Anatole France
Nützliche und erbauliche Meinungen des Herrn Abbé Jérôme Coignard
Anatole France

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Der heilige Abraham

In dieser Sommernacht, als die Mücken die Laterne des Wirtshauses »Zum Bacchusknaben« umtanzten, saß der Herr Abbé Jérôme Coignard im Freien unter der Vorhalle von Saint-Benoît und hing wie gewöhnlich seinen Gedanken nach, als Katharina, die Spitzenklöpplerin, sich neben ihm auf die Steinbank setzte. Mein teurer Lehrer, der Abbé, neigte dazu, Gott in seinen Werken zu loben. Mit Wohlgefallen betrachtete er das hübsche Mädchen, und da er einen heiteren und feingebildeten Geist besaß, so hielt er ihr angenehme Reden. Er lobte sie, daß sie nicht nur auf der Zunge, sondern auch am Busen und an ihrer ganzen Gestalt Witz besäße und nicht nur mit den Lippen und Wangen lachte, sondern auch mit all den Grübchen und hübschen Fältchen ihrer Haut, so daß man den Hüllen gram sei, derentwegen man sie nicht ganz und gar lachen sehen könnte.

»Und da man nun einmal«, sagte er, »hienieden sündigen muß, und keiner sich ohne Hoffart für unfehlbar halten darf, so möchte ich, mein Fräulein, daß die göttliche Gnade mich bei Ihnen im Stiche ließe, wenn anders es Ihnen so beliebt. Mir entstünden daraus zwei kostbare Vorteile, erstlich der, mit seltener Freude und einziger Wonne zu sündigen, und zweitens der, mich nachher mit der Macht Ihrer Reize entschuldigen zu können; denn sicherlich steht es im Buche des Gerichts geschrieben, daß Ihre Reize unwiderstehlich sind; das muß mir zugute gehalten werden. Man sieht Toren, die mit häßlichen, mißgestalteten Weibern buhlen. Diese Unglücklichen setzten mit solchem Beginnen ihr Seelenheil aufs Spiel, denn sie sündigen, um zu sündigen, und ihr beschwerlicher Fehltritt ist voller Bosheit. Hingegen eine so schöne Haut, Katharina, wie Ihre, ist in den Augen des Herrn eine Entschuldigung. Ihre Reize verringern die Schuld wundersam; sie wird als unfreiwillig verzeihbar. Um Ihnen alles zu sagen, mein Fräulein, so fühle ich, wie die himmlische Gnade mich verläßt und hurtig davonfliegt. In diesem Augenblick, wo ich mit Ihnen rede, ist sie nur noch ein kleiner heller Punkt dort über den Dächern, in deren Dachrinnen die Katzen mit wütendem Geschrei und kindlichen Klagelauten ihr Liebesspiel treiben, dieweil der Mond sich schamlos auf einen Schornstein setzt. Alles, was ich von Ihnen sehe, Katharina, spricht zu meinen Sinnen, und das, was ich nicht sehe, noch mehr.«

Bei diesen Worten blickte sie in ihren Schoß; dann erhob sie die Augen helleuchtend auf den Herrn Abbé Coignard. Und mit sehr sanfter Stimme sprach sie:

»Da Sie mir wohlgeneigt sind, Herr Coignard, so versprechen Sie mir eine Gefälligkeit, um die ich Sie bitten will und für die ich Ihnen sehr dankbar wäre.«

Der Abbé versprach ihr zu willfahren. Wer hätte an seiner Stelle nicht ebenso gehandelt?

Da sagte Katharina lebhaft zu ihm:

»Sie wissen, Herr Jérôme, der Abbé La Perruque, Vikar von Saint-Benoît, beschuldigt den Kapuziner Ange des Diebstahls an seinem Esel und hat ihn vor dem Offizial verklagt. Doch das ist eine große Lüge. Der gute Bruder hatte sich den Esel ausgeliehen, um Reliquien in die Dörfer zu bringen. Unterwegs kam der Esel abhanden. Die Reliquien fanden sich wieder. Das ist, wie Bruder Ange sagt, die Hauptsache. Doch der Abbé La Perruque verlangt seinen Esel zurück und will von nichts hören. Er bringt das arme Brüderchen noch in den erzbischöflichen Kerker. Sie allein können seinen Zorn besänftigen und ihn bestimmen, daß er seine Klage zurückzieht.«

