Anatole France
Nützliche und erbauliche Meinungen des Herrn Abbé Jérôme Coignard
Anatole France

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Der Mississippiskandal

Wie bekannt, kam die Mississippi-Affäre im Jahre 1722 vor das Pariser Parlamentsgericht. Außer den Direktoren der Mississippi-Gesellschaft waren in diesen Korruptions-Skandal ein Staatsminister und Sekretär des Königs sowie mehrere Unterintendanten in der Provinz verwickelt. Die Gesellschaft war angeklagt, königliche Beamte bestochen zu haben, und diese hatten sie in der Tat mit jener Habgier ausgewuchert, die den Beamten unter schwachen Regierungen eigen ist. Waren zu jener Zeit doch alle Federn der französischen Regierung entweder entspannt oder falsch. Bei einem der Verhöre dieses denkwürdigen Prozesses wurde Madame de la Morangère, die Gattin eines der Direktoren der Gesellschaft, im großen Sitzungssaale vernommen. Sie sagte aus, daß ein Herr Lescot, Sekretär des obersten Strafrichters, sie heimlich ins Châtelet vorgeladen und ihr klargemacht hätte, daß es nur von ihr abhinge, ihren Gatten, der ein schöner, ansehnlicher Mann war, zu retten. Ungefähr folgendes waren seine Worte:

»Madame, was die wahren Freunde des Königs bei dieser Sache verdrießt, ist der Umstand, daß die JansenistenDie Anhänger des niederländischen Theologen Cornelius Jansen (1585–1638), die sog. Jansenisten, waren sittenstrenge, religiöse Denker und Feinde der Jesuiten. Sie wurden von Ludwig XIV. unterdrückt, vom Papste geächtet, und ihr Hauptsitz in Frankreich, Port Royal, wohin sich auch der gelehrte Pascal zurückgezogen hatte, ward aufgehoben und zerstört, weshalb viele nach den Niederlanden auswanderten. – Der Übersetzer nicht darin verwickelt sind. Die Jansenisten sind die Feinde der Krone wie der Religion. Geben Sie uns die Möglichkeit, Madame, einen von ihnen zu verderben, und wir werden diesen dem Staate geleisteten Dienst belohnen, indem wir Ihnen Ihren Gatten mit all seinem Vermögen wiedergeben.«

Als Madame de la Morangère diese nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Aussage gemacht hatte, sah sich der Gerichtspräsident genötigt, Herrn Lescot in den großen Sitzungssaal vorzuladen. Er versuchte zuerst zu leugnen. Doch Madame de la Morangère hatte schöne helle Augen, deren Blick er nicht zu ertragen vermochte. Er wurde verwirrt und gestand. Er war ein langer rothaariger Halunke, wie Judas Ischariot.

Dieser Skandal, von den Zeitungen verbreitet, war das Tagesgespräch von Paris. In den Salons, auf den Promenaden, in den Barbierstuben und bei den Limonadenverkäufern war von nichts anderm die Rede. Und überall flößte Madame de la Morangère ebensoviel Sympathie ein, wie Herr Lescot Widerwillen.

Die öffentliche Neugier war noch davon erregt, als ich meinen teuren Lehrer, den Herrn Abbé Coignard, zu Herrn Blaizot begleitete, der, wie ihr wißt, Buchhändler in der Rue Saint-Jacques ist. Sein Laden trägt das Schild »Zur heiligen Katharina«.

Wir trafen daselbst den Privatsekretär eines Staatsministers, Herrn Gentil, der seine Nase in ein jüngst aus Holland eingetroffenes Buch vergrub, und den berühmten Herrn Roman, der mehrere geachtete Werke über die Staatsräson geschrieben hat. Der alte Herr Blaizot stand hinter seinem Kassenpult und las die Zeitung.

