Anatole France
Der dürre Kater
Anatole France

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Die Zeit verstrich. Herr Godet-Laterrasse kam hin und wieder zu seinem Schüler und erteilte ihm Unterricht. Der ›Dürre Kater‹ erfüllte die Seele des jungen Sainte-Lucie nicht ganz; er verweilte auch gerne in seinem Zimmer und knabberte exotische Leckerbissen, die er bei einem Kreolen der Rue Tronchet kaufte. Seitdem die Witterung mild geworden war, öffnete Remi jeden Morgen sein Fenster und blickte auf die Straße hinab. Er fand Gefallen daran, die Pferde vorbeitrotten zu sehen, die von oben einen schmalen Hals, einen langen Körper und eine breite Kruppe hatten. Von den Frauen, die dort unten an der Hoteltür vorbeigingen, erblickte er nur den Kopf des Hutes oder das Haar, und die aufgeblähten Rockfalten, manchmal auch ein Stück Bauch unter dem Kinn. Er beobachtete das graziöse Wiegen oder das komische Schlenkern all dieser Kreaturen, die dort unten ihren leichten oder mühseligen Weg gingen. Das vorbeiflutende Leben amüsierte ihn und keine Überlegung störte ihn bei der Betrachtung dieses Schauspiels. Denn noch keimte kein einziger tiefer Gedanke unter seinem dichten Haarschopf.

Am meisten interessierte ihn das Haus, das ihm gegenüber seine neue, in jedem Stockwerk von fünf Fenstern durchbrochene Steinfassade ausbreitete. Durch die geöffneten Fenster erblickte er ein Stück Tapete, das Getäfel eines Speisezimmers, das Eck eines Goldrahmens und die Kante eines Möbels. Durch die Entfernung verkleinert, denn die Straße war breit, nahm alles für ihn die Größe und Anmut eines Spielzeugs an. Die Personen, die sich in diesen Schachteln bewegten, erschienen ihm wie wunderbare feine Püppchen. Irgendein verstörter Kopf, der plötzlich aus einer Dachluke hervorschoß und den kahlen Schädel oder die blinzelnden Augen der Sonne zuwandte, genügte, um den Kreolen in eine langdauernde Heiterkeit zu versehen und ihm ein Dutzend Entwürfe einzugeben, die er gleich wieder vernichtete.

Nach einigen Tagen kannte er die ganze kleine Welt, die wenige Meter von seinem Fenster entfernt, sich in dem großen steinernen Bienenhaus abspielte. Auf dem Balkon des fünften Stockwerks säte ein pensionierter Hauptmann (es konnte nur ein Hauptmann sein) Samen in einen Kasten. In den mittleren Stockwerken breitete die Dienerschaft Teppichfelle auf den Fensterbrüstungen aus.

Manchmal sah Remi einen Besen an den Möbeln vorbeistreifen, die längs dem weißen Getäfel unter ihren Überzügen schliefen. Im Erdgeschoß stand der Kommis einer Agentur vor einem hohen Pult und schrieb unermüdlich.

Aber Remis Blicke schweiften mit Vorliebe in die Zimmer des vierten Stockwerks. Dort sah er nie etwas Seltsames oder Geheimnisvolles; nichts Lüsternes, das einen jungen Menschen erröten machen konnte. Die Fenster des vierten Stockwerks waren nur bemerkenswert durch einen Vogelkäfig und einen ganz kleinen Blumentopf. Die Wohnung, die diese Fenster erhellten, hatte eine ältere Dame inne. Sie war tätig, aber langsam und sehr ruhig. In jedem Fenster erschien ihr stilles Gesicht, einst von schönen Haaren umrahmt; jetzt aber war ihr Scheitel schon gelichtet. Ihre Tochter, ein Kind noch mit kurzen Röcken, hatte das schöne Haar ihrer Mutter, nur war ihr Blond heller und strahlender, üppiger und reicher und in der Mitte durch eine feine Linie in zwei Hälften geteilt. Sie bewegte sich wie ein Knabe und wußte mit ihren Armen und Beinen nichts anzufangen.

