch waren sie vergnügt. Sie zitterten öfters sogar in der Sonne, so fein hatte Natur sie gebildet, aber doch waren sie munter und wohl. Immer lebten sie ganz in der Gegenwart und machten dem beschwerten, dem umgetriebenen Herzen den Wert jeder guten Minuten fühlbar. Ganz sie selber und frisch und gleichsam ewig jung, sprangen sie an jedem Morgen vom Lager, und jeder Tag war der einzige für sie und ein schöner. Ein Labsal waren sie in seinem mit Verantwortung überfrachteten, mit Zwecken bis zum Rande gefüllten Dasein. Er, der mehr arbeitete als irgendein Mensch, der von seinen Dienern, seinen Helfern Arbeit, Arbeit verlangte bis zum Erliegen, er flüchtete in die Nähe dieser von jeder Pflicht, jedem Zwang freien, nur schönen, nur glücklichen Wesen, wie in ein Elysium. Nie ermüdeten sie ihn, nie störten sie ihn, gerne gab er ihnen von seiner Gegenwart und Aufmerksamkeit, soviel sie verlangten. Das Widrigste auf Erden war ihm Heuchelei, an keinem Kruzifix konnte er vorüberreiten, ohne zu lästern, weil er den Menschen zeigen wollte, er glaube nicht, daß sie glaubten. Alle hielt er für Lügner und Gleißner. Nur seine Hunde heuchelten nicht. Ihr naiver Egoismus rührte und erfreute ihn: er war die Natur selbst.
Daß er vor allen Rassen das Windspiel bevorzugte, lag zuerst wohl in der Zeit. Das Windspiel war ein echter und rechter Rokokohund, ein Hund der Mode. Daß er es lebenslang beibehielt, daß er niemals an andere Rassen auch nur dachte, hatte bessere Gründe.
Er liebte seine Grazie und Feinheit, die anmutig klare Linie der Glieder. Diese Hunde und sein Geschmack waren so undeutsch wie möglich. Sie waren alles, was sein Preußen, was seine Mark nicht hatte, dieses derbe und wolkige Land, in das er gebannt blieb. Italienische Windspiele nannte man die Rasse; aber sie bedeuteten ihm nicht nur die Heiterkeit und den durchsichtigen Himmel von Florenz, sie waren, als Gleichnis und Gruß, sein kunstschönes, freies Athen, sein elegantes, graziles Paris. Dies Sanssouci hier war ein Kloster, und er war der alte, groteske Abt. Was von feiner Sinnlichkeit, was von leichtem Leben hier zu spüren war, es kam von den zierlichen Tierchen. Mit nie sich mindernder Freude und Rührung sah er sie springen oder den schmalen Kopf heben oder die adelig schmalen Pfötchen flach auf dem Boden ausstrecken, dicht beieinander, und empfand sich selber dabei sehr stark als eine tolle Kontrastfigur, sich mit seinen Gichtknoten, seinen sieben Zähnen und seinem tabakschmutzigen Rock.
Immer hatte der König eines von ihnen am meisten geliebt, immer gab es eine kleine Favoritin an diesem Hof. Aber nie war ihm eine so teuer gewesen als nun Alkmene. Es lag nicht bloß daran, daß er nun sehr alt war und noch weniger als früher irgendeinen Menschen besaß, dem er sein Herz zuwenden konnte. Es lag auch daran, daß Alkmene so schön und so klug war.
Auf seinen eigenen Armen hatte er sie vom Jägerhof herübergetragen, als sie noch ganz klein war. Damals wog sie kein Pfund, und es schien ihm ein herrlicher Spaß, dies unirdisch zarte Spielding auf den Namen der Herkulesmutter zu taufen. Aber auch erwachsen wog sie nicht mehr als vier, sie war das feinste und höchste Produkt der vieljährigen Zucht, sie war das zierlichste, das bezauberndste Windspiel, das es wahrscheinlich auf der ganzen Erde gab. Sie konnte der König auch dann noch auf seinen Armen umhertragen, als seine Gicht immer schlimmer wurde.
Alkmene verließ ihn keine Stunde. Immer saß sie auf einem niedrigen Stuhl neben dem seinen, auf einem Daunenkissen, das kaum eine Mulde zeigte von ihrem kleinen Leib. Sie aß mit ihm; bei Tafel legte er rücksichtslos ihre Fleischstückchen auf das damastene Tischtuch, damit sie sich abkühlten. Sie ging mit ihm in der Bildergalerie auf und ab und betrachtete wie er die neuen Gemälde. War der König traurig, so bemerkte sie es gleich und machte ihm von selbst alle Kunststücke vor, die sie wußte, sie wartete auf oder stellte sich tot, mehr war es nicht, denn der König wollte nicht, daß seine Hunde etwas lernten. Sprach er zu ihr, so legte sie mit unbeschreiblich klugem Ausdruck ihren holden, schmalen Kopf auf die Seite und lauschte. Aber schalt er einmal, ganz behutsam, so ertrug sie es nicht, sondern sie legte ihm eine Pfote auf den Mund, als eine Bitte, er möge doch aufhören.
