Theodor Fontane
Graf Petöfy
Theodor Fontane

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Zehntes Kapitel

An diese Schilderungen hatte sich noch eine ziemlich lebhafte Plauderei zwischen Feßler und Franziska geknüpft. Er ließ sich aus dem Gesellschaftsleben der kleinen norddeutschen Stadt erzählen und tat Fragen über Fragen. Am meisten interessierten ihn die Bilder aus dem lutherischen Pfarrhause: der reiche Kindersegen, das Whistspiel und die Pastoralkonferenzen. Alles begegnete sowohl von seiner wie von der Gräfin Seite der unverkennbarsten Teilnahme, jede Miene verriet es, und nur Graf Adam, der doch sonst der lauteste Bewunderer solcher Schilderungen und Gespräche zu sein pflegte, war auffallend still geworden. Er sann offenbar anderen Fragen und Dingen nach, antwortete zerstreut und spielte mit der Gardinenquaste, die neben seinem Stuhl herabhing. Er war deshalb auch einverstanden damit, daß man früher aufbrach als gewöhnlich, und gefiel sich weder in Neckerei noch Widerspruch, als Feßler um die Ehre bat, Franziska bis an ihre Wohnung begleiten zu dürfen. Ja, er lächelte kaum und zog sich, als beide gingen, in sein Zimmer zurück, das unmittelbar über dem Salon seiner Schwester gelegen war.

Diese war daran gewöhnt, die nervöse Lebhaftigkeit ihres Bruders ohne besondere Veranlassung in ihr Gegenteil umschlagen zu sehen, und verwunderte sich deshalb erst, als er am nächsten Morgen ohne weitere Grundangabe sein Ausbleiben beim Frühstück entschuldigen ließ. Zugleich hörte sie, daß er in seinem Zimmer auf und ab schritt wie jemand, der von einer schweren inneren Unruhe gequält wird. Was mocht' es sein? Was war vorgefallen, das ihn hätte verstimmen können? Sie sann darüber noch nach, als der alte Graf in ihren Salon eintrat, eleganter gekleidet als gewöhnlich und überhaupt in einer Haltung wie jemand, der zur Audienz erscheint oder einen ernsthaften Vortrag halten will.

Er ging auf die Schwester zu, begrüßte sie mit besonderer Artigkeit und nahm einen Stuhl. Aber er kippte mit demselben nur hin und her, während er sich über die hohe Lehne desselben vorbeugte.

»Habe mit dir zu sprechen, Judith. Bist du bei Laune?«

Die Gräfin war ersichtlich unruhig geworden. »Ich glaube, du weißt, Adam, daß ich das nicht kenne, was man Laune nennt. Aber vor allen Dingen bitt' ich dich, Platz zu nehmen.«

»Nein, nicht Platz nehmen; ich kann dann nicht sprechen; es wird dann alles wie Staatsaktion. Laß mich hier stehen oder noch lieber auf und ab gehen; der Teppich wird ohnehin Sorge dafür tragen, es nicht allzu störend für dich zu machen. Und nun ist es wohl das beste, mit der Tür ins Haus zu fallen: Ich habe vor, mich zu verheiraten.«

Judith erschrak heftig, aber sie war doch andererseits auch so vorbereitet darauf, daß es ihr gelang, ihre Ruhe rasch wiederzugewinnen. Und so sagte sie denn: »Warum solltest du nicht? Es war einst der Wunsch meines Lebens.«

» Einst«, wiederholte der Graf mit einem Anfluge von Bitterkeit oder doch Ironie.

Die Gräfin aber achtete des ironischen Tones nicht und fuhr ihrerseits einfach fort: »Und wen? Aber wozu frag' ich noch?«

»Und wie stellst du dich zu meiner Wahl?«

»Nun, sie hat Chic.«

»Und du Mißtrauen?«

»Nein. Ich habe sogar eine Vorliebe für sie.«

»Gut. Dann bin ich deiner schließlichen Zustimmung sicher, obschon ich, um offen zu sein, vom Allerweltsstandpunkt aus mancherlei Schwierigkeiten und Hindernisse keinen Augenblick verkenne: Geburt und Stand und Konfession.«

»Ja«, sagte Judith, »das trennt euch, Geburt und Stand und Konfession. Aber, mein lieber Adam, was euch eigentlich trennt, das hast du nicht genannt. Geburt und Stand, sagtest du. Nun wohl, in kleinen Verhältnissen bedeuten sie viel und schaffen vielleicht unübersteigliche Schwierigkeiten; aber das Haus Petöfy darf sich freier bewegen, und in dem Augenblicke, wo das Ja gesprochen ist, ist auch ausgeglichen, was Geburt und Stand vermissen ließen.«

Er war ersichtlich erfreut, sie so sprechen zu hören, und nickte zustimmend.

