Theodor Fontane
Graf Petöfy
Theodor Fontane

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Siebentes Kapitel

Am andern Morgen saßen beide Freundinnen eine halbe Stunde früher als sonst in der Veranda, deren Leinwandvorhänge nach der einen Seite hin halb zugezogen waren, während gegenüber, wo die Vorhänge fehlten, eine Hängematte hing, in der sich Lysinka schaukelte.

Sie war in ein Bilderbuch vertieft und überließ deshalb, ohne wie sonst wohl zuzuhorchen, die beiden Damen ihrem Gespräche, das sich selbstverständlich um die Partie vom Tage vorher drehte.

Dann aber entstand eine Pause, bis Franziska plötzlich und mit einiger Befangenheit fragte: »Sagtest du nicht, daß die Belmonti geschrieben habe?«

»Ja.«

»Und daß sie sich Lysinka zurückerbeten?«

»Ja.«

»Und willst du nicht darauf eingehen? Offen gestanden, ich glaube, daß die Belmonti recht hat und daß du diese Ferien länger ausdehnst, als dem Kinde gut ist.«

Phemi lachte herzlich, dann aber sagte sie: »Ja, Fränzl, es hilft dir nichts, du mußt nun schon deutlicher mit der Sprache heraus. Denn du wirst mir doch nicht wirklich und ernsthaft einreden wollen, daß du Lysinkas halber Erziehungssorgen hättest. Ich würde glauben, du wolltest sie los sein, wenn ich nicht umgekehrt wüßte, daß du sie fast so gern hast wie Hannah. Also beichte.«

Franziska sah verlegen vor sich hin, und Phemi, der ihre Verlegenheit leid tat, setzte deshalb ohne weiteres dazu: »Nun, laß nur, ich brauche deine Beichte nicht und will dir sagen, was es ist. Sieh, ich bin lange nicht so gescheit wie du, hab' aber bessere Augen und sehe gleich, wie's steht und im Herzen aussieht. Auch in deinem. Und deshalb weiß ich, es kommt alles nur daher, weil du wieder Reputationsanfälle hast und einfach fürchtest, die ›Nichte‹ könnte dich über kurz oder lang in Verlegenheit bringen, die ›Nichte‹, die mir wie aus dem Gesicht geschnitten ist und an deren Nichtenschaft deshalb niemand glaubt.

Sieh«, fuhr sie fort, »du bist ein so guter Kerl, daß ich dir nichts übelnehme, schon lange nicht. Empfindeleien sind ohnehin nicht meine Spezialität, und so begnüg' ich mich denn in dieser dir Sorge machenden Lysinka-Sache mit dem geflügelten Wort: ›Es ist mein Kind, es bleibt mein Kind, ihr gebt mir nichts dazu‹, noch dazu klassisches Zitat. Und sogar vom alten Goethe, der immer recht hatte.«

»Nicht immer.«

»Aber doch in solchen Dingen. Er verstand sich zu gut darauf. Jedenfalls hab' ich vor, mich nach diesem Spruche zu richten und Madame Belmonti noch eine Weile warten oder meinetwegen auch sich ängstigen zu lassen.«

Franziska schwieg. Endlich sagte sie: »Verzeih, Phemi, daß ich davon sprach. Es war nicht recht. Aber ich dachte, man könne nicht gleichzeitig zwei Dinge wollen, die sich einander ausschließen. Es liegt dir selber an dem Umgang mit drüben und muß auch so sein, denn es ist eine herrliche Frau, diese alte Gräfin, ganz von jener Feinheit, Nachsicht und Milde, die, wie du mit Recht sagtest, immer nur bei den Frommen und Vornehmen zu finden ist. Aber man darf ihr, umgekehrt, auch nicht zuviel zumuten, und wenn wir wirklich einen auch nur oberflächlichen Verkehr mit ihr unterhalten wollen, so müssen doch Fragen ausgeschlossen sein, die, wenn sie wie zufällig in Gegenwart Graf Egons zur Sprache kämen, unzweifelhaft zu Verlegenheiten und hinterher zu Witzeleien und allerhand Medisance führen würden.«

