Bruno Frank
Politische Novelle
Bruno Frank

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XII

Sie waren nach Mittag aufgebrochen und erreichten vom Landinnern her die Vorstadt. Über ein löcheriges Zufallspflaster holperte langsam der Wagen. Niemand wich aus, niemand fuhr auf gesittete Weise. Schräg in die Fahrbahn gestellt warteten Maultier- und Hundekarren. Automobile von verschollenem Typ, halblahm und geflickt, in denen Männer in Blusen und barhäuptige Frauen saßen, gaben heulende Hupensignale, auf die niemand achtete.

Die Vorstadt endete nicht. Niedrig und breit waren die farbigen Häuser hingesetzt, als sei hier Raum in jedem Überfluß, als dehne sich weithin nach allen Seiten Wüste aus oder Steppe. Alles schien zufällig und vorläufig hier, an mancher Behausung sah man keine Türe, nur ein roter oder grüner Tuchvorhang 148 hing schlaff in der unbewegten Luft. Die Bewohner saßen davor, völlig müßig am hellen Nachmittag, schreiend, gestikulierend und lachend mit einer Unbekümmertheit, die etwas Gewaltsames und beinahe Verrücktes hatte. Ein gelblicher, stinkender Staub wirbelte auf unter den Fahrzeugen, die Sonne stieß ohne Erbarmen herab. Eine Schwere, eine Benommenheit fiel auf Carmer, ein Gefühl wie bei nahendem Fieber. Zum ersten Mal während der ganzen Fahrt rückte Dorval an seinem schwarzen Melonenhut, unter dessen Rand ihn die Haut schmerzte.

»Sollte man denken,« sagte er, »daß wir vor zwei Stunden unsere kleine Bucht verlassen haben, Frau Grandin, meinen Vetter und den Schimmel!«

Sie gelangten endlich zur Bahnstation. Carmer legte seine Reisetasche hier nieder. Mit dem schweren Gepäck war der Sekretär vorausgefahren. Der Zug nach Deutschland ging erst am Abend. Stunden hatte Carmer noch vor sich.

Im Herzen der wimmelnden, dröhnenden 149 Stadt fuhren sie weiter und hielten an einer Kreuzung. Rechts mündete eine breite Hauptstraße, schwarz von Menschen und Wagen, zur Linken sah man Wasser, ein tief eingeschnittenes Bassin, sah Masten und Takelwerk. Aber schräg vor ihnen zog sich die andere Straße hinauf, die Dorval jetzt fahren würde, die Rue de la République: ein Stück weiter oben brach sie ab, um sich jenseits zu senken, dort ging es ins Innere von Frankreich hinein.

Carmer stand am Rande des Gehsteigs. Er nahm seinen Hut ab. Mit einer ungeschickten Bewegung legte Dorval den seinen neben sich auf den Sitz und reichte Carmer über den Wagenschlag hinweg beide Hände.

»Alors!« sagte er und nickte seinem Verbündeten in die Augen. Sein beredter Mund stand leicht offen dabei unter dem fransigen Schnurrbart. Dann fuhr das Auto die steile Straße hinauf. Dorval hatte sich umgewendet – mit den ganzen Oberleib, da wohl sein Nacken zu steif war – und er winkte. Nun war er kaum mehr zu sehen. Er hob seinen Stock empor 150 über sich, so hoch er nur konnte. Der Stockgriff glänzte. Das Auto erreichte die Höhe, es ging jenseits hinab, noch war der Griff zu sehen, als Einziges noch, die Sonne strahlte ein letztes Mal heftig auf in dem Silber, ein Blitz und ein Gruß.

Carmer tat die wenigen Schritte zurück zu jener Hauptstraße. Es war die berühmte Cannebière, der Boden, den die Tausende der täglich Anschwimmenden, nach Europa Hungrigen, unmittelbar von den Schiffsplanken betraten, eine Einbruchsstelle der dunklen Welt. Europa empfing sie mit riesigen Kaffeehäusern, mit Varietés und Kinematographen und mit Kaufläden, darin die Ware von erlesenem Luxus neben kindischem Tand zur Schau lag, der den Barbaren, den Spielfreudigen locken sollte.

Hier schritten truppweise oder allein die Matrosen aller Marinen und die Soldaten von Frankreichs weitdislozierter Kolonialarmee, in Khaki manche gekleidet, viele aber noch im traditionellen Bunt: mit roten Hosen und rotem Fes der Zuave, mit roter Schärpe der 151 Afrikajäger, dem ein Schleier vorm Brande den Nacken schützt, in roter Jacke und rotem Mantel der Spahi, den arabischen Überwurf über dem Schädel. Dies Blutrot tupfte und besprengte den Corso. Und in allen Hautfarben spazierten inmitten die Unterworfenen, noch Niedergehaltenen, jedes Gelb war da aus Kambodscha und Annam, jedes Schwarz vom Niger, Logone und Kongo, jedes Braun vom Nordrande Afrikas. Sogleich schien hier jeder zuhause. Lange wankte im Gedräng vor Carmer ein alter, ungeheuer gewachsener Berber einher, gestützt auf zwei sehr elegante Kokotten, die winzig klein, kichernd und neckend, ihn am Burnus zupften. Mit schwerer ernster Gier blickte er, ohne zu sprechen, auf sie nieder. Carmer bemerkte mit einem Mal, daß er der Gruppe gefolgt war, sie nicht aus den Augen ließ. Ärgerlich, sich selbst nicht begreifend, blieb er stehen und suchte sich einen Platz vor einem der Cafés. Stunden hatte er noch vor sich.