»Also nicht das«, fuhr die Gräfin fort. »Und auch die Konfessionsfrage nicht, die Frage nach der Rechtsgläubigkeit, die mich viel weniger ängstigt, als du vielleicht glaubst. Ich habe das Vertrauen zu der Macht unserer Kirche, der Macht meiner Gebete zu geschweigen, daß sie den mir wünschenswerten Ausgleich, wenn nicht schaffen muß, so doch schaffen kann. Aber eines kann sie nicht ausgleichen: den Unterschied der Jahre.«

»Welches Wunder auch ungefordert bleibt.«

»Und doch wäre es gut, es vollzöge sich. Ich wollte, du wärest weniger blind, oder es schärfte sich doch dein Auge.«

»Blind?« nahm er jetzt erregt und mit einem Anfluge von Überlegenheit das Wort. »Blind. Bin ich es denn? Du verkennst mich beständig, Judith, indem du meine Fehler entweder übertreibst oder sie vielleicht auch in aller Aufrichtigkeit größer siehst, als sie sind. Sieh, ich habe lange den Eitelkeiten dieser Welt gelebt und dabei vieles nicht gesehen, was ich nicht sehen wollte. Wer aber sein Auge schließt, ist noch nicht blind. Ich weiß genau, was siebenzig Jahre bedeuten, und daß sie der Zypresse näher stehen als der Rosenlaube. Der Sprosser im Fliederbusch hat sie für mich ausgeschlagen. Ich weiß das. Glaube mir, Judith. Und weil ich es weiß, so bitt' ich dich aufrichtig, erspar' es mir, mich in meinen alten Tagen noch auf irgendwelchem Liebesweg oder wohl gar in Erwartung ausstehender Zärtlichkeiten ertappen zu wollen. Laß dir sagen, wie's liegt. Ich habe das Einsamkeitsleben satt und habe vor allem auch die Mittel satt, die sonst dazu dienen mußten, dieser Einsamkeit Herr zu werden. Es ist mir klar geworden, daß man die Leere nicht mit Leerheiten ausfüllen oder gar heilen kann, und so steh' ich denn vor einem neuen und nach einer sehr entgegengesetzten Seite hin liegenden Ausfüllversuche. Du hast es gut gehabt und hast unter Feßlers Assistenz dein Lebensmanna in der Kirche gefunden, und etwas von wirklicher Himmelsfreude hat dein irdisch Dasein durchleuchtet. Ich weiß wohl und weiß es allen Ernstes, daß dergleichen ein Glück ist; aber ich habe nicht das Talent dafür und muß mich mit etwas Irdischerem und Alltäglicherem behelfen. Jeder sucht das Glück auf seine Weise...«

»Und findet es doch nur da, wo es wirklich liegt...«

»Ich bitte dich, Judith, nicht das; nichts aus diesem Tone... Begreiflicherweise liegt es mir sehr fern, dich gerad in diesem Augenblicke herausfordern zu wollen, denn ich bedarf deiner Unterstützung, aber was du da für mich hast und mir hinwirfst, das sind Münzen, die der Bettler aufsucht, nicht ich. Es gibt nichts, das mich so nervös macht wie Gemeinplätze, darüber, um ihre Dürftigkeit zu verbergen, irgendein Segen mit irgendeinem Aplomb ausgesprochen wurde. Viel, viel mehr als derartig abständige Christlichkeiten bedeuten mir in diesem Augenblick ein paar heidnische Gottheiten dritten Ranges, kleine Göttinnen, in betreff deren ich nicht einmal weiß, ob sie mythologisch verbürgt und nicht vielleicht bloß Geschöpfe meiner eigenen Erfindung und Ernennung sind.«