»Du bist ein Kindskopf«, lachte Phemi. »Lehre mich doch die vornehme Welt kennen. Ich stecke länger darin und will dir sagen, wie's liegt. Auch die Besten nehmen uns bloß so hin. Sie lassen sich's gefallen, daß wir ihnen die Zeit vertreiben, und sind auch wohl dankbar dafür, aber von unserer Tugend und Sitte zu hören, ist ihnen nur langweilig. Denn sie glauben nicht daran, und weil sie nicht daran glauben, erscheint ihnen unser Tugendanspruch einfach prätentiös. Wir sollen nicht bloß tatsächlich anders sein wie sie, nein, sie wollen sich dieses Unterschiedes auch bewußt werden. Und so glaube mir denn, es wird ihnen gar nicht schwer, uns zu pardonnieren, aber uns zu respektieren, ist ihnen lästig und unbequem. Du hast keine Vorstellung davon, in wie vielerlei Kleider sich der menschliche Hochmut steckt. Und auch die Gräfin drüben, sosehr ich sie verehre, wird schließlich keine Ausnahme machen... Aber sieh nur, wer ist denn der alte Herr, der sich drüben im Hotel eben über die Balkonbrüstung lehnt und hierher lorgnettiert, als kenn' er uns? Ist das nicht...?«

Und im selben Augenblick erkannten beide den alten Grafen und erwiderten seinen Gruß.

Wirklich, er war es, und ehe sich beide Damen noch in ihren Verwunderungen und Mitteilungen erschöpft hatten, erschien er bereits in Person, um ihnen einen Morgenbesuch zu machen. Er war unbefangen, auch Franziska gegenüber, und lächelte nur, als Phemi genauso, wie sie damals Egon bestürmt hatte, halb in wirklicher und mehr noch in erkünstelter Neugier mit hundert Fragen auf ihn einzudringen begann. Es habe verlautet, wenn auch nur gerüchteweise, daß er den Sommer in Trouville zubringen werde; statt dessen habe, wie der Augenschein lehre, Wien oder doch Öslau gesiegt, woraus sie den Schluß ziehe, daß das entkaiserte Frankreich auch zugleich ein entzaubertes Frankreich für ihn gewesen sei.

Der Graf in seiner Antwort schwankte zwischen Zugeben und Bestreiten und versteckte dabei den eigentlichen und wahren Grund seiner Rückkehr hinter allerlei Scheingründen, in deren übermütiger und etwas grotesker Ausmalung er sich gefiel. Es sei wirklich sein Plan gewesen, während der heißen Monate nach Trouville zu gehen, aber weil die Saison erst Mitte Juli beginne, habe er zuviel Zeit gehabt, sich in seiner Phantasie mit dem Badestrand und seinen Bildern zu beschäftigen, eine Beschäftigung, an der schließlich die ganze Reise gescheitert sei; was übrigens niemanden in Verwunderung setzen werde, der das Übergewicht der Vorstellung über die Wirklichkeit irgendeinmal an sich selbst erfahren habe. Das fait accompli bedeute gemeinhin nicht viel, aber in der Erwartung der Dinge liege Himmel und Hölle. Das habe sich ihm in den Tagen seiner Phantasiebeschäftigung mit dem Trouviller Badestrand auch wieder recht fühlbar gemacht. Er habe nichts gegen Urzuständlichkeiten, und das letzte, woran er kranke, sei Prüderie, ja das Paradiesische, das Mittelafrikanische, das Mythologische, gleichviel, welcher Ausdruck seitens der Damen bevorzugt werde, werde niemals von ihm beanstandet werden; aber er hasse die Mischungen und müsse statt ihrer auf Einheit und Reinheit des Stiles dringen. Jeder ehrlich gemeinte Versuch, das alte Theatervorhangthema: Neptun und Arion samt dem ganzen Corps de ballet der Weltmeere zu neuem, wirklichem Leben erblühen zu lassen, dürfe seiner Zustimmung ein für allemal sicher sein, aber verschämte Halbzustände, Zustände, die nicht Fisch und Vogel seien, hätten diese seine Zustimmung mit gleicher Entschiedenheit nicht. Und so dürfe er sich denn allerdings berühmen, ausschließlich unter der Wucht ästhetischer Bedenken einen fluchtartigen Rückzug aus Frankreich angetreten zu haben.

