Georg Forster
Über James Cook und andere Essays
Georg Forster

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Über die Beziehung der Staatskunst
auf das Glück der Menschheit

Est quidem vera lex, Recta Ratio, naturae congruens, diffiisa in omnes, constans, sempiterna, quae vocet ad officium jubendo, vetando a fraude deterreat. – Huic legi neque abrogare fas est, neque derogari ex hac aliquid licet, neque tota abrogari potest.
Cicero

Es wäre ein erhabenes, anziehendes Schauspiel, lieber Freund, wenn die stolzesten menschlichen Künste, die Regierungskunst und die Politik, einst vor den Richterstuhl der Vernunft gefordert würden, um von ihren Wirkungen Rechenschaft abzulegen, und sich gegen die Anklage der Tugend, und gegen das Zeugniß der Erfahrung zu rechtfertigen. Ihre Vertheidigung müßte zu Entdeckungen führen, die das Menschengeschlecht für die Zukunft gegen Mißbräuche und Unterdrückungen, wo nicht sicher stellen, doch wenigstens mißtrauischer machen würden, als es bisher im Ganzen gewesen ist. Es würde sich zeigen, daß die Sinnlichkeit unserer Natur überall mit den beiden Angeklagten wider uns selbst in den Bund getreten sey, und daß die Unmöglichkeit von reinen Grundsätzen auszugehen, die sich erst durch lange Übung und nach manchem fehlgeschlagenen Versuch auffinden und herauswickeln ließen, allerdings eine Art von Entschuldigung abgeben könnte, wenn nicht das Beharren im erkannten und erwiesenen Irrthum eine fast unheilbare Verderbtheit durchblicken ließe. Seit einiger Zeit veranlaßte mich meine praktische Beschäftigung mit verwandten Gegenständen, die Klagpunkte, worauf es hier ankommt, bald in diesem, bald in jenem Lichte zu betrachten; und so mangelhaft, unzusammenhängend und fragmentarisch auch die Resultate meines Nachdenkens, die ich darüber zu Papier brachte, wirklich geblieben sind, so halte ich es doch nicht für ganz überflüßig, sie hier mitzutheilen, weil sie vielleicht dazu dienen können, die Sache näher zur Erörterung zu bringen, und den rechten Mann, der dieser Untersuchung gewachsen ist, dazu aufzufordern. Ich werde mich für mein Theil glücklich schätzen, die Gelegenheit zu finden, etwas Besseres, als ich noch bis jetzt weiß, über die wichtigste Angelegenheit des denkenden Menschen zu erfahren.

Das Glück der Menschheit ist, laut den Betheurungen der Regenten, das stete Ziel ihrer landesväterlichen Sorgen. Die neuesten Manifeste der Eroberer von Polen athmen nur diesen Geist, und führen nur diese Sprache. Ich will hier keinesweges ihre Aufrichtigkeit in Zweifel ziehen. Die Verwirrung des Sprachgebrauchs, wie ich anderwärts gesagt habe, ist freilich groß genug; allein an den Worten: Glück, Wahrheit, Tugend, ist unseren Führern jetzt noch zu viel gelegen, als daß sie es versuchen könnten, sich schon gänzlich ohne sie zu behelfen. Ohne sie würde das Recht des Stärkern gar bald eine viel zu wankende Stütze ihrer Herrschaft werden. Auch des Räubers letzte Zwecke sind ruhiger Besitz und Genuß. Wenn er Mittel fände, mit seiner Beute aus der Höhle in den Schooß der bürgerlichen Gesellschaft zurückzukehren – meinen Sie nicht, daß er als der eifrigste Vertheidiger ihrer Rechte, als der strengste Rächer des verletzten Eigenthums vorantreten würde? Schlagen Sie übrigens die Geschichte aller Revolutionen, oder zum Beispiel auch nur die der neuesten nach, und sehen Sie die Ehrgeitzigen aller so schnell auf einander folgenden Partheien, so wie sie an das Ruder des gährenden Staates gelangten, am lautesten die kühnen Revolutionsmittel verwerfen, wodurch sie das Volk zum Werkzeug ihrer Siege gemacht hatten, und dagegen Ordnung, Ruhe, Gehorsam gegen die Gesetze, und Unverletzbarkeit, sowohl der Personen als des Eigenthums predigen, nachdem sie zuvor die tobenden Tribünen, die Verläumdungen, die Anklagen, die Justizmorde, die Plünderungen, die heiligen Insurrektionen in Umtrieb gesetzt hatten.

Ich gehe gern noch einen Schritt weiter, und gebe zu, daß es der Natur des Menschen angemessen ist, das allgemeine Beste zu wollen, ohne vom Privatnutzen erst dazu aufgefordert zu werden. Wer mag bloß in feindseliger Absicht, aus bösem Willen, Böses thun? Diese Rolle setzt eine Zerrüttung der Verstandeskräfte voraus. In solchen Fällen aber, wo Blödsinn oder Wahnsinn die obersten Plätze der Gesellschaft füllten, verhüteten doch gemeiniglich die Umstehenden das Unheil, das der Mißbrauch der Macht bei dieser unglücklichen Krankheit hätte stiften können. Nur in dem seltenen Zusammentreffen der Umstände, wodurch Menschen von großer Thatkraft, von unersättlichen Begierden und zerstörenden Leidenschaften, aus Mangel eines Widerstandes, zur wirklichen Raserei übergingen, und sich auch noch in diesem Zustande als Herren der Welt und Meister eines entarteten Volkes behaupten konnten, war in Rom die Erscheinung eines Nero, eines Caligula und der Ungeheuer, die ihnen glichen, möglich geworden. Die grimmige Verrücktheit auf dem Throne, die uns mit Abscheu und Grauen erfüllt, ist folglich nur eine seltene Ausnahme, und dient der allgemeinen Regel eigentlich zur Bestätigung.

Allein worin besteht das Glück, womit man dem Menschengeschlechte so geflissentlich andienen will? Der Gemeinsinn verbindet doch einen Begriff mit dem Worte, und ich weiß nicht, welches allgemeine Gefühl ihn in den Gegenstand des Strebens aller derer verwandelt, die mit uns Eines Ursprunges und ähnlicher Bildung sind. Von Jugend auf gewohnt, den Zustand des Behagens und Bewußtseyns angenehmer Eindrücke als unsere Bestimmung anzusehen, oder, mit anderen Worten, zu glauben, daß ein Wesen, welches Genuß und Schmerz unterscheiden kann, nur für den erstem geboren seyn könne, bilden wir uns allmählig eine Vorstellung von jener wünschenswerthen Art zu seyn, worin die Summe angenehmer Eindrücke die Summe der unangenehmen nicht nur übersteigt, sondern auch durch ihre Abwechselung und Mannichfaltigkeit einen stets neuen Reitz zuwege bringt, und neue Quellen der Empfänglichkeit in uns öffnet. Sollen wir es einstweilen bei dieser Definition bewenden lassen? Dann wäre, zum Beispiel, der Zustand des Englischen Pächters Glück, und der des Polnischen Leibeignen Elend zu nennen. Der wohlhabendere Mann, der allen Überfluß seiner fetten Äcker und Weiden genießt, gut gekleidet ist, und in einem netten, reinen, mit schönem Geräthe versehenen Hause wohnt, ist zugleich in Rücksicht seines Geistes, seines Gefühls, seiner Grundsätze, seiner Überlegung, seiner Kenntnisse, mit Einem Worte, als Mensch, derjenige, der bei weitem den Vorzug verdient. Ihm ist wohl in allen seinen Verhältnissen; und in diesem behaglichen Zustande blickt er um sich her, forscht nach, wer, von wannen und zu welchem Ende er sey, giebt also dem bessern Theile seines Wesens, der Vernunft, die ihn über die ganze sichtbare Schöpfung hebt, ihre zweckmäßige Entwickelung, und fängt an, sich seiner Menschenwürde bewußt zu seyn. Der ausgemergelte Sklav des Sarmatischen Edelmanns hingegen, in einer morschen, räucherigen, nackten Hütte, im schmutzigen Schafpelze, vom Ungeziefer halb verzehrt, bei schwerer Arbeit und geringer, wo nicht gar ungesunder Kost, kennt bloß thierische Affekten, ruhet gedankenleer von seiner Anstrengung, und stirbt hin, ohne den höheren Sinnengenuß gekostet, ohne sich seiner Geisteskräfte gefreuet oder sie nur gekannt zu haben, um den Zweck seines Hierseyns gänzlich betrogen. Wäre das Bild des Menschenglücks, das die Regenten vor Augen haben, dem hier gegebenen ähnlich; dächten sie sich dabei den Menschen im völligen Besitz und in gehöriger Übung seiner physischen und moralischen Kräfte, und die sinnliche sowohl als die Gedankenwelt seinem Genüsse dienstbar: dann wäre unstreitig die Sorge, den Millionen, oder den Tausenden auch nur, welche die Vorsehung einem Fürsten anvertraute, ein solches, ihrer Natur und Bestimmung angemessenes Leben zu verschaffen, die edelste Auszeichnung, die einem vernünftigen Wesen über seines gleichen verliehen werden könnte. Unstreitig dürfte das noch unmündige Menschengeschlecht sich Glück wünschen, solchen weiseren und besseren Führern anvertrauet zu seyn, die ihm zu einer so wohlthätigen Ausbildung, zu einer so menschlichen Art des Seyns, verhelfen könnten und wollten.