»Und die wären?«

»Erst die Göttin der Zerstreuung, dann die der Beschwichtigung und Einlullung und endlich die der Plauderei. Das wären so drei, die meiner Not am meisten entsprechen und mir vielleicht aufhelfen würden. Glaube mir, Judith, ich sehne mich nach Rast und Ruhe seit Jahren schon, aber jedesmal, wenn ich sie zu haben vermeinte, summte mir eine Fliege durchs Zimmer und störte mich. Und sieh, diesen Störenfried meiner Ruhe, der in beständiger Metamorphose heute diese und morgen jene Gestalt annimmt, diese böse Fee möcht' ich mir durch eine gute Fee verscheuchen, am liebsten aber wegplaudern lassen. Und das kann niemand besser als sie. Sie hat den guten Verstand der Norddeutschen und übt die Kunst der Erzählung und Causerie wie keine zweite. War es nicht gestern erst, als gingen wir mit ihr an dem Bollwerk entlang und sähen die Giebel und Mastspitzen und die hereinbrechende Flut! Und dazu welche Stimme! Mein Ohr horcht auf jedes Wort, das sie spricht, und du mußt dir's vorstellen, als hätt' ich eine beständige Sehnsucht nach einer Melodie.«

Die Gräfin lächelte. »Weißt du, wie du sprichst, Adam? Ganz nach Art eines Prinzen, der einen Vorleser oder, wenn's hoch kommt, einen Cellospieler sucht.«

»Und doch such' ich weder den einen noch den andern, und der Fehler in deinem Vergleiche, Judith, ist einfach der, daß du den tiefen und geheimnisvollen Unterschied übersiehst, der in dem Gegensatz der Geschlechter liegt. Auch für den noch, der mit Hülfe seiner Jahre mit dem kleinen, pausbäckigen Gott und seinem Gefolge längst abgeschlossen hat. Ein klug schwatzender Vorleser, den ich herbeiklingle, wäre mir rundheraus ein Greuel, eine Gräfin Petöfy aber, die mir ein Romankapitel vorliest oder ein Chopinsches Notturno verspielt, der küss' ich die Hand.«

»Und wie glaubst du nun, daß sich Franziska zu solchem Antrage stellen wird?«

»Das sollst du von ihr erfahren. Ebendeshalb mache ich dich zu meiner Vertrauten.«

»Und wenn sie nun ja sagt, was glaubst du, daß daraus wird?«

»Mein Glück.«

»Erkauft durch das ihre. Denn junges Blut will junges Blut, und was sie dir bringt, ist ein Opfer.«

»Ein Opfer? Wer verlangt das? Ich nicht. Du verkennst mich beständig, auch hier wieder, auch wieder in diesem Punkte; denn alles, was dir bloß egoistische Laune dünkt, ist ein Kalkül, der auch das Recht des andern scharf mit in Berechnung zieht. Opfer! Es soll umgekehrt ein Verhältnis werden, das sich auf vollkommener Freiheit aufbaut, ein Ehepakt, der statt der Verklausulisierungsparagraphen ein einziges weißes Blatt hat. Carte blanche. Ja, Judith, laß mich das Wort wiederholen. Wir sind unter uns und dürfen uns vielleicht um unserer Stellung und unserer Jahre willen gestehen, daß wir über Alltagsbegriffe, die schließlich doch immer nur Lüge verdecken, einigermaßen hinaus sind.«

Judith lächelte.

Der alte Graf aber übersah es oder nahm es auch wohl als Zustimmung und fuhr deshalb, immer lebhafter werdend, fort: »Ich habe mich zu Feierlichkeitsbetrachtungen angesichts dieser Dinge nie heraufschrauben können. Es hänge die Welt daran, versichern einige mit Emphase, was mir immer nur ein Beweis sein würde, daß die Welt an etwas sehr Inferiorem hängt. Rundheraus, all das sind Erwägungen und Betrachtungen aus der Sphäre von Gevatter Schneider und Handschuhmacher. In der Obersphäre der Gesellschaft bestimmt die Politik und unter Umständen auch die bloße Lebenspolitik die Heiraten und Bündnisse, Bündnisse, bei deren Abschluß es noch jederzeit ferne gelegen hat, dem Herzen seine Wege vorschreiben zu wollen.«