»Aber, mein Fräulein,« entgegnete der Abbé Coignard, »ich habe weder Macht noch Lust dazu.«

»Oh!« fuhr Katharina fort, indem sie sich an ihn anschmiegte und ihn mit geheuchelter Zärtlichkeit anblickte, »was die Lust betrifft, so wäre ich sehr traurig, wenn ich sie Ihnen nicht geben könnte. Die Macht aber haben Sie, Herr Jérôme, ja, Sie haben sie. Und nichts ist leichter, als das Brüderchen zu retten. Es genügt, wenn Sie Herrn La Perruque acht Fastenpredigten und vier Adventpredigten geben. Sie schreiben so schöne Predigten, daß es Ihnen ein Vergnügen sein muß, welche zu machen. Verfassen Sie diese zwölf Predigten, Herr Jérôme, verfassen Sie sie auf der Stelle. Ich hole sie mir selbst ab in Ihrer Bude bei Saint-Innocent. Herr La Perruque hat einen hohen Begriff von Ihrem Wissen und Ihren Verdiensten; er schätzt, daß zwölf Predigten von Ihnen einen Esel wert sind. Sobald er das Dutzend voll hat, will er seine Klage zurückziehen. Er hat es gesagt. Was sind zwölf Predigten, Herr Jérôme? Und ich verspreche, ich setze ans Ende der letzten Amen. Gelt, ich habe Ihr Versprechen?« schloß sie, seinen Hals umschlingend.

»Was das betrifft,« sagte Herr Coignard unwirsch, indem er die hübschen Arme löste, die sich auf seinen Schultern verschränkten, »so lehne ich es glatt ab. Die Versprechungen, die man hübschen Mädchen macht, verpflichten nur den Leib, und es ist keine Sünde, sie zu brechen. Rechnen Sie nicht auf mich, mein schönes Kind, um Ihren bärtigen Liebsten aus den Händen des Offizials zu retten. Schriebe ich eine oder zwei oder zwölf Predigten, so geschähe es gegen die schlimmen Mönche, welche die Schande der Kirche und gleichsam das Ungeziefer sind, das dem Kleide Sankt Petri anhaftet. Bruder Ange ist ein Spitzbube; er läßt die braven Frauen Reliquien berühren, welche nur Ochsen- oder Schweinsknochen sind, die er mit ekler Gier selbst abgenagt hat. Ich wette, er hat auf dem Esel des Herrn La Perruque eine Feder des Erzengels Gabriel, einen Strahl vom Stern der Drei Könige und ein Fläschchen herumgeführt, das etwas vom Klange der Glocken enthielt, die im Turme des Salomonischen Tempels läuteten. Er ist unwissend, verlogen, und Sie lieben ihn. Das sind drei Gründe, weshalb ich ihn nicht leiden kann. Ich überlasse es Ihnen zu entscheiden, mein Fräulein, welcher von ihnen der stärkste ist. Es kann dies der am wenigsten ehrbare sein; denn es drängte mich eben zu Ihnen mit einer Heftigkeit, die weder meinem Alter noch meinem Stande geziemt. Aber irren Sie sich nicht: ich empfinde sehr lebhaft die Schmach, die Ihr Liebhaber in der Kapuze der Kirche unsres Heilands antut, deren unwürdiges Glied ich bin. Und das Beispiel dieses Kapuziners flößt mir solchen Abscheu ein, daß mich plötzlich die Lust befällt, über eine gute Stelle bei Johann Chrysostomos nachzudenken, anstatt meine Knie an den Ihren zu reiben, mein Fräulein, wie ich es seit einer Viertelstunde tue. Denn das sündige Verlangen vergeht; Gottes Ruhm aber währet ewiglich. Ich habe die Fleischessünden nie überschätzt; diese Gerechtigkeit kann man mir erweisen.