Es scheint indessen nicht, daß die Vorgesetzten des Menschengeschlechts sein Glück so definiren. Einigen unter ihnen, insbesondre, heißen die Völker, wie einst die Ägyptischen Priester die Athenienser nannten: ewige Kinder. Es ist in ihrem Sinne ausgemacht, daß die Pflege dieser Kinder, die Verwaltung ihrer Angelegenheiten, die Einrichtung des großen Haushalts, die gemeinschaftliche Anwendung ihrer Kräfte ihnen selbst nicht überlassen werden dürfen, daß sie ihres Ursprunges unkundig, auf Treue und Glauben annehmen müssen, was ihre Vormünder ihnen darüber mitzutheilen für nöthig erachten, daß sie endlich nur in so fern glücklich seyn können, wie sie gläubig und folgsam sind. Dem Fürsten allein gebührt, nach diesem System, Unabhängigkeit, Willkühr, vollkommenes Eigenthum und der damit verbundene Gebrauch seiner ganzen Wirksamkeit; der Menge bleibt ein enger Wirkungskreis, worin sie sich nach bestimmten Gesetzen maschinenmäßig bewegt und allmählig gewöhnt, ihre Führer und Lehrer für Wesen einer höheren Art, für Wunderthäter und Götter, zu halten. Der Despotismus, um konsequent zu seyn, muß diese moralische Nullität der Menschheit wollen. Diesen Zustand nennt er: ihr Glück; und alle Veränderungen, die er zu bewirken sucht, so lange dieses große Ziel noch nicht errungen ist, zwecken nur darauf ab, einen solchen Zustand dauerhaft zu gründen und unabänderlich zu erhalten.

Lassen Sie uns untersuchen, was sich für ein solches Regierungs-System sagen läßt. Der gegenwärtige Zustand der moralischen Bildung hat, zumal in Europa, so wesentliche Fehler und ist mit so vielen großen Übeln verknüpft, daß man es wohl begreift, wie sogar einige denkende Köpfe unter uns zu der Überzeugung gelangen konnten, daß man den Menschen nie glücklich machen könne, wenn man ihm nicht die unglückliche Gabe vorenthalte, sich ein Sittengesetz in seinem Herzen zu schaffen, mit welchem alle seine Triebe in beständiger Fehde zu stehen scheinen. Es kommt darauf an, wie dieser Zweck erreicht, wie die Vervollkommnungsfähigkeit, wo durch der Mensch sich von andren Thieren unterscheidet, in einem ewigen Schlaf erhalten werden soll. Der Naturstand, wie ihn uns der Philosoph aus Genf geschildert hat, war bekanntlich nur in seiner Einbildungskraft zu Hause. Die Natur hat nirgends ein Geschöpf, und am allerwenigsten einen Menschen aufzuweisen, »dessen Herz in immerwährendem Frieden, und dessen Körper beständig gesund ist«; und dies sind doch die Bedingnisse, die Rousseau für das Glück seines freien Naturmenschen, als nothwendig voraussetzt. Wir wissen, wie schwer es hält, die ersten Bedürfnisse unserer Thierheit zu befriedigen, wenn wir deshalb an den Zufall verwiesen werden. Es ist das Loos aller Thiere, heute zu fasten und morgen sich zu übersättigen; kann aber ein solcher Wechsel wenn er auch keine Krankheit nach sich zieht, ohne alles Unbehagen seyn, und wird man vom rohen Menschen (dem unser Philosoph das bloße Denken ohne Reflektion nicht absprechen kann, da er es den Thieren selbst zugesteht,) sagen dürfen, daß er bei heftigen Anfällen des Hungers, oder eines ändern Naturtriebes, und dem steten Umhertreiben, welches die unmittelbare Wirkung derselben ist, »ruhiges Herzens« bleiben könne? Wirklich ist es sonderbar, daß die Erforschung der Ursachen der Ungleichheit unter den Menschen, nicht geradezu bei der Verschiedenheit angehoben hat, welche der Zufall schon allein in der Befriedigung der Bedürfnisse bewirken mußte. Die Entwicklung unserer vernünftigen Natur ist nicht das Werk der Noth allein; eine andere Reihe von Empfindungen und Gedanken rief der Überfluß hervor, und beide, Ungleichheit und Sittlichkeit, waren da, sobald sich zwei Menschen, zumal verschiedenen Geschlechts, auf derselben Erdscholle befanden.

In der Voraussetzung nun, daß von dem Augenblick an, wo sich der Mensch unter die Gerichtsbarkeit seiner Vernunft begiebt, und seine Handlungen einer moralischen Verantwortlichkeit unterwirft, die Summe körperlicher Leiden, die von unserer Organisation unzertrennlich sind, noch durch alle die sittlichen Qualen vermehrt werde, von denen das Thier nichts weiß; frägt es sich: durch welche künstliche Vorkehrung nicht nur die Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse gegen das Ungefähr größtentheils gesichert, sondern auch zugleich der freie Gebrauch der Vernunft, als eines gefährlichen, Unheil stiftenden Geschenks, so zweckmäßig eingeschränkt werden könne, daß man allen Übeln der sittlichen Entwicklung vorbeuge, ohne auf die Vortheile, welche die bisherige Anwendung der Geisteskräfte dem Menschengeschlecht erworben hat, Verzicht zu thun. »Die Weisheit der Regenten«, antwortet man uns, »hat das Mittel zur Beglückung ihrer Unterthanen erfunden; die Erhaltung der größtmöglichen Volksmenge in einem gegebenen Raum ist das aufgelösete Problem der Staatsökonomie; und darin besteht die Vollkommenheit der Gesetzgebung, daß sie alle Handlungen der Unterthanen einer unabänderlichen Richtschnur unterwirft, ihre geduldige Anstrengung hervorruft, die Sitten zu abgemessenen Bewegungen umschafft, jede Spur von Freiheit und Willkühr daraus verbannt, und alle gesellschaftlichen Verhältnisse der Möglichkeit des Wechsels entzieht. Unbedingter Gehorsam gegen alle Staatsverordnungen, blinder Glaube an jeden Lehrsatz der Kirche, rastloser Fleiß in Verrichtung der vorgeschriebenen Arbeit, sind die Hauptpflichten eines Menschen, der von der Huld seines Herrn die Befriedigung seiner Bedürfnisse erwartet. Und die schönen Früchte dieser Folgsamkeit? wer dürfte zweifeln? – sie sind: ein glückliches Volk, ein glänzender Hof, ein blühendes Reich!«

Wie preiswürdig erscheint die Weisheit, die mitleidige Sorge, die großmüthige Aufopferung der Fürsten, wenn wir ihnen diesen tiefgelegten, wohlthätigen Beglückungsplan beimessen und zugleich den kühnen Muth erwägen, der bei so zahlreichen, fast unübersteiglichen, durch die Ausschweifungen der Vernunft aufgethürmten Hindernissen zum Beharren und Vollenden erfordert wird! Der Unfehlbarkeit des vorgeschlagenen Mittels stehen indeß noch wichtige, ich fürchte gar, unauflösliche Zweifel entgegen. Es giebt ein Land, dessen Regierung der hier beschriebenen sehr ähnlich ist; ihr fester Zusammenhang überläßt wenig oder nichts der Willkühr und dem Ungefähr, und wird von manchen Schriftstellern als ein Meisterwerk der Staatsklugheit bewundert. Untersucht man aber, was die Einwohner dieses Landes, nach mehreren Jahrtausenden, unter dem Schutz und Einfluß ihrer Despoten geworden sind, so findet man nur bis zur verworfensten Weichlichkeit verzärtelte Geschöpfe, die mit allen Unarten ihres Ursprungs alle Laster dieser Schwäche verbinden, deren Ausbildung lediglich in mechanisch erlernten Begriffen, Gewohnheiten und Fertigkeiten besteht; die endlich, ohne eigene Besonnenheit, ohne sittliches Gefühl, ihren Sinnenbedürfnissen nachgehen, wie sie gedankenlos ihren Götzen Zinnblätchen opfern, und ihren Kaiser einen Himmelssohn nennen. Man hat ehedem geglaubt, daß die Chineser – denn Sie sehen wohl daß von diesen die Rede ist – ihren hinreichenden Unterhalt hätten, und wenigstens in physischer Rücksicht ein angenehmes Leben führten; allein jetzt weiß man aus dem Munde glaubwürdiger Zeugen, mit einer Zuverlässigkeit, die keinen Zweifel läßt, daß die Masse des Elends vielleicht in keinem Lande größer ist, als bei jener gedrängten Bevölkerung, welche viele Millionen Einwohner zur äußersten Dürftigkeit verdammt, und an unzähligen Neugeborenen schon im Augenblick ihrer Erscheinung das Todesurtheil vollzieht.