Die Benommenheit wollte nicht weichen. Im 152 Bedürfnis nach Ermunterung, nach einem physischen Stachel, bestellte er sich ein scharfes Getränk und nahm es hastig. Er schmeckte vielfaches Gewürz. Ein etwas ekler Nachgeschmack blieb, wie von Gummi. Aber die Wirkung war da.

Unendliches Reden um ihn, rasches und lautes Geplapper, mit springendem Akzent, in gezogenen und dunklen Dialektlauten. Fremdartig schreiend diskutierte man Geschäfte, Frauen und Politik. Alle Tische waren in Bewegung, ein Gefuchtel von Gesten durchschnitt die heiße Luft. Ein tiefbrünettes Volk war dies, mit flammenden Augen, kräftigem Teint, mit regelmäßigen, sogar edlen Zügen, die aber von Grimassen fortwährend zerrissen wurden. Es war, als ob hier etwas Kostbares verdeckt und verwischt würde durch beweglichen Schutt. Was aber war es?

Für Abwechselung war gesorgt auf dieser Terrasse. Das Gaukel- und Bettelvolk der Seestadt produzierte sich vor den Müßigen. Elend und Krankheit waren zu sehen, wie sie so gnadenlos Europa nicht hervorbringt. Ein 153 Neger, ein altes Geschöpf schon mit weißen Backenbartbüscheln, wies seine Hände vor mit dem Phänomen der Kifussa: blaugrau wirkten die Pocken unter dem Schwarz des Rückens, grünlich aber unter dem Rosa des Handtellers. Grinsend zeigte er dies, aus möglichster Nähe, stolz auf die tödliche Seltenheit. Niemand beachtete ihn. Ihn löste ein Knabe ab, ein verwahrloster und frecher Mischling, abgezehrt, mit brennenden Schlitzaugen und hartem straffen Haar, auf dessen Schulter mit Turkomütze und kleinem Säbel ein Äffchen saß. Es war dressiert, zu salutieren und Haltung anzunehmen, aber immer nach dem soldatischen Gruß wurde es von einem schwindsüchtigen Husten geschüttelt und hielt dabei auf eine herzzerschneidend menschenhafte Weise die behaarte, magere Hand vor den schwärzlichen Mund. Der Knabe hüstelte mit. Man ließ sich nicht stören. Eine fast wilde Unbarmherzigkeit schien Carmer aus diesem harten Geschnatter, diesen dumpfen Vokalen um ihn zu dringen. So unbedingt war die Ablehnung jedes Mitleids, so 154 zwingend, daß er selbst nur verstohlen seine Gabe den Elenden hinreichte.

Ihm war nicht gut zu Mute. Gewiß wäre es richtig gewesen, aufzustehen, ein Hotel aufzusuchen, gründlich zu ruhen und erst am Morgen zu reisen. Aber man erwartete ihn ja – dort. Morgen würde er sich über Akten an seinem Schreibtisch, würde er sich in einem deutschen Fraktionszimmer finden. Er dachte mit mattem Spott daran, mit Unglauben fast. Aber er blieb. Und als der Kellner, einladend die Flasche hebend, neben ihn trat, nickte er und trank noch einmal hastig von der scharfen Essenz.

Das Militärische schien Trumpf zu sein unter den Mühseligen dieser Stadt. Auch der nächste Bettler hatte das, was von ihm übrig war, soldatisch staffiert. Er saß auf einem jener kleinen Wagen, auf denen sich beinlose Krüppel fortbewegen, tief unten zwischen den Knieen der glücklich Schreitenden. Auf dies Wägelchen hatte er seine Orgel montiert, ein modernes, mechanisches Werk. Zu drehen gab es hier nichts. Er saß mit verschränkten Armen, 155 während es spielte, ein Kentaur von Mensch und Maschine.

Er trug den feldgrauen Rock der französischen Infanterie mit gelbem Aufschlag am Kragen, darauf die Regimentsnummer 103 zu lesen war, und die geradegeschnittene, feldgraue Kappe mit dem weit vorspringenden Schirm. Das Gesicht darunter wirkte frisch und normal, mit lebhaften Äuglein, roten Backen und einem verwegenen Schnurrbart, ganz als könnte sein Besitzer jetzt gleich in Reih und Glied treten und flott seine Beine werfen.