Herr Jérôme Coignard drängte sich bis zu ihm durch, um die Tagesneuigkeiten, auf die er begierig war, über seine Schultern weg zu erspähen. So gelehrt und geistvoll er war, so hatte er doch keinen Teil an den Gütern dieser Welt; und wenn er im »Bacchusknaben« einen Schoppen Wein getrunken hatte, so blieb kein Heller in seiner Tasche, um sich die Tagesblätter zu kaufen. Nachdem er, hinter Herrn Blaizot stehend, die Aussage der Madame de la Morangère gelesen, rief er aus, das sei gut und er freue sich, daß die Ungerechtigkeit von schwacher Frauenhand von ihrem hohen Throne herabgerissen sei, wie es ja auch in der Heiligen Schrift durch wundersame Beispiele bezeugt ist.

»Diese Dame,« setzte er hinzu, »obwohl mit den Zöllnern verbunden, die ich nicht liebe, gleicht jenen starken Frauen im Buche der Könige. Sie gefällt mir durch eine seltne Mischung von Redlichkeit und Verschlagenheit, und ich juble ihrem pikanten Siege zu.«

Herr Roman unterbrach ihn.

»Hüten Sie sich, Herr Abbé,« sprach er, den Arm ausstreckend, »hüten Sie sich, diese Affäre unter persönlichen, privaten Gesichtspunkten anzusehen, ohne an die damit verknüpften Staatsinteressen zu denken, wie es Ihre Pflicht wäre. Bei allen Dingen muß man auf die Staatsräson sehen; und diese höchste Rücksicht erforderte – das ist klar –, daß Madame de la Morangère ihre Aussage nicht machte oder daß ihre Worte keinen Glauben fanden.«

Herr Gentil blickte aus seinem Buche auf.

»Man hat die Bedeutung dieser Sache stark aufgebauscht,« bemerkte er.

»Ach, Herr Sekretarius«, sagte Herr Roman, »wir glauben nicht, daß ein Ereignis, durch das Sie Ihre Stellung verlieren werden, bedeutungslos sei. Denn Sie werden dadurch fallen, Sie und Ihr Herr. Ich bedaure es lebhaft. Doch was mich über den Sturz der beteiligten Minister trösten könnte, das ist ihre Ohnmacht, diesem Schlag vorzubeugen.«

Herr Gentil zwinkerte mit den Augen, zum Zeichen, daß er mit Herrn Roman einverstanden sei. Dieser fuhr fort:

»Der Staat gleicht dem menschlichen Körper. Nicht alle seine Verrichtungen sind edel. Daher muß der Mensch auch manche darunter verbergen, sogar die allernotwendigsten.«

»Ach, Herr Roman,« fiel der Abbé ein, »war es denn notwendig, daß Herr Lescot mit dem armen Weibe eines Gefangenen derart umging? Das war eine Gemeinheit.«

»Oho,« erwiderte Herr Roman, »eine Gemeinheit war es nur, wenn es herauskam. Sonst war es gar nichts. Wenn Sie die Wohltat genießen wollen, regiert zu werden, die allein den Menschen vom Tier unterscheidet, so muß man den Regierenden auch gestatten, die Macht auszuüben. Und dazu gehört vor allem die Geheimhaltung. Deshalb ist auch die Volksherrschaft, welche die am wenigsten geheime ist, die schwächste. Glauben Sie denn, Herr Abbé, man könne die Menschen durch Tugend leiten? Das wäre eine große Träumerei.«

»Ich glaube es nicht,« antwortete mein teurer Lehrer. »Ich habe in meinem wechselvollen Leben die Beobachtung gemacht, daß die Menschen boshafte Tiere sind, die man nur mit List und Gewalt im Zaume hält. Aber man muß dies mit einiger Mäßigung tun; sonst verletzt man die wenigen guten Gefühle, die neben den schlechten Instinkten in ihrer Seele wohnen. Denn schließlich ward der Mensch, so feig, dumm und grausam er ist, nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen, und es sind ihm einige Züge von seinem ursprünglichen Antlitz geblieben. Eine Regierung, die der gemeinen durchschnittlichen Redlichkeit untreu wird, ärgert die Völker und muß gestürzt werden.«

»Reden Sie leiser, Herr Abbé,« riet der Sekretär.