Vielleicht wird man fragen: wenn sich in Europa ein dem Chinesischen ähnliches Regierungssystem endlich festsetzte, würden da die Folgen ganz eben dieselben seyn? Unsere höhere Ausbildung, unsere tiefsinnigere Erforschung der Wahrheit, unsere Spekulationen über die Gränzen unseres Wesens, unsere durch Handel und Schiffahrt so umfassend gewordenen Kenntnisse, unsere nützlichen Wissenschaften, unsere zur höchsten Zweckmäßigkeit emporgestiegenen Künste, unser Geschmack, unsere Sitten, unsere körperlichen Vorzüge – müßten sie nicht einer Form den Weg bahnen, die alle Vortheile der besten Verpflegung des Menschengeschlechtes mit der Sorge für seine moralische Fixation verbände? Wer kann bestimmen, welche Reihe von Jahrhunderten, welche excentrische Bewegungen, welche Gährungen, kurz, welche Revolutionen die Menschenrace im östlichen Asien zu ihrem gegenwärtigen Mechanismus vorbereiten mußten? Die Erfindung so vieler Künste, die sich, wenn gleich ohne progressive Vervollkommnung, bis auf den heutigen Tag erhalten haben; die Läuterung und Festsetzung so vieler Begriffe, die jetzt wie unübersteigliche und undurchdringliche Mauern vor dem Verstande stehen und seine eigenthümliche Wirkung auf die umgebenden Dinge verhindern; endlich jene politische Vertilgung der Bücher, welche wahrscheinlich in China die Herrschermacht, durch die ganze Stufenfolge ihrer Werkzeuge hinab, auf Jahrtausende befestigte; – zeugen sie nicht von einer vorhergegangenen großen Thätigkeit des Geistes, von einer freien Entwickelung der Verstandeskräfte, von einer Moralität der ehemaligen Einwohner jenes ungeheuern Staates? Es wäre folglich nicht ungereimt, das gewaltsame Ringen, worin die Kräfte der Menschheit seit ein paar tausend Jahren in Europa begriffen sind, ebenfalls nur als den Vorbereitungszustand anzusehen, welcher der vollkommenen Beherrschung der Menge vorangehen muß. Die Asiatischen Nationen aber durchliefen ihren Kreis vermuthlich darum schneller, weil die Natur weniger freigebig gegen sie gewesen ist, und ihren Fähigkeiten engere Gränzen angewiesen hat. Bei uns müssen andere Erscheinungen die Ruhe der Völker begleiten, und es ist die Frage, ob unsere Lehrer und Führer uns nicht an jenen Abgründen glücklich vorbeiführen können, in welche die Chineser versunken sind.

Die ganze Stärke dieses Einwurfes scheitert an einer richtigen Beurtheilung der Folgen, welche die Ungleichheit unter den Einwohnern des nach dem oben angeführten Muster organisirten Staates unfehlbar nach sich ziehen muß. Diese Ungleichheit, sie bestehe nun in erblichen Vorrechten verschiedener Stände, in Klassen unterschieden, die sich nie verschmelzen, oder nur in der Menge der Besitzungen und des Reichthums, veranlaßt Leidenschaften, welche desto empörender die Herzen vergiften müssen, je weniger sie von einer freigebietenden Vernunft im Zaume gehalten werden, und je weniger die Regierung selbst, in der Zuversicht, daß sie nach den genommenen Maßregeln nichts von ihren Ausbrüchen zu fürchten habe, sich darum bekümmert. Wo wäre das Mittel, dem Eigennutz, der Gewinnsucht, dem Betruge, der List, dem Neide, dem Haß, der Verläumdung zu wehren, oder die Üppigkeit, die Wollust, die Völlerei, die Eitelkeit, die Hoffart, kurz, alle Folgen von dem Übermuthe der Reichen, nicht aufkommen zu lassen? Bedenkt man nicht, daß, sobald man dem Menschen den Maßstab entreißt, nach welchem er selbst ermessen muß, was Recht und Unrecht ist, die vorgeschriebenen Sitten nur ein konventionelles Gaukelspiel sind, das jeder buchstäblich mitmacht, um hernach, sich selbst gelassen, mit desto weniger Rückhalt zu handeln, und alles, was nicht verboten ist, für erlaubt zu halten? Was hätte man also mit der Unterdrückung der Vernunft gewonnen? Die Tugend vertilgt und unmöglich gemacht, indeß das Laster bliebe, und schändliches, nicht gefühltes Sittenverderbniß zuletzt in allen Gemüthern herrschte! – So ist demnach das Glück des zahmen Sklaven eben so erdichtet, als das Glück des freien Wilden, und die beiden Extreme der Wildheit und Zähmung, sofern man ihre Verhältnisse zur Sittlichkeit betrachtet, müssen sich berühren. Ich denke dabei an die Pflanzen, deren Früchte im ungebauten Zustande herb, saftlos, ungenießbar sind; und dann wieder an jene, die, zu sehr an ihrem freien Wachsthum durch die geschäftige Menschenhand gehindert, nur mißgestaltete Blüthen bekommen und keine Früchte tragen.

Ich mag hier nicht einmal mit der Gegenfrage auftreten: ob sich auch andere Folgen von der Ungereimtheit erwarten ließen, die Vervollkommnungsfähigkeit, die einmal des Menschen Unterscheidungszeichen ist, zum ewigen Schlaf zu verdammen? Als ob es uns zustände, die Anlagen der Natur willkührlich und ungestraft zu zerstören! Bisher hat man diese despotische Grundmaxime in Europa noch nicht auf eine so konsequente Art in Ausübung gebracht, wie es im östlichen Asien geschehen ist; – etwa, weil nur Menschen von Mogolischer Abkunft diese Marionetten-Natur annehmen können, und die reichhaltigere Organisation des Europäers sich so gewaltsam nicht in eine Form zwängen, seine regeren Geisteskräfte sich nicht so gänzlich erstiken lassen? Doch wir haben ja Beispiele von Sklaverei in Überfluß, die uns lehren, wie tief die Menschheit auch bei uns herabgewürdigt, wie sehr die Denkkraft am Aufkeimen gehindert werden könne. Ich vermuthe fast, daß es weniger an den Vorzügen unserer körperlichen und geistigen Anlagen, als an der Entstehungsart unserer Bevölkerung, an den Verhältnissen, die das Klima, die Lage der Länder und das Verkehr mit anderen Nationen nothwendig erzeugten, kurz, an einer Verkettung von Umständen liegt, die bis an den Ursprung der Gesellschaft hinaufreicht, daß sich theilweise unter uns eine freie Regsamkeit der Kräfte erhalten hat, die der Despotismus zu seinen Zwecken behutsam anwenden, aber bisher nirgends, ohne sich selbst zu schaden, gänzlich bändigen konnte.

Oft habe ich die Vertheidiger einer despotischen Verfassung von dieser Unwürdigkeit selbst unserer Brüder ein Argument entlehnen hören, womit sie die Unvermeidlichkeit einer immerwährenden Vormundschaft erweisen wollten. Vernunft und Freiheit, hieß es dann, wären allerdings schätzbare Vorrechte; nur könnten sie, der Natur der Dinge dieses Erdrundes gemäß, bloß das Eigenthum einer geringen Anzahl vorzüglich begünstigter Menschen seyn, und die Geschichte zeuge, daß zu allen Zeiten, in allen Ländern und Staaten, Unwissenheit und ungebildetes Gewohnheitsleben das Loos der Menge gewesen wären. Man wolle ja gern den Staatsmann, den Feldherrn, den Priester, den Arzt, den Philosophen aufgeklärt wissen; man lese sogar mit Vergnügen die Produkte eines gebildeten Verstandes; man höre und sehe mit Entzücken die Werke der reichen Phantasie, der gefälligen Erfindung, des feinen Witzes, des harmonischen Schönheitssinnes: allein nun erwarte man auch von diesen größern Geistern, denen die Regenten und Höfe Gerechtigkeit widerfahren ließen, daß sie endlich fühlen möchten, wie ihre Seltenheit ihren Werth erhöhe, und daß sie mit ihren Herren, die zur Arbeit und zum Gehorsam geschaffene Menge verachten lernten.