»Chassez-moi donc cette orgue de Barbarie!« Das hatte der Geschäftsführer gerufen, ein nervöser und unnützer Herr, der zwischen den Tischen umherstand. Aber der Kellner, dem die Weisung galt, war allzu beschäftigt, der Kentaur dröhnte weiter. Carmer kannte sein Stück. Er hatte es sogleich erkannt, mit unverhältnismäßiger Verwunderung, ja mit Freude. Es war das Modestück aus dem Casino in Cannes, dumpf, schwül und traurig, von Pfiffen und Aufschreien zerrissen wie 156 von Blitzen die Nacht. Alles war wieder da: die tobende schwarze Musikbande, die Reichen der Erde, die so sterbensmatt saßen, die afrikanische Kaiserin, die sie alle verlockte und die ihre Würde mit braunen Füßen trat, und sein eigenes bestürzendes Gefühl, das er mühsam bezwang.

Heute hätte er es schwerer bezwungen. Er horchte. Er wartete. Sogleich nun mußte aus dieser Wirrnis, gleich einer Parodie aller Sehnsucht, die süße nachgeahmte Frauenstimme sich erheben, so ärgerlich hier, dennoch so herzversehrend. Aber die kam nicht. Hier war ein Defekt. Die Töne fehlten. Das Werk lief leer. Dann setzte es mit Geheul wieder ein.

»Chassez donc enfin cette orgue de Barbarie!«

Seltsames Wort . . . Carmer kannte es nicht und er deutete es falsch. Ihm war ganz, als werde es hier und heute zum erstenmal und mit Grund gebraucht. Die Barbaren-Orgel! Während sie, nun ernstlich verwiesen, mit Lärmen davonkroch, sah Carmer sich 157 abermals um zwischen den plappernden, gestikulierenden Gästen . . .

Es war so. Sie hatten ein Recht, von Barbaren zu sprechen. Dies waren ja Griechen! Dies volle runde Kinn hier war griechisch, jener Ansatz des Haars, die gerade Linie dort, die ganz ohne Winkel von Stirn und Nase geformt war. Alles erschien wie verschüttet, halbverborgen unter fremdem, angeschwemmtem Element, man hätte die Teile zusammensuchen müssen, wie man sie aus Erdmassen zusammensucht bei einer Ausgrabung – aber es war da.

Und es mußte auch da sein, er wußte es wieder. Diese Stadt hier im Westen, bei der er heute das Meer verließ, Griechen hatten sie gegründet und sie hatte griechisch geblüht um ihre Heiligtümer. Und als Athen sein Parthenon aufrichtete zu Ehren der Pallas: aus diesem Massilia hatte es Bildhauer gerufen, um das Haus der klarsten, der geistigsten Göttin würdig zu schmücken. Da hatte es wohl seine Richtigkeit mit dieser Stirn und jenem gemeißelten kleinen Ohr. Aus den 158 überflutenden Wellen dunkleren Blutes tauchten sie empor wie letzte marmorne Riffe.

Carmer stand auf. Die Sonne mußte schon nahe dem Untergang sein, aber von Abkühlung war nichts zu spüren. Still und schwer stand die Luft über der volkreichen Straße. Er fühlte sich gelähmt, wie gefährdet, unfähig Widerstand zu leisten gegen den fremden und bösartigen Zauber dieser Stadt, die nicht mehr Europa war. Noch lag Zeit vor ihm, einen Spaziergang zu tun und unten am Wasser, gleich dort wo die Masten aufragten, Erfrischung zu suchen vor der Nachtfahrt nach Deutschland.

Da, während er den Kellner bezahlte, hörte Carmer von einer hellen Stimme plötzlich seinen Namen rufen, Vor- und Zunamen, fremdartig entstellt, dennoch deutlich. Es mußte natürlich ein Irrtum sein.

Das Gewühl war jetzt, gegen Abend, noch dichter geworden. Aus ihren Lagerhäusern drängten nach beendetem Tagwerk die Massen der Hafenarbeiter in die Stadt, ein verwegenes Völkergemisch, in Reihen 159 daherschwenkend. Spielend ihrer Macht sich bewußt, brachten sie jedermann zum Ausweichen und hielten auf dem Fahrdamm Autos und Roßkarren an. Die ersten Reklamelichter flammten schon auf, gelb und rot, und fleckten blutig die Straße. Da hörte Carmer von Neuem seinen Namen rufen.

Es waren die Zeitungsjungen. An allen Ecken waren sie postiert, auf patschenden Füßen liefen sie am Rinnstein entlang und riefen ihr Abendblatt aus: ›Das Kabinett in Deutschland gestürzt‹ – und sein Name. Aus Sakkoärmeln und Burnussen griffen Hände nach dem Papier, überall standen und saßen die Männer, weiße und braune Stirnen über die Nachricht geneigt. Sein Name begleitete Carmer, wie er dahinschritt. Er hörte ihn ungläubig, fast mit Widerwillen. War es denn so gewiß, daß er reisen mußte, nur weil alle diese es riefen? Ein Stück weit vor sich sah er plötzlich, als einmal der Strom der Flanierenden sich teilte, platt und eilig wie eine Wanze am Boden den Kentauren dahinstreben, gleichfalls dem Wasser zu.