Ohne es zu merken, drang Remi in das intime Leben dieser beiden Frauen ein und interessierte sich für die gleichförmigen Arbeiten ihres Daseins. Er kannte die Stunden der Mahlzeiten und des Unterrichts; er wußte, wann es Zeit zum Spaziergang war und wann der Käfig hereingeholt werden mußte; er kannte die Tage, an denen man Bücher und Hefte zusammenpackte, um in das Institut zu gehen.

Er wußte, daß die Damen jeden Sonntag um elf Uhr mit einem Gebetbuch in der Hand das Haus verließen. An allen anderen Tagen setzte sich das Mädchen um zehn Uhr in dem vergoldeten Salon an das Klavier, dessen Messinggriff dicht am Fenster blinkte. Remi sah zwei kleine rote Hände, zwei Kinderhände, eiligst über die Tasten laufen und Tonleitern spielen, die er aber nicht hören konnte. Man blieb nicht lange auf dem Hocker vor dem Instrument. Man ging ans Fenster; wenn es geschlossen war, hob man den weißen Vorhang, sah mit leiser Kühnheit auf die Straße hinab und preßte eine kleine Nase gegen die Fensterscheibe, so daß die Nasenspitze ganz weiß wurde; dann verschwand man, wie man erschienen war, ohne ersichtlichen Grund, wie ein Vogel, der davonfliegt. Beide, Mutter und Tochter, hatten Kinderaugen, klare, weit geöffnete, traumlose Augen, die zu sagen schienen: nichts hat unseren zärtlichen Frieden gestört, und nichts wird ihn stören. Die Mutter war zweifellos schon lange verwitwet; man merkte ihr das vollkommene seelische Gleichgewicht an. Ihre weichen Gesten, die nichts Liebkosendes hatten, und ihre unbeirrbare Wachsamkeit verrieten die Güte der wohlversorgten, gutgenährten Frau.

Das Fräulein aber war ungestüm. Nahm sie sich doch eines Tages heraus, das Fenster zu öffnen, sich über den Balkon zu beugen und zwei ihrer Gefährtinnen zuzuwinken, die unten vorbeigingen. Sie schien gar nicht beschämt, als die Mutter sie ins Zimmer rief und – so verstand es Remi – die beiden Kolleginnen vom Konfirmationsunterricht oder vom Institut durch das Dienstmädchen heraufbitten ließ. Sie hatten gewiß sehr lustige Sachen zu berichten, denn alle drei brachen wiederholt in ein herzliches Gelächter aus. Und ihr Lachen klang über die breite Straße, wie das kaum hörbare Rauschen von Perlen, die man durch die Hände gleiten läßt.

*

Jeden Morgen ging Remi am Luxembourggarten vorbei, sah durch das Gitter im leisen Nebel die welligen Rasenflächen und die exotischen Baumgruppen. Er ging bis zur Rue Carnot und betrat das Atelier. Man legte für ihn den Schlüssel unter die Strohmatte.

Labannes Atelier war mit Büchern ganz angefüllt, man hätte es für das Lager eines Büchertrödlers halten können. Die Bücher stapelten sich immer höher rings um die unvollendeten Entwürfe unter ihren eingetrockneten Hüllen. Der Boden war mit aufgetürmten Bänden vollständig bedeckt. Man trat auf Schaflederdeckel. Ringsumher lagerten Kalblederrücken, mit Bünden oder Stempeln, man sah rote oder marmorierte Schnitte, gelbe, blaue, rote, zur Hälfte herabgerissene Bucheinbände. Die abgestoßenen Ecken der Folianten klafften, und die Pappe zerblätterte zwischen dem verschrumpften Leder. Ein uralter Staub legte sich allmählich immer dichter über diesen Wust von Literatur und Wissenschaft.

Die Wände waren einst mit Kalk geweißt gewesen. Ihre obere Partie war kahl, in Manneshöhe jedoch war ein halb griechischer, halb französischer Text mit Kohle hingekritzelt: der Kommentar zum »Phaedon«, eine Inspiration des Moralisten Branchut, die dieser nach einer schlaflosen Nacht hier verewigt hatte.