Ich entrüste mich nicht wie Herr Nikodemus über eine so geringfügige Sache wie die Kurzweil mit einem hübschen Mädchen. Doch was ich nicht leiden kann, das ist die Niedrigkeit der Seele, das ist die Heuchelei, die Lüge und die krasse Unwissenheit, die Ihren Bruder Ange zum vollendeten Kapuziner machen. Durch den Verkehr mit ihm nehmen Sie, mein Fräulein, pöbelhafte Gewohnheiten an, die Sie tief unter Ihren Stand herabdrücken, welcher der eines galanten Frauenzimmers ist. Ich kenne sein Elend und seine Demütigungen; trotzdem steht dieser Stand weit über dem eines Kapuziners. Dieser Schurke entehrt Sie, wie er selbst die Gossen der Rue Saint-Jacques entehrt, wenn er hineintritt. Denken Sie, mein Fräulein, an all die Tugenden, mit denen Sie sich in Ihrem ungewissen Handwerk noch schmücken könnten, und deren eine Ihnen vielleicht noch mal die Pforten des Paradieses öffnen könnte, wären Sie nicht dieser unsauberen Bestie untertan und versklavt.

Wenn man Sie auch hier und da das nehmen läßt, was man Ihnen schließlich lassen muß, wenn man fortgeht, so könnten Sie doch, Katharina, in Hoffnung, Glauben und Barmherzigkeit blühen, die Armen lieben und die Kranken besuchen. Sie könnten barmherzig sein und Almosen geben und am Anblick von Himmel und Wasser, Feld und Wald sich keusch ergötzen. Sie könnten des Morgens, wenn Sie Ihr Fenster öffnen, Gott loben, während Sie dem Vogelsang lauschen. Sie könnten an Wallfahrtstagen zum Mont Valérien pilgern und dort am Kalvarienberg über Ihre verlorene Unschuld weinen, kurz, Sie könnten sich so aufführen, daß der, welcher allein in den Herzen liest, sagt: ›Katharina ist mein Geschöpf; ich erkenne es an den Funken eines schönen Lichtes, das in ihr nicht erloschen ist.‹«

Katharina unterbrach ihn:

»Aber Abbé,« sagte sie trocken, »Sie verzapfen mir da ja eine Predigt.«

»Haben Sie mich nicht um ein Dutzend gebeten?« antwortete er.

Sie wurde ärgerlich.

»Nehmen Sie sich in acht, Abbé. Es steht bei Ihnen, ob wir Freunde oder Feinde werden. Wollen Sie die zwölf Predigten machen? Überlegen Sie sichs, ehe Sie antworten!«

»Mein Fräulein,« sagte der Herr Abbé Coignard, »ich beging in meinem Leben manch Tadelnswertes, doch nie mit Überlegung.«

»Sie wollen also nicht? Bestimmt nicht? Eins . . . zwei . . . Sie wollen nicht? Abbé, ich räche mich!«

Sie schmollte eine Weile und blieb stumm und mürrisch auf der Bank sitzen. Plötzlich begann sie zu schreien:

»Genug! Herr Abbé Coignard. In Ihrem Alter und in diesem ehrwürdigen Gewande so mit mir zu scharwenzeln! Pfui, Herr Abbé, pfui! Welche Schande, Herr Abbé!«

Als sie am schrillsten keifte, sah der Abbé Fräulein Lecoeur, Krämerin »Zu den drei Jungfrauen«, an der Halle vorbeikommen. Sie ging zu dieser späten Stunde zur Beichte beim dritten Vikar von Saint-Benoît und wandte zum Zeichen tiefsten Abscheus das Haupt ab.

Er mußte sich gestehen, daß Katharinas Rache rasch und sicher war, denn die Tugend von Fräulein Lecoeur, durch das Alter befestigt, war so stark geworden, daß sie über alle Sünden der Gemeinde herfiel und siebenmal täglich mit ihrer Zungenspitze die Fleischessünder der Rue Saint-Jacques durchbohrte.

Doch Katharina wußte selbst nicht, wie vollkommen ihre Rache war. Sie hatte Fräulein Lecoeur über den Platz kommen sehen, doch nicht meinen Vater, der ihr nachfolgte.