160 Am Wasser unten rief niemand mehr Carmers Namen. Es war ziemlich still hier. Er wandte sich rechts um das tief eingeschnittene, schmale Becken und schritt an der Langseite weiter. Gerade vor ihm, im Hintergrund, riesig ausgespannt, ein eisernes Spinnennetz, verband das Gesträng einer schwebenden Fähre die Ufer. Dahinter mußte die freie Bucht sich auftun.

Hier aber war keine Erfrischung zu holen. Das Wasser des Alten Hafens lag ölglatt und schmutzig. Nur bescheidene Fahrzeuge ankerten. Segel hingen schlaff. Es roch nicht gut. Keine Welle drang bis hierher.

Dieser Tümpel also war für ihn das letzte Stück mittelländischen Wassers, hier nahm er Abschied von der Flut, die dort unten zwischen Poseidons Wohnhaus und dem Sitz der Sirenen so morgendlich aufgestrahlt und deren schimmernder Weite er all die Tage reisend gefolgt war . . . Da aber wurde sein Blick von einem Glänzen angezogen.

Jenseits des Beckens lagen Schuppen und Lagerhäuser und weiterhin, bleiern entfärbt 161 schon, mit ihren Kaminen die moderne Arbeitsstadt. Doch hoch darüber, auf weißem Felsen, am frühsten wohl von der Sonne gegrüßt, am spätesten verlassen von ihr, strahlte und flammte das goldene Riesenbild von Notre-Dame de la Garde, mit seinen Zügen nicht zu erkennen, kein Heiligenbild hier, aber hineinleuchtend in alle Gassen als ein Blitz und ein Gruß. So war er heute schon einmal gegrüßt worden, von dem Voltairianer, dem Alten, der heimfuhr in sein Europa. Er lächelte, und er wandte sich ab.

Am diesseitigen Ufer, zur Rechten, staffelte sich lichtlos die Altstadt, in der beginnenden Dämmerung anzusehen wie eine ungeheuere, stumme Burg. Carmer wußte nicht, welcherlei Leben diese steinernen Massen in sich verbargen. Es fiel ihm auch nicht auf, wie zahlreich Polizei die Gegend besetzt hielt. Achtlos passierte er, in seinen Gedanken vorwärts schreitend, einen letzten Cordon. Quer über den Damm hinüber standen in Käppi und Pelerine die Bewaffneten, ihre Gesichter dem Bezirk zugekehrt, den Carmer nun betrat. Sie 162 schauten dem Gutgekleideten nach, und zwei von ihnen wechselten einen Blick.

Er war nicht lange vorüber, da sah er hart beim Wasser am Boden den Beinlosen sitzen und Mahlzeit halten. Vor sich auf seiner Barbarenorgel hatte er jetzt die Speisen stehen: kleine Fische, Brot und ein Fläschchen. Und während er aß und trank, hielt seine linke Hand ein Zeitungsblatt; er las beim Essen, als ein einsamer Junggeselle, im Licht einer schon entzündeten Laterne, das auf sein Blatt fiel.

Carmer blieb stehen und holte nach, was er am Nachmittag versäumt hatte. Er legte dem Geschöpf höflich Geld auf seine Maschine. Dabei traf sein Blick die großgedruckte Überschrift der Zeitung, er las seinen Namen. Der Kentaur blickte unter der Infanteriemütze hervor mit seinem frischen Gesicht zu Carmer auf; er kaute fort und dankte nicht. Aber als jener weiterging, ließ er, mit einem Druck auf den Knopf, einige Töne seines dumpfen Liedes hinter ihm herschallen. Es klang wie ein höhnisches Grunzen.

163 Die Häuserreihe drüben brach ab. Ein kleiner Platz war eingeschnitten, leicht dämmerig schon. Eine breitfächerige Pinie stand dort, einige Laubbäume und inmitten ein Brunnen. Es war wie ein Dorfplatz. Eine Brise hob endlich an, die Baumkronen wiegten sich langsam, Kühle verheißend. Carmer überschritt die Uferstraße und begab sich in diese Erquickung. Er ließ sich nieder auf der Bank, neben dem Brunnen, der mit frischem Rauschen sprang. Es war hier ganz still. Er sah niemand. Mattheit umfing ihn. Er schloß seine Augen zu einer halben Träumerei, die er kommen fühlte, und der er sich gern überließ.