Wenn dergleichen geschah, dann kannte sich der König nicht mehr vor Entzücken. Er sprang auf, er nahm Alkmene in seine Arme, er preßte sie stürmisch an seinen blauen Uniformkittel, er küßte sie mit seinem entzahnten Mund, lange und immer wieder, er gab ihr die süßesten Namen. Manchmal liefen ihm Tränen herunter vor Glück seines alten, einsamen Herzens. Und wenn sie abends miteinander zu Bette gingen, dann lag Alkmene dichter bei ihm als je eine Vorgängerin, zwischen seine Brust und seinen rechten Arm geschmiegt, lag sie still, wie ein Kind bei der Mutter, und atmete ihren leichten Hauch, ihre sanfte Wärme gegen seine Schulter.
Und jetzt war Alkmene tot.
Stock und Kassette hatte er fortgelegt, stand nun mit hängenden Armen da und sah auf den ruhenden Liebling nieder. Der schrecklichste Stoß des Schmerzes war ausgeblieben, wie immer, wenn ein Herz ihn erwartet; auch war Alkmene ja so schön noch, so unentstellt, so wie atmend, ihr Fellchen glänzte hellgolden, wie das Gold des Champagners.
Er blickte zur Seite, da stand neben dem Tischchen Alkmenes Stuhl, bedeckt mit ihrem runden Kissen. Hier hatte sie gesessen und zugesehen, wie er das Reich regierte. Sie verhielt sich immer ganz artig und leise dabei, nur ihre Füße waren oft in einer kleinen, nervösen Bewegung. Mit der hatte sie das Kissen zerkratzt und ein wenig zerrissen, und an einer Stelle sahen die Federn hervor. Das war schlimm, dies Zeugnis vergangenen lieblichen Lebens neben der kleinen Toten. Aber auf dem Stuhl lag noch etwas anderes, das war Alkmenes Halsband, Es bestand aus einem grünen Lederstreifen und war mit einem silbernen Plättchen beschlagen. Er nahm es und las, was darauf geschrieben stand: »On m'appelle Alcmène et je suis au Roi«, er griff mit seinen beiden Händen hinein in die Innenseite und glaubte noch die Wärme des schmalen Hälschens zu spüren. Er ließ es fallen, und er weinte.
Über den Glassturz gebeugt stand er da, und es war, als ob alle Tränen, die sein alter Leib noch hervorbringen konnte, auf einmal emporquollen. Er schluchzte, er schrie vor sich hin, er fuhr sich mit dem rauhen Uniformärmel über die Augen, er wischte auch mit dem Rücken seiner Hand darüber, und da sein Gesicht seit Tagen nicht ordentlich gewaschen war, so entstellte er es nun völlig. Seine Tränen strömten, strömten, sie taten seinen Augen weh, so gewaltsam drängten sie hervor, sie troffen hinab auf den Glassturz, und hier zerteilten sie sich über der unberührbaren Toten, und flössen nach rechts und nach links an den kristallenen Wänden hernieder.
Mit einem Male formte sich ein Gedanke, ein Satz in seinem Haupte und hemmte den Schmerz. Er dachte und bewegte dabei seine Lippen: dies sind die letzten Tränen, die ich weine.
Sein Weinen versiegte. Er tat einen Gang um das kleine, runde Gemach, vorbei an den Glasschränken mit den rotgebundenen Werken der Weisen; unter den leeren Blicken von Sokrates, Apoll und Homer, die von ihren Konsolen auf ihn niedersahen, machte er dreimal den Kreis um die Arbeitszelle eines halben Jahrhunderts.
Er blieb an einem der hohen Fenster stehen, die fast bis auf den Boden reichten. Es war das östliche Fenster. Drüben am Rand der Terrasse lag auf ihrem schönen Sockel die Gestalt der Flora, vom Mondlicht erhellt. Dort würde er selber bald liegen, unter diesem Sockel war seine Gruft. Daneben, ganz dicht dabei, waren seine Hunde begraben, Alkmenes Vorgänger in seiner Liebe. Da lagen sie, längst zu geisterfeinen Gerippchen geworden, in einer Reihe, von kleinen Steinplatten überdeckt, auf denen die Namen standen. Aber am Ende der Reihe, sehr schwarz in der Mondbeleuchtung, war eine kleine viereckige Erdgrube sichtbar, das war das Grab, aus dem sie Alkmene wieder genommen hatten. »Ma petite Alcmène«, sagte er flüsternd in der Sprache seines Herzens, »bientôt je me coucherai tout près de toi.«
Er trat zurück an das Tischchen, er legte beide Hände flach an die Seiten des Glassturzes und hob ihn in die Höhe, nicht ohne Anstrengung. Er wollte Alkmene noch einmal anfühlen, wollte noch einmal spüren, wie leicht sie war, wollte sie streicheln und wollte sie küssen. Aber er fuhr zurück. Ihre Unangerührtheit war Schein, unter dem seidenen Fell war schon Fäulnis und rasche Arbeit des Todes.
Er stellte den Glassturz eilig wieder hin. Der Atem der Verwesung hatte ihn getroffen, ein Anhauch der tausend Wunden, des tausendfältigen Siechtums, das er hinter sich gelassen hatte auf seinem leidvollen Wege. O Friede und Ende, o Schuldlosigkeit, o Erlöschen!
Nun lag Alkmene wieder schimmernd da unter dem Kristall, wie schlafend. Aber der König war in der Hast nicht ganz sorglich gewesen, ihr Körper war nicht völlig umschrieben von der eirunden Kante, und eines von den Beinchen sah hervor. Ganz zart und dünn, ein Geisterpfötchen, ragte es dem König entgegen, und es war, als strecke ihm sein Liebling eine zierliche Hand hin, um ihn nachzuziehen in das Nichts, in den Trost der Vernichtung.