»Der Herrscher hat nie Unrecht,« fiel Herr Roman ein, »und Ihre Grundsätze, Herr Abbé, sind die eines Aufrührers. Sie und Ihresgleichen verdienten, überhaupt nicht mehr regiert zu werden.«

»Oh!« rief mein guter Lehrer aus, »wenn das Regieren, wie Sie es uns zu verstehen geben, aus Schurkerei, Gewalttat und Erpressungen aller Art besteht, so ist nicht zu befürchten, daß diese Drohung zum Ereignis wird; und wir werden noch lange Zeit Staatsminister und Provinz-Gouverneure finden, die unsre Geschäfte besorgen. Nur möchte ich, daß diese durch neue ersetzt werden. Die neuen können nicht schlimmer sein als die alten, und wer weiß, ob sie nicht sogar etwas besser sind?«

»Nehmen Sie sich in acht!« drohte Herr Roman. »Nehmen Sie sich in acht! Das Bewundernswerte am Staate ist just sein Zusammenhang und seine Stetigkeit; und wenn es auf Erden keinen vollkommenen Staat gibt, so kommt dies meines Erachtens daher, daß die Sintflut zu Noahs Zeiten die Erbfolge über den Haufen warf. Von dieser Verwirrung haben wir uns bis auf diesen Tag noch nicht erholt.«

»Mein Herr,« entgegnete mein teurer Lehrer, »Ihre Theorien sind spaßig. Die Weltgeschichte ist voller Revolutionen; man sieht nichts als Bürgerkriege, Tumulte und Aufruhr infolge der Schlechtigkeit der Fürsten; und ich weiß nicht, was man heutzutage mehr bewundern soll: die Schamlosigkeit der Regierenden oder die Lammsgeduld der Völker.«

Jetzt klagte der Sekretär, daß der Herr Abbé die Wohltaten der Monarchie verkenne, und Herr Blaizot hielt uns vor, daß es unpassend sei, die öffentlichen Angelegenheiten in einem Buchladen zu erörtern.

Als wir draußen waren, zupfte ich meinen teuren Lehrer am Ärmel.

»Herr Abbé,« sagte ich, »haben Sie denn die alte Syrakusanerin vergessen, daß Sie jetzt den Tyrannen zu wechseln wünschen?«

»Tournebroche, mein Sohn,« gab er mir zur Antwort, »ich will zugeben, daß ich mich in einen Widerspruch verwickelt habe. Doch diese Doppelzüngigkeit in meinen Reden, auf die du mich mit Recht aufmerksam machst, ist nicht so schlimm wie die sogenannten Antinomien der Philosophen. Charron behauptet in seinem Buche über die Weisheit, es gäbe unauflösliche Antinomien. Ich für mein Teil erblicke, sobald ich über die Natur nachsinne, sofort ein halbes Dutzend dieser Teufelinnen, die vor meinen Augen aufeinander losfahren, als wollten sie sich die Augen aushacken; und man sieht sofort ein, daß man diese obstinaten Megären nie miteinander versöhnen wird. Ich gebe jede Hoffnung auf, sie in Einklang zu bringen; und es ist ihre Schuld, wenn ich die Metaphysik nicht um ein gutes Stück gefördert habe. Doch im vorliegenden Falle, Tournebroche, mein Sohn, ist der Widerspruch nur scheinbar. Mein Verstand ist stets auf seiten der alten Syrakusanerin. Ich denke heute so, wie ich gestern dachte. Nur ließ ich mich vorhin vom Herzen hinreißen und gab der Leidenschaft nach, wie das Volk.«

 


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