Unselige, grausame Menschenverachtung! Sie war es selbst, die jene traurigen Erscheinungen der Unwissenheit und Sklaverei unter der Menge verewigte, indem sie den Ehrgeitzigen zuerst über seines Gleichen hob; und sie wagt es jetzt, sich auf ihr eigenes Werk zu berufen? Über den gegenwärtigen Zustand unserer Gattung, ist der Philosoph mit dem Politiker einverstanden; aber er fühlt oder weiß vielmehr, was Menschen seyn könnten und sollten; er geht daher den Ursachen ihrer Herabwürdigung nach, und sucht das Mittel aufzufinden, welches sie wieder ihrer Bestimmung nähern kann. Mit einem Trauergefühle, das sich zur reinsten Philanthropie gesellt, blickt er auf ein Wesen hin, das die göttlichen Vorrechte der Vernunft und Sittlichkeit nicht genießen darf, und statt dessen, unter den Lasten der Gesellschaft, unglücklicher als die Thiere, seine ganze Wirksamkeit von seinen Trieben entlehnt. Wenn gleich das Menschengeschlecht in diesem unwürdigen Zustande wenig Achtung einflößt, so bleibt doch hier, wie überall, Hülflosigkeit die Quelle der zärtlichsten Pflicht, und der wahre Menschenfreund, so gerührt und aufgefordert, erkennt in diesem gemißhandelten und um seine Bestimmung betrogenen Haufen, den Gegenstand seiner uneigennützigen und immerwährenden Sorge.

Soll ich hier noch den so oft widerlegten und stets wieder aufgewärmten Einwurf erwähnen, daß die Beschäftigungen des großen Haufens ihm Zeit und Gelegenheit zu eigenem Forschen und Nachdenken, zur Ausbildung seiner Geistesfähigkeiten, kurz, zur sittlichen Vervollkommnung versagen? Man hebe doch nur die Last, die eine ungerechte Regierung der arbeitenden Klasse aufgebürdet hat, von ihren müden Schultern; man zwinge sie nicht länger, die Früchte ihres Fleißes dem privilegirten Räuber und Müßiggänger hinzugeben: und bald wird der kahle Vorwand verschwinden, der nur von jenen Mißbräuchen seine ganze Stärke entlehnt. Die Natur, die weniger stiefmütterlich ist, als ihre Verläumder sie schildern, legt oft in ihre Kargheit selbst den Sporn, der neue Anstrengung hervorruft, und die Geistesanlagen entwickelt. Auch der müde Arbeiter ist nicht immer zum Denken zu stumpf; die Freude des Erringens öffnet auch bei ihm die Thore der Empfänglichkeit. O, sie ist des Strebens werth! Nur bei vorenthaltenem Genusse wird das Gefühl der umsonst verschwendeten Mühe und des erlittenen Unrechts, allmählich die Regsamkeit des Geistes ersticken, und starre Gleichgültigkeit an die Stelle des Ringens nach Vollkommenheit treten.

Wenige, fruchtbare Wahrheiten, der reine Ertrag des äonenlangen Kampfes der Vernunft gegen Irrthum, Wahn und Betrug, genügen dem gesammten Menschengeschlechte, als die Grundpfeiler seiner Sittlichkeit, vorausgesetzt, daß sie nicht, unverstanden und unbenutzt, das Ohr allein berühren, und von der Zunge mechanisch und gedankenlos wiederholt, sondern mit eines jeden eignem Fassungsvermögen aufgenommen und seiner Empfindung gleichsam eingeimpft werden. Wer kennt aber nicht dagegen den ungeheuren Wust, womit man das Gedächtniß auch des geringsten Tagelöhners belastet, um seinen Verstand zur Unthätigkeit zu zwingen? Ammenmährchen und kindische Widersprüche in der Anwendung der Begriffe von Ursache und Wirkung, statt einer gründlichen Anleitung zur Kenntniß der umgebenden Natur; Vorschriften und Formeln zum Auswendiglernen, statt eines durch Erfahrung und Übung sanft erregten Bewußtseyns; ausgelernte Stellungen und Töne, grobe Taschenspielerkünste, freche Heiligung lebloser Fetische, widersinnige Vorstellungen von Belohnung und Strafe, Unterdrückung der Vernunft durch den seliggepriesenen Glauben an Unsinn, Unmöglichkeit und Lüge, statt eines einfachen und erhabenen Sinnes, der, über die Gränzen der Menschheit und ihres Erkennungsvermögens hinaus, ewige Wesenheit, Wahrheit und Güte ahndet, und sich ihnen anzuschließen sucht! – Diese Werkzeuge der künstlichen Unwissenheit trugen die Erzieher des Menschengeschlechts zusammen; ihrer bedienten sie sich, um, wo möglich, allen Menschen einerlei Oberfläche und Glätte zu geben, da doch das Naturgesetz, welches sie unwissend verkennen oder wissentlich übertreten, keine andere Bildung als jene gestattet, die in jedem einzelnen Menschen von innen heraus, nach Maßgabe seiner eigenthümlichen Kräfte geschieht. Allein der Despotismus forderte Automaten; – und Priester und Leviten waren fühllos genug, sie ihm aus Menschen zu schnitzen.

Die Hälfte der Zeit, die mit albernen Mummereien, hergeplapperten Formeln, abgeschmacktem Gewäsch über unbegreifliche Dinge, langweiligem Unterricht in unfruchtbaren Kenntnissen unverantwortlich verschwendet wird, reichte hin, die Aufmerksamkeit des gemeinen Mannes auf sich selbst und seine Verhältnisse zu richten, seinen Durst nach Wahrheit zu erregen, und den Wunsch in ihm zu wecken, durch eigenes Bemühen das zu seyn und zu werden, wozu ihn die Natur mit seiner eigenthümlichen Gestalt und seinen Anlagen ins Daseyn rief. Die Mittheilung nützlicher, anwendbarer Naturkenntnisse, die Anleitung zum eigenen Nachdenken, und in diesem die Belebung des zarteren Sinnes, der uns vernünftiger Freuden theilhaftig macht; diese schönen Sorgen des Menschenfreundes heischen weder ungewöhnliche Gaben noch übergroße Kräfte; die Unbefangenheit des Lehrers und des Zöglings sichert den Erfolg ihrer gemeinschaftlichen Arbeit. Hinweg daher mit dem ungerechten Spotte, daß die Schutzredner der Menschheit sich in unausführbaren Theorieen versteigen und Gelehrte hinter dem Pfluge sehen möchten. Nein! unendlich mehr Unsinn mußte man den Menschen lernen lassen, um ihn von sich selbst zu entfremden, als er ächte Grundbegriffe bedarf, um sich seiner Bestimmung zu nähern. Wie lange wird man den Regenten und Lehrern noch wiederholen müssen: was den Menschen tugendhaft und glücklich macht, kann keine Regierung und keine Erziehung ihm geben; es ist in ihm, aber des Tyrannen Arglist und des Erziehers Affenliebe können es nur gar zu leicht ersticken!

Sie merken wohl, daß ich den Nutzen des armseligen Nothbehelfs, den man bisher Erziehung nannte, trotz allen seinen Fehlern und Mängeln nicht verkennen will. – Die Menschheit lag als Fündling an der Brust einer mitleidigen Säugamme, deren gesunde Säfte und liebreiche Pflege ihr Wachsthum und Gedeihen gaben. Doch Reichthum, Hoheit, Üppigkeit entzündeten die lüsternen Sinne des jungen Weibes; verführt, verführend, zügellos, spielte die Buhlerin bald mit Kronen, indeß sie ihre Pflegetochter in harter Dienstbarkeit hielt. Endlich, auf der letzten Stufe eines ehrlosen Alters zum Scheusal entstellt, fröhnt sie ihren ersten Verführern, und möchte ihnen die Freiheit, die Jugend, die Unschuld der erwachsenen Jungfrau verhandeln. Was Wunder, könnte man noch hinzufügen, wenn das Beispiel der Verderbtheit bereits die Sittsamkeit eines so verwahrloseten Geschöpfs untergraben, den Nachahmungstrieb mißgeleitet und die Leidenschaften zur ungestümsten Entwickelung gereitzt hätte? –

In Ernste, was lästern jetzt die Priester das brausende, empörte Menschengeschlecht? War es nicht seit Jahrtausenden ihnen allein anvertrauet? Waren sie nicht seine unumschränkten Erzieher? War es nicht gewohnt, ihnen blindlings zu folgen? Mußte es sich daher nicht nach ihrem Muster bilden? Fern sei es von mir, die Verbrechen zu entschuldigen, womit man die heilige Sache der Freiheit entehrte; aber, wenn auf den neuesten Revolutionen das Mahl der Unsittlichkeit haftet, wessen ist die Schuld? Wer schuf uns das falsche, schädliche System der Sittenbildung? wer ging uns mit verwerflichem Beispiel voran, und trieb die freche Verworfenheit so weit, ihr zuletzt nicht einmal mehr den Mantel der Scheinheiligkeit umzuhängen? – Armes Menschengeschlecht! aus welchen Abgründen hast du dich noch emporzuarbeiten!