»Aber doch der Pflicht.«

»Nun wohl, der Pflicht. Aber was ist Pflicht? Was wir so kurzweg als Pflicht bezeichnen, zerfällt wieder in Einzelpflichten, in betreff deren es Sache des Übereinkommens bleibt, welche gelten sollen und welche nicht. Ich habe nicht vor, auf alle zu verzichten, aber doch auf viele. Weiß ich doch, daß sie jung ist. Und sie soll jung sein und Freude haben und jede Stunde genießen. Oder glaubst du, daß ich jemals Lust bezeigen könnte, zu den Traditionen der eingemauerten Nonne zurückzukehren? Umgekehrt, es würde mich glücklich machen, sie von unseren besten Kavalieren umworben und unser altes Schloß Arpa zum Minnehof à la Wartburg erhoben zu sehen. Ja, Judith, meine Phantasie schwelgt in solchen Bildern und Vorstellungen. Ich höre schon den Marsch aus dem Tannhäuser und sehe Perczel oder gar den alten Szabô sich als Wolfram von Eschenbach vor ihr verbeugen. Ein heiteres Leben will ich um mich haben, ein Leben voll Kunst, voll Huldigung und Liebesfreude. Was daneben zu wahren bleibt, das heißt Dekorum. Nichts weiter. Anstoß geben oder geben sehen ist mir gleich unerträglich; mais c'est tout. Diskretion also, Dekorum, Dehors.«

»Und mit diesen Vollmachten ausgerüstet, soll ich die Frage tun und die Verhandlungen führen?«

»Ja, willst du's?«

»Ich will es, weil ich es wollen muß und weil mein Widerspruch in deinen Entscheidungen nichts ändern würde. Gegenteils. Widerspruch hat dich immer nur gereizt und dich eigenwilliger gemacht in dem, was du wolltest. Also noch einmal, ich will. Ich weiß auch sehr wohl, es sind solche Verbindungen, wie sie dir in diesem Augenblick als ein Ideal vorzuschweben scheinen, jederzeit geschlossen worden; die Kirche verbietet sie nicht. Die Kirche betont nur die Heiligkeit der Ehe, nicht das Glück der Ehe. Was ich dir also noch zu sagen habe, kommt nicht aus Prinzip oder Dogma, sondern einzig und allein aus dem Herzen einer Schwester, die dich liebt. Und als solche rufe ich dir zu: Gehe nicht diesen Weg, halte vielmehr inne, wenn du noch innehalten kannst. Ich prophezeie dir...«

»Ich glaube nicht an Prophezeiungen.«

»Nun denn, so sollen sie dir auch nicht werden, und nur einem Worte noch öffne dein Ohr und deine Seele. Sieh, du teilst die Pflicht in Pflichten und die Pflichten selbst wieder in solche, die dir je nach Gefallen unerläßlich oder aber auch erläßlich erscheinen. Und zu den unerläßlichen rechnest du vor allem die Diskretion und das Dekorum und die Dehors. Aber das sind vage Begriffe. Wo ziehst du scharf die Grenze zwischen dem, was statthaft und was unstatthaft ist? Was liegt innerhalb deiner ›Dehors‹ und was liegt außerhalb?«

Es war ersichtlich, daß er hier unterbrechen wollte. Judith aber nahm seine Hand und fuhr, immer eindringlicher werdend, fort: »Und zu dem einen Worte, Bruder, noch ein zweites. Du glaubst allerpersönlichst deiner wenigstens sicher zu sein, sicher in dem, was du Drüberstehen und Anschauungsfreiheit und Vorurteilslosigkeit nennst. Aber auch darin irrst du. Du bist weder deines Herzens noch deiner Meinungen sicher, und was dir heut ein Nichts bedeutet, kann dir morgen eine Welt bedeuten. Schwankend ist alles, und fest allein ist Gottes Gebot. Auch das ungesprochene, das still und stumm in der Natur der Dinge liegt. Ich beschwöre dich, Bruder, überleg es. Es leitet mich nur die Liebe zu dir.«

»Und der alte Erziehungshang.«

»Ein Wort, aus dem ich sehe, daß es zu spät ist und daß du's unabänderlich willst. Und so werd' ich denn das Gespräch mit Franziska haben. Aber nicht hier; erst wenn wir alle wieder in Wien sind.«

Er war es zufrieden, nahm Hut und Stock und verließ das Zimmer, indem er ihr zerstreut einige Worte des Dankes sagte.

Sie sah ihm nach und griff in ihrer Angst und Unruh nach einem Andachtsbuch, um darin zu lesen. Aber es wollte nicht gelingen. »In welche Lagen uns doch das Leben führt! Ich eine Freiwerberin. Und in einer Sache, die mich betrübt und erschreckt!«


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