Schweigen war um ihn, sanfte Kühle und, auch vor seinen geschlossenen Augen, mildes Abendlicht. Er saß, ein Jüngling wieder, am hochausschauenden Fenster eines alten Raumes, dessen gelehrten Frieden er hinter sich spürte, sein Blick aber ging über einen bepflanzten Hof hinweg, in dessen Mitte ein Brunnen sprang, weit über Wipfel und Terrassen hinaus in die freie Neckarflur. Denn 164 es war nicht sein flaches und karges Norddeutschland, das vor ihm sich dehnte, es war ein Bild aus jungen Tagen, aus Schwaben, und er wußte auch gleich, wo er saß: am Fenster der Bibliothek in der schwäbischen Studienstadt. Ja, dort lief die Allee tief unten, und da blinkte der Fluß, und die sanften Hügel wellten sich weithin, reich begrünt, doch ohne Üppigkeit, rechte Heimat eines mäßigen, frohen und innigen Stammes.

In deinen Tälern wachte das Herz mir auf
Zum Leben, deine Wellen umspielten mich,
Und all der holden Hügel, die dich
Wanderer kennen, ist keiner fremd mir . . .

Es waren diese Verse, die in ihm aufklangen. Doch konnte er es denn sein, der sie sprach, er, der Sohn der strengen Ebene? Oder wurden sie ihm zugesummt von denen, die er hinter sich wußte im kühlen, gotischen Büchersaal, geneigt ein jeder das junge Haupt auf den Studientisch, die Schwabenhäupter mit den sinnenden Augen und der eigenwilligen Stirn? Und nun sah er, mit einem 165 innerlichen befreienden Lachen, daß er nicht allein war. Neben ihm saß Einer am alten Fenster und blickte über das sanftprangende Land hinweg, ein Niegeschauter, lange Vertrauter, lange Vergangener, und ihm kam dieser Gesang zu wie keinem:

Und oh ihr schönen
Inseln Joniens! Wo die Meerluft
Die heißen Ufer kühlt und den Lorbeerwald
Durchsäuselt, wenn die Sonne den Weinstock wärmt,
Ach! wo ein goldner Herbst dem armen
Volk in Gesänge die Seufzer wandelt . . .

Ja, er war es, der Dichter, der wissende Träumer, er, der Griechenland umfaßte in Einem Gefühl und seine Heimataue, und der schwärmend erkannte, was not tat. Ein schlanker Jüngling saß er da, im schwarzen Scholarenrock, über dem freiheitlich der weiße Hemdkragen weit zurückgeschlagen war, das strahlende junge Haupt auf den Arm gestützt, der wieder auf dem jahrhundertalten Simse ruhte. Lichtes Haar über leuchtender Stirn, zart und 166 klar Mund und Wange gezeichnet, das mildscheinende Auge von hoher Braue überkreist, furchtlos der Blick und doch ganz ohne die Härte des Lebens, überreich an Gefühl und unbeirrbar wahrhaftig, tiefer Erkenntnis voll und tieferer Sehnsucht, hold und wissend beredt.

Carmer öffnete seine Augen. Er war nicht allein. Neben ihm auf der Bank saß Einer, ein Stummer. Nicht stumm nur mit der Zunge, auch totenstumm angetan.

Ein dunkles, weites Reisegewand verhüllte ihn vom Kopf bis zum Halse, nichts sah hervor als eine schwarzbraune Hand, die geballt auf dem Schoß lag. Ein indigoblaues Tuch war um das Gesicht gewunden und am Hinterhaupt zu einem dicken Knoten geschlungen, man sah nicht Auge, nicht Mund, nicht Stirn. Aus Wüstenferne kam er wohl her, eine Wüstenreligion nur verbarg mit solchem Gebot das Antlitz ihrer Kinder, um es vorm feinen Sande zu schützen. Ein Tibbu mochte er sein oder Tuareg vom wilden Lande Ahaggar oder aus einer der riesigen Lehmstädte 167 Afrikas, aus Timbuktu vielleicht, der ›Bauchhöhle‹, wo in den finstern Straßen, überragend die fensterlosen Häuser mit den Kamelshälsen, auf ihrem hunderttägigen Marsch die Karawanen einander begegnen. Am Oberarm, der Carmer zugekehrt war, überm Gewand trug der Verhüllte einen Armring aus grünem Stein, geschliffen, breit und hoch, weniger ein Schmuck als zum Parieren der Waffe geschaffen. So saß er da, eine lichtlose Festung.

Er schien zu warten, wie schweigend hier andere warteten – Carmer sah es erst jetzt. Zwei Matrosen gingen langsam miteinander auf und ab, ohne ein Wort zu tauschen. Unter einer Platane, den Rücken an ihren Stamm gelehnt, stand ein schwarzer Heizer oder Speicherarbeiter mit affenhaft hängenden Armen. Er wartete. So wirkte der ganze Platz wie ein Vorraum.

Der Dunkle, mit einem Rauschen seiner Gewänder, stand aufrecht. In kleiner Entfernung machte er Halt und wandte sich um. Carmer wußte, daß er ihn ansah aus seinen 168 blauen Tüchern, und schon folgte er nach. Der Lichte und Wissende, der hold Beredte, er streckte keine selige Hand aus, um ihn zu halten.