Er kam mit mir, um den Abbé aus der Vorhalle abzuholen und ihn zum »Bacchusknaben« zu geleiten. Mein Vater mochte Katharina gern. Nichts ärgerte ihn so, wie wenn er Liebhaber sich an sie herandrängen sah. Über ihren Wandel täuschte er sich nicht. Doch wie er sagte, ist Wissen und Sehen zweierlei. Nun aber war ihm Katharinas Geschrei sehr deutlich zu Ohren gekommen. Er war lebhaft und unfähig, sich zusammenzunehmen. Ich fürchtete sehr, sein Zorn möchte sich in groben Worten und brutalen Drohungen Luft machen. Ich sah schon, wie er sein Spickeisen, das er in der Strippe seiner Schürze trug, wie eine ehrbare Waffe zog, denn er setzte seinen Stolz in die Bratkunst.

Doch meine Befürchtungen waren nur halb begründet. Ein Fall, wo Katharina Tugend bewies, überraschte ihn mehr, als er ihn verdroß, und die Zufriedenheit überwog in seiner Seele den Zorn.

Er sprach meinen teuren Lehrer ziemlich höflich an und sagte mit spöttischem Ernst:

»Herr Coignard, alle Priester, welche die Gesellschaft der galanten Mädchen aufsuchen, lassen dabei ihre Tugend und ihren guten Ruf. Und das ist recht, auch wenn keine Gewährung sie für ihre Unehre entschädigt«

Katharina räumte das Feld mit der schönen Gebärde verletzter Scham, und mein teurer Lehrer antwortete meinem Vater mit sanfter, lächelnder Beredsamkeit:

»Dieser Grundsatz, Meister Leonard, ist vortrefflich; trotzdem darf man ihn nicht wahllos anwenden und bei jeder Gelegenheit aufkleben wie ein Schild ›Für sechs Dreier‹, das der lahme Messerschmied auf allen seinen Messern anbringt. Ich will nicht untersuchen, inwiefern ich diese Anbringung eben verdiente. Genügt es nicht, wenn ich gestehe: ich habe sie verdient?

Es ist unschicklich, von sich selbst zu reden, und es hieße meinem Schamgefühl zu große Gewalt antun, wenn man mich zwänge, über das zu reden, was mich allein betrifft. Ich ziehe vor, Meister Leonard, Ihnen als Beispiel den ehrwürdigen Robert d'Arbrissel zu nennen, der sich durch den Umgang mit Freudenmädchen große Verdienste erwarb. Man kann auch den heiligen Abraham, einen syrischen Anachoreten, anführen, der sich nicht fürchtete, ein verrufenes Haus zu betreten.« –

»Wer ist dieser heilige Abraham?« fragte mein Vater, dem alle Gedanken wirr im Kopfe herumgingen.

»Setzen wir uns vor Ihre Tür,« sagte mein teurer Lehrer. »Bringen Sie einen Krug Wein her, und ich erzähle Ihnen die Geschichte dieses großen Heiligen, wie sie uns der heilige Ephraim selbst berichtet hat.«

Mein Vater nickte zum Zeichen des Einverständnisses. Wir setzten uns alle drei unter das Rebendach, und mein teurer Lehrer sprach also:

»Der heilige Abraham hauste, schon hochbejahrt, einsam in der Wüste in einer kleinen Hütte, als sein Bruder starb und eine Tochter von großer Schönheit, namens Maria, zurückließ. Überzeugt, daß das Leben, welches er selbst führte, auch seiner Nichte zuträglich wäre, ließ Abraham für sie eine Zelle neben der seinen erbauen und steckte sie durch ein Fensterlein, das er in die Wand gebrochen hatte, hinein.

Er wachte darüber, daß sie fastete, wachte und Psalmen sang. Doch ein Mönch, der wahrscheinlich ein falscher Mönch war, näherte sich Maria, während der Mann Gottes über die Heilige Schrift nachsann, und verführte das junge Mädchen zur Sünde. Danach sagte sich die Gefallene:

›Da ich für Gott tot bin, so ist es besser, ich gehe in ein Land, wo mich niemand kennt.‹

Und sie verließ ihre Zelle und ging in eine benachbarte Stadt namens Edessa. Daselbst waren frische Brunnen und köstliche Gärten, und sie ist noch heutigen Tages die angenehmste Stadt Syriens.