Die Tür war ebenfalls von verschiedenen Händen mit Inschriften aller Art bedeckt.

Die oberste mit einem Taschenmesser eingeritzt, prangte in großen Lettern und lautete:

Die Frau ist bitterer als der Tod.

Die zweite, mit schwarzer Zeichenkreide und in Rundschrift hieß:

Die Akademiker sind Spießer. Cabanel ist ein Kitschkopf.

Die dritte, mit gewöhnlichem Bleistift und in Kursivschrift:

Frauenschönheit gerühmt, die in antiker Weise
Singt geheiligtem Hymnus plastischer Schönheit zum Preise.

Paul Dion.

Die vierte, von ungeübter Hand mit Kreide niedergeschrieben:

Habe die Wäsche gebracht. Montag hole ich die schmutzige beim Hausmeister ab.

Die fünfte, von Labanne mit Zeichenkohle hingeworfen:

Athen! Du ewig erhabene Stadt, hättest du nicht geblüht,
Die Welt wüßte noch heute nicht, was Schönheit ist.

Die Sechste war mit einer Haarnadel hingekritzelt, die den Lack kaum geritzt hatte. Sie lautete:

Labanne ist ein Knicker. Er kann mich gern haben.

Maria.

Und noch andere Inschriften gab es auf dieser Tür.

In einer Ecke, neben dem Ofen, war eine Pferdedecke über Büchern und Zeitungen ausgebreitet. Diese Zeitungen, diese Bücher und diese Decke bildeten das Bett des Moralisten Branchut.

Eines Tages saß Branchut auf seiner Pferdedecke und dachte an Demosthenes, an die deutschen Professoren und an die Prinzessin Feodora.

Remi, beschäftigt einen Wasserkrug abzuzeichnen, streckte vor übergroßer Aufmerksamkeit die Zunge heraus. Er wollte zeigen, daß er es nicht böse meinte und fragte den Philosophen, ob er nicht ein paar Krumen altbackenes Brot in seinen Taschen hätte. Und er nannte ihn aus Versehen »Herr Branchut mit dem Tic«.

Branchut, reizbar durch seine Kümmernisse, sah ihn stier an und seine Augen quollen hervor. Ein fürchterliches Zucken lief seine Nase lang. Er eilte wütend hinaus. Er traf den Dichter Dion in der Schenke und Labanne entdeckte er auf den Quais vor einem Bücherstand.

Die beiden nahmen sich seiner Sache an. Der Dichter verlangte Blut; aber Labanne der Skeptiker zeigte sich milde und führte eine Art Versöhnung herbei. Außerdem war Remi nicht rachsüchtig. Der Moralist und der Kreole lebten hier ein bis zwei Monate friedlich nebeneinander. Aber Branchut, dessen Bestimmung es war, durch das Weib zu leiden, ließ es sich zu seinem Unglück einfallen, die Wirtin des ›Dürren Kater‹ mit zärtlichen Augen anzusehen. Nun hatte aber das Gesicht des Moralisten, sobald es Zärtlichkeit ausdrückte, unbedingte Ähnlichkeit mit dem Gesicht eines Epileptikers. Und Virginia, die von ihm mit blutunterlaufenen, aus den Höhlen springenden Augen angestarrt wurde, war entsetzt und äußerte ihr Entsetzen in allzu auffallender Weise. Sie versäumte keine Gelegenheit, dem Philosophen zu zeigen, welch tugendhaften Widerwillen er ihr einflößte, und da sie gleichzeitig ihrem Remi Blicke voll heißen Verlangens zuwarf, wurde Branchut von allen Stacheln der Eifersucht gepeinigt. Er litt, er wurde böse.