Eine breite Gasse öffnete sich. Dem Ufer gleichlaufend mußte sie ins Stadtinnere zurückführen. Es war die Richtung nach der Station, Carmers kürzester Weg. Aber schon ließ er beschämt die Ausflucht fahren. Nein, nicht darum ging er hinter diesem drein, weil ihn der den verständigen Weg wies. Er folgte. Er folgte – und war in der Hölle.

Denn schon bewegten sie sich auf ihn zu aus ihren Höhlen, die zur Linken und Rechten die Gasse säumten. Überall an diesen turmhohen, dunklen Häusern stand das Erdgeschoß offen wie eine Wunde. Es waren nicht Wohnungen, es waren flache, trüb erhellte Verschläge. Eine Pritsche in jedem, eine Pferdedecke darüber, ein zurückgeschlagenes Stück Rupfen als Tür. Da kauerten sie und warteten auf Männer. So gab es also Männer, denen das hier zur Lust diente . . .

Sie waren halbnackt oder schaurig grotesk 169 kostümiert, mit langen bunten Hemden oder mit einem Flitterrock und einem zerfetzten Schal. Ihr Luxus waren durchsichtige Strümpfe. Aber Schuhe schienen fast unbekannt; die Füße mit wollenen Lappen umwickelt schlurften sie durch den Unrat der Gasse. Sie schrieen Preise aus, für die man sich sonst in der Welt ein Brot oder vier Cigaretten kauft. Menschenunwürdiger konnte kein Lebenslos sein. Und dies waren Tausende, man spürte es gleich, dies war nicht ein Winkel, nicht ein schmales Quartier, dies war ein Herd von Grauen und Tod, so gewaltig, daß er sich dem Zugriff entzog, daß jedes Krebsmesser vergeblich schnitt und der Kanker gräßlich nur nachwuchs. Am Eingang stand er einer Höllenstadt, auferbaut aus dem hergetriebenen Schlamm der Welt; der war hier angekrustet seit Jahrhunderten, giftiger und gefährlicher als irgendwo sonst, hier an der offenen Wunde des Erdteils, wo alle dunkle Barbarei einbrach in die Gesittung – und in ihn selbst.

Wahre Scharen umgaben ihn nun, der 170 Gutgekleidete hier war wie der verlockende Bissen, auf den im Bassin die Raubfische zuschießen. Ihre Hände faßten nach ihm, es riß ihm eine den Hut von der Stirn und lief im Triumph damit fort, hoffend, er werde ihr nachsetzen und werde der Räuberin dann erliegen in ihrem Winkel. Er dachte nur flüchtig, wie schaurig arm sie denn sein müsse, daß ihr ein solcher Gegenstand den Diebstahl wert war, und ließ ihn ihr gern. Weiter und weiter! Aber weiter kam er nicht. Alarm war in der Dirnenstraße, die vor ihm Lauernden, Kauernden, hatten am Zustrom gemerkt, daß Beute nahe war, und in Haufen verstellten sie seinen Weg. Zurück denn also! Er wandte sich um. Da sah er sich einer entgegenwogenden Phalanx gegenüber, die lautlos auf Lumpen schlich.

Er blieb stehen und schaute. Etwas Niegedachtes überwältigte ihn. Er blickte in einen kotigen Schmelztiegel aller Rassen. Er erkannte mit Einem Blick die Völkerschaft dieses Hafens, erzeugt in endloser Zeit von hergeschwemmtem Kriegsvolk und unter sich 171 giftig sich neu erzeugend. Hier war jedes Gesicht eine Mischung und Fratze. Von allen hatten sie alles. Ihre Augen zumal waren gestohlen. Da trug eine auf steilem Schädel das moosartige Wollhaar der Schwarzen, aber ihr Gesicht war grünlich bleich, mit langen und weiten Augen und der gebuckelten Nase der Jüdin. Die schräggeschlitzte schmale schwarze Lidspalte der Hochasiatin saß über der Schnauze eines Bantu; aus einem runden Kopf, einer Zwergrasse angehörig, der grauhäutig war, blinkte das hellblaue Auge des Nordens, ein einziges nur, das andere war von Krankheit oder einem Fausthieb geschlossen. Es waren Dutzende, viele Dutzende. Sie schrien ihm zu in entstellten Sprachen, sie bliesen ihm ihren Todesatem ins Gesicht, sie versperrten ihm mit dichtem Knäuel die Rückkehr zu jenem Platz mit den Platanen und dem Brunnen. Er blickte dorthin. Er konnte entkommen. Aber er ging nicht zurück.

Der Vermummte, dem er gefolgt war, war lange verschwunden. Carmer schritt aus, ohne 172 Führer. In Haufen eilten sie neben ihm her, ohne Geräusch, wie ein Zug von Schatten aus einer Unterwelt. Manche blieben schon kraftlos zurück, hundert Schritte ermüdeten sie, die nie ihre Höhle verließen. Eine, noch eine verschwand, vom Wink eines Käufers bedeutet. Ein Rupfenvorhang fiel.