Während er so sprach, war Lysinka neugierig aus ihrer Hängematte herausgekrochen und stellte sich ohne jede Spur von Verlegenheit mit an den Tisch, ganz so, wie verwöhnte Kinder zu tun pflegen. Ihr Auge ging dabei beständig umher und sah jeden einzelnen fragend und doch auch wieder halb verständnisvoll an. Es war ersichtlich, daß sie dem alten Grafen, der unwillkürlich seine Hand über ihr langes blondes Haar hingleiten ließ, ungemein gefiel; ehe er aber eine Frage zu tun imstande war, sagte Phemi, die mit Franziskas aufsteigender Verlegenheit ein Mitleid haben mochte: »Das war nun also Trouville, Herr Graf. Und nun Paris, Paris, von dem ich so gerne höre, das mein Ideal und meine Sehnsucht war von Kindheit an und das ich schon um meiner Kunst willen so gern gesehen und befragt und studiert hätte. Ja, wirklich, um meiner Kunst willen. Eine reizende junge Kollegin von mir, natürlich Liebhaberin, phantasierte neulich sogar von der Heiligkeit ihrer Kunst. Es war komischer als Tewele. Doch ich verirre mich von der Hauptsache, von Paris, über das wir, nicht wahr, Fränzl, um so lieber berichten hören, als uns Graf Pejevics gestern erst von London erzählt hat.«

»Und wie fand er London?«

»Er klagte, daß alles zu schwer sei, sogar die Träume.«

»Je nun«, lachte der Graf, »die sind heuer auch in Frankreich gerade schwer genug. Es sind Rüstungs- und Waffenträume, Vierundzwanzigpfünder mit der Aufschrift ›Revanche‹. Ja, die Franzosen sind und bleiben Kinder. Aber so schwer ihre Träume sind, so leicht ist ihr Leben nach wie vor, und ich habe keinen Unterschied entdecken können zwischen sonst und jetzt. Das entkaiserte Frankreich, um Fräulein Phemis Wort zu wiederholen, ist nicht entzaubert. Und warum nicht entzaubert? Weil es zu den Vorzügen oder meinetwegen auch zu den Schwächen dieses Volkes gehört, im steten Wechsel der Dinge sich selbst immer gleich zu bleiben. Ich habe es nun unter einem halben Dutzend widerstreitender Regierungen im wesentlichen ohne jede Veränderung gesehen und möchte mich fast verwetten, daß es auch dasselbe war, als die Trikoteusen um die Guillotine herumsaßen und schnupften und plauderten und Strümpfe strickten. Es ist ein Phantasievolk, dem der Schein der Dinge vollständig das Wesen der Dinge bedeutet, ein Vorstellungs- und Schaustellungsvolk, mit einem Wort, ein Theatervolk.«

»Wie die Wiener?«

»O nicht doch, meine Gnädigste. Die Wiener sind ein Vergnügungsvolk und gehen ins Theater, um unter Lachen und Weinen sich etwas vormachen zu lassen, aber auch der Passionierteste fühlt sich schließlich auf seinem Parkett- oder Parterreplatz immer noch wie ein Gast. Anders der Franzose. Der ist da zu Hause, füllt die Hälfte seines Daseins mit Fiktionen aus, und wie die Stücke sein Leben bestimmen, so bestimmt das Leben seine Stücke. Jedes ist Fortsetzung und Konsequenz des andern, und als letztes Resultat haben wir dann auch selbstverständlich ein mit Theater gesättigtes Leben und ein mit Leben gesättigtes Theater. Also Realismus! Auf der Bühne gewiß, aber auch weitergehend in der Kunst überhaupt. Welche Lust, ein französisches Schlachtenbild zu sehen, auf dem die Säbel nicht angeklebt sind, sondern wirklich geschwungen werden. Elan auch da, Leben und Wirklichkeit. Und nun gar erst der Roman!«

»Ah, Sue; Balzac.«

»Überholt.«

»Flaubert?«

»Überholt.«

»Nun, wer denn?«

»Eine neue Größe. Zola. Emile Zola.«

»Was sehr unfranzösisch klingt.«

»Und es auch ist. Italiener von Abstammung, wie die meisten berühmten Franzosen.«