Zuerst fing er mit dem sanften Labanne an, der zweifach im Unrecht war, einmal lebte er von einer kleinen Rente und dann erwies er dem Philosophen Gefälligkeiten. Jeden Morgen gab Branchut ihm feierlich den Atelierschlüssel zurück, den der Bildhauer mit größter Ruhe jeden Tag wieder unter die Strohmatte legte, wo Branchut ihn jeden Abend wieder hervorholte. Während der Monate Juli und August wurde Branchut bitter und skeptisch. Eine Wandlung vollzog sich in ihm. Er erstarkte. Er verachtete die Frau, weil sie – so sagte er – ein untergeordnetes Wesen ist. Er tat so, als sähe er Virginia überhaupt nicht, wenn er gebieterisch bei ihr sein Bier bestellte, das Labanne bezahlte.

Er stellte transzendentale Theorien über die Kunst auf.

»Ich habe mir kürzlich im Museum eine Mammutfigur angesehen«, sagte er, »die mit einem spitzen Kiesel auf eine fossile Elfenbeinplatte eingeritzt ist. Diese Figur stammt aus einer prähistorischen Epoche, sie ist älter als die ältesten Zivilisationen. Es ist das Werk eines blöden Wilden. Aber sie offenbart ein künstlerisches Gefühl, das die schönsten Schöpfungen des Michel Angelo weit übertrifft. Die Darstellung ist zugleich wahr und ideal. Unsere besten modernen Künstler hingegen opfern entweder die Wahrheit dem Ideal, oder das Ideal der Wahrheit.«

Während er so sprach, sah er Labanne mit wilden Augen an. Aber Labanne war einverstanden. Er billigte den Gedanken seines Freundes, des Philosophen, und spann ihn weiter aus:

»Die Kunst«, sagte er, »verfällt in dem Maße, wie der Gedanke sich entwickelt. In Griechenland gab es zur Zeit des Aristoteles keine Bildhauer mehr. Die Künstler sind inferiore Wesen. Sie gleichen den schwangeren Frauen: sie gebären, ohne sich über den Vorgang Rechenschaft abzulegen. Praxiteles machte seine Venus, wie die Mutter der Aspasia die Aspasia machte, ganz natürlich, ganz unbewußt. Die Bildhauer von Athen und Rom haben den Herrn Pfarrer Winckelmann nicht gelesen. Sie wußten nichts von Ästhetik, aber sie schufen den Theseus des Parthenon und den Augustus des Louvre. Ein geistvoller Mensch bringt nichts Schönes und nichts Großes zuwege.«

Branchut erwiderte scharf: »Wozu sind Sie dann Bildhauer, da Sie doch ein geistvoller Mensch zu sein glauben? Ich habe freilich noch nie etwas von Ihnen gesehen, das auch nur im geringsten einer Statue, einer Büste oder einem Basrelief ähnlich gewesen wäre. Sie können nicht einmal ein Modell oder eine Skizze vorzeigen, und seit nahezu fünf Jahren haben Sie kein Bossierholz angerührt. Wenn Sie Ihr Atelier einzig und allein deshalb beibehalten, um mir darin ein Asyl zu gewähren, so bin ich es Ihnen und mir selbst schuldig, Sie aufmerksam zu machen, daß es mir nicht schwer fallen wird, anderswo eine Lagerstatt zu finden. Ich habe Ihnen, soviel ich weiß, nicht das Recht gegeben, mich mit Ihren Wohltaten zu überschütten.«

Aber trotz seiner Seelengröße fiel es dem Philosophen schwer, lange auf diesen Höhen zu bleiben. Er wurde wieder schwach. Er vergaß den Mammut des Museums und sah nur noch Virginia. Er verfiel in eine stumpfe Niedergeschlagenheit. Aber sein Leben hatte doch eine lichte Stunde.

Eines Morgens begegnete er Virginia, die aus der Markthalle heimkehrte, an jedem Arm einen Korb, schwitzend, keuchend, hustend, nach Luft ringend, denn sie war etwas asthmatisch; halb freiwillig, halb gezwungen folgte er ihr und es wurde ihm gestattet, den Fleischkorb zu tragen. Er war entzückt. Diese Freude verdarb ihn. Er fing an zu hoffen – er wagte alles.

Eines Abends schlich er in die Küche, wo Virginia das Geschirr spülte. Er schlang seinen Arm um ihre Hüfte. Sie ließ einen Teller fallen und begann entsetzlich zu brüllen. Nein, die Prinzessin Feodora hatte nicht so laut geschrien.