Es ist wahr, was uns vor gänzlicher Sittenlosigkeit behütet hat, sind jene ersten Lehren, deren Ursprung, sey er in übernatürlichen Eingebungen oder in den lauteren Tiefen der Vernunft zu suchen, uns in jedem Falle göttlich heißen kann. Die einfache naturgemäße Wahrheit, die sie enthielten, that immer noch Wunder, auch seitdem sie mit Tand und Schlacken verunreinigt war. Allein ich frage, ob unsere Gattung nicht eher bedauert als glücklich gepriesen werden müsse, daß man die einzige Quelle, wo sie Weisheit und Begeisterung zur Tugend schöpfen konnte oder durfte, so treulos hütete, oder so absichtlich trübte? Sollen wir es etwa gar unsern bisherigen Lehrern zum Verdienst anrechnen, daß sie nicht alle Wahrheit aus dem Sittenbuche tilgten, nicht mit einemmal über die Vernunft den mörderischen Bannfluch sprachen? – Vielleicht dürfen wir endlich unsere Phantasie erfreulicheren Hoffnungen überlassen. Seit mehr als einem Menschenalter traten die weisesten Menschen an die große Saat, und lehrten uns das gute Korn vom Unkraut unterscheiden. Die Ernte reift; die Schnitter werden die Garben in die Scheuern sammeln und das Unkraut draußen verbrennen. Sie sorgen, mein Freund, ob nicht manche gute ihre dabei mit umkommen möchte? Sorgen Sie nicht; nichts ist verloren, wo der Same des Guten bleibt!

Die Gegner der Vervollkommnung sollten endlich überzeugt seyn, daß man die schönen Träume von idealischer Vollkommenheit den Schwärmern überlassen könne, ohne deshalb an der Sache der Freiheit, oder, welches gleichlautend ist, der Vernunft und Sittlichkeit, zu verzweifeln. Gutes und Böses sind in unseren Verhältnissen nirgends ganz unvermischt, und der Grad des Mehrern oder Mindern bestimmt die Unterschiede. Im strengen Wortverstande war noch keine Verfassung so durchaus böse, daß nichts Gutes mehr dabei gedeihen oder bestehen könnte, keine so schlechterdings vollkommen, daß nicht Fehler, Mißbräuche und Verbrechen darin möglich wären. Wird man aber daraus folgern dürfen, daß es die Mühe nicht lohne, dem Übermaße des Bösen abzuhelfen und seinem Fortschritt ein Ziel zu stecken? Wird es darum gleichgültig seyn, ob wir unter einer guten oder bösen Regierung leben? Wenn der Zweck unseres Daseyns lediglich durch die Übung und Anwendung unserer Verstandeskräfte erreicht werden kann, dürfen wir es gut heißen, daß die Menge von dieser Bestimmung ausgeschlossen und von ihrer Erreichung gewaltthätig abgehalten werde, weil es freilich unmöglich ist, daß alle sich in gleichem Grade zu vernünftigen und sittlichen Wesen entwickeln? Wenn jemand eine Anzahl Kugeln nach einem bestimmten Ziele zu werfen hätte, wie thöricht würde er uns vorkommen, falls er sich bereden ließe, daß er sie eben sowohl in entgegengesetzter Richtung dürfe laufen lassen, weil sie doch nicht alle das Ziel erreichen könnten!

Den Feinden der Freiheit bleibt noch eine Zuflucht übrig; ein Argument, das, ihrem Vorgeben nach, aus der Natur des Menschen entlehnt ist. »Der Mensch«, behaupten sie, »ist nicht mehr und nicht weniger, als wozu die Gewohnheit ihn schuf, und der Philosoph, sammt seinem Stolze und seiner Eitelkeit, macht hier keine Ausnahme; auch auf ihn wirken, längst ehe er sichs bewußt seyn konnte, Zeit, Ort, Natur, Menschen, Verhältnisse, Begebenheiten; sie ließen jene tiefen, unauslöschlichen Eindrücke zurück, die in der Folge unvermerkt die Bahnen seiner Empfindungen und Gedanken wurden. Tugend und Laster, Weisheit und Thorheit, sind Gewohnheiten, von einem unvermeidlichen Verhängnisse bestimmt. Wer vermag dem Netze seines Schicksals zu entgehen, dessen Fäden gesponnen waren, ehe er Athem schöpfte?« – Ohne diese Behauptung von der metaphysischen Seite zu betrachten, wo sie zu einem langen Streite führt, den die Philosophie entweder längst entschieden hat, oder nimmermehr wird entscheiden können, möchte ich mich hier nur auf diejenige Erfahrungsübereinkunft berufen, ohne welche jede Verabredung, jeder Vertrag, jedes Einverständniß unter den Menschen unmöglich wäre. Diese Übereinkunft unserer Sinne ist der Grund einer gewissen Gleichförmigkeit unserer Vorstellungen; sind wir aber einverstanden über Schmerz und Vergnügen, so folgen alsbald daraus die Begriffe von Bösem und Gutem, von Recht und Unrecht, und es hängt nicht länger von uns ab, diese Grundbegriffe und ihr Verhältniß zu unserm Bewußtseyn zu ändern. Würden wir nun nicht lächeln, wenn jemand die angenehmen Empfindungen verachten wollte, bloß weil wir von Natur gewohnt sind, sie angenehm zu finden? Ist also der Mensch einmal so geschaffen, daß, sobald sich seine Geisteskräfte regen und moralische Begriffe zeugen, eben diese Begriffe von dem Augenblick ihrer Entstehung an, die höchste Gerichtsbarkeit über seine Handlungen, trotz aller Widerrede einzelner Vorstellungen oder Empfindungen, in ihm behaupten; so können wir keine Ehre, kein Verdienst, keinen Genuß darin suchen, diesem innern Gesetzgeber zu widerstreben, unter dem Vorwande, daß wir nur auf diese Art eine freie, eigenmächtige Wirksamkeit äußerten. Wir? Ich möchte wohl wissen, wo wir uns am innigsten und unzertrennlichsten der Selbstständigkeit unseres Ich bewußt sind: in der bloßen Aneignung einer Empfindung, oder als Richter über die Veränderung, die dadurch in uns geschieht? – Ist es also wahr, daß die Richtung, nach welcher sich unsere ganze Gattung bewegen soll, in der allgemeinen sittlichen Anlage des Menschen schon voraus bestimmt ist, – und bei aller Mannichfaltigkeit, welche die menschliche Natur durch alle Glieder ihrer Kette darbietet, ist dies der große Durchklang, in welchem alle einzelne Akkorde verhallen –: so können nur die Grade und die Art der Entwicklung unserer Geistesanlagen den äußeren Verhältnissen, worin wir uns befinden, unterworfen seyn.

Die Moralität der handelnden Personen müssen wir daher allerdings von der Moralität der Handlungen unterscheiden. Eine ungerechte That, mit guter Absicht und aus Unwissenheit des Bösen begangen, bleibt immer ein Verbrechen, wenn gleich die Schuld des Thäters wegfällt und wir nur die Beschränktheit seiner Einsicht bedauern. So kann auf der andern Seite eine gute Handlung von den wohlthätigsten Folgen, denjenigen, der sie in frevelhafter Absicht vollbrachte, von dem Vorwurfe der Immoralität nicht befreien. Tugend, dieser erhabene Name, dürfte von menschlichen Zungen nicht ausgesprochen werden, wenn er eine uns unerreichbare Befreiung von allem Übel, eine unbeschränkte Wirksamkeit und Energie unsers Wesens bedeuten sollte. Nach den Gränzen aber, die unsere Natur von aller absoluten Vollkommenheit ausschließen, kann uns nur die Vereinbarung einer gerechten Handlungsweise, mit dem Bewußtseyn guter Absichten, Tugend heißen. Hiermit verschwindet die streitige Frage: ob der Grad der eigenen Anstrengung und des innern Kampfes, womit eine solche Übereinstimmung errungen wird, bei der Definition in Rechnung kommen müsse. Es ist vielmehr offenbar, daß eine verdienstliche Zurechnung nirgends Statt finden kann, die Tugend mag das stille Resultat einer glücklichen Harmonie der Kräfte, oder das gewaltsam erkämpfte eines mächtig wollenden Verstandes seyn. Die Eitelkeit, die noch mit dem Bewußtseyn eines Verdienstes befriedigt seyn wollte, schmälerte den Werth der Tugend, die heroisch oder liebenswürdig, oder unter jeder Gestalt, welche sie nach der persönlichen Verschiedenheit jedes Menschen und seiner Verhältnisse annehmen mag, stets ihr eigener und alleiniger Lohn bleiben muß. Wer eine solche Zurechnung dem Philosophen beimessen kann, möchte wohl an den ächten nicht gerathen seyn. Selbstkenntniß und richtige Selbstbeurtheilung, ohne welche man diesen Namen nicht mit Recht tragen darf, sind Bedingnisse, wobei sowohl pharisäischer Stolz als falsche Demuth wegfallen müssen. Wohl dem, der ohne sich mit Andern zu vergleichen, den Genuß hinnehmen kann, den die Natur mit der Selbstgemäßheit unzertrennlich verbunden hat!