Die Männer, die durch diese Straße strichen, waren Soldaten. Jenes Blutrot leuchtete überall aus dem bleiernen Dämmer. Man sah Keinen im bürgerlichen Rock, kaum eine Arbeitsbluse. Wer nicht uniformiert war, trug einen Rest, zeigte einen Fetzen von Uniform. Dies waren die Männer, die hier bei den Schmutzblütigen wohnten, sie lebten von ihnen, sie schützten sie auch, hier sanken sie unter und mischten sich bei und wurden zu Vätern. In allen Winkeln lungerten sie: Davongelaufene, Ausgemusterte, Flüchtige vor irgend einem Kriegsrecht, eine Feldmütze auf dem Schädel, im blauen Rock, im roten Mantel, in Wickelgamaschen, Abfall des Krieges allesamt, Splitter allesamt von der furchtbaren Waffe, mit der Europa Selbstmord beging.

173 Eine Gasse mündete ein, zur Linken, er schlug sich dorthin und sah, daß nun nicht Eine mehr folgte. Diese Gespenster schienen an ihren Ort gebunden. Oder gab es hier ein Gesetz des Waldes, das dem einen Tier den Weidweg des andern verbot? Unverständliches Keifen gellte ihm nach.

Die neue Gasse war enger und krumm, ein steil aufwärts führender Schlauch, der am Berg hin sich bog. Höhle lag an Höhle, viele mit offenem Vorhang, so daß man Gekaufte und Käufer in der Paarung beisammen sah. Schankstuben dazwischen, wo Legionäre und Farbige in der Erschlaffung des Trinkers auf ihren Stühlen den Leib hängen ließen. Drohende und verächtliche Blicke folgten dem aufwärts Eilenden. Greisinnen in grauen Säcken watschelten hinter ihm drein und priesen mit gaumigen Lauten ihre Ware oder auch sich. Da aber taten sich, wieder zur Linken, die Häuser auseinander, ein Ausweg öffnete sich, dunkel und still.

Aufatmend machte er Halt. Langsam wich die Betäubung. Ja, hier schien der 174 Höllenspuk zu enden. Nun fort hier, aufwärts am Berg, in saubere Luft!

Doch schon sah er, daß dies keine Straße war. Dies war ein tiefer Einschnitt im steinernen Block, ein Sack, ein langgestreckter finsterer Hof eigentlich. Dort ragte die Mauer auf. Vor Carmer stand eine Frau. Ein breiter, roter Lichtstreif, der aus ihrer eben geöffneten Tür fiel, beleuchtete sie.

Sie schaute ihm entgegen. Als sie erkannte, daß er umkehren wollte, streifte sie mit einer ruhigen Bewegung ihr weites Hemd nach unten und zeigte ihre Brüste, die schön waren.

»Komm,« sagte sie mit hohem, gläsernem Ton und in einem Französisch, das eingelernt klang, »komm! Jung. Schön. Nicht viel Geld geben!«

Und als der Fremde nicht näherkam, fügte sie dringlich hinzu: »Madagaskar. Vater ein König. Hova! Hova!« Dies Wort wiederholte sie mehrmals, so als bedeute es etwas Besonderes, einen hohen Wert. War es ihr Volk, ihre Kaste?

175 Carmer mußte sie ansehn. Alles Dunkle und Fremde, seinem Willen Feindliche – da stand es als schöne Verlockung. Oh, diese glich nicht den lemurischen Schatten. Wohl möglich, daß sie würdig geboren und daß die glückliche Insel ihre Heimat war, fruchtreich, mit prangenden Wäldern, von Afrika abgetrennt durch reißende Strömung, dem fernem Arabien und Indien genähert durch sanftere Wasser.

Ihr gemischtes Blut machte diese schön. Es war wenig vom Neger an ihr und viel vom Malayen. Hochgewachsen stand sie da, hellbronzen von Farbe, das ungekrauste Haar einfach geordnet, die tiefdunklen Augen unwissend blickend, und jung, ganz jung, fünfzehnjährig vielleicht – unmenschlicher Weise hierher verschlagen.

»Hova! Hova!« sagte sie wieder und deutete auf ihre Halskette, die über den nackten Brüsten hing und anderer Herkunft war als das schamlos billige Kattunzeug ihres Hemdes. Sie war kunstvoll gearbeitet, viereckige Glieder aus hellem durchsichtigem Horn 176 hingen auf eine Art ineinander, die kultisch wirkte. Blickte man dies Schmuckstück recht an, so sah man die Bronzene vorm binsengedeckten Haus betend auf ihrer Matte liegen.

Carmer schüttelte lächelnd den Kopf und wandte halb seinen Schritt – unfähig, zu fliehen. Eine sinnliche Süße flutete auf in ihm, ein Verlangen nach diesem jungen braunen Weibe, betäubend. Der Gefahr dieses schweren Tages, nun erlag er ihr, und wollte erliegen.