Es gab einen Skandal.

Der Dichter Dion war glücklich. Merciers Augen funkelten unter seiner Brille. Labanne zuckte die Achseln. Remi ärgerte sich ein wenig, freute sich dann aber in seinem Innersten, als sein Racheplan gefaßt war. Es war die Rache eines Schuljungen, eines Wilden; vor Genugtuung leckte er sich schon im voraus die Lippen. Er ließ sie in seinem trägen Feinschmeckerherzen ruhen wie eine gute Hausfrau Ihre Konfitüren in einem Schrein verwahrt.

Der Dichter Dion sprach wieder von der Gründung einer Revue. Im vergangenen Jahr war der Versuch mißglückt, denn die dreihundert Francs der Großmutter wurden für notwendige häusliche Ausgaben aufgebraucht. Aber Dion hatte neuerdings wieder dreihundert Francs erhalten.

»Man muß einen Titel finden«, sagte er.

Sie trennten sich nach Verlauf von zwei Stunden, nachdem sie eine Unzahl von sinnlosen oder bekannten Worten vorgeschlagen hatten.

Tags darauf begrüßte der Dichter Dion die Gesellschaft des Dürren Katers mit dem antiken Ruf: »Ich habe es gefunden: ›Die Idee! . . . ‹ ›Die Idee‹, eine neue Revue!«

Und mit den Fingern ein imaginäres Blatt festhaltend, den Kopf seitlich geneigt, die apollonischen Haare zurückgeworfen, das Gesicht von einem Lächeln erhellt, las er innerlich in großgedruckten Lettern: ›Die Idee‹, eine neue Revue. Leiter Paul Dion.

»Welche Idee?« fragte der skeptische Labanne seinen gelben Bart streichelnd.

»Die Idee der niederen Mathematik, – was denn sonst!« erwiderte Mercier.

»Die Idee der Überlegenheit der Poesie und des Ideals über die Prosa und die Realität«, antwortete Dion.

Und der Moralist Branchut, der seine zuckende Nase kratzte, warf mit gelinder Schärfe ein: »Vielleicht auch eine Idee der neuen Moral, deren Theorie ich aufzustellen gedenke, das heißt, natürlich nur, wenn ich Ihnen damit einen Gefallen erweise.«

Labanne erlaubte sich die Bemerkung, daß man die Revue nicht ›Die Idee‹, sondern ›Die Ideen‹ nennen müßte, da doch jeder seine eigene Idee hätte.

Gleichwohl wurde an dem ersten Titel festgehalten, und der Dichter Dion stellte auf einem Blatt Briefpapier und mit der Feder, die sonst der Wirtin zur Niederschrift ihrer Rechnungen diente, den Inhalt der ersten Nummer zusammen:

  1. Ein Geleitwort. Von Paul Dion.
  2. Ein unbestimmter Artikel über die Philosophie. Von Claude Branchut.
  3. Ein noch viel unbestimmterer Artikel über die schönen Künste. Von Emil Labanne.
  4. »Die Geliebte, an der man stirbt« Gedicht von Paul Dion.
  5. Etwas sehr Vages über die Wissenschaft. Von Wilhelm Mercier.

Theater- und Buchkritik übernahm der Leiter selbst.

Nachdem der Text festgesetzt war, machte Dion in irgendeiner schlecht gepflasterten Straße des Quartier Saint-André-des-Arts einen Buchdrucker ausfindig, der sich in äußerst bedrängter Lage befand und mit stumpfer Gleichgültigkeit es unternahm, die Revue zu drucken.

Dieser Drucker war ein unansehnlicher kleiner Mann, kahl und bleich; sein abgezehrtes Aussehen erinnerte unwillkürlich an eine Kerze, die im Zugwind dahinschwindet. Mit seinem Geschäft war es schlecht bestellt. Es war also ein verzweifelter Buchdrucker, aber doch immerhin ein Buchdrucker. Er druckte. Er schickte Korrekturen, die Dion auf den fettigen Tischen des Cafés herumzog. Aber man mußte zugeben, daß es an Stoff mangelte, obgleich dem Chefredakteur der ›Idee‹ etliche Gedichte aus verschiedenen Gegenden Europas zugegangen waren.