Indessen blieb der Heilige in tiefes Nachsinnen versenkt. Seine Nichte war schon mehrere Tage fort, als er sein Fensterlein öffnete und fragte:

›Maria, warum singst du nicht mehr die Psalmen, die du so schön sangest?‹

Doch da er keine Antwort erhielt, ahnte er die Wahrheit und rief:

›Ein grausamer Wolf hat mein Schaf entführt!‹

Zwei Jahre lang verblieb er in Kummer und Trübsal. Danach erfuhr er, daß seine Nichte einen schlechten Wandel führte. Mit Vorbedacht handelnd, bat er einen seiner Freunde, nach der Stadt zu gehen und genau zu erforschen, ob es wahr sei. Der Bericht des Freundes bestätigte, daß Maria einen schlechten Wandel führte. Auf diese Meldung hin bat der heilige Mann seinen Freund, ihm ein Pferd zu besorgen und ihm Reiterkleider zu leihen. Um nicht erkannt zu werden, stülpte er sich einen großen Hut ins Gesicht und begab sich nach dem Wirtshause, in dem, wie man ihm gesagt hatte, seine Nichte wohnte. Er blickte sich allerseits um, in der Hoffnung, sie irgendwo zu sehen; doch da sie nicht erschien, sprach er zum Wirt mit geheucheltem Lächeln:

›Meister, man sagt, Ihr hättet ein hübsches Mädchen hier. Könnte ich es nicht sehen?‹

Der Wirt, der ein höflicher Mann war, ließ sie rufen, und Maria erschien in einem Aufzuge, der nach den eignen Worten des heiligen Ephraim hinreichte, um ihren Wandel zu offenbaren. Der heilige Mann ward darob von tiefem Schmerze ergriffen.

Gleichwohl trug er Heiterkeit zur Schau und bestellte ein gutes Mahl. Maria war an jenem Tage in finstrer Laune. Freude zu bereiten macht nicht immer Freude; und der Anblick dieses Greises, den sie nicht erkannte, denn er hatte seinen Hut nicht gelüftet, stimmte sie keineswegs fröhlich. Der Wirt tadelte sie wegen dieses schlechten Benehmens, das ihren Berufspflichten so zuwider sei; doch sie sagte seufzend:

›Wollte Gott, ich wäre vor drei Jahren gestorben!‹

Der Heilige Abraham gab sich Mühe, die Sprache eines galanten Ritters zu führen, dessen Kleidung er ja trug.

›Mein Kind,‹ sprach er, ›ich komme nicht her, um deine Sünden zu betrauern, sondern um deine Liebe zu teilen.‹

Doch als der Wirt ihn mit Maria allein gelassen, legte er die Maske ab, lüftete seinen Hut und sprach unter Tränen:

›Meine Tochter Maria, erkennst du mich nicht? Bin ich nicht Abraham, der an dir Vaterstelle vertrat?‹

Er ergriff ihre Hand und ermahnte sie die ganze Nacht lang zur Reue und Buße. Vor allem hütete er sich, sie zur Verzweiflung zu treiben. Immerfort wiederholte er ihr: ›Meine Tochter, nur Gott ist sündlos.‹

Maria war von sanfter Gemütsart. Sie willigte darein, zu ihm zurückzukehren. Als es tagte, brachen sie auf. Sie wollte ihre Kleider und Schmucksachen mitnehmen. Doch der heilige Mann machte ihr begreiflich, daß es passender sei, sie zurückzulassen. Er setzte sie auf sein Pferd und führte sie zu den Zellen zurück, wo beide ihr vergangenes Leben wieder aufnahmen. Nur sorgte der heilige Mann diesmal dafür, daß Marias Zelle keinen Zugang von außen hatte und daß man sie nicht verlassen konnte, ohne durch die von ihm bewohnte Hütte zu gehen. Und also hütete er mit Gottes Hilfe sein Schaf.

Dies ist die Geschichte vom heiligen Abraham,« schloß mein teurer Lehrer, sein Weinglas ergreifend.

»Sie ist sehr schön,« sagte mein Vater, »und das Unglück der armen Maria hat mich zu Tränen gerührt.«

 


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