Wahres und Falsches, welches in dem aufgestellten Argument in einer verworrenen Mischung lag, wünschte ich hier gehörig abgesondert zu haben. So lange wir mit den Worten bestimmte Begriffe verbinden, ist wenigstens so viel klar, daß man der Tugend, auch als bloße Gewohnheit betrachtet, ihren Vorzug nicht absprechen könne. Ist nun vollends der Unterschied gegründet, den wir hier zwischen der natürlichen Richtung der menschlichen Natur und der Einwirkung äußerlicher Verhältnisse angenommen haben, so bliebe noch zu untersuchen übrig, in wie fern die Abhängigkeit des Menschen von diesen letzteren, durch zweckmäßige Vorkehrungen vermindert werden könnte. Wir haben bereits gesehen, wie gefährlich und feindselig eine unnatürliche Erziehung werden kann, indem ihr planmäßiges, gemessenes Verfahren, der Natur gleichsam vorzugreifen und jene Bildung zu vereiteln sucht, welche sonst durch die Erfahrung allein, wahrscheinlich immer zu einem gewissen Grade der Sittlichkeit führen müßte. Ein System der Erziehung aber, welches lediglich darauf abzweckte, den Menschen in sich selbst unabhängiger zu machen, anstatt ihm schwerere Ketten anzulegen, sollte es nichts zur wahren Vervollkommnung und durch diese zum Glück unserer Gattung beitragen können? Diese Frage beweiset Ihnen, daß wir uns wieder auf dem Punkte befinden, wo wir den Hauptgegenstand dieser Erörterung verlassen hatten.

Daß es eine so gar dauerhafte Form der Verfassung und der Sittenbildung geben könne, die den einzelnen Menschen den freien Gebrauch aller ihrer Kräfte nicht schmälerte, die nur bestimmte, was die Gesellschaft an ihre Glieder fordern muß, indem sie ihnen die unschätzbaren Vortheile der persönlichen und der Eigenthumssicherheit gewährt, die folglich jeden Menschen so ehrte, wie er, mit Vervollkommnungsfähigkeit begabt, und dadurch sich selbst sein eigener Zweck, geehrt werden müßte; – dies scheint mir bis jetzt noch nicht ganz außer der Reihe der Möglichkeiten zu liegen. Nur verträgt sich die Idee einer solchen Form auf keine ordentliche Weise mit jener Vorstellung der immerwährenden Kindheit des Menschengeschlechtes, die eigentlich, wie wir gesehen haben, dem patriarchalischen Despotismus, dem mildestscheinenden von allen, zum Grunde liegt. Man müßte annehmen, daß die Vormundschaft der Regenten über ihre Völker endlich ein Ziel haben, daß in dem Maße, wie die Menschen im Gebrauch ihrer moralischen Kräfte geübter würden, die Zucht des Vaters und Lehrers in den sanften Rath des Freundes übergehen und endlich alle Spur von Herrschaft auf der einen, von Gehorsam auf der andern Seite verschwinden müßte. Diese Voraussetzung ist aber mit dem Despotismus in offenbarem Widerspruch. Welchem Fürsten könnte es je einfallen, dem Zepter zu entsagen und das Volk seiner eigenen Tugend und Weisheit zu überlassen? Vergebens gehen wir die Geschichte aller Nationen durch; nicht ein einziges Beispiel erquickt den lechzenden Geist. Nennen Sie mir nicht den edlen Timoleon; er stellte nur eine Republik wieder her, und das begeisternde Zeitalter, worin er lebte, sprach laut in seinem Herzen für die Vorzüge der republikanischen Regierungsform. Von Karln V. oder auch von jenem Könige von Sardinien schweige man nur gar, die doch lediglich den Herrscherstab ihren Söhnen zur herzloseren Führung übergaben und zu spät den Verlust ihrer Macht bereuten. Unter dem despotischen Joche mag übrigens wohl das Volk zu schwach, zu träge, zu unwissend seyn, um plötzlich sich selbst beherrschen zu können. Ohne Tugend und Weisheit kann keine freie Verfassung bestehen; und woher hätten die maschinenmäßigen Knechte eines allvermögenden Regenten beide, oder nur eine von beiden, empfangen?

Wenn demnach vom Despotismus ein glücklicher Zustand des Menschengeschlechtes auf keine Weise zu hoffen steht; wenn die Ersättigung und Befriedigung der Naturbedürfnisse, die er so willkührlich für das einzige Glück ausgiebt, durch seine Anstalten nicht einmal erlangt werden kann; wenn jede Aufmunterung an das Volk, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen, ihm in seine Rechte einzugreifen scheint, und gleichwohl die Natur, indem sie Kräfte und Fähigkeiten in den Menschen legte, die Entwicklung und Vervollkommnung derselben augenscheinlich zu seiner Hauptbestimmung erhoben hat: so lassen Sie uns forschen, ob irgendwo von den Vorstehern dieser unmündig geglaubten Gattung ihr wahres Beste zum Hauptgegenstande der Regierungssorgen gemacht und die zweckmäßigsten Mittel gewählt und angewendet werden, wodurch jedes einzelne, ihrer Führung anvertraute Wesen zur innern Unabhängigkeit und sittlichen Vollkommenheit sich nähern kann? Die meisten Staatsverfassungen in Europa sind vom eigentlichen Despotismus noch ziemlich weit entfernt; mithin wäre es nicht ganz unmöglich, daß sie auch eigene, von jenen der Alleinherrschaft verschiedene Systeme befolgen könnten, um das Glück der Völker durch die Dauer ihrer Macht und ihres Zusammenhanges zu befestigen.

Nur die größten Europäischen Höfe haben indessen ein zusammenhängendes, festgesetztes Staats-System und eine damit genau verbundene Politik. Alle schwächeren Staaten müssen sich jederzeit nach den Umständen richten und ihre Erhaltung in veränderlichen Verbindungen, bald mit diesem, bald mit jenem mächtigen Nachbar suchen, um nicht in eine sklavische Abhängigkeit zu versinken, welche sie um so viel mehr erschöpft, weil noch kein Interesse des Unterdrükkers, sie zu schonen, vorhanden ist. Die Möglichkeit, daß das Glück der Untergebenen planmäßig betrieben werden könne, fällt hiermit in der Hälfte von Europa gänzlich weg. Wenn für die Erhaltung der Souverainetät gesorgt ist, behält der Fürst eines solchen Landes nur die Sorge übrig, mit seinem Hofstaat so reichlich zu genießen, als ihnen das Übermaß des Genusses noch Fähigkeit dazu gelassen hat, oder die Erschöpfung aller Hülfsquellen es noch gestatten will. Der erträgliche Zustand des Volkes unter einer solchen Regierung ist mehrentheils ein Werk des Zufalls.

Wo hingegen ein Regierungs-System wirklich vorhanden ist, dort – lächeln die weisen Staatsmänner der dummen, oder was ihnen nur eben so viel sagt, der frommen Einfalt derer, die Volksglück im Ernste für ihr Augenmerk halten. »Was wird in solchem Falle aus den Betheurungen, den Manifesten, den Proklamationen, den tausend menschenfreundlichen Äußerungen, die nichts als Liebe gegen ihre Völker athmen?« Wer dies noch fragen kann, ist wahrlich zum Staatsmann, ich will nicht sagen verdorben, aber gewiß zu ungewandt, und vielleicht zu unbefangen, zu rein. Das Geheimniß aller Staatsklugheit ist Vergrößerung; das Geheimniß aller Politik, List und Menschenverachtung. Doch was sag' ich, Geheimniß! In unseren Zeiten hüllen sich die Absichten der Höfe kaum mehr in diesen Schleier; nur die Mittel zur Ausführung, die Maschinen und Getriebe bleiben bis zu gelegener Zeit verdeckt. Macchiavellis Fürst wird nicht mehr von königlichen Schriftstellern widerlegt; er liegt, möchte man beinahe sagen, zur Schau im Audienzsaal; und wo wäre der Spott, der beißender die Aufklärung äffte? Es ließ sich auch wohl erwarten, daß während man in einem Extrem von Europa die Rechte der Menschheit mit den Waffen in der Hand geltend zu machen suchte, Rechte, deren sicherste Schutzwehr doch in der Vernunft allein besteht, im andern die willkührliche Gewalt trotzig ihre Larve von sich warf, um in allen Schrecken ihrer eigenen Medusengestalt das schwache Menschengeschlecht zu versteinern. –

Ich eile, einem Mißverstande vorzubeugen. Vorhin sagte ich, die Regenten schienen mir so bösartig nicht, zum Glück der Menschheit scheel zu sehen; Theils aus Eigennutz, Theils schon des bloßen Angenehmen des Wohlthuns wegen, müßte ich sie für aufrichtig halten, wenn sie dieses Glück, so eingeschränkt ihre Vorstellung davon auch sey, als eine Angelegenheit ihrer Regierungssorgen im Munde führten. Es könnte scheinen, hier hätte ich jene gute Meinung wieder zurück genommen; allein der Schlüssel zu diesem vermeinten Widerspruche liegt in der Geschichte des menschlichen Herzens. Unsere Natur ist dem Arzt und dem Psychologen gleich bewundernswürdig; denn in beider Rücksicht widersteht sie oft der gänzlichen Zerrüttung noch da, wo man meinen sollte, daß alles auf ihren Untergang schon berechnet sey. Geburt, Erziehung, Verhältnisse, alles scheint sich gegen die Menschlichkeit der Fürsten zu verschwören; und dennoch kann sie zuweilen im Sturm der ungezähmtesten Leidenschaften hervorschimmern. Allein den guten Willen eines Regenten, womit er eine menschenfreundliche Redensart in ein Manifest rücken, unter hunderttausend Leidenden einmal Einen trösten, oder, wenn es hoch kommt, von irgend einem Rechtschaffenen, der den Muth hat ihm ins Gewissen zu reden, sich eine gute That abdringen läßt, – diesen ohnmächtigen guten Willen dürfen wir nicht mit einem überlegten, nach den Vorschriften der Vernunft und des Herzens abgemessenen Handlungsplan verwechseln. Man zeige mir den Herrscher, dessen erster Gedanke bei jeder Veranlassung zum Handeln nicht dieser wäre: ist hier etwas für mich zu gewinnen? sondern der statt dessen sich fragte: ob und wie er das Wohl des Volkes hier befördern könne? und ich will glauben, daß die Gerechtigkeit vom Himmel gestiegen sey, um in der Brust dieses bessern Titus zu wohnen.