Die Nummer versprach dünn zu werden, zumal Branchut die Seiten seines philosophischen Artikels, sobald er sie niedergeschrieben hatte, unter den Torbögen wieder verlor, und da Labanne unbedingt fünfzehnhundert Bände lesen mußte, ehe er die ersten Zeilen seines kunstgeschichtlichen Artikels niederschreiben konnte. Dafür aber war der Artikel von Mercier tatsächlich vorhanden, nur hätte der Autor, der in seiner Schrift, in seinem Stil und in seinen Einfällen, ebenso knapp war, wie in seinen Kleidern, diesen Artikel mühelos auf den zwei Gläsern seiner Brille unterbringen können. Hingegen war »Die Liebe, an der man stirbt« schon bis zur vierten Korrektur gediehen.

In diesem Stadium schlug Sainte-Lucie, der Redaktionssekretär, dem Dichter Dion vor, ihn mit Herrn Godet-Laterrasse bekanntzumachen, der nicht verfehlen würde, einen Artikel zu liefern.

Es war eine denkwürdige Nacht, als Herr Godet-Laterrasse vom Omnibus herabkletterte und die Gaststätte der holden Virginia betrat.

Er drehte den Türknopf mit der Hand eines Mannes, der sich erwartet weiß; und während ein schmeichelhaftes Gemurmel seinen Eintritt begrüßte, durchquerte er das Lokal mit afrikanischer Majestät, die durch kreolische Geschmeidigkeit ein wenig gemildert wurde.

Als der Dichter Dion ihn mit »verehrter Meister« anredete, entblößte er wie ein lächelndes Götzenbild seine ganzen Zähne. Aber plötzlich nahm sein Gesicht den Ausdruck verbitterten Stolzes an. Er hatte gesehen, daß Labanne einen gleichgültigen Blick durch den dichten Qualm seiner Pfeife sandte. Er wußte, daß Labanne eines Tages ihn in einer erhabenen Pose hatte darstellen wollen, mit einem Zifferblatt auf dem Bauch. Seit jener Zeit sah er in Labanne einen völlig verdorbenen Skeptiker. Von diesem Gedanken erfüllt, wandte er sein horizontales Antlitz den Herrn Dion und Mercier zu und sagte zu ihnen: »Hütet euch vor dem Skeptizismus, ihr jungen Leute. Er ist ein giftiger Hauch, der die Seele in ihrer Blüte verdorren läßt.«

Er versprach der Revue ein Kapitel seines unveröffentlichten großen Werkes über die Regeneration der Menschheit durch die schwarze Rasse.

Hierauf entwickelte er seine Idee.

Die schwarze Rasse war noch nicht von der christlichen Lepra angefressen, die seit achtzehn Jahrhunderten alle Völker der weißen Rassen verheert. Er erzählte, daß er im Alter von elf Jahren, als er einsam am Meeresstrand spazieren ging, angesichts der Unendlichkeit sich gesagt hatte: »Die Pfarrer mögen sagen was sie wollen; ich werde niemals glauben, daß das Christentum irgend etwas für die Abschaffung der Sklaverei getan hat.«

Als er die Kneipe verließ, wurde er von allen begleitet. Der von Sainte-Lucie signalisierte Omnibus näherte sich. Nachdem Herr Godet-Laterrasse allen die Hände geschüttelt hatte, faßte er seinen Schüler kameradschaftlich unter den Arm und nahm ihn beiseite.

»Ich habe mein Portemonnaie vergessen«, sagte er zu ihm. »Welche Zerstreutheit! Leihen Sie mir ein paar Sous.« Mit großer Geschicklichkeit nahm er die ihm gereichte Münze in einem Händedruck, kletterte auf das Verdeck und rief: »Nur Mut, Remi! Büffeln Sie den Tacitus.«


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