»Und was will er?«

»Ja, das ist schwer zu sagen, meine Gnädigste, weil er sehr vieles will und dies viele zu gleicher Zeit. Er hat jedenfalls seine ›Wahlverwandtschaften‹ gelesen und sieht in dem, was wir das Seelische zu nennen gewohnt sind, also zu meinem lebhaften Bedauern auch in der ganzen Machtsphäre der Liebe, nur sehr äußerliche, sehr natürliche Prozesse. Die Blutmischung spielt eine Rolle von Bedeutung und natürlich auch die Nerven. Aber das ist nicht die Hauptsache. Bis jetzt war es, wenn ich mich nicht irre, das Auge, was in dem bekannten und entscheidenden großen Romanmomente den Ausschlag zu geben hatte; der neue Romancier mit dem italienischen Namen aber geht weit, weit darüber hinaus und zieht nicht mehr und nicht weniger als die Gesamtheit aller Sinne heran. Gambettistische Levée en masse, wenn Sie wollen. Es hat unleugbar manches für sich, und ich breche nur ab, so gern ich fortführe, weil das Thema zu delikat und voll ganz besonderer Schwierigkeiten ist. Einer seiner Romane heißt beispielsweise ›Der Bauch von Paris‹.«

»Ah«, sagte Phemi. »Sehr interessant. Das verspricht etwas. Und das Neueste?«

»Das Neueste? Nun, das las ich in dem Feuilleton einer Zeitung, und der Titel lautete, so mir recht ist: ›La faute de l'Abbé Mouret‹. Der Herr Verfasser beschwört darin den Sündenfall, also ein immerhin interessantes Thema, noch einmal herauf und läßt ihn sich in einem modernen Blumenurwald vollziehen, dem er in offenbar gewolltem Anklang an das altehrwürdige Paradies den Namen ›Paradoux‹ gegeben hat.«

»Und wie führt sich Adam ein?«

»Vollkommen dezent.«

»Auch vor dem Fall?«

»Auch da, meine Gnädigste. Denn der Adam, um den es sich in dem Romane handelt, ist eben kein wirklicher Adam, sondern in jedem Sinn ein Kostüm-Adam und in Wahrheit niemand anderes als der Abbé Mouret selbst, ein schöner und liebenswürdiger junger Herr, der sich, wie's einem Abbé geziemt, mit Händen und Füßen sträubt und wehrt und die Frucht vom Baume der Erkenntnis mit ihrer von Minute zu Minute röter und verführerischer werdenden Backe gern wegbeten möchte. Doch umsonst. Er fällt!«

»Natürlich.«

»Natürlich?« wiederholte Franziska. »Warum natürlich? Ich verlange, daß Gebete helfen... Und wie straft sich seine Schuld?«

»Er geht leer aus.«

»Comme toujours. Und Eva?«

»Stirbt. Aber selbstverständlich nicht auf dem herkömmlichen Wege, sondern trägt sich höchsteigenständig ihr Sterbelager aus der Gesamtflora des Paradoux zusammen, schläft ein und chloroformiert sich mit Blumenduft zu Tode.«

»Das möcht' ich aber doch wirklich lesen.«

»Ein Entschluß, in dem ich Sie nur bestärken kann. Und seien Sie versichert, daß jede Seite Sie fesseln wird, aller Einwendungen unserer kritischen Freundin unerachtet. Über das Anfechtbare hilft schließlich die fremde Sprache hinweg. Ich werde mich bemühen, Ihnen die Blätter zu verschaffen. Und nun lassen Sie mich meinen ersten, ohnehin über Gebühr ausgedehnten Besuch rasch abbrechen. Auf gute Nachbarschaft, meine Damen. Bis morgen.«

Und damit erhob er sich, um seinen Morgenspaziergang in der Richtung auf den Bahnhof hin fortzusetzen. Als er eben die Veranda passiert hatte, lief ihm Lysinka, die draußen Federball spielte, nach, nahm seine Hand und sagte: »Guten Tag. Ich werde dich begleiten.«

Franziska war es nicht recht, aber Phemi lachte nur und sagte: »Sieh doch, er freut sich, das Kind an der Hand zu haben. Ach, Fränzl, du glaubst gar nicht, wie gleichgültig Legitimitätsfragen sind. Natürlich den Erbschaftspunkt abgerechnet.«


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