Da stand, ihm den Weg versperrend, lautlos aus den Häusern hervorgewachsen, ein Neger, ein langes mooshaariges fletschendes Geschöpf. Er war so lang, daß er Carmer überragte, obgleich er tiefer stand auf dem abschüssigen Hof. Er trug den Monteuranzug und die Würfelmütze der Hafenarbeiter, aber sein Gesicht war nach der wilden Art seines Volkes gezeichnet: auf jeder seiner Wangen waren ihm schmale Hautstreifen herausgeschnitten, und drei tiefe Rinnen, blutrot im Schwarzen, liefen parallel von der Schläfe 177 zum Kinn. Seine rechte Hand, hinterm Rücken verborgen, schien bewaffnet, die Linke deutete in überzeugender Weise nach der Brust, an die Stelle, wo er bei dem Fremden die Brieftasche vermutete.

»Dein Geld!« sagte er englisch.

»Fort mit dir,« antwortete Carmer, viel mehr verwundert über das Abenteuer als wütend. »Pack dich!«

Mißtrauend suchte er Deckung. Nun also würde die Junge und Schöne, so war es bestimmt, sich auf ihn werfen, seinen Hals umklammern von rückwärts und ihn zur Beute machen. Aber sie stand unbeweglich, mit stillem Gesicht, ein unschuldiges Rätsel, unmäßig verlockend. Die Hand des Gezeichneten fuhr nach vorn, er hob das Messer, mit einem Grinsen.

Es war ein schönes Messer, Carmer hatte Zeit, es zu sehen. Die Klinge in Flammengestalt, sehr spitz, zweischneidig und breit, mit einer stark erhöhten Schiene, von der das Blut bequem ablaufen konnte. Kein langweiliges Fabrikat aus Solingen oder aus Sheffield, 178 sondern ein autochthoner Gegenstand vom Niger oder Ubangi, Prunkstück für ein Museum.

Der Riesige näherte sich. Die bräunliche Schleimhaut seiner Augen glänzte, Carmer spürte seinen ranzigen Geruch. Das Unglaubhafte, wüst Verzauberte der Situation wollte ihn lähmen. Er überwand das. Und plötzlich, ganz unvermutet, mit Sachkunde, schlug er dem Bedroher die Faust unters Kinn, daß der wie ein Brettergerüst zusammenstürzte. Er fiel gegen die Hauswand, mit dem Rücken zu ihr saß er seltsam am Boden, eingeknickt, Kopf und Oberleib pendelnd nach vorn.

Carmer fühlte sich sanft von rückwärts berührt. Er wandte sich um. Sie war da. Sie bot sich ihm hin, anders als zuvor. Sie blickte ihn wohlig von unten an, mit wohlig leicht geöffnetem Mund. Ein Duft stieg auf von ihr wie von Mandel oder seltenen Hölzern, bitter und zart. Ihre starre, starke Brust drängte ihm zu. Da schlug er die Arme um sie und beugte sich nieder und suchte den 179 dunklen Mund und verging. Und in diesem Kusse starb Carmer.

Sein Mörder war leise hervorgekommen. Er stolperte fast über die Beine des Geschlagenen, hielt sich noch und raffte das Messer auf, das jenem entfallen war.

Er trat hinter die umschlungen Dastehenden und maß Carmers Rücken.

Er zielte mit feigem Bedacht und stieß ihm mit voller Gewalt die Flammenklinge unter das linke Schulterblatt.

Der Getroffene bäumte sich auf aus dem Kuß, hob weit seine Arme, kreiste schwankend um sich und fiel nieder auf das Pflaster, den Kopf zuhöchst.

Der Afrikaner dort lag in Betäubung. Die Schöne war fort, mit einem Schimpfwort und Stoß in ihren Winkel gescheucht. Der Mörder stand allein. Er stand zu Carmers Häupten, seinen letzten Atem erwartend, um ihn auszurauben und seinen Leichnam zu verbergen.

Er war ein Weißer, ein junger Mensch mit einem breiten hellen Gesicht, mit 180 stumpfblauen Augen und stumpfblondem Haar, das hervorquoll unter der Kokarde einer schirmlosen Soldatenmütze. Von dem einen Heer war diese Kokarde genommen, vom andern die blaue Zuavenjacke, vom dritten der Gurt. Er hielt das Urwaldmesser in seiner Hand, das er beim Stoß der Wunde entrissen hatte. Aber er selbst war nur ein Splitter der furchtbaren Waffe, mit der Europa seinen Selbstmord beging.

Carmer sah den Menschen nicht mehr. Er hatte keine Schmerzen, nur ein Gefühl des Verströmens, Versiegens. Und Glanz vor den Augen, als er dahinging.

Denn durch Gassenschluchten und Steingewirr flammte, von ihrer gewaltigen Höhe auf weißem Fels, Notre-Dame de la Garde in das Dunkel der Mordstadt, getroffen vom letzten Strahl dieses Tags, kein Bild einer Heiligen hier, nicht erkennbar: ein Gruß nur, ein Abschiedswink, ein blitzender Silbergriff, die Verheißung.

 


 


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