...è qual, che col sapere accoppia
Si la bontà, ch'al secolo futuro
La gente crederà, ehe sia dal cielo
Tornata Astrea...
                                Ariosto

O mein Freund! wie arm ist der, dessen schwache Weichherzigkeit ihm nicht erlaubt, einen unersättlichen Bettler abzuweisen! Mehr oder weniger binden sich die Fürsten, wenigstens die Despoten, in diesem Falle; ihr alles verschlingender Bettler sind sie selbst, und keiner hatte noch den Muth, sich irgend eine Befriedigung zu versagen .

Der Sklav seiner Bedürfnisse ist die Beute aller die ihn umgeben; er schleppt eine Kette, an der man ihn leiten kann, wohin man will. Schlaue, dreiste, behende Gefährten wissen diese Leitung in Dienstbarkeit zu verkleiden, den Augenblick der stärksten Anwandlung abzuwarten und zu benutzen, endlich, wenn Gewohnheit ihre Handreichung unentbehrlich gemacht hat, sich ein Verdienst daraus anzueignen und alsdann sogar das Gewicht der Kette zu vermehren oder sie fester anzuziehen. Die parasitische Brut der Höfe wächst auf dem schwachen Fürstenstamm, saugt seine besten Kräfte, und giebt ihm Seuchen, die er noch nicht hatte; bald sieht man sein eigenes Laub und seine Blüthen nicht mehr; nur die üppigen Misteln wuchern und grünen.

Aus den Verfassungen der Europäischen Reiche vom ersten Range, wie sie jetzt bestehen, wie sie strebend nach Vergrößerung und Erweiterung ihrer Macht, auf schlaue Bündnisse und berechnete Kriege untereinander, auf stets wachsende Heere und Steuern in ihrem Innern, ihre Dauer gründen, sollten wir uns noch schmeicheln dürfen, das Glück der Völker hervorgehen zu sehen? Wer dürfte in Ernst etwa diese Sprache führen: »daß es nicht schaden könne, wenn der Eroberungsgeist zur Hauptleidenschaft eines Fürsten würde, der wie Cäsar dem Griechischen Dichter nachspräche: um herrschen zu können, sey es erlaubt, die Gerechtigkeit zu verletzen; daß die Habe, das Leben etlicher Millionen Menschen, die Zufriedenheit, die Ruhe seiner eigenen Unterthanen und aller seiner Nachbaren dem Eroberer nichts wiegen müssen gegen seinen Ruhm, weil vielleicht, wenn dieser erst befriedigt ist, – vielleicht – die Periode dann eintritt, wo das Wohl des Volkes ein Gegenstand seiner Sorge werden kann; weil dann vielleicht die Tage der Vergeltung und des Genusses kommen, neue Gesetze dann den Übriggebliebenen den Rest ihres Eigenthums sichern, und, indem sich alles unter die Macht des Siegers beugt, sein Antlitz sich verwandeln und der bluttriefende Kriegesgott ein milder, segnender Apoll werden kann« –?

Rechnen Sie es mir nicht zu, wenn diese Apologie wie eine Satire klingt. Um ein so zweifelhaftes Vielleicht zu erkaufen, sollte man so große Opfer bringen dürfen? Deutschlands Glück, zum Beispiel, sollte eher nicht möglich werden können, als bis die Plane des Hauses Östreich wirklich in Erfüllung gegangen sind? Gesetzt, diese Erfüllung sey näher und wahrscheinlicher, als sie manchem Politiker gegenwärtig scheint, mit welchem Rechte darf die Nachwelt ihr Glück auf Kosten des Glücks der vorhergegangenen Generationen verlangen? Ist es nicht natürlicher und gerechter, daß jedermann für sein eignes Beste sorge, da ohnedies das Gute, welches die Vorfahren stiften, den Nachkommen zu Statten kommt?

Doch ich räumte hier schon längst mehr ein, als man billiger Weise fordern darf. Die Hoffnung der künftigen Geschlechter muß auf die jetzige Verfassung gegründet seyn, nicht bloß auf Eroberungs- und Vergrößerungsplane, die, wenn sie auch über alle Erwartungen gelingen sollten, ohne eine felsenfeste Organisation des Staats nur den Untergang desselben beschleunigen müssen. Ich frage, wo in Europa ist diese unerschütterliche Stärke der innern Staatsmaschine, wo dieser unzerstörbare Zusammenhang, diese vollkommene, abgemessene Übereinstimmung ihrer Bestandtheile anzutreffen? Der einzige Weg, der den Völkern eine wahrscheinliche, gegründete Aussicht auf dauerhaften Genuß versprechen könnte, ist jenem, den man eingeschlagen hat, gerade entgegengesetzt: der erobernde Staat muß organisirt seyn, ehe er sich nach außen vergrößert; wo die Vergrößerung vorangeht, ist hernach keine Organisirung mehr möglich, indem die Ungleichheit und Verschiedenheit seiner Bestandtheile, jedem Versuch, sie zu einem harmonischen Ganzen zu vereinigen, dann bereits entwachsen sind.

In der Ungebundenheit der höheren Stände, in der Unmöglichkeit ihren Anmaßungen, ihrer Macht, ihrem Einfluß unübersteigliche Schranken zu setzen, liegt der Zerstörungskeim großer Reiche. So stürzte das Römische Kaiserthum in Osten und Westen, und so muß jede Herrschaft zerfallen, die nicht auf einen orientalischen Mechanismus unabänderlicher Klassen und Kasten gegründet ist . Als die nordische Gesetzgeberin die Rangordnungen ihres großen Reichs vervielfältigte, mag sie den Nutzen einer solchen Einrichtung geahndet haben; allein wer sieht nicht, daß es auch dort mit diesem Kunstgriffe schon zu spät ist? Nicht die Staatsverfassung, sondern die persönliche Überlegenheit des Regenten hält noch die mächtigen Satrapen im Zaum, und weiß die übermüthigen Günstlinge, die Schwämme Einer Nacht, wieder in das Nichts zurückzustoßen, aus welchem sie so schnell emporgewachsen sind.

Ist dies aber der Zustand eines ächtdespotischen Reiches, wo die Hand des Alleinherrschers alle Rechte faßt, wo vor seiner Höhe alle Rangstufen verschwinden: was wird nicht in Ländern geschehen, deren höhere Stände auf wesentliche, erbliche Vorrechte trotzen und den monarchischen Staat aristokratisiren? Hier müssen die Unruhen, die Gährungen, die Umwälzungen der Verfassung unaufhörlich auf einander folgen und der stürmische Zustand desto unvermeidlicher und unheilbarer werden, je unentbehrlicher dabei diejenige Entwickelung moralischer Kräfte wird, welche die Herrschsüchtigen vergebens als bloßes Werkzeug zu gebrauchen hoffen. Die Beispiele sind zu häufig in der Geschichte, um hier einer besondern Erwähnung zu bedürfen. Sie, mein Freund, brauchte ich nur an Ihr Vaterland zu erinnern; oder – werfen Sie lieber einen Blick auf die Begebenheiten unserer eigenen Zeit? So sehen Sie die Bestätigung meiner Behauptung in Schweden, in Polen, in Frankreich.

Die Politik der Europäischen Fürsten bewirkt also das Gegentheil von jener Harmonie, in welche sich endlich alles auflösen sollte; weit entfernt, die Ruhe des Menschengeschlechtes zu gründen, verewigt sie vielmehr seine Revolutionen; weit entfernt, allgemeines Glück zu verbreiten, kann sie die herrschenden Dynastien selbst vor dem eigensinnigsten Wechsel des Glückes nicht schützen. Große persönliche Eigenschaften machen hier eine Ausnahme; doch wie selten sind diese nicht, und wie vorübergehend ist ihre Erscheinung! Wie gefährlich kann oft der bloße Vorsatz, allein zu herrschen, dem kühner strebenden Regenten werden! Wie schnell, endlich, stürzt unter einem schwachen Nachfolger das bodenlose Gebäude zusammen, welches sein größerer Vorgänger zu rasch und prunkend, mehr zu den Zwekken seiner eigenen Phantasie, als für die Dauer, aufgethürmt hatte!

Nach dreißig, höchstens vierzig Jahren, erneuern sich alle handelnde Hauptpersonen auf dem großen Welttheater; sie übernehmen ihre Rollen mit anderen Anlagen, Neigungen und Kräften, anderen Kenntnissen und Handlungsweisen als ihre Vorgänger, um wie diese, auf dem einzig möglichen Wege, durch Erfahrung, zur Besinnung und Klugheit zu gelangen. Der große Haufe geht daneben seinen einfachen, maschinenmäßigen Schneckenweg, und bevölkert die Erde mit neuen Zeugungen, die immer wieder den unerfahrnen Nacken unter das Joch beugen und am Rande des Grabes zu spät inne werden, daß man sie um Bildung und Genuß, um Kraft und Leben, um alle Zwecke des Daseyns mit leeren Versprechungen betrog. Wie war es bei so bewandten Umständen möglich, daß man sich je im großen Gange der Staatsbegebenheiten etwas anders als Unbestand und Glückswechsel versprechen konnte? Auf der einen Seite die heftigsten Begierden und Leidenschaften, die unter tausenderlei Gestalten immer neu, und immer mit neuer Gewalt hervorbrechen; und auf der andern das leidende Werkzeug, das ihnen zu Gebote steht, und jede Befriedigung möglich macht! Ich berühre hier die geheime Werkstätte eines Verhängnisses, das aller Berechnung spottet, einer höheren Instanz der Weltregierung, welche durch Menschen Menschenwerk zerrüttet, und den unvorhergesehenen, unwiderstehlichen Widersacher gegen den berauschten Günstling Fortunens heraufzuzaubern weiß; die Werkstätte, wo Alexanders früher Tod in Babylon, wo Cäsars Ermordung, als er kaum zu herrschen angefangen, und tausend ähnliche Bolzen des schnellen Schicksals geschmiedet wurden; die Werkstätte, aus welcher ein Gott von Brodteig hervorging und sich über Jupiters zertrümmerten Altären erhöhte; wo sichs von fern her bereitete, daß Luthers Reformation bestehen konnte gegen die vereinigten Kräfte des Papstthums, daß Ostreichs und Burgunds Waffen scheitern mußten an Helvetischer Freiheit, daß die Unabhängigkeit der Niederländer eine Frucht hundertjähriger Kriege ward, daß Amerika sich aus den Händen des Brittischen Übermuthes wand! In der That, wenn wir nicht den trostlosesten Fatalismus annehmen wollen, mit welchem alle Erörterungen über Zweck, Bestimmung und Sittlichkeit aufhören müssen, so dürfen wir nicht zweifeln, daß die Wirkungen blinder, vernunftloser Kräfte im Plane des Ganzen abgewogen, und dergestalt hinein verwebt sind, daß ihre Mißtöne sich im allgemeinen Zusammenklange verlieren. Zu allen Zeiten, unter allen Zonen, in allen Köpfen ist die Vernunft wesentlich eine und dieselbe; die nach ihren ewig gerechten Gesetzen abgemessenen Handlungen stören nie den Frieden des Weltalls, und scheinen den Handelnden als einen in die Geheimnisse des Schicksals Eingeweihten auszuzeichnen. Zwietracht und Streit sind das Werk anmaßender Begierden und Leidenschaften; das Menschengeschlecht ist nur durch seine eigene Beschränktheit vor ihrer zerstörenden Wirkung gesichert; sie selbst halten einander das Gleichgewicht, zu einem Zwecke, den der unwissende Mitwirker nicht ahndet, indem er bloß seine persönliche Absicht zu erzielen glaubt.

Wir wollen es der spekulativen Philosophie zu erforschen überlassen, warum die Sinnlichkeit fast durchgehends über die Vernunft ein solches Übergewicht behalten mußte, daß die freie Wirksamkeit dieser letztern dadurch fast unmerklich wird und die Weltregierung das Ansehen eines Chaos gewinnt, dessen Elemente sich nicht sobald organisiren, als sie auch schon eine mächtiger wirkende Anziehung wieder trennt; eines Chaos, wo Entstehung und Zerstörung der Gestalten in immerwährendem Wechsel vor unseren Augen schweben. Wir wollen hier nicht untersuchen, womit so viele tausend Millionen Menschen es verschuldet haben, daß eine traurige Knechtschaft ihnen die Entwickelung ihrer Vervollkommnungsfähigkeit fast gänzlich versagte, und welche Entschädigung ihnen dafür geworden sey oder noch werden könne. Allein, wenn die einzige Gattung von Wesen, welche zur moralischen Freiheit geeigenschaftet ist, bisher nur in äußerst wenigen ihrer Glieder, auf eine meistens unvollkommene Art, dieses Vorrecht hat genießen können; oder, daß ich mich eines ziemlich passenden Gleichnisses bediene, wenn unter vielen Millionen Raupen kaum Eine dazu gelangt, ihre Verwandlung zu vollbringen, in Schmetterlingsgestalt auf leichten Schwingen die Ätherbahnen zu durchirren und ungefesselt des Daseyns und des Weltalls froh zu werden: kann es, darf es dann einen Menschen verdrießen, daß sich irgendwo eine Wahrscheinlichkeit zeigt, wie künftighin die Beispiele dieser herrlichen Entwicklung häufiger werden könnten?

Die Vergangenheit beweiset hier nichts für die Bedingnisse der Zukunft; es könnte dargethan werden, daß die sittliche Vervollkommnung des Menschen der plastischen und zeugenden Natur völlig gleichgültig sey, daß ihre Sorge sich lediglich auf sein thierisches Wohlseyn, wie bei allen ändern Geschöpfen erstrecke, und daß dieser Zweck bei den vergangenen Zeugungen allein erreicht worden sey; so wäre damit noch nichts für den Erweis geleistet, daß fernerhin dieselbe Vernachlässigung der Geisteskräfte fortdauern müsse. Im Gegentheil, schwerer kann sich niemand am Menschengeschlechte versündigen, als indem er jenen Raupenstand, jene fortwährende thierische Erniedrigung, worin alle seine höheren Anlagen unbenutzt und unentwickelt bleiben, absichtlich zu verlängern sucht, zumal nachdem der Vorwand auf diese Art das dauerhafte Glück der gesammten Gattung zu sichern, als arger Trug oder nie zu realisirende Täuschung erkannt worden ist.

Endlich, mein Freund, scheint die Zeit gekommen zu seyn, wo jenes lügenhafte Bild des Glücks, das so lange am Ziele der menschlichen Laufbahn stand, von seinem Fußgestelle gestürzt, und der ächte Wegweiser des Lebens, Menschenwürde, an seine Stelle gesetzt werden soll. Des Schmerzes und des Vergnügens fähig, gebildet zu leiden und sich zu freuen, lasse der Mensch die Sorge seines Glücks der Natur, die allen Geschöpfen das Maß des Genusses nach ihrer Dauer und ihren Verrichtungen bestimmt. Der Gebrauch der Geistesgaben, womit der Mensch ausschließend ausgestattet worden ist, bleibt ihm allein anheimgestellt; weise und tugendhaft zu werden, ist eines jeden eigenes Werk, eines jeden eigene Pflicht. Auf sich selbst zu wirken, ist der Zweck des so reichbegabten Wesens, nicht in träger Ruhe die Pfunde zu vergraben, wovon es die Zinsen seinem Urheber und Gläubiger darbringen sollte. Jene eingebildete Kunst uns zu beglücken, womit man das Herrscherrecht beschönigen will, war nie etwas anders als Verstümmelung. Man machte den Menschen ärmer, als ihn die Natur geschaffen hatte; man raubte ihm seine Empfänglichkeit, man suchte ihn fühllos, unempfindlich, gleichgültig zu machen, die Summe seiner Bedürfnisse zu verkleinern, und die Heftigkeit seiner Triebe abzustumpfen. Die weisen Führer der Völker, nebst ihren Günstlingen, strebten gleichwohl nicht für ihre eigene Person nach diesem gepriesenen Glücke; vielmehr vervielfältigten sie die Arten ihres Genusses und machten es zum Hauptgeschäft ihres Lebens, in sich selbst neue Reitzbarkeit, neuen Sinn, neue Bedürfnisse zu schaffen. Wohlan, Ihr Fürsten und Priester! wir gönnen Euch euern Genuß; aber wir sprechen Euch zugleich los von einer Pflicht, die alle eure Kräfte übersteigt. Anstatt uns Glück zu verheißen, laßt es eure alleinige Sorge seyn, die Hindernisse wegzuräumen, die der freien Entwicklung unserer Kräfte entgegenstehen; öffnet uns die Bahn, und wir wandeln sie, ohne Hülfe eures Treibersteckens, an das Ziel der sittlichen Bildung; denn seht! wir empfangen Freude und Leid, unsere wahren Erzieher, aus der Mutterhand